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und Leseprobe (PDF) - Vandenhoeck & Ruprecht

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Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeOrte des Denkens –mediale RäumePsychoanalytische Erk<strong>und</strong>ungenherausgegeben vonInsa Härtel /Lars Church-Lippmann /Christine Kirchhoff /Anna Tuschling /Sonja WitteBand 33<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong>© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeHerausgegeben von Susann Heenen-Wolff, Brüssel,<strong>und</strong> Jörg Wiesse, Nürnberg.Band 26: Der Fokusherausgegeben von Rolf Klüwer <strong>und</strong> Rudolf LachauerBand 27: Verwicklungenherausgegeben von Elfriede Löchel <strong>und</strong> Insa HärtelBand 28: Psychoanalyse <strong>und</strong> Kindheitherausgegeben von Jörg WiesseBand 29: Trauma <strong>und</strong> Wissenschaftherausgegeben von André KargerBand 30: Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen?herausgegeben von André KargerBand 31: Das Motiv der Kästchenwahl:Container in Psychoanalyse, Kunst, Kulturherausgegeben von Insa Härtel <strong>und</strong> Olaf KnellessenBand 32: Kino zwischen Tag <strong>und</strong> TraumPsychoanalytische Zugänge zu »Black Swan«herausgegeben von Dirk Blothner <strong>und</strong> Ralf ZwiebelBibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.ISBN 978-3-525-46124-2ISBN 978-3-647-46124-3 (E-Book)© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen /<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> LLC, Bristol, CT, U. S. A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk <strong>und</strong> seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.Satz: SchwabScantechnik, GöttingenDruck <strong>und</strong> Bindung: e Hubert & Co, GöttingenGedruckt auf alterungsbeständigem Papier.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeTabula GratulatoriaIsabel Bataller BautistaKarin DahlkeAngelika Ebrecht-LaermannAnna Gätjen-R<strong>und</strong>Helga GallasThomas GanserLilli GastHeiner MenznerHelmut ReicheltChrista Rohde-DachserRoman RudykBrigitte Scherer <strong>und</strong> Matthias WaltzPeter SchneiderErhard TietelGerhard VinnaiBirgit VolmergRolf-Peter Warsitz© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räume© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeInhaltVorwort ..................................... 7Lilli GastDas Subjekt in der Zeit. Einige psychoanalytischeÜberlegungen zur Ethik der Endlichkeit <strong>und</strong> derGenerationalität .............................. 15Anna TuschlingBegierde contra Begehren. Lacans Antwort aufKojèves Anthropologisierung Hegels .............. 28Gerhard VinnaiRäume des Wünschens ......................... 40Christine KirchhoffStimme, Licht <strong>und</strong> Schatten des Objekts.Bemerkungen zur Erkenntnis mit der Psychoanalyse .. 52Katharina RotheSpannung halten im Denken .................... 62Angelika Ebrecht-LaermannSchreib das auf! Über einige Schwierigkeiten,Gedanken in Worte zu fassen .................... 71© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 97836474612435


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeVorwortMit diesem Band möchten wir das Denken ElfriedeLöchels würdigen, welches nicht zuletzt Orte desDenkens selbst betrifft – <strong>und</strong> zu diesem kontinuierlich anregt.Elfriede Löchels Arbeit kann man als ein Denken zwischenRäumen bezeichnen: Das betrifft das Denken zwischenklinischer Praxis <strong>und</strong> Wissenschaft an der Universität, aberauch die von ihr vertretene psychoanalytische Forschungselbst, der es – so lässt sich nicht zuletzt angesichts des Spektrumsihrer Arbeiten feststellen – um das Denken von Zwischenräumengeht, besonders auch um die Konfrontation mitdem Wunsch, diese zu übergehen oder zu umgehen. „Wünschenkann man immer …“ Gerade aber, dass immer etwaszu wünschen übrig bleibt, ist weder Anlass zur Resignationnoch Aufforderung, die Wünsche schnell erfüllt sehen zu wollen<strong>und</strong> die Lücken zu schließen, sondern eine intellektuelleHerausforderung <strong>und</strong> ein Versprechen. Die Arbeiten ElfriedeLöchels zeichnen sich auch durch die erbrachte Übersetzungsleistungaus: eingedenk der Differenz, die psychoanalytischeHaltung in Forschung zu übersetzen. Dass es dabeidarauf ankommt, zwischen gleichschwebender Aufmerksamkeitauch für die scheinbar nebensächlichen Details, demHören auf Affekte <strong>und</strong> Einfälle <strong>und</strong> dem klaren, fokussiertenDenken <strong>und</strong> Formulieren hin- <strong>und</strong> herwechseln zu können,das zeigen ihre Arbeiten auf großartige Weise <strong>und</strong> machendie Lektüre zu einem Vergnügen.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 97836474612437


