Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops
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cura10<br />
| 09<br />
NOVA<br />
<strong>Entwickeln</strong>, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong> ...<br />
Das Fachmagazin für Pfl ege und Betreuung<br />
Werde, was du bist 6 Die Suche nach den eigenen Wurzeln 20 Psychomotorische<br />
Entwicklung und Autonomie im Alter 33 Spitexorganisationen<br />
in Veränderung 42 Transfer-Coaching im Pfl egestudium 48
Ruth Frei<br />
Redaktorin NOVAcura<br />
ruth.frei@curahumanis.ch<br />
Editorial<br />
Ursprünglich wollte ich Ihnen mit einem gerontologisch-journalistischen Paukenschlag<br />
die Quintessenz unseres Heftthemas «entwickeln, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong> ...» im Rahmen<br />
des Editorials sozusagen «um die Ohren werfen«. Es ist mir nicht gelungen. Ist<br />
eigentlich auch logisch. Es wäre ja fast schon ein bisschen anmassend, im Rahmen<br />
von ungefähr 2800 Zeichen sozusagen einen Rundumschlag zum menschlichen<br />
Wachsen und Werden machen zu wollen. Und so überlasse ich dies den Fach leuten.<br />
Dem Philosophen, dem Gesundheitsexperten, der Pfl egefachfrau, dem Mediziner,<br />
dem Pfl egeexperten, den Bildungsfachleuten ... Sie werden Ihnen auf rund 56 Seiten<br />
nicht nur Hintergründiges zum Thema aufzeigen, sondern auch ganz konkrete<br />
Inputs mitgeben, die Sie in Ihrem Berufsalltag (hoffentlich) umsetzen können. Ganz<br />
im Sinne von entwickeln, <strong>wachsen</strong> und <strong>reifen</strong>.<br />
Ich aber bleibe bei meinem Kerngeschäft, beim redaktionellen Handwerk, und<br />
berichte Ihnen, wie «unser Werk, die NOVAcura» wächst, gedeiht und reift: Wenn<br />
wir eine Themennummer vorbereiten, liegen zuerst meist eine ganze Menge Ideen<br />
auf dem Tisch, die es zu bündeln gilt. Viele persönliche und telefonische Gespräche<br />
sind nötig, bis der defi nitive Inhalt einer Ausgabe von NOVAcura endlich steht.<br />
Manchmal gleicht das Ganze einem Puzzlespiel. Einiges wird verworfen, manches<br />
ver ändert sich im Laufe der Recherchen. Es gilt Abgrenzungen zu machen zwischen<br />
den inhaltlichen Ausrichtungen der einzelnen Artikel. Den Sachen auf den Grund<br />
zu gehen. Das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Und oft dauert es<br />
einige Zeit, bis der Durchblick endlich möglich ist. Die fertigen Texte der Autorinnen<br />
und Autoren trudeln ein, sie werden bearbeitet und redigiert. Rückmeldungen,<br />
Anpassungen sind zu machen. Passendes Bildmateriel muss gefunden<br />
werden, um die Kernaussagen zu verdeutlichen. Gespräche mit dem Layouter, Textgestaltung,<br />
Vorschläge prüfen, abändern und, und, und ... Eine spannende Sache –<br />
und manchmal läuft einem die Zeit davon. Eines Tages aber liegt das fertige Produkt<br />
im Briefkasten und damit – so hoffe ich – Informationen und Anregungen für<br />
Ihren Berufsalltag, die Sie immer wieder mal dazu ermuntern, Bestehendes zu hinterfragen,<br />
zu verändern und neu zu entwickeln. Dass es aber manchmal Geduld<br />
braucht, bis der Samen aufgeht, wächst und reift, das wissen wir alle.<br />
Deshalb muss ich – auch auf die Gefahr hin, dass Sie es als moralisierend und<br />
pathetisch empfi nden – meinen bereits zu Beginn meines Schreibens geplanten<br />
(und zwischenzeitlich schon fast verworfenen) Schlusssatz einfach doch noch platzieren:<br />
Mir bricht es manchmal fast das Herz, wenn ich sehe, höre und erlebe, wie<br />
alte (reife) Menschen mit einer langen Lebensgeschichte und einem reichen Schatz<br />
von Erfahrungen zu hilfl osen Wesen gemacht und nicht ernst genommen werden.<br />
Das könnte man doch ändern. Oder?<br />
Ruth Frei
Zur Titelseite<br />
Was <strong>wachsen</strong> und<br />
zum Leben <strong>reifen</strong> soll,<br />
braucht Sorgfalt und<br />
Pfl ege.<br />
Foto: F1online<br />
Inhalt<br />
Dossier<br />
6 Werde, was du bist! Dr. phil. Beat Vonarburg<br />
9 Spurenleger Thomas Hax-Schoppenhorst<br />
12 Die Hoffnung nicht aufgeben<br />
Zwischen Machtlosigkeit und «Auferstehung» im Alter<br />
Sylke Werner<br />
15 Alter verbergen oder gestalten und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />
Dr. med. Andreas Gerlach<br />
18 Lebenslanges Lernen Claudia Sciborski<br />
20 Die Suche nach den eigenen Wurzeln Elke Steudter<br />
22 Fotobüchsen sind wie Pralinenschachteln ...<br />
Jürgen Georg<br />
24 Gesundheitsförderung für ältere Menschen<br />
Robert Weller<br />
26 Die Würde des Menschen ist unantastbar<br />
Prof. Dr. Helmut Bachmaier<br />
28 Herausforderndes Verhalten<br />
Eine Aufforderung an Institutionen und Pfl egende<br />
Jasmin Kleiner<br />
31 Psychomotorische Entwicklung und Autonomie<br />
im Alter Christopher Kahl<br />
34 Praxisentwicklung<br />
Ein Prozess mit dem Ziel einer effektiven und gästeorientierten<br />
Pfl ege Franziska Zúñiga und Irena Anna Frei<br />
37 Verstehen, wer wir sind<br />
Buchrezension Simone Anna Heitlinger<br />
38 Curahumanis nutzt Entwicklungspotenzial<br />
Fusion fordert Veränderungen und Neuorientierung<br />
Joachim Cerny<br />
40 Zwischen Führungs- und Pfl egeaufgabe<br />
Margrit Freivogel Kayser<br />
41 Sandwich-Position Stationsleiterin<br />
Fachtagung Curahumanis<br />
Spitex<br />
42 Spitexorganisationen in Veränderung Markus Kopp<br />
44 In den Ruhestand Elisabeth Conte und Walter Wyrsch<br />
Bildung<br />
48 Transfer-Coaching im Pfl egestudium<br />
Lucie Schmied-Fuchs und Markus Berner<br />
50 Käse, Papageien und alte Hasen Jürgen Georg<br />
Palliative Care<br />
52 Krankengeschichte oder Geschichte des Menschen<br />
Von der Bedeutung der Salutogenese in der Palliative Care<br />
Cornelia Knipping<br />
Rubriken Editorial 3 Bezugsquellen 49 Cartoon 55 Vorschau 55<br />
Spurenleger<br />
Von Geburt an bis zum Lebensende<br />
muss sich der Mensch unterschiedlichen<br />
Entwicklungsaufgaben stellen. Mit zunehmendem<br />
Alter schauen manche gelassen<br />
und andere nachdenklich zurück<br />
auf das, was war. Gleichzeitig stellt sich<br />
die Frage, was es noch zu tun gibt. 9<br />
Alter verbergen oder gestalten<br />
und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />
Das Alter könne verschoben und Alterungsprozesse<br />
rückgängig gemacht<br />
werden. So wird propagiert. Es braucht<br />
fast schon Mut, sich gegen diesen Zeitgeist<br />
zu stellen. Die Lebensphase Alter<br />
bietet aber ein breites Spektrum an<br />
Erfahrungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.<br />
15<br />
Fotobüchsen sind wie<br />
Pralinenschachteln<br />
Bilder haben vielfältige Funktionen im<br />
Leben eines Menschen. Der Entwicklung<br />
und Lebensgeschichte alter Menschen<br />
anhand von Fotos nachzuspüren ist ein<br />
sehr spannender und reizvoller Aspekt<br />
der Pfl ege- und Aktivierungsarbeit. 22
Werde, was du bist!<br />
<strong>Entwickeln</strong>, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong>? Philosophische und<br />
persönliche Überlegungen zum Thema mit Bezug<br />
zum Alltäglichen. Beat Vonarburg<br />
Das viel zitierte Wort von Goethe zeigt den<br />
Weg des <strong>Entwickeln</strong>s im Sinne von Auswickeln,<br />
bis das Eingewickelte zum Vorschein<br />
kommt. Es scheint also, dass ein Kern im Verborgenen<br />
vorhanden ist. Da der Kern verborgen bzw. eingewickelt<br />
ist, muss er offengelegt werden, um offenbar<br />
zu werden. Es geht um die Offenbarung des<br />
Innern, des Wesens, der Eigentlichkeit. Wie beim<br />
Entblättern der Artischocke – man verzeihe mir diesen<br />
trivialen Vergleich – befreit man das Herzstück.<br />
Dabei braucht es auch bei Tisch etwas Geduld, obwohl<br />
die Blätter bereits am Innenrand Teile des Innern<br />
aufweisen, die man im Wissen auf das Grössere<br />
geniessen kann. Es sind Hinweise auf das Kommende,<br />
Vorboten, dass man sich auf dem richtigen<br />
Weg befi ndet.<br />
Bei Platon, im 4. Jh. vor Chr., war es noch ganz<br />
anders. Im Höhlengleichnis stieg der Mensch in die<br />
eigenen Tiefen hinab, um zur Erfahrung zu gelangen,<br />
dass man sich von der Scheinwelt lösen muss,<br />
dass es gilt, sich von den Trugbildern der Welt loszureissen<br />
und aufzusteigen aus dem Schattenreich<br />
ins Licht der ewigen Ideen, ins Reich des Guten und<br />
Wahren. Das bedeutet mit andern Worten, dass es<br />
6 NOVAcura 10|09<br />
Künstlerische<br />
Selbst verwirklichung<br />
eines Kleinbauern<br />
im Luzerner Seetal.<br />
Foto: Edi Frei<br />
das objektiv Gute und Wahre gibt. Du fi ndest es auf<br />
dem Weg in die Innerlichkeit. Es gilt, der Welt der<br />
Dinge, dem Körper oder, wie es später heisst, dem<br />
Fleisch zu entsagen, um in die Welt des Geistes emporzusteigen.<br />
Das Heil ist in einer geistigen Welt zu<br />
fi nden, fern der Versuchungen der körperlichen<br />
Diesseitigkeit.<br />
Bereits bei Aristoteles, Platons Schüler, gibt es dieses<br />
absolute Heil nicht mehr. An die Stelle eines religiösen<br />
Heilsversprechens tritt die Anleitung zum<br />
klugen Leben. Die Philosophie wendet sich dem<br />
praktischen Leben im Diesseits zu. Sie wird zur Lebensorientierung,<br />
zur Refl exion über die Argumentationsprozesse,<br />
die nötig sind, um sich über die eigene<br />
Identität Klarheit zu verschaffen. Ziel ist eine<br />
authentische Lebensführung, die über den Weg der<br />
Selbstrefl exion zu fi nden ist. Nicht mehr das absolut<br />
Gute und Wahre ist die Idealnorm, sondern das<br />
Gute und Wahre für das Individuum ist wichtig. Die<br />
Tugend als sittliche Richtschnur ist nicht mehr das<br />
absolut Gute, sondern die Mitte zwischen zwei Extremen.<br />
Das Gleichmass ist das für den Menschen<br />
Bekömmliche. Sich entwickeln heisst fortan, das für<br />
den Menschen gedeihliche Mass zu suchen und zu<br />
fi nden.<br />
Selbstverwirklichung gegen Selbstverdinglichung<br />
Der Begriff stammt nicht aus dem 20. Jahrhundert,<br />
denn bereits in der antiken Philosophie wurde er für<br />
die Suche nach dem Selbst verwendet. In den Auf-
üchen und Verwerfungen der 68er-Jahre war er ein<br />
Leitmotiv der antiautoritären Strömungen und demzufolge<br />
auch ein Reizwort für die konservative Reaktion.<br />
Dabei geht es schlicht nur um die Suche nach<br />
der Ganzheit, um die Mitte des personalen Ichs. Die<br />
Wirklichkeit des Selbst hat nichts zu tun mit Selbstverliebtheit<br />
oder mit Schwärmen in Selbstvergessenheit.<br />
Es handelt sich im Gegenteil um die Herausforderung,<br />
die Ichbezogenheit aufzugeben und sich aus<br />
einer erkennenden Distanz wahrzunehmen. Es ist<br />
somit die Bewegung der Abgrenzung, die aber nicht<br />
zur Ausgrenzung führen soll, sondern zur Einsicht,<br />
dass das Selbst nicht grenzenlos ist und sich nur fi ndet<br />
im Verkehr mit den Andern. Selbstverwirklichung<br />
ist der Versuch des Selbstbezugs im Bemühen,<br />
sich in einer grösseren Ordnung zu orten.<br />
Das Recht auf Entwicklung musste erkämpft werden<br />
Dass die Verwirklichung des Selbst in der<br />
2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Befreiung<br />
aus autoritären gesellschaftlichen Strukturen bedeutet,<br />
ist den Nostalgikern der alten Ordnung ein Dorn<br />
im Auge. Denken wir an die Frauenbewegung, an<br />
den Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung, an<br />
die Mitbeteiligung am ökonomischen Aufschwung.<br />
Kurz gesagt: Es ging um den Aufbau einer zunehmenden<br />
Autonomie des Individuums. Ich denke zurück<br />
an meine 60er-Jahre: Zum Glück wusste meine<br />
französische Frau nichts von ihrer rechtlichen Entmündigung<br />
am Tage unserer Zivilheirat! Mit einem<br />
Schlag war sie nicht mehr unterschriftsfähig ohne<br />
mein Einverständnis, und auch die politischen<br />
Rechte waren noch nicht in Reichweite. Küche, Kinder,<br />
Kirche, das war die Losung oder vielmehr das<br />
Los. Die Frau hatte dem Mann den Rücken freizuhalten<br />
wie im Roman von Saint Exupéry «Vol de<br />
Nuit», in dem der Mann mit seinem Flugzeugphallus<br />
in den Himmel sticht, während die Frau an der<br />
Landepiste wartet. Warten auf den Helden und<br />
Heimkehrer. Noch in den 70er-Jahren wurde eine<br />
mir bekannte Mathematikerin an einem Lehrerseminar<br />
angewiesen, sich um ihr zukünftiges Kind zu<br />
kümmern und einem Mann Platz zu machen. Heute<br />
sind diese Kinder 40 Jahre alt und können sich kaum<br />
vorstellen, welche Entwicklung sich damals für eine<br />
Frau als angemessen schickte.<br />
Eine andere Reminiszenz aus meinen Jugendjahren<br />
ist weit entfernt von Selbstverwirklichung und<br />
geht eher in Richtung Selbstverdinglichung: In den<br />
damals grossen Industriewerken in Emmenbrücke<br />
im Kanton Luzern, wo einige Tausend Arbeiter beschäftigt<br />
wurden, gab es den Dreischichtenbetrieb<br />
und die vierzehntägliche gelbe Lohntüte. Der Lohn<br />
wurde auf dem Lohnbüro ohne Zählmaschinen berechnet.<br />
Aufbesserungen gab es manchmal im halben<br />
Rappenbereich. Um sechs Uhr früh traf man<br />
sich beim Schnaps im Spunten. So mussten im<br />
Rhythmus von 14 Tagen einige Arbeiterfrauen ihre<br />
Männer mit List und Takt aus den Beizen holen, damit<br />
das Lohntütlein nicht zu stark entleert wurde.<br />
Die Männer waren auf dem Selbstertränkungstrip,<br />
weil sie sich nicht selbst gehörten. Sie waren zuerst<br />
Arbeiter und erst am Sonntag ein wenig Menschen.<br />
Viele wussten nicht, dass sie nur als Verdingmen-<br />
schen gehalten wurden. Hundert Jahre lang waren<br />
sie an ihre Dinglichkeit gewöhnt worden. Ihr Selbst<br />
war zugeschüttet, die Bedürfnisse weggedrückt.<br />
Wurde der Druck zu gross, half das gebrannte Wasser:<br />
Sie konnten eine Stunde lang träumen. Die Befreiung<br />
zu ihrem Selbst musste noch eine Weile warten.<br />
Ein paar Jahrzehnte später brauste eine neue<br />
Welle der Verdinglichung über die westliche Welt:<br />
Das Zeitalter des Konsums hatte das Selbst zugedeckt.<br />
Nach dem Hunger die Verschwendung. Es war<br />
die Zeit der Anhäufung im Materiellen. Mann verwirklichte<br />
sich in den Pferdestärken, und Frau durfte<br />
sich im kurzen Rock auf dem Sozius präsentieren<br />
oder am Strand in Rimini. Nach Theodor W. Adorno<br />
war die Geschichte eine permanente Katastrophe.<br />
Verführt durch den Willen zur Macht, verfi el der<br />
Mensch im Herrschen über die Natur selbst dem<br />
Herrschaftsdenken. Er wurde vom Subjekt zum Objekt,<br />
zum Ding, das von den Dingen aufgefressen<br />
wird. Fortschritt ist in sein Gegenteil umgeschlagen.<br />
Noch etwas später und bis heute kam die Äufnung<br />
von Finanzwerten dazu, bis die Blase der globalen Illusion<br />
platzte und das Selbst nackt da stand. Nun<br />
kommt der Dalai Lama, spricht vor vollen Sälen, und<br />
die Schweizer Regierung ist verhindert. Zum Teil verständlich:<br />
Sie ist mit der UBS in Amerika beschäftigt.<br />
Oder in die chinesische Handelskammer eingeladen.<br />
Auch das ist Entwicklung.<br />
Verklärter Herbst<br />
Gewaltig endet so das Jahr<br />
Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.<br />
Rund schweigen Wälder wunderbar<br />
Und sind des Einsamen Gefährten.<br />
Da sagt der Landmann: Es ist gut.<br />
Ihr Abendglocken lang und leise<br />
Gebt noch zum Ende frohen Mut.<br />
Ein Vogelzug grüsst auf der Reise.<br />
Es ist der Liebe wilde Zeit<br />
Im Kahn den blauen Fluss hinunter.<br />
Wie schön sich Bild an Bildchen reiht.<br />
Das geht in Ruh und Schweigen unter.<br />
Georg Trakel<br />
Wachsen und zum Leben <strong>reifen</strong> Alles, was lebt,<br />
wächst bis zum Er<strong>wachsen</strong>sein, der Mensch, das Tier<br />
wie das Gewächs. Er<strong>wachsen</strong> sein ist folglich ein biologischer<br />
Terminus, wie Reife bzw. Reifung. Es sind<br />
Anleihen aus der Natur, die für den Menschen unzureichend<br />
sind. Die reife Frucht fällt oder wird gepfl<br />
ückt. Die er<strong>wachsen</strong>en Menschen würden sich dagegen<br />
verwahren, mit 20 Jahren gepfl ückt zu werden.<br />
Bei den Franzosen nennt man den Maturus am<br />
Ende des Gymnasiums einen Baccalaureatus, das<br />
heisst der mit Lorbeer Bekränzte. Früher gab es nur<br />
die männliche Form. Heute haben die jungen Frauen<br />
NOVAcura 10|09<br />
Dr. phil. Beat Vonarburg<br />
war während vieler Jahre<br />
in der Lehrerbildung und<br />
in der Bildungsverwaltung<br />
tätig und engagiert<br />
sich heute in Politik und<br />
Philosophie.<br />
bfvonarburg@bluewin.ch<br />
7
Foto: Edi Frei<br />
Ein Meister aus Deutschland<br />
Philosophie beginne erst,<br />
wenn wir den Mut haben,<br />
das Nichts begegnen zu<br />
lassen. Das Nichts ist nicht<br />
nichts, sondern etwas, das<br />
wir nicht zu fassen vermögen.<br />
Dem gegenüber sei<br />
der Mensch etwas Schöpferisches,<br />
wo aus nichts etwas<br />
und aus etwas nichts<br />
wird. Das sei das Positive<br />
der Lebensangst: Sie führt<br />
uns zur Möglichkeit der Gestaltung,<br />
sie führt uns zur<br />
Eigentlichkeit, zur Offenbarung,<br />
dass die Flucht vor<br />
dem Selbst ins Bodenlose<br />
führt. Man muss den<br />
Schock der Zufälligkeit zulassen,<br />
um der Neigung zur<br />
Flucht den Weg abzuschneiden.<br />
Heidegger und seine Zeit<br />
Nach R. Safransky, Hanser,<br />
1994<br />
die Mehrheit. Bei uns ist eine Matura 18 Jahre jung;<br />
vor zwei Jahrzehnten brauchte es noch 20 Jahre bis<br />
zu dieser Reife. Die religiöse Reife jedoch erreichen<br />
alle ohne Leistung mit 16. In Deutschland heissen<br />
die Lern-Reifen Abiturienten. Und politisch reif wird<br />
man in der Schweiz mit 18, auch ohne Anstrengung.<br />
Man muss nur die Jahre an<strong>wachsen</strong> lassen. Die Frage<br />
sei erlaubt, ob man in diesem Alterssegment bereits<br />
reif, das heisst emanzipiert, ist? Emanzipation bedeutet<br />
nämlich Besitzübernahme, man erreicht einen<br />
Zustand, in dem man sich in der Hand hält. Ein<br />
Fuhrhalter würde sagen, man halte fortan die Zügel<br />
in den Händen. Vorne am Zaumzeug sind die Pferde,<br />
die es zu zügeln gilt. Die Gereiften sind in der Lage,<br />
ihre Triebpferde selber zu zügeln, die Energie in vernünftige<br />
Bahnen zu lenken. Individuelles und politisches<br />
Ziel der Emanzipation ist die Befreiung von<br />
Fremdbestimmung. Der Weg dazu ist das Bewusstsein<br />
von Abhängigkeit, damit die Menschen fähig<br />
werden, die Freiheit für sich und die Gesellschaft gestalten<br />
zu wollen. Frage: Wie lange dauert der Weg<br />
der Befreiung?<br />
Mehr Ausdruck verschafft uns der Terminus der<br />
«Mündigkeit». Wer mündig ist, hat keinen Vormund,<br />
er darf seinen Mund selber brauchen und seinen<br />
Willen kundtun. Niemand steht ihm vor dem<br />
Mund. Er ist seines Wortes selber mächtig. Seit der<br />
Aufklärung kennen wir das berühmte Wort von Kant<br />
vom «Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit».<br />
Kant ersetzte die seit Aristoteles gesetzte<br />
Frage nach dem, was gut ist für mich, «durch die moralisch-politische<br />
Frage nach den Regeln eines gerechten<br />
Zusammenlebens, das gleichermassen gut<br />
ist für alle. Als gerecht gelten diejenigen Normen,<br />
die im gleichmässigen Interesse eines jeden liegen<br />
und daher auf die allgemeine Zustimmung vernünftiger<br />
Subjekte rechnen dürfen.» (J. Habermass, Wahrheit<br />
und Rechtfertigung, 1999)<br />
Zur Reife des Einzelnen wie der Gesellschaft gehört<br />
folglich die Autonomie, der autonome Lebensvollzug.<br />
Das bedeutet weder Willkür noch Egoismus,<br />
sondern ist die Fähigkeit, den eigenen Willen den<br />
Gesetzen zu unterwerfen, die aus der Vernunft des<br />
allgemeinen Willens entstanden sind. Rousseau hat<br />
diese Gesellschaftsvorstellung im «Contrat social»<br />
grundgelegt, was bedeutet, dass es sich um einen<br />
Vertrag unter mündigen Menschen handelt, um einen<br />
Vertrag auf Zeit, der auch gekündigt werden<br />
kann und somit der Willkür des damals geltenden<br />
Gottesgnadentum entzogen war. Wir können uns<br />
vorstellen, welche Sprengkraft in solchen Ideen angelegt<br />
war. Damals führte die Idee der Autonomie<br />
zur französischen Revolution, und heute sorgt sie<br />
in der Erziehungsdebatte noch immer für rote<br />
Köpfe.<br />
Erziehung zur Menschlichkeit Seit dem späten<br />
Mittelalter steht der Mensch im Zentrum der philosophischen<br />
Debatte. Im Humanismus wird versucht,<br />
die menschliche Selbstbestimmung zu defi nieren,<br />
Ziele und Werte aus der Sicht des Menschen zu formulieren.<br />
Diese kopernikanische Wende in der Philosophie<br />
wurde von R. Descartes eingeleitet. Der Mathematiker<br />
und Philosoph schrieb im «Discours de<br />
8 NOVAcura 10|09<br />
la méthode», 1637, dass sein Denken zuerst alles gemeinhin<br />
Angenommene radikal in Frage stelle bis<br />
zu einem Punkt, da er auf den eigenen Grund stosse<br />
und nicht weiterkomme. Auf diesem Grund angekommen,<br />
sagte er: «cogito, ergo sum», das heisst<br />
«ich denke, also bin ich». Und denken heisst bei<br />
Descartes zweifeln. Das Zweifeln war seine Methode,<br />
nicht das Ziel, denn er wollte verlässliche Antworten.<br />
Es galt, die Humanität in Konzepte zu fassen,<br />
human zu defi nieren, um ein Leben in Selbstbestimmung<br />
zu führen.<br />
Der heutige Philosoph Peter Sloterdijk (Regeln für<br />
den Menschenpark, 1999) wird bei der Humanismusdiskussion<br />
etwas polemisch. Er schreibt von Domestikation,<br />
von Selbstzähmung und Züchtung, lies<br />
Machtergreifung von Menschen über Menschen.<br />
Menschen seien Tiere, von denen die einen lesen<br />
und schreiben können. Das bedeute auch auslesen,<br />
die andern züchten, es gebe Züchter und Gezüchtete.<br />
Der Mensch als «animal rationale» habe nur<br />
eine erweiterte Animalität mit kulturellem und metaphysischem<br />
Überbau, der es erlaube, den Menschen<br />
zu entbestialisieren.<br />
Was kommt nach der Reife? 250 Jahre vorher<br />
heisst es bei Voltaire, wir lebten in den besten aller<br />
Welten. Am Schluss eines Lebens mit Katastrophen<br />
zu Hauf landet Candide bei einem orientalischen<br />
Weisen, der ihm folgenden Rat gibt: «Man muss seinen<br />
Garten besorgen.» Vor dem Haus sitzen und<br />
dem Wachsen zuhören. Das ist die Bescheidenheit,<br />
zu der der Weise gefunden hat. Sich und das Leben<br />
annehmen, das Werden und das Vergehen, die Vergänglichkeit,<br />
das Schrumpfen, die Runzeln und den<br />
Tod. Im Garten wird es wieder <strong>wachsen</strong>.<br />
Mit dieser Aussicht auf die Existenz ist der 1959<br />
verunfallte Albert Camus nicht einverstanden. Er<br />
fi ndet, der Tod sei der Skandal des Lebens, sich auf<br />
den Tod hin zu entwickeln, zur Vernichtung, sei absurd.<br />
Der Mensch befi nde sich in totaler Orientierungslosigkeit.<br />
Dazu ein Bild: Der Mensch ist irgendwo<br />
in einem Raum, der mit Chaos aufgefüllt<br />
ist. Um sich in diesem Absurdum einigermassen zu<br />
orientieren, kann er versuchen, das Chaos etwas zurückzudrängen<br />
und auf diese Weise einen relativen<br />
Raum der Ordnung zu schaffen. Das Ganze bleibt<br />
aber im Chaos gefangen, und die Kräfte des Absurden<br />
dringen dauernd in die mühsam erworbene<br />
Ordnung ein. Der Mensch ist wie der antike Held<br />
Sisyphus, der den Stein auf den Hügel trägt, obwohl<br />
er weiss, dass er oben wieder hinunterkollert.<br />
Sisyphus ist stark, er gibt nicht auf; ein ewiger<br />
Rebell.<br />
Könnte man sagen, in der Zeit nach der biologischen<br />
Reife wächst die Einsicht in das Ungewisse?<br />
M. Heidegger sagte, die Philosophie beginne erst,<br />
wenn wir den Mut haben, das Nichts begegnen zu<br />
lassen. Ich muss gestehen, auf dieser Höhe wird mir<br />
schwindlig. Ich respektiere die Dimension des Tragischen<br />
im Menschen, Voltaires Garten steht mir<br />
aber näher. Die Aussicht auf den ewigen Kreislauf eröffnet<br />
die Versöhnung. Nach der biologischen Reife<br />
kommt die Zeit des Friedens mit der Vergänglichkeit.<br />
■
Impressum<br />
NOVAcura – Offi zielles<br />
Organ von curahumanis<br />
40. Jahrgang<br />
Herausgeber<br />
curahumanis,<br />
Obergrundstrasse 44,<br />
6003 Luzern,<br />
Tel. 041 249 00 80,<br />
Fax 041 249 00 89,<br />
info@curahumanis.ch,<br />
www.nova-fachmagazin.ch,<br />
www.curahumanis.ch<br />
Redaktion<br />
Ruth Frei,<br />
Rebmesserweg 4b,<br />
6285 Hitzkirch,<br />
Tel./Fax 041 917 05 85,<br />
ruth.frei@curahumanis.ch<br />
Margrit Freivogel,<br />
Wissibach 9,<br />
6072 Sachseln,<br />
Tel./Fax 041 660 90 79,<br />
margrit.freivogel@<br />
cura humanis.ch<br />
Redaktionelle<br />
Mitarbeiter/innen<br />
Kathrin Derksen, Markus<br />
Feuz, Jürgen Georg, Linda<br />
Hutzler, Markus Kopp, Elke<br />
Steudter, Carsten Niebergall,<br />
Elvira Tschan, Walter Wyrsch,<br />
Fredy Durrer, Simone Heitlinger,<br />
Tomas Kobi, Ruth<br />
Manetsch, Brigitte Zaugg<br />
Layout, Druck und<br />
Spedition<br />
Stämpfl i Publikationen AG,<br />
Bern<br />
Anzeigenverwaltung<br />
Dr. Hans Balmer AG,<br />
Postfach 260, 4601 Olten,<br />
Tel. 062 212 25 55,<br />
Fax 062 212 86 47,<br />
nova-inserate@balmerwerbung.com<br />
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siehe Herausgeber oben<br />
curahumanis<br />
Abonnentenpreis<br />
(Erscheinungsweise<br />
11-mal jährlich) Jahresabonnement:<br />
Inland Fr. 98.– inkl. 2,4%<br />
MWSt., Ausland EUR 75.–<br />
(3 Ausgaben) Schnupperabonnement:<br />
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MWSt., Ausland EUR 20.–<br />
Einzelnummer<br />
Inland Fr. 11.– inkl. 2,4%<br />
MWSt., Ausland EUR 9.–<br />
ISSN 1422-4178<br />
WEMF-bestätigte<br />
Aufl age 2008:<br />
7910 Ex.<br />
Copyright<br />
Nachdruck nur mit schriftlicher<br />
Genehmigung der<br />
Redaktion und mit Quellenangabe.<br />
Für nicht angeforderte<br />
Manu skripte und Bilder<br />
übernimmt die Redaktion<br />
keine Verantwortung<br />
cura11|<br />
0 9<br />
NOVA<br />
Schlaf<br />
Nr. 11| 2009<br />
Schlaf<br />
Das Fachmagazin für Pfl ege und Betreuung<br />
Schlafen Sie gut? Wunderbar. Mit<br />
grosser Wahrscheinlichkeit freuen<br />
Sie sich jeweils darauf, abends unter<br />
die Decke zu kriechen. Sie<br />
schlafen vermutlich nach kurzer<br />
Zeit bereits ein, schlummern tief<br />
und fest und steigen am Morgen<br />
voller Elan wieder aus dem Bett.<br />
Glück gehabt. Viele Menschen<br />
klagen nämlich über Schlafprobleme.<br />
Die nächtlichen Stunden<br />
im Bett sind ihnen eine Qual.<br />
Klar, dass sich das nächtliche<br />
Wach sein auch auf die Tagesbefi<br />
ndlichkeit auswirkt. Wo die Ursachen<br />
für solche Probleme liegen,<br />
wie Betroffene damit umgehen<br />
und welche Möglichkeiten es<br />
gibt, um beispielsweise mit einer<br />
besseren Schlafhygiene die Probleme<br />
in den Griff zu bekommen,<br />
darüber berichten wir in der<br />
nächs ten NOVAcura.<br />
Cartoon<br />
Vorschau<br />
Wichtig ist aber auch, dass wir<br />
versuchen zu ergründen wie es<br />
nachts um die Befi ndlichkeit jener<br />
Menschen steht, die wir betreuen<br />
und pfl egen. Wie lang sind<br />
ihre Nächte? Wie sinnvoll sind<br />
Schlafmedikamente? Brauchen<br />
wir vermehrt Nachtangebote für<br />
Menschen, die nachts nicht schlafen<br />
können und wie können oder<br />
sollen solche aussehen?<br />
Sie sehen: die Themenpalette<br />
rund um das Schlafen ist breit.<br />
Vielleicht dient Ihnen die nächste<br />
NOVAcura als Bettlektüre. Sie werden<br />
dabei unter anderem auch<br />
erfahren, ob das oftmals gross<br />
pos tulierte «Lernen im Schlaf»<br />
möglich ist.
Von der Geburt bis zum Lebensende hat der Mensch sich unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben zu<br />
stellen, um letztlich zu einer gesunden Persönlichkeit zu werden. Während Kindheit und Jugend in erster<br />
Linie davon geprägt sind, dass er zu einem selbstständig denkenden und handelnden, sozial fähigen Wesen<br />
gedeiht, stehen im Er<strong>wachsen</strong>enalter jene Fragen im Vordergrund, wie nun der gereifte Mensch sein<br />
Leben konkret gestaltet, welche Lebensaufgaben er wählt, welche Ziele er mit welchen Mitteln erreichen<br />
will. Entscheidungen für oder gegen eine eigene Familie, mit der man das Leben an kommende Generationen<br />
weitergibt, und generell die Suche nach einem sinnerfüllten Leben sind bestimmend. Am Ende des<br />
Lebens fragt sich schliesslich jeder: «Was habe ich erreicht?» bzw. «Hat sich mein Leben gelohnt?»<br />
Thomas Hax-Schoppenhorst<br />
Der 1902 in Frankfurt am Main geborene Psychoanalytiker<br />
Eric H. Erikson defi nierte acht<br />
psychosoziale Stadien der Ich-Entwicklung,<br />
in denen der Einzelne eine neue Orientierung zu sich<br />
selbst und zu den Personen seiner Umwelt fi ndet.<br />
Für jedes Stadium werden Entwicklungsaufgaben<br />
(Leitmotive) formuliert, die positiv oder negativ bewältigt<br />
werden können. Das Modell geht also davon<br />
aus, dass jeder Mensch sich in Stufen ent wickelt, die<br />
in jedem von Geburt an angelegt sind. Jede dieser<br />
Stufen besitzt eine besondere Thematik, die jeweils<br />
in der entsprechenden Stufe aktuell wird. Die Aktualität<br />
eines Themas steigert sich schlussendlich zu einer<br />
Krise. Wurde die Krise bewältigt, folgt die nächste<br />
Stufe. Im Lebenszyklus eines Menschen entwickeln<br />
sich, in aufsteigender Reihenfolge, Hoffnung, Wille,<br />
Entschlusskraft, Kompetenz, Treue, Liebe, Fürsorge<br />
und Weisheit – acht Stufen bis zum Glück.<br />
Generativität und Integrität Die fünf Stadien von<br />
Kindheit und Jugend können hier nicht Thema sein.<br />
Im Zusammenhang mit der Betreuung und Pfl ege alter<br />
Menschen sind Eriksons Ausführungen zu den<br />
letzten beiden der drei Stadien des Er<strong>wachsen</strong>enlebens<br />
jedoch erwähnenswert. Im Stadium «Generativität<br />
gegen Stagnierung» (Stadium 7) bezieht er<br />
sich auf die Elternschaft. «Eltern», so Erikson, «werden<br />
bald wünschen (…), mit vereinter Kraft einen<br />
gemeinsamen Sprössling aufzuziehen. Diesen<br />
Wunsch habe ich das Streben nach Generativität ge-<br />
NOVAcura 10|09<br />
9<br />
Illustration: Elias Frei
Thomas Hax-Schoppenhorst<br />
ist pädagogischer<br />
Mitarbeiter an der LVR-<br />
Klinik Düren (D) und<br />
Lehrer an Schulen für<br />
Pfl egeberufe sowie Sachbuchautor.<br />
Thascho@gmx.de<br />
nannt, weil es sich (…) auf die nächste Generation<br />
richtet.» Generativität ist also das Interesse an der<br />
Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation.<br />
Doch nicht nur Eltern zeigen dieses Interesse, denn<br />
es gibt auch Menschen, die «wegen unglücklicher<br />
Umstände oder aufgrund besonderer Gaben diesen<br />
Trieb nicht auf ein Kind, sondern auf eine andere<br />
schöpferische Leistung richten, die ihren Teil an elterlicher<br />
Verantwortung absorbieren kann.» Menschen,<br />
die keine Generativität entwickeln, «fallen<br />
oft sich selbst gegenüber dem Gefühl anheim, als<br />
seien sie ihr eigenes, einziges Kind: sie beginnen sich<br />
selber zu verwöhnen.» Das Stadium der Generativität<br />
gilt es jedoch zu entwickeln bzw. zu gestalten!<br />
Blosse Elternschaft bzw. blosses Tun ohne ein Ziel<br />
vor Augen genügen nicht. Der Mensch braucht nach<br />
Erikson schon ein stabiles «Vertrauen in die Gattung»,<br />
um nicht bis zum Lebensende nur mit sich<br />
beschäftigt zu sein.<br />
Ist es gelungen, dem Leben ein ganz individuelles,<br />
markantes Profi l zu geben, konnten Spuren hinterlassen<br />
werden, denen andere interessiert folgen,<br />
so erreicht in späten Lebensjahren der Mensch Integrität<br />
(Stadium 8). «Nur wer einmal die Sorge für<br />
Dinge und Menschen auf sich genommen hat, wer<br />
sich den Triumphen und Enttäuschungen angepasst<br />
hat, (…) – nur dem kann allmählich die Frucht dieser<br />
[vorausgehenden, d. V.] sieben Stadien heran<strong>wachsen</strong>.<br />
Ich weiss kein besseres Wort dafür als Integrität»,<br />
fasst Erikson zusammen. Dieser seelische<br />
Zustand «bedeutet die Annahme seines einen und<br />
einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in<br />
ihm notwendig da sein mussten und durch keine<br />
anderen ersetzt werden können. Er bedeutet eine<br />
neue, andere Liebe zu den Eltern, frei von dem<br />
Wunsch, sie möchten anders gewesen sein als sie waren,<br />
und die Bejahung der Tatsache, dass man für<br />
das eigene Leben allein verantwortlich ist. Er enthält<br />
ein Gefühl von Kameradschaft zu den Männern und<br />
Frauen ferner Zeiten und Lebensformen, die Ordnungen<br />
und Dinge und Lehren schufen, welche die<br />
menschliche Würde und Liebe vermehrt haben.»<br />
Gandhi und Luther waren für Erikson exemplarische<br />
und überlebensgrosse Gestalten, an denen sich<br />
der Kampf um Identität und Generativität gut verdeutlichen<br />
lässt: Sie hielten unbeirrbar an ihrem eingeschlagenen<br />
Weg fest, sie waren von ihrem Tun fest<br />
überzeugt, sie rissen die Menschen mit und zeigten<br />
sich kämpferisch und altruistisch zugleich.<br />
Grossvaters Schreibtisch Kurz vor meiner Einschulung<br />
besuche ich gemeinsam mit meiner Mutter<br />
meine Grosseltern. Mein Grossvater, ehemaliger<br />
Schulrektor, ist ein imposanter Mann. Aus Erzählungen<br />
weiss ich, dass er als guter Lehrer und bei Kollegen<br />
und Schülern geachtet, dass er mit Leib und<br />
Seele Pädagoge war. Sein Auftreten besteht in meiner<br />
kindlichen Wahrnehmung aus einer angenehmen<br />
Mischung aus Güte, Weisheit und Strenge. In<br />
seiner Nähe zu sein, löst in mir Respekt aus – es ist<br />
mir aber keineswegs unangenehm. Eines Morgens –<br />
meine Mutter ist mit meiner Grossmutter beim Einkaufen<br />
– schellt der Postbote, um neben einem Brief<br />
auch eine Barauszahlung abzugeben. Mein Opa<br />
10 NOVAcura 10|09<br />
nimmt diese an und verabschiedet den Boten freundlich.<br />
Danach geht er mit mir in das Arbeitszimmer<br />
an einen grossen, sehr alten Schreibtisch, öffnet die<br />
Schublade und legt die Geldscheine und einige Münzen<br />
sorgfältig und sichtlich mit Stolz hinein. Auf<br />
meine Frage, wer denn das Geld wofür geschickt<br />
habe, informiert mich mein Grossvater bereitwillig:<br />
Er war, auch noch längere Zeit über seine Pensionierung<br />
hinaus, für einen Schulbuchverlag als Autor tätig.<br />
Sein grosses Wissen und seine Fähigkeit, jungen<br />
Menschen komplizierte Sachverhalte anschaulich zu<br />
vermitteln, liessen dem Verlagsleiter meinen Opa als<br />
Autor geeignet erscheinen. Für die verkauften Bücher<br />
bekommt er seit Jahrzehnten zum Jahresbeginn<br />
etwas Geld – nicht viel, aber darum scheint es ihm<br />
auch nicht zu gehen. Er steht auf, geht zum Regal,<br />
zieht ein Buch hervor, öffnet es, wendet sein Inneres<br />
mir zu und zeigt auf einer der ersten Seiten geradezu<br />
andächtig auf seinen Namen. Mein Grossvater,<br />
ein frommer, höchst bescheidener und zurückhaltender<br />
Mensch, strahlt! Er setzt sich zurück an den<br />
Schreibtisch, legt die Hände auf die abgenutzte lederne<br />
Schreibtischunterlage und schaut mich an.<br />
«Das Schreiben macht mir Spass», sagt er. «Wenn Du<br />
etwas Sinnvolles schreibst, tust Du der Menschheit<br />
etwas Gutes und berührst mit der Spitze eines Fingers<br />
ein Zipfelchen von der Ewigkeit.» Obwohl ich<br />
sehr jung war, ahnte ich, was er meinte. Mein Grossvater<br />
hat nicht nur bei seinen Kindern, er hat auch<br />
bei mir Eindruck hinterlassen! Auch ich wurde<br />
Pädagoge, seit 20 Jahren schreibe ich … Mein Grossvater<br />
war ein höchst generativer Mensch!<br />
« Wenn Du etwas Sinnvolles<br />
schreibst, tust Du der Menschheit<br />
etwas Gutes und berührst mit<br />
der Spitze eines Fingers ein Zipfelchen<br />
von der Ewigkeit.»<br />
Persönliches Profi l Nun können nicht alle Menschen<br />
leben wie Gandhi oder Luther bzw. Bücher<br />
schreiben. Generativität und Integrität lassen sich<br />
zwar recht gut mit diesen exponierten Beispielen erklären,<br />
letztlich aber ist der von aussen erkennbare<br />
Erfolg nicht das entscheidende Kriterium. Wer in die<br />
Jahre gekommen ist, schaut – manchmal gelassen,<br />
mitunter nachdenklich – auf das zurück, was war;<br />
zugleich kann damit die Frage verbunden sein, was<br />
es noch zu tun gilt. Im Zusammensein mit den Kindern<br />
erleben die älter gewordenen Eltern, was diese<br />
von ihnen übernommen haben und was sie von ihnen<br />
unterscheidet. Sie sind voller Hoffnung, dass der<br />
eingeschlagene Weg ihrer Kinder der richtige ist, geben<br />
Unterstützung und Rat und erfahren im Idealfall<br />
im Gegenzug Dankbarkeit, Anerkennung und<br />
Zuwendung. Prägt ein insgesamt gutes Gefühl diese<br />
Beziehung, können die alt Gewordenen leichter loslassen;<br />
sie haben die Gewissheit, dass ein Teil ihres<br />
Schaffens und Strebens in der nachfolgenden Generation<br />
weiterlebt.
Aber auch die kinderlos Gebliebenen ziehen ihre<br />
Bilanz. Vielleicht erinnern sie sich zufrieden an ihre<br />
aktive Zeit in diversen Vereinen, vielleicht zeigen sie<br />
sich auch noch im höheren Alter in irgendeiner<br />
Weise nützlich und entwickeln damit das Gefühl,<br />
das Steuer nicht abzugeben und das Leben aktiv mitzugestalten.<br />
Wer an seinem persönlichen Profi l arbeitet,<br />
erteilt dem alltäglichen Einerlei eine Absage<br />
und zeigt der Gleichgültigkeit die Stirn. «Nach mir<br />
die Sintfl ut!» – Sprüche wie diese sind für den generativen,<br />
Integrität entwickelnden Menschen ein absolutes<br />
Tabu.<br />
Geschichten erzählen Der Publizist Heiko Ernst<br />
hebt hervor, dass generative Menschen sich und anderen<br />
ihre Geschichte auf eine typische, bestimmte<br />
Weise erzählen. Sie fassen ihr Leben als eine sehr<br />
wohl erzählbare, sinnvolle Geschichte mit einem<br />
guten Schluss auf. Solche Geschichten ermöglichen<br />
folglich eine tröstliche, versöhnliche Perspektive. Es<br />
macht wenig Angst, auch an den Schluss zu denken.<br />
Das persönliche Ende muss nicht das Ende aller Geschichten<br />
sein. Voraussetzung hierfür ist, dass im<br />
mittleren Er<strong>wachsen</strong>enalter Generativität zum Leitthema<br />
des Lebens gemacht wurde. Nach Studien erzählen<br />
sich generative Er<strong>wachsen</strong>e überwiegend solche<br />
Geschichten, in denen sie Krisen und Konfl ikte<br />
überwinden und auf ein Happy End zusteuern konnten.<br />
Ihr Fazit: Ich habe trotz aller Probleme aus meinem<br />
Leben etwas gemacht!<br />
Aus diesen Erkenntnissen lassen sich wichtige<br />
Empfehlungen für den Umgang mit alten Menschen<br />
in den Einrichtungen ableiten. Pfl egende sollten<br />
auch ihr Gegenüber ermuntern, ihre Geschichte zu<br />
erzählen. Selbst bei insgesamt tragischen Lebensverläufen<br />
fi nden sich bei fast allen Menschen die Geschichten,<br />
aus denen sie «siegreich» und gereift her-<br />
vorgegangen sind. Manchmal bedarf es lediglich eines<br />
behutsamen Nachfragens bzw. einer Ermunterung,<br />
auch die kleinen Erfolge zu würdigen, bis dann<br />
doch die Erinnerung einsetzt. Ausserdem werden<br />
durch dieses Vorgehen alte Menschen angehalten,<br />
dem vielleicht aus dem Auge verlorenen «roten Faden»<br />
ihres Lebens nachzuspüren, das Gewesene als<br />
Mosaik zu betrachten, das sich langsam – Stein für<br />
Stein – zusammenfügt. Es mag sein, dass die vielen<br />
Älteren eigene grosse Bescheidenheit der klaren Benennung<br />
des Geleisteten zunächst im Wege steht,<br />
dennoch sollten Pfl egende Hilfestellung geben, wenn<br />
die Frage «Hat es sich gelohnt?» spürbar im Raum<br />
steht. Vielfach zweifeln Menschen im hohen Alter<br />
an ihren Leistungen und Erfolgen und sehen mehr<br />
die aufgekommenen Schatten und dunklen Wolken<br />
als das wärmende Licht. Hier kann die gezielte Würdigung<br />
der Lebensleistung, die es im Gespräch wach<br />
zu halten gilt, das Gefühl neu aufl eben lassen, doch<br />
eine Menge geschafft zu haben. Es gilt den zu Pfl egenden<br />
klar zu machen, dass bzw. welche Spuren sie<br />
in ihrem Leben gelegt und damit hinterlassen haben.<br />
Wer, wenn nicht Sie?! Allein durch ihre Berufswahl<br />
haben sich Pfl egende für Generativität, für ein sinnerfülltes<br />
Handeln, das auch noch nach ihrem Leben<br />
Wirkung zeigt, entschieden. Den ihnen Anempfohlenen<br />
zollen sie Respekt und transportieren somit<br />
nachhaltig die Botschaft von der Würde des Menschen.<br />
Sie begleiten alte Menschen bei ihrer Lebensbilanz<br />
und stärken sie in der Gewissheit, dass sie sich<br />
dem Leben mit Erfolg gestellt haben. Sie ermuntern<br />
sie, sich mit ihrem Leben zu versöhnen und dieses<br />
– irgendwann – als «rund» abschliessen zu können.<br />
Pfl egende sind somit in aller Regel Menschen, die<br />
viel geben, vieles weitergeben und damit «Spurenleger»<br />
und «Spurensucher» im besten Sinne sind. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Es gilt zu sehen, welche<br />
Spuren Menschen in<br />
ihrem Leben gelegt und<br />
damit hinterlassen haben.<br />
Foto: Martin Glauser<br />
Literatur<br />
Erikson, E. H. (1966).<br />
Identität und Lebenszyklus.<br />
Drei Aufsätze. Frankfurt<br />
am Main: Suhrkamp.<br />
Ernst, H. (2008). Weitergeben!<br />
Anstiftung zum<br />
generativen Leben.<br />
Hamburg: Hoffmann und<br />
Campe.<br />
11
Die Hoffnung nicht aufgeben<br />
Zwischen Machtlosigkeit und «Auferstehung» im Alter<br />
Krankheit, Gebrechlichkeit, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, beeinträchtigen<br />
die Freude am Leben. Menschen, die keine Hoffnung haben, ziehen sich zurück. Was kann Menschen<br />
dazu bewegen, dass sie – trotz allem – wieder am Leben teilnehmen? Welchen Beitrag, kann, muss<br />
und soll das Umfeld leisten? «Manchmal stehen wir auf – stehen wir zur Auferstehung auf – mitten am<br />
Tage ...», so schreibt die Dichterin Maria Luise Kaschnitz. Die Interpretation ihres Gedichts und Beispiele<br />
aus dem Pfl egealltag zeigen Möglichkeiten. Sylke Werner<br />
Sylke Werner ist Altenpfl<br />
egerin, Bachelor of<br />
Science (B. Sc.) Pfl ege-/<br />
Gesundheitsmanagement.<br />
Sylke.Werner63@web.de<br />
Auferstehung<br />
Manchmal stehen wir auf<br />
Stehen wir zur Auferstehung auf<br />
Mitten am Tage<br />
Mit unserem lebendigen Haar<br />
Mit unserer atmenden Haut.<br />
Nur das Gewohnte ist um uns.<br />
Keine Fata Morgana von Palmen<br />
Mit weidenden Löwen<br />
Und sanften Wölfen.<br />
Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken<br />
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.<br />
Und dennoch leicht<br />
Und dennoch unverwundbar<br />
Geordnet in geheimnisvolle Ordnung<br />
Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.<br />
Marie Luise Kaschnitz<br />
Frau Vincenz, 80 Jahre, ist dement. Als sie vor<br />
einem Jahr ins Pfl egeheim kam, sprach sie<br />
kaum, konnte sich nicht selbstständig bewegen,<br />
hatte wenig Appetit.<br />
Mittlerweile antwortet sie je nach Befi nden auf<br />
Fragen, spricht nach, was Schwestern und Bewohner<br />
sagen und gibt deutlich zu verstehen, was sie<br />
möchte und was nicht. Sie läuft am Rollator, manchmal<br />
sogar ein paar Schritte ohne Hilfe.<br />
Frau Harms, 86 Jahre alt, lebt ebenfalls in einem<br />
Pfl egeheim.<br />
Bis zu ihrem Schlaganfall versorgte sie sich selbst,<br />
war mit ihrem Gehstock mobil und äusserte sehr<br />
überzeugend Wünsche und Bedürfnisse. Über einen<br />
Monat weilte sie im Spital. Als sie ins Heim zurückkam,<br />
konnte sie nicht mehr stehen und gehen, war<br />
zeitweise nicht ansprechbar. Ihr rechter Arm war<br />
vollständig gelähmt. Sie benötigte vollständige Unterstützung.<br />
Heute, mehrere Jahre nach dem Schlaganfall,<br />
ist Frau Harms wieder wie früher, schwingt<br />
ihren Gehstock und lässt sich nicht «die Butter vom<br />
Brot nehmen».<br />
Umstände, die zum «Rückzug» führen? Krankheit,<br />
Depression, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde<br />
Hilfe angewiesen zu sein, nehmen die Freude am Leben.<br />
Pfl egebedürftige, die nicht mehr wie früher am<br />
gesellschaftlichen Leben teilnehmen<br />
und um sich selbst kümmern können,<br />
erfahren genau das. Sie fühlen<br />
sich machtlos, denn «... mit einem<br />
12 NOVAcura 10|09<br />
Etikett versehen zu werden, dass mit<br />
Unterlegenheit gegenüber anderen<br />
Personen konnotiert ist ...» (z.B. bei<br />
Demenz oder körperlichen Behinderungen)<br />
oder «... als erniedrigend<br />
empfundene Tätigkeiten/Rollen übernehmen<br />
müssen und frühere befriedigende<br />
und geschätzte Tätigkeiten/<br />
Rollen nicht mehr ausüben zu können»<br />
führen zur Machtlosigkeit (Fitzgerald<br />
Miller, S. 170). Betroffene fühlen<br />
sich inkompetent und nutzlos.<br />
Chronische Krankheiten sind eine<br />
Ursache für Machtlosigkeit bei älteren<br />
Menschen. Sie können gewohnten<br />
Aktivitäten nur noch in begrenz-<br />
tem Umfang nachgehen, sind zunehmend auf<br />
fremde Hilfe angewiesen und in ihrer Entscheidungsfähigkeit<br />
eingeschränkt. Kontrolle über das eigene<br />
Leben zu haben, Unabhängigkeit und die Fähigkeit,<br />
sich selbst zu versorgen, sind wichtige Aspekte<br />
in unserem Leben.<br />
«Machtlosigkeit ist eine der häufi gsten Pfl egediagnosen<br />
bei Senioren, die in eine Akutpfl egeeinrichtung<br />
kommen» (Fitzgerald Miller, S. 171).<br />
Auch Frau Vincenz war machtlos, als sie ins Pfl egeheim<br />
kam. Doch sie «stand wieder auf», nimmt<br />
am Alltag im Heim teil und wirkt zufrieden. Vielleicht<br />
dachte sie an Momente eines erfüllten Lebens<br />
zurück, an ihre Kindheit, ihre Eltern, an gemeinsame<br />
Erlebnisse mit ihrem Mann und spürte die Sorge der<br />
Pfl egenden, die mit ihr sprachen und sich mit ihr<br />
beschäftigten. Das liess sie hoffen und «auferstehen».<br />
Verliert ein Mensch die Hoffnung, kann das zum<br />
Rückzug und sogar zum vorzeitigen Tod führen.<br />
Heimbewohner, die heute in eine stationäre Pfl egeeinrichtung<br />
einziehen, versterben häufi g innerhalb<br />
eines relativ kurzen Zeitraums. Ein unfreiwilliger<br />
Umzug in ein Pfl egeheim nimmt einem alten Menschen<br />
den letzten Rest von Kontrolle. Für die meisten<br />
alten Menschen bedeutet das Pfl egeheim die<br />
letzte Station in ihrem Leben. Sie nehmen ihre Situation<br />
bewusst war, vergleichen die Gegenwart mit der<br />
Vergangenheit und nehmen kleinste Veränderungen<br />
ihres Gesundheitszustandes sofort wahr, was sich<br />
unmittelbar auf ihr seelisches Befi nden auswirkt.<br />
Frau Friedrich war eine lustige und aktive Frau.<br />
Sie war Diabetikern. Ausserdem war sie auf regelmässige<br />
Dialyse angewiesen. Frau Friedrich schöpfte ihre<br />
Ressourcen aus und versorgte sich weitestgehend<br />
selbst. Sie nahm nur kleine Hilfestellungen in Anspruch.<br />
Unsere Hilfe benötigte sie, wenn sie Schmerzen<br />
hatte oder sich ihren Kummer von der Seele reden<br />
musste. Sie weinte oft. Vier Wochen nach ihrem<br />
Einzug, um die Weihnachtszeit, zog sie sich während<br />
eines Ausfl uges mit Angehörigen einen Schenkelhalsbruch<br />
zu.<br />
Aus dem Spital kam sie nicht mehr zurück ...<br />
Frau Vincenz und Frau Harms, beide psychisch<br />
krank, sind dagegen voller Lebensmut. Frau Vincenz<br />
geniesst es, Mitbewohner, Pfl egepersonal und Angehörige<br />
mit ihren kecken Sprüchen zu überraschen.
Sie scheint das Hier-und-Jetzt zu geniessen. Jeder Tag<br />
ist für sie neu und lebenswert.<br />
Frau Harms lebt weiter «in ihrer Welt», wobei sie<br />
viel Wert auf Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit<br />
legt.<br />
Die Unberechenbarkeit des Schweregrades und<br />
der Krankheitsverlauf bereiteten Frau Friedrich<br />
gros se Angst. Krankheit und Behinderung griffen ihr<br />
Selbstwertgefühl und ihre Unabhängigkeit als Person<br />
an. Der Einzug ins Pfl egeheim sowie die Einweisung<br />
ins Spital verstärkten dieses Gefühl bis hin zu<br />
einer gewissen Bedrohung.<br />
«Gelingt es nicht, das Gefühl der Machtlosigkeit<br />
unter Kontrolle zu bringen, setzt ein Kreislauf aus<br />
Machtlosigkeit, Depression und Hoffnungslosigkeit<br />
ein, der zum Wegbereiter des Todes werden kann»<br />
(Fitzgerald Miller, S. 170).<br />
Was bewegt den betroffenen Menschen, wieder am<br />
Leben teilzunehmen?<br />
«Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken<br />
Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.»<br />
Das Leben geht weiter. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl<br />
bei älteren Menschen fördert den Kampf gegen<br />
Verzweifl ung und trägt zur Ich-Integrität bei, anstatt<br />
die Hoffnung zu verlieren und sich machtlos<br />
zu fühlen.<br />
Ein wichtiger Indikator ist die Entscheidungsfreiheit.<br />
Das ist besonders für die Pfl ege und Betreuung<br />
in Pfl egeeinrichtungen von Bedeutung. Studien belegen,<br />
dass sich Heimbewohner, die selbst entscheiden<br />
können, wohler fühlen, zufriedener sind und<br />
eine bessere Stimmungslage aufweisen. (Fitzgerald<br />
Miller, S. 174)<br />
Die Bewältigung von Anforderungen und Verlusten<br />
hängt auch von der psychischen Widerstandskraft<br />
des Menschen ab, von den Erfahrungen, die er<br />
diesbezüglich im Leben bereits gemacht hat.<br />
Frau Harms wurde im Zweiten Weltkrieg während<br />
eines Bombenangriffs verschüttet. Diese Erfahrung,<br />
dem Tod so nahe gewesen zu sein und überlebt zu<br />
haben, begleitet sie ihr ganzes Leben. Ihre Psyche ist<br />
krank, aber ihre Widerstandskraft scheint ungebrochen.<br />
Sie will am Leben teilhaben. In der Pfl egeeinrichtung<br />
fühlt sie sich wohl. Sie hat das Gefühl, Entscheidungen<br />
selbst zu treffen.<br />
«Nur das Gewohnte ist um uns.<br />
Keine Fata Morgana von Palmen<br />
Mit weidenden Löwen<br />
Und sanften Wölfen.»<br />
Betroffene müssen die Realität akzeptieren, nicht in<br />
eine Scheinwelt fl üchten und die Zuversicht verlieren.<br />
Die Situation annehmen, die verbliebenen<br />
Ressourcen entdecken und sich auf die Fähigkeiten<br />
besinnen, die noch erhalten sind – das klingt einfacher,<br />
als es tatsächlich ist. Dazu gehören Selbstakzeptanz,<br />
positive Beziehungen zu anderen, erfolgreiche<br />
Gestaltung des Umfelds, Sinnfi ndung und<br />
Persönlichkeitswachstum.<br />
Die meisten alten Menschen wie Frau Vincenz<br />
oder Frau Harms haben im Laufe ihres Lebens unterschiedliche<br />
Probleme bewältigt, und es gelang ihnen,<br />
solche Erfahrungen für sich bewusst oder unbewusst<br />
fruchtbar zu machen. Sie haben gelernt,<br />
nicht zu früh zu resignieren oder die Hoffnung zu<br />
verlieren.<br />
Pfl egende können helfen, diese Erfolge ins Gedächtnis<br />
zurückzurufen.<br />
Der Einfl uss von Pfl egenden und Angehörigen<br />
Pfl egende, Angehörige und weitere Kontaktpersonen<br />
müssen die Machtlosigkeit erkennen und Massnahmen<br />
erg<strong>reifen</strong>, um der daraus resultierenden Hoffnungslosigkeit<br />
entgegenzuwirken.<br />
Elementare Bedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit<br />
werden im Pfl egeheim gewöhnlich befrie-<br />
NOVAcura 10|09<br />
Trotz allem: Das Leben<br />
geht weiter ...<br />
Illustration: Elias Frei<br />
13
Literatur<br />
Abt-Zegelin, A. (2009).<br />
Mein Fuss muss immer<br />
rausgucken – persönliche<br />
Anmerkungen zur Patientenverfügung.<br />
In: M. W.<br />
Schnell (Hrsg.): Patientenverfügung.<br />
Begleitung<br />
am Lebensende im Zeichen<br />
des verfügten Patientenwillens<br />
– Kurzlehrbuch<br />
für die Palliative<br />
Care. Bern: Huber.<br />
Fitzgerald Miller, J., Bohm<br />
Oertel, Ch. (2003). Machtlosigkeit<br />
bei Senioren.<br />
In: Fitzgerald Miller, J.<br />
(2003). Coping fördern –<br />
Machtlosigkeit überwinden.<br />
Hilfen zur Bewältigung<br />
chronischen<br />
Krankseins. Bern: Huber.<br />
Wingenfeld, K. (2008).<br />
Stationäre pfl egerische<br />
Versorgung alter Menschen.<br />
In: Kuhlmey, A.,<br />
Schaeffer, D. (Hrsg.)<br />
(2008). Alter, Gesundheit<br />
und Krankheit. Bern:<br />
Huber.<br />
Kaschnitz, M. L. (1962).<br />
Dein Schweigen – meine<br />
Stimme. Gedichte 1958–<br />
1961. – Hamburg: Claassen.<br />
Pfl egende sollten ihren älteren Klienten helfen,<br />
ihre persönlichen Ressourcen zu nutzen.<br />
Foto: Martin Glauser<br />
digt. Bedürfnisse nach Liebe, sozialer und gesellschaftlicher<br />
Anerkennung, Würde und Selbstwert<br />
fi nden jedoch weniger Beachtung. Hier kommt den<br />
Pfl egenden, Betreuenden und Angehörigen eine<br />
wichtige Aufgabe zu.<br />
Jede Massnahme, die einem Menschen das Gefühl<br />
gibt, mehr Kontrolle über sein Leben zu haben,<br />
steigert das allgemeine Wohlbefi nden und wirkt sich<br />
günstig auf seine Lebenserwartung aus.<br />
Pfl egende sollten den Bewohner/innen ein Lebensumfeld<br />
schaffen, das ihnen Autonomie und<br />
bestmögliche Pfl ege gewährt. Die Möglichkeit, selbst<br />
entscheiden zu können und Kontrolle zu haben,<br />
spielt eine grosse Rolle. Bewohner/innen können<br />
zum Beispiel ihr Essen selbst auswählen, ihre Kleidung<br />
aussuchen und den Friseurtermin selbst bestimmen.<br />
Alle Aktivitäten und Pfl egemassnahmen<br />
orientieren sich an der Biografi e. Wie schlimm muss<br />
es sein, wenn man plötzlich aus seinem gewohnten<br />
Lebensrhythmus herausgerissen wