das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Bombenstimmung 823<br />
sten Autoren, die im Feuilleton etwas gelten, erreichen selten Auflagen über<br />
zweitausend Exemplaren, trotz aller Mühen, ihnen Käufer zuzutreiben.<br />
Warum also wurde die »Kritik der zynischen Vernunft« ein Kultbuch? Welches<br />
ist dieser Kult? Wie setzt sich die Gemeinde zusammen?<br />
Sloterdijks Buch beginnt damit, daß er die Weisheit der Philosophie mindestens<br />
auf den Stand der no-future-Jugendlichen zu bringen versucht: »die großen<br />
Themen, <strong>das</strong> waren Ausflüchte und halbe Wahrheiten. Diese vergeblichen<br />
schönen Höhenflüge - Gott, Universum, <strong>Theorie</strong>, Praxis, Subjekt, Objekt,<br />
Körper, Geist, Sinn, Nichts - <strong>das</strong> alles ist es nicht ... In unserem Denken ist<br />
kein Funke mehr vom Aufschwung der Begriffe und von den Ekstasen des<br />
Verstehens. Wir sind aufgeklärt, wir sind apathisch. Von einer Liebe zur Weisheit<br />
ist weiter keine Rede. Es gibt kein Wissen mehr, dessen Freund (philos)<br />
man sein könnte. Bei dem, was wir wissen, kommen wir nicht auf den Gedanken,<br />
es zu lieben, sondern fragen uns, wie wir es fertig bringen , mit ihm zu leben,<br />
ohne zu versteinern.« (I,7f.) Nach den Jahrzehnten des Wiederaufbaus<br />
und dem der Utopien und »Alternativen ist es, als ob ein naiver Elan plötzlich<br />
verlorengegangen wäre. Katastrophen werden herbeige<strong>für</strong>chtet, neue Werte<br />
finden starken Absatz. Doch die Zeit ist zynisch und weiß: Neue Werte haben<br />
kurze Beine.« Wir zweifeln »längst daran, in einer sinnvollen Geschichte zu leben«<br />
(I, 10). Kurz: der alte Schwung ist hin, nichts bringt's mehr so recht.<br />
Dennoch lebt man. Man lebt in einer Gesellschaft, die durchschaut ist, in der<br />
man sich aber dennoch ein möglichst komfortables Plätzchen sucht. »Das ergibt<br />
unsere erste Definition: Zynismus ist <strong>das</strong> aufgeklärte falsche Bewußtsein.<br />
Es ist <strong>das</strong> modernisierte unglückliche Bewußtsein, an dem Aufklärung zugleich<br />
erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. Es hat seine Aufklärungs-Lektionen<br />
gelernt, aber nicht vollzogen und wohl auch nicht vollziehen können. Gut situiert<br />
und miserabel zugleich fühlt sich dieses Bewußtsein von keiner Ideologiekritik<br />
mehr betroffen, seine Falschheit ist bereits reflexiv gefedert.« (I, 37f.)<br />
Der Zyniker weiß, daß der Storch nicht die Babys bringt und wo der Bartel den<br />
Mehrwert holt. Na und? In Umkehrung der Marxschen Formel aus dem Kapitel<br />
über den Fetischcharakter der Ware: »Sie tun es, aber sie wissen es nicht«<br />
ließe sich die Zynismus-Formel gewinnen: »Sie wissen schon, aber sie tun es<br />
trotzdem weiter.«<br />
Damit ist ein Massenphänomen getroffen: »Heute tritt der Zyniker als Massentypus<br />
auf: ein durchschnittlicher Sozialcharakter im gehobenen Überbau.«<br />
(1,35) Das erste Geheimnis von Sloterdijks Erfolg besteht darin, daß er einem<br />
Phänomen, daß viele kennen und wenige wahrhaben wollen, seinen Charakter<br />
öffentlich auf den Kopf zusagt.<br />
Das »Phänomen« läßt sich verkörpern (Verkörperung ist ein Schlüsselwort<br />
in Sloterdijks Überlegungen). Dann ist es zwischen Anfang dreißig und Mitte<br />
vierzig, männlich, gehört der Apo-Generation an. Von deren unglücklichem<br />
Bewußtsein ist die Rede, selbst bei den weitesten Streifzügen durch die europäische<br />
Geistesgeschichte. Deshalb darf es auch <strong>Theorie</strong> sein, ja, muß es sogar<br />
<strong>Theorie</strong> sein - die alte (Marx, Freud) zum wiederkennen, aber auch Nietzsche<br />
und Heidegger. Die Theoretiker, von deren <strong>Theorie</strong> niemand etwas wissen will<br />
(»Unsere Studenten lesen einfach nicht mehr«), bekommen endlich wieder ein-