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeVorwortAnna Gätjen-R<strong>und</strong> geht in ihrem Beitrag „Die Couch – einFunkloch? Oder: Immer online …“ von der Präsenz <strong>und</strong>Selbstverständlichkeit des Internets gerade für Kinder <strong>und</strong>Jugendliche aus <strong>und</strong> den psychischen Bedeutungen nach,wie sie sich zum Beispiel im adoleszenten Umgang mit demiPhone zeigen. Anhand eines Fallbeispiels zeigt die Autorin,wie ein Modus des „Immer online“ Phantasien über Getrennt<strong>und</strong>Verb<strong>und</strong>ensein in Szene setzen <strong>und</strong> zum Beispiel einenfusionären Beziehungsmodus potenziell unterstützen kann.Die neuen Techniken sind dabei ebenso in ihren verstörendenwie produktiven Bedeutungen für die Konstituierung derSubjekte auszuloten.In ihrem Beitrag „Schuldig Sprechen – eine Märchenlektüre“liest Sabine Offe das Märchen „Marienkind“ aus derSammlung der Brüder Grimm als Beispiel für die Verwicklungfamilienbiografischer <strong>und</strong> generationstypischer Erinnerungenan solche Leseerfahrung, der Frage folgend: Wieverknüpft sich im Lesen des Textes die Doppelsinnigkeit von„schuldig sprechen“ mit Erfahrungen <strong>und</strong> Wahrnehmungsweisenvon Schuld im Nachkriegsdeutschland? Die Ungeheuerlichkeitdes damals Nichterzählten assoziiert sich in derLektüre nicht diskursiv, sondern ästhetisch mit der Verführungder Leserin zu einer „großen Lust zu wissen“. Währendder Text explizit von Verbot <strong>und</strong> Strafe dieser Verführunghandelt, führt, wie die Autorin zeigt, der Erzählverlauf überdas im Text Erzählte hinaus <strong>und</strong> evoziert eine Ahnung vonFurchtbarkeit <strong>und</strong> Blockierung dessen, was gewusst werdenkönnte. Eine Lektüre, die autobiografische Erinnerungen<strong>und</strong> deren vieldeutige Botschaften jenseits der individuellenFamiliengeschichte erzählbar zu machen sucht.Insa Härtel widmet sich in ihrem Beitrag „Ans Licht: SallyManns ‚Venus after School‘“ der gleichnamigen Fotoarbeitvon Sally Mann aus dem Jahr 1992, die ihre Tochter nacktin Szene setzt. Manns Fotografien sind umstritten <strong>und</strong> innerhalbder Zeit zu verorten, die sie hervorgebracht hat. HärtelsAusführungen laufen darauf hinaus, dass hier nicht allein mit12© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


VorwortInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räumedem fotografischen Medium verschränkte Fragen von „verlorener“Kindheit, Unschuld oder deren Kehrseiten auftauchen.Durch das Licht im Bildhintergr<strong>und</strong> kommt vielmehr einNicht-Repräsentationales zum Tragen – ein infantiles Sexuellesals Denkfigur, das im Bild wiederum gerahmt erscheint.Ausgangspunkte des Beitrags „Experimentelle Psychologie<strong>und</strong> Psychoanalyse in ihrer Beziehung zur Universität.Ein geschichtlicher Exkurs über Grenzen <strong>und</strong> Chancen“von Isabel Bataller Bautista sind die Frage nach dem Platz derPsychoanalyse an der Universität <strong>und</strong> die Forderung, „diepsychoanalytischen Verfahren mit naturwissenschaftlichenMethoden zu untersuchen, um zu ‚evidenzbasierten‘ Ergebnissenzu gelangen“. Sie unternimmt einen geschichtlichenExkurs, um diese beiden Themen ins rechte Licht zu rücken,<strong>und</strong> beginnt mit der Zeit der Etablierung der experimentellenPsychologie an der Universität. Anschließend formuliert dieAutorin Bedingungen, unter denen die Psychoanalyse ihrenPlatz an der Universität finden könne.Brigitte Scherer <strong>und</strong> Matthias Waltz befassen sich in ihremBeitrag „Subjektivierung in Organisationen“ mit den unbewusstenStrukturen in Arbeitsumgebungen <strong>und</strong> vertiefen ihreÜberlegungen anhand eines Fallbeispiels, das den Konfliktzwischen der Leiterin einer pädiatrischen Abteilung <strong>und</strong> ihrenMitarbeiterinnen <strong>und</strong> Mitarbeitern schildert. Scherer <strong>und</strong>Waltz begreifen den Arbeitskontext <strong>und</strong> den Sozialtyp Organisationdabei als „psychischen Raum“, in dem sich strukturelle<strong>und</strong> unbewusste Dynamiken überlagern. Erst eine Analyseunbewusster Widerstände kann für Scherer <strong>und</strong> Waltz dieanders nicht erklärbaren Vernichtungsängste der von Änderungender gewohnten Arbeitsbedingungen betroffenen Angestelltenerklären helfen. Mit Elfriede Löchel weisen sie zudemauf die wichtige Möglichkeit der Symbolisierung unbewussterÄngste hin, die im dargestellten Arbeitskontext durch Desinformationder Angestellten nicht möglich war.Wir wünschen, in dieser Konstellation der verschiedenenTexte, die auf unterschiedliche Weise, in Form diver-© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124313


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli GastDas Subjekt in der ZeitEinige psychoanalytische Überlegungen zur Ethikder Endlichkeit <strong>und</strong> der GenerationalitätDer Generationenbegriff spielt im politischen Diskursunserer Gesellschaft eine zentrale Rolle, wobei„Generation“ als soziologisch-demografische Ordnungskategorieverhandelt wird, die Alterskohorten vor dem Hintergr<strong>und</strong>angenommener Reproduktionszyklen voneinanderunterscheidet. Generationen sind gesellschaftlich konstruierteGruppen, die in ein komplementäres Verhältnis zueinandergebracht werden, das – diskursiv <strong>und</strong> performativ – immerwieder reproduziert wird.Auch die Psychoanalyse handelt im Kern von Generationalität,<strong>und</strong> zwar vom Niederschlag dieser Ordnungskategorieim Subjekt selbst. Die Subjektseite der Generationalität istauf der Grenzlinie zwischen innerer <strong>und</strong> äußerer, also zwischenpsychischer <strong>und</strong> intersubjektiv teilbarer Realität situiert<strong>und</strong> muss einem hochkomplexen, dialektischen <strong>und</strong> folglichalles andere als konfliktfrei verlaufenden Prozess der innerenVerhandlung abgerungen werden. Das Unbewusste allerdingsschert sich nicht um Ordnungskategorien, <strong>und</strong> schon garnicht um soziologische. Vielmehr hat die in den Registerndes Wunsches <strong>und</strong> des Triebanspruchs verankerte psychischeRealität der Subjekte die Tendenz, zeitliche oder kategorialeAbfolgen <strong>und</strong> Ordnungsmuster zu unterlaufen <strong>und</strong> stattdessendem Subtext des Unbewussten Geltung zu verschaffen.Chasseguet-Smirgel (1975) hat die Verleugnung derGeschlechter- <strong>und</strong> der Generationendifferenz als Realitätszer-© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124315


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli Gaststörung bezeichnet. Die entdifferenzierende Aufhebung derGeschlechter- <strong>und</strong> Generationenunterschiede sei ein Mord ander Realität (Chasseguet-Smirgel, 1975, S. 811), insofern indiesen beiden Kardinaldifferenzen der „unantastbare Kernder Realität“ (S. 810) verankert sei. Der Antipode von Verleugnungist Anerkennung, <strong>und</strong> es geht mir hier um jene Prozesse,die das Subjekt konstituieren, <strong>und</strong> darum, wie Verleugnung<strong>und</strong> Anerkennung der (inneren <strong>und</strong> äußeren) Realitätin der Subjektwerdung <strong>und</strong> in der psychischen Verfasstheitder Subjekte ineinander verschränkt sind. Besonders deutlichwird diese spannungsvolle, konfliktreiche Verschränkung inder zeitlichen Dimension, die im Hinblick auf die Generationenfragevon besonderem Interesse ist.Das Eingelassenwerden in die Realität von Zeit <strong>und</strong> Raumbringt das Subjekt hervor <strong>und</strong> macht uns zu historischen,empirischen Subjekten. Die Temporalisierung, die Verzeitlichungeines Subjekts ist einem wechselvollen <strong>und</strong> schmerzlichenProzess abgerungen – einem Prozess, in dem Trauer <strong>und</strong>Verlust die konvertible Währung der Subjektwerdung sind.Die Psychoanalyse Freuds verfügt über eine implizite Zeittheorie,deren zwei gr<strong>und</strong>legende Achsen, die Dialektik vonRegression <strong>und</strong> Progression sowie die Nachträglichkeit, fürdie vorliegende Fragestellung von Bedeutung sind. Die dialektischeVerschränkung dieser beiden psychischen Zeitdimensionenbewirkt, dass sich die innere <strong>und</strong> äußere Realitätdes Subjekts in konflikthafter Weise miteinander verknüpfen<strong>und</strong> eine eigentümliche Bewegung in der Zeit hervorbringen.Deren Charakteristikum besteht vor allem darin,dass sich auf dem linearen, progressiv nach vorn gerichtetenZeitvektor, dessen kränkende Endlichkeit betrauert werdenmuss, wie er sich zwischen den sogenannten Facts of Life –Geburt <strong>und</strong> Tod – aufspannt, zugleich kreisförmige rückläufigeSchleifenbewegungen vollziehen, die man als die subjektive,psychische Zeit des Subjekts bezeichnen könnte. WalterBenjamins „Engel der Geschichte“ (Benjamin, 1940/1991, 9.These) gleich bewegen wir uns auf dem Zeitvektor die Lebens-16© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Das Subjekt in der ZeitInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räumespanne durchmessend nach vorn in eine Zukunft hinein, diemit dem Tod endet; doch tun wir dies nicht etwa sehendenAuges, sondern mit zurückgewendetem, auf die Vergangenheitgerichtetem Blick, der uns erwartenden Zukunft denRücken kehrend. Bei Benjamin fällt der Blick des Engels aufdie stetig wachsenden Trümmerberge, wie sie die Katastrophender Menschheitsgeschichte auftürmen. Freuds Blick hingegenist in seiner Mehrdeutigkeit hochkomplex <strong>und</strong> in sichwidersprüchlich, eine Art ständig changierender „Vexierbild-Blick“: Der Blick des Freud’schen Subjekts richtet sich auf dieTrümmer, auf die Verwehungen <strong>und</strong> Spuren einer langen Verlustgeschichte(auf die ontogenetischen Katastrophen also) –einer Verlustgeschichte allerdings, die zugleich als Möglichkeitsbedingungdes Subjekts firmiert. Erst durch Verlustebringt sich das Subjekt in Erscheinung, auch wenn es zugleich,aller errungenen <strong>und</strong> erzwungenen Realitätsanerkennungzum Trotz, deren Annullierung wünscht. Im rückwärtsgewandtenBlick des Freud’schen Subjekts auf die Geschichteseiner Zerrissenheit <strong>und</strong> seiner Entzweiung nämlich liegt auchdie Verheißung der Wiedererlangung jener längst verlorenen<strong>und</strong> de facto nie gehabten, sondern nunmehr imaginiertenUnversehrtheit <strong>und</strong> Unsterblichkeit sowie das Versprechender Wiederfindung der aufgegebenen Objekte – <strong>und</strong> zwar ineben jenem Register der narzisstischen Wunschökonomie, diedie eben erwähnte Annullierung der Verluste beansprucht.Der verdoppelte Blick, der hier im Spiel ist, ist konflikthaft<strong>und</strong> folgenreich: Die Geschichte der Verluste, die sich inunsere Konstitutionsgeschichte als Subjekte eingeschriebenhat, birgt zwar die Anerkennung der Realität, etwa unsererSterblichkeit <strong>und</strong> Endlichkeit, doch ist diese Anerkennungdurch das libidinös-narzisstische Beharren auf der Unzerstörbarkeit<strong>und</strong> Unendlichkeit unserer Wünsche <strong>und</strong> unsererExistenz einer permanenten Erosion ausgesetzt. Freud (1911b)hat dies in seiner Schrift „Formulierungen über zwei Prinzipiendes psychischen Geschehens“ entfaltet, etwa wenn er dasRealitätsprinzip als eine Ordnung versteht, die das Lustprin-© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124317


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli Gastzip mit anderen, nämlich realitätsgerechteren Mitteln sichert.Das heißt, der Lustanspruch wird nicht nur nicht überw<strong>und</strong>en,er erweist sich gar als unüberwindlich. Allenfalls wird erin ein anderes Register übertragen, in einem anderen Moduspsychischen Funktionierens weiterverfolgt, in einem Modusnämlich, der Umwege <strong>und</strong> Aufschübe in Kauf zu nehmenin der Lage ist. Die Anerkennung der Realität schließt alsoderen Indienstnahme für die libidinösen Ansprüche nichtaus – im Gegenteil: Genau diese Verwendung der Realitätverhilft ihr erst, gleichsam im Gegenzug, zur Anerkennung,<strong>und</strong> zwar deshalb, weil unsere Subjektwerdung im <strong>und</strong> mitdem Wunsch beginnt, sie den Wunsch durchqueren muss,ohne ihn je zu überwinden – „nichts anderes als ein Wunsch[vermag] unseren seelischen Apparat zur Arbeit anzutreiben“,heißt es bei Freud (1900a, S. 572).Zeit <strong>und</strong> Raum tragen sich über den Wunsch in das Subjektein. Seine Geschichte beginnt mit dem psychischen Aktdes Wünschens: Der initiale, den psychischen Raum entfaltendeWunsch nämlich will die Umkehrung der Zeit <strong>und</strong>die Wiederherstellung eines vergangenen Moments. Damithält bereits an der Basis der Subjektwerdung jener KonfliktEinzug, der das Subjekt als nie Ganzes <strong>und</strong> auf immer Zerrissenes,Entzweites markieren wird. An den Rändern diesesRisses wird es sein Leben lang balancieren, sich selbst verfehlend<strong>und</strong> seiner selbst nie ganz innewerdend – <strong>und</strong> doch isteben dieser Balanceakt das, was wir Psyche nennen: „Realität– Wunscherfüllung, aus diesen Gegensätzen sprießt unserpsychisches Leben“, schreibt Freud (1985c, S. 377) schon frühan seinen Berliner Fre<strong>und</strong> Fließ.11 Brief vom 19. 2. 1899. Interessanterweise entsteht der Wunschja buchstäblich in der (maternellen) „matrix“ (sic!) einer generationellenDifferenz: Es ist das Befriedigungserlebnis des Kindes an der/mitder/durch die Mutter, das den libidinösen Wunsch nach Wiederherstellungder Wahrnehmungsidentität lostritt – eben jenen unzerstörbarenWunsch, der die Anerkennung der Realität <strong>und</strong> damit auch dieAnerkennung der Realität der Generationendifferenz unterlaufen wird.18© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Das Subjekt in der ZeitInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeSo ist es dieser „w<strong>und</strong>erliche Bruch“, wie Nietzsche(1874/1966, S. 211) jene Entzweiung der innersten Strukturnennt, der uns Menschen zu historischen Subjekten macht.Die Tempi der Zeit laufen durch uns hindurch <strong>und</strong> verhindernein Ankommen, geschweige denn ein Aufgehen in der Gegenwart– „der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorherein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenstwieder <strong>und</strong> stört die Ruhe des nächsten Augenblicks“ (S. 211).Dieser „w<strong>und</strong>erliche Bruch“ ist der Preis unserer Subjektwerdung,die uns in ein Dasein einfügt, das Nietzsche als „einnie zu vollendendes Imperfektum […], ein ununterbrochenesGewesensein“ (S. 211) charakterisiert. In dieser FormulierungNietzsches werden Anklänge an Lacans Wiederaufnahmedes Freud’schen Konzepts der Nachträglichkeit ruchbar <strong>und</strong>an seine Umschreibung der Nachträglichkeit mithilfe desFutur II, demzufolge das Freud’sche Subjekt nie das ist, wases ist, sondern das, was es einmal gewesen sein wird.Wiederholung ist in diesem Kontext zu verstehen als einStrukturelement der Subjektkonstitution <strong>und</strong> ist als dynamischeDimension einer Zeitlichkeit des Subjekts auf erkenntnistheoretischerEbene verankert. Man trifft hier auf jenenAspekt der Wiederholung, der Regression <strong>und</strong> Progressionin einen dialektischen Zirkel einbindet, der nicht etwa Stillstellung,sondern im Gegenteil die Dynamisierung einer (Entwicklungs-)Bewegungbewirkt. Wiederholung erweist sichals zentrales strukturbildendes <strong>und</strong> konstitutives Agens derAusfaltung des Psychischen, als Dimension der ontogenetischen(Entwicklungs-)Geschichte des Subjekts. Damit tritt,anders als in der erstarrten Bewegung des Wiederholungszwanges,der Wiederkehr des Immer-Gleichen, das Schöpferischeder rekursiven Bewegung in den Vordergr<strong>und</strong>. WieFreud anhand der Unerfüllbarkeit <strong>und</strong> zugleich Unzerstörbarkeitdes Wunsches zeigt, gibt es keine Wiederholung, diesich in sich selbst erschöpfte, indem sie ihr Ziel fände. Es gibtkein Zurück zum Ersten, schlimmer noch: Es gibt weder einZurück noch gibt es ein Erstes – es gibt nur den Wunsch© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124319


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli Gastdanach, <strong>und</strong> psychoanalytisch betrachtet ist es eben dieserregressive Wunsch, der uns nach vorn treibt. Dieser Gedankeverdichtet sich in der subjekttheoretischen Konstitutionsfigur,der zufolge sich das Subjekt insgesamt der Nachträglichkeitverdankt. Analog dazu verhält sich die Nachträglichkeit desObjekts: Auch jenes regressiv-narzisstisch ersehnte Erste, dasparadigmatische Objekt des Wunsches, ist ebenso ein nachträglichErschaffenes. Der Wunsch erzeugt sich sein Objektnachträglich – ein Objekt, das er zwangsläufig verfehlen muss.Die repetitive Bewegung verläuft also an den Rändernjenes subjektkonstitutiven Risses, dem Wunsch folgend, dieW<strong>und</strong>e zu schließen, während dieselbe, zunächst restaurativeBewegung den Riss nur bestätigt, ihn offenhält <strong>und</strong>, indemsie die Nichtidentität zwischen Wunsch <strong>und</strong> Erfüllung vertieft,die Unmöglichkeit der wunscherfüllenden Wiederholung<strong>und</strong> die Unerreichbarkeit des Ursprungs wieder <strong>und</strong> wieder(sic!) in Szene setzt. In eben jener gegenläufigen Gleichzeitigkeitvon (scheiternder) Restauration <strong>und</strong> (sich stets erneuernder)Entzweiung konstituiert sich die (Lebens-)Geschichte desSubjekts. Oder anders, nun in der Dimension der Zeitlichkeit,formuliert: Jedes Scheitern des Versuchs, durch Wiederholung<strong>und</strong> vollständige Wiederherstellung des Vergangenen die Zeitumzukehren oder doch zumindest stillzustellen, liefert uns derZeitlichkeit <strong>und</strong> dem Verlust aus, verankert uns als Subjektetiefer in Zeit <strong>und</strong> Realität, jedoch nicht ohne Rest. Das Scheiterndes narzisstischen, regressiven Wunsches zieht uns in dieRealität <strong>und</strong> just dieses Scheitern macht uns zugleich anfällig,jener Realitätsverankerung die vorbehaltlose Anerkennung zuversagen, <strong>und</strong> veranlasst uns, sie immer wieder – probehalber,aufbegehrend, phantasmatisch – zu unterlaufen.Scheitern jedoch birgt immerhin die Möglichkeit desGelingens in sich, was bedeutet: Die Anerkennung des Scheiternsführt die Verleugnung der elementaren Unerfüllbarkeitunter der Hand, insgeheim <strong>und</strong> im Verborgenen mit sich.Die phantasmatische Möglichkeit des Gelingens der narzisstischenWunscherfüllung, die Möglichkeit, über Tren-20© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Das Subjekt in der ZeitInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räumenung, Tod <strong>und</strong> Endlichkeit zu obsiegen, der Unsterblichkeitdes Wunsches auch die Unsterblichkeit der eigenen Existenzanzutragen – all dies wird auf dem Zeitvektor nach vorngeworfen <strong>und</strong> zwingt zugleich in jene in sich zurücklaufendenanachronen Kreisbahnen, in jene Volten rückläufiger Schleifen,die sich eingangs mit Walter Benjamins Gedanken beimBetrachten des Angelus Novus Klees verbanden. „Die Phantasieist […] das Medium des Unendlichmachenden; sie ist keineFähigkeit wie die anderen Fähigkeiten – wenn man so will,ist sie die Fähigkeit instar omnium“, schreibt Kierkegaard(1849/2005, S. 52) in seiner großen Abhandlung über dieConditio humana. Die Phantasie gebiert jene Verzweiflung,die sich wie feine Wirkfäden in die Textur des Menschseinseingewoben hat, insofern „das Selbst aus Unendlichkeit <strong>und</strong>Endlichkeit gebildet“ (S. 50) <strong>und</strong> zwischen „Möglichkeit“ <strong>und</strong>„Notwendigkeit“ aufgespannt ist – zwei dialektische Zirkelalso, die auszutarieren seine Freiheit ausmachen, aufgr<strong>und</strong>derer es zugleich auf immer w<strong>und</strong> <strong>und</strong> uneins bleibt.Psychische Zeit bewegt sich in der Dialektik von „Nichtmehr“ <strong>und</strong> „Noch nicht“. Dies ist zugleich das Feld, in demsich das Subjekt der notwendigen Realitätsanerkennung stellt,zu der – im Kontext des Skandalons unserer Endlichkeit –eben auch die eigene Verortung in der Generationenabfolgegehört. Das Faktum der generationellen Getrenntheit, desunentrinnbaren Verfangenseins in der generationellen Verkettungvon Geburt <strong>und</strong> Tod, fordert die Anerkennung derUnumkehrbarkeit der Zeit – eine Anerkennung, die ohneTrauer <strong>und</strong> tiefe Verlustgefühle wohl nicht zu haben ist. Dienicht nur intellektuelle, sondern affektive <strong>und</strong> emotionaleAuseinandersetzung mit dem unerbittlichen Vergehen <strong>und</strong>der Unumkehrbarkeit der Zeit aber beinhaltet die zweifellosschwierigste <strong>und</strong> beunruhigendste Konfrontation mit derOrdnung des Realen, die mit unserer je eigenen unwiderruflichenSterblichkeit.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124321


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli Gast22Kein Trost möglich?In seinem Buch „Lebenszeit <strong>und</strong> Weltzeit“ spricht Blumenberg(1986) von der unerträglichen Spannung zwischen zweigegenläufigen Zeitregistern, die im Gr<strong>und</strong>e nichts miteinanderzu tun haben, aber dennoch die Conditio humana in konflikthafterWeise markieren. Ergiebig für psychoanalytischesDenken ist Blumenbergs Bef<strong>und</strong>, das Verhängnisvolle amMenschsein liege in dem „Mißverhältnis […], daß ein Wesenmit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat“ (Blumenberg,1986, S. 71 f.). Er stellt eine vom Menschen unabhängigefließende Weltzeit der verfließenden Lebenszeit des Subjektsgegenüber <strong>und</strong> beschreibt den Menschen der Moderne alsVerlorenen in der Zeit – Anklänge an die Kierkegaard’schedialektische Entgegensetzung von Unendlichkeit <strong>und</strong> Endlichkeitwerden wach, allerdings kehrt dies bei Blumenberg alsfast gewaltförmiges Kräfteverhältnis wieder. Die Gewalt, diehier wirkt, ist die unerbittliche Gleichgültigkeit einer „rücksichtslos“fortschreitenden Weltzeit, die von den Subjektenjene Anerkennung einfordert, die sie ihnen selbst versagt. Wirwerden genötigt, so Blumenberg, unsere Existenz als ephemere„Episode zwischen Natalität <strong>und</strong> Mortalität“ (S. 183) zubegreifen <strong>und</strong> uns der Kränkung zu stellen, dass die Welt nachunserem Tod fortdauert <strong>und</strong> wir keinen privilegierten Platzin ihr innehaben, dass wir also – <strong>und</strong> dies ist unsere einzigeGewissheit – irgendwann sehr wohl aus der Welt(-zeit) fallenwerden. Die Divergenz von Weltzeit <strong>und</strong> Lebenszeit ist nichtnur eine narzisstische Kränkung, ihr wohnt auch ein Schreckeninne, der uns zu ebenso Trostbedürftigen wie Untröstlichenmacht. Realität macht sich geltend durch die „Rücksichtslosigkeitder Welt gegen das Wunschsubjekt“ (S. 66). Nurvordergründig paradoxerweise ist genau dieses Auseinandertretenvon Lebenszeit <strong>und</strong> Weltzeit jener Moment, an demdie Geschichte des Subjekts beginnt, das Scharnier, an demes als historisches Subjekt in Zeit <strong>und</strong> Geschichtlichkeit eingelassenwird. Wir kennen diese Figur von Freud, vor allem© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Das Subjekt in der ZeitInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räumeim Zusammenhang mit seiner Narzissmus-Konzeption <strong>und</strong>seiner dialektischen Konzeptualisierung von Lust- <strong>und</strong> Realitätsprinzip.„Geschichte ist“, schreibt Blumenberg, „die Trennungvon Erwartung <strong>und</strong> Erfahrung“ (S. 66).Unverkennbar: Auch Blumenberg spricht von jener „wildbewegtenEinsamkeit des Schreckens“ (Schelling), die sich inden Bahnen einer ebenso ungebetenen wie unvermeidlichenKonfrontation mit dem frostigen, von unseren Wünschen<strong>und</strong> Ängsten gänzlich unbeeindruckten Absolutismus derWirklichkeit als anthropologische Gr<strong>und</strong>erfahrung gleichsamim Kern unserer Existenz eingenistet hat. Der Tod <strong>und</strong>das Wissen um unsere Sterblichkeit <strong>und</strong> Endlichkeit machenuns neben all den Kränkungen der Realität paradigmatischzu trostbedürftigen <strong>und</strong> trostsuchenden Wesen.Fordert nun aber nicht gerade die Konfrontation mit derGenerationalität die Anerkennung der Vergänglichkeit derLebenszeit <strong>und</strong> der Endlichkeit der eigenen Existenz ein, istnicht diese Anerkennungsleistung die Conditio sine qua nonjeglicher psychischer Repräsentanz, die Gr<strong>und</strong>bedingungeiner symbolischen Repräsentierbarkeit der Generationendifferenz?Und würde das nicht bedeuten, dass diese Realitätsaspektenicht erst zum Faktum brutum der Generationalitäthinzutreten, um dieser dann ein konflikthaftes Geprägezu verleihen, sondern dass vielmehr die schiere Tatsache derGenerationalität gleichsam sui generis konflikthaft ist? DassGenerationalität in elementarer Weise bereits konstitutivdurchdrungen ist von eben jenen hochbrisanten Realitätsaspekten,jedes ein Skandalon für sich, die im Phänomen desTrostes <strong>und</strong> der Trostbedürftigkeit ihr hochspezifisches <strong>und</strong>hochambivalentes Echo finden?In einem erst posthum aus dem Nachlass veröffentlichtenEntwurf einer philosophischen Anthropologie formuliert Blumenbergden Trost als „eine Kategorie, deren Eigentümlichkeitenaufs engste mit den Merkmalen der Spezies Menschzusammenhängen“ (Blumenberg, 2006, S. 623), als anthropologischesDatum also. Dabei beruft er sich auf Georg Simmel,© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124323


Insa Härtel, Orte des Denkens – mediale RäumeLilli Gastder den Menschen ebenfalls als trostsuchendes Wesen bezeichnete<strong>und</strong> dabei auf den Unterschied zwischen Trost <strong>und</strong> Hilfehinwies. Hilfe suche auch das Tier, doch der Trost sei das„merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt,aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nichtdas Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanzder Seele“ (Simmel, zit. nach Blumenberg, 2006, S. 625). Hilfealso will die Realität verändern, Trost verzichtet darauf. Allerdings,so Blumenberg, ist dieser Verzicht nicht freiwillig, sondernberuht auf der durchaus schmerzlichen Anerkennung derBegrenztheit der eigenen Möglichkeiten. Trost <strong>und</strong> Trostbedürftigkeitscheinen hier als Korrelate der elementaren Hilflosigkeitdes Menschen auf <strong>und</strong> verweisen auf die ebenso elementareUnmöglichkeit, ihm zu helfen. Das Bewusstsein derVergänglichkeit alles Lebenden, das Wissen um die Sterblichkeitauch der Nächsten, versieht den Menschen mit einer, wieBlumenberg schreibt, „Trostbedürftigkeit bis an den Grenzwertder Untröstlichkeit“ (2006, S. 626). Mit anderen Worten:Die Verlorenheit der Subjekte in der Zeit, jener „einsameSchrecken“ im Innersten der Conditio humana findet hier seinenWiderhall im Aufeinanderprallen von absoluter Trostbedürftigkeit<strong>und</strong> absoluter Untröstlichkeit. Doch, wie tröstendanzumerken bliebe, innerhalb dieser Begrenztheit entfaltetdie Trostsuche ihre Wirksamkeit.Simmel nun maß dem Trost den erkenntnistheoretischenRang einer Kategorie im Sinne einer gr<strong>und</strong>legenden Explikationder menschlichen Realität bei, <strong>und</strong> in dieser Funktionhat die Kategorie des Trostes, wie Blumenberg (vgl. 2006,S. 627) fortführt, eine zweifache Bedeutung: Zum einen dientder Trost einer Vermeidung der Auseinandersetzung mit derRealität <strong>und</strong> zum anderen stellt er die Möglichkeit bereit, diesich daraus ergebenden Folgen zumindest partiell abzuwälzenoder institutionell zu delegieren. Damit wird der Trost zueiner Form der Distanzierung von der Wirklichkeit – zu einer„actio per distans“, im Grenzfall gar zu einem Modus des Verlustesvon Wirklichkeit (vgl. S. 627). Trost erweist sich so als24© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 9783647461243


Das Subjekt in der ZeitInsa Härtel, Orte des Denkens – mediale Räumeeine illusionäre Überformung der Realität <strong>und</strong> ist auf jenenUmwegen anzutreffen, die das Lustprinzip unter dem Druckdes Realitätsprinzips zur Sicherung seiner Ansprüche nimmt.Man könnte nun fragen, welche kollektive Absicherungdem Trostbedürfnis etwa in der Generationenfolge <strong>und</strong> imkollektiven Umgang mit der Generationendifferenz zuteilwird. Blumenberg folgt den Spuren eines vermuteten qualitativen<strong>und</strong> quantitativen Rückgangs dieser gesellschaftlichenSicherungen <strong>und</strong> Vergewisserungen. Mehr <strong>und</strong> mehr seiender Trost <strong>und</strong> das Trostbedürfnis unter Verdacht geraten, eineschiere „Vermeidung von Bewusstsein“ (S. 629) zu sein, währenddas Selbstverständnis des Subjekts der Moderne dochgerade in der Erzeugung von Bewusstsein liege <strong>und</strong> darin, aufpräformierte Daseinssituationen zu verzichten <strong>und</strong> stattdessenalle möglichen Daseinsrisiken einzugehen (vgl. S. 630) – eineSichtweise, die aus subjekttheoretischer Perspektive zweifelloszu diskutieren wäre.Anders als die Psychoanalyse rechnet Blumenberg hiernicht mit der List der Vernunft: Nicht von Ungefähr befindetFreud im „Unbehagen in der Kultur“ ebenso lakonischwie apodiktisch, „das Leben, wie es uns auferlegt ist, sei zuschwer für uns“ (Freud, 1930a, S. 433). Die Frage ist also, wasan die Stelle der klassischen Formen der „Bewusstseinvermeidung“getreten ist, wenn die kollektive Verlagerung in präformierteRituale <strong>und</strong> institutionalisierte Schablonen nichtmehr greift. Haben wir es mit atomisierten, hochindividualisiertenRitualisierungen zu tun, die uns als neue Leiden derSeele imponieren? Was bedeutet es, wenn die Subjekte angesichtsihrer kränkenden Endlichkeit, ihres Verfangenseins inder Generationenfolge, ihres Verhaftetseins auf dem Zeitvektorvon Geburt bis Tod auf sich selbst zurückverwiesen werden?Und muss dies nicht Konsequenzen für den Verkehr derGenerationen haben?Das gemeinsame Dritte von Verlust <strong>und</strong> Trost ist dieTrauer, die psychische Arbeit, die beides uns abverlangt. Giltjene von jeglichem Trost unerreichbare Untröstlichkeit, die© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525461242 — ISBN E-Book: 978364746124325

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