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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Karl-Heinz Götze<br />

Bombenstimmung<br />

Zu Peter Sloterdijks »Kritik der zynischen Vernunft«<br />

1968 behaupteten linke Literaten, die Literatur gehe unter. Gut zehn Jahre<br />

später stellte sich heraus, daß sich die Literatur behauptet hatte - vor allem<br />

auf die Weise übrigens, daß sie vom Untergang berichtete, vorzugsweise von<br />

dem der Linken (vgl. den Überblick über die Untergangs phantasien der damaligen<br />

Literatur in: ClaaslGötze: Ästhetik und Politik bei H.M. Enzensberger<br />

und Peter Weiss. Argument 115, 369ff.).<br />

Davon stand im Feuilleton, als der »Blick durch die Wirtschaft« nicht mehr<br />

übersehen konnte, daß man sich auf eine chronische Krise einzustellen hatte.<br />

Krise in der Realität - Krise in der Literatur. Das paßte zusammen. Natürlich<br />

übertrieb die Literatur, aber <strong>das</strong> wird ihr ja allerorten nachgesehen, wie man<br />

den Steuererklärungen nachsieht, wenn sie untertreiben. Seither aber haben die<br />

Dinge die schlechtmöglichste Wendung genommen: die Deutschen haben Kohl<br />

zum Kanzler gemacht, ohne daß sich dies wenigstens durch Gewaltanwendung<br />

erklären ließe, der Bock wurde zum Innenminister berufen, der Baum ist weg,<br />

der Wald hin, die Raketen werden aufgestellt. Da hat es die Literatur schwer,<br />

noch einen draufzusetzen. Immerhin versuchte sie es. Im Feuilleton der »Zeit«<br />

stritt man, wer schwärzer sehen könne (Biermann: so pessimistisch wie der<br />

Kuhnert bin ich allemal«). Auf die Dauer konnte <strong>das</strong> freilich nicht schlechtgehen.<br />

Jetzt ist sie da, die Wende, freilich nicht in der Wirtschaft, da überhaupt<br />

nicht, aber in der Literatur. Dort herrscht Bombenstimmung, solche und solche.<br />

Wenn man etwas über die Stimmung wissen will, sollte man sich an die<br />

»Kultbücher« halten. Die Kultbücher dieses Jahres, kein Zweifel, sind Peter<br />

Sloterdijks »Kritik der zynischen Vernunft« und Christa Wolfs »Kassandra«<br />

samt der dazu gehörigen Vorlesungen unter dem Titel »Voraussetzungen einer<br />

Erzählung: Kassandra«. Halten wir uns an Sloterdijk.<br />

Die »Kritik der zynischen Vernunft« löste im Feuilleton emphatischen Jubel<br />

aus. Jörg Drews (Aufklärung, durch Gelächter. In: Die Zeit vom 6.5.1983) ist<br />

der Auffassung, sie werde »zu den bezeichnendsten und intelligentesten Büchern<br />

dieser Jahre zu zählen sein.« Wolfram Schütte (Odysseus trifft Diogenes<br />

oder vom Tun & Lassen. In: Frankfurter Rundschau, Ostern 1983) findet, dies<br />

Buch sei uns »wie auf den Leib geschrieben« und betätigt sich als »Schlepper«,<br />

möchte dem Leser »den Mund wässrig machen«: »Ich gebe zu (und gestehe),<br />

<strong>das</strong> klingt wie die Einladung zu einem Bordellbesuch.« Was dem Gegenstand<br />

durchaus adäquat ist, denn im »Physiognomischen Hauptstück« von Sloterdijks<br />

Buch finden sich Zungen, Brüste, Ärsche, Scheiße, Genitalien zur wohlfeilen<br />

Betrachtung. Jürgen Busche (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom<br />

7.4.1983) interessiert sich nur <strong>für</strong> die Köpfe: »Was immer dem gebildeten Menschen<br />

unter vierzig in den vergangenen Jahren an Bildungsgut begegnen konnte<br />

- bei Sloterdijk wird es Stoff erhellender Reflexion.« Daran stimmt minde-<br />

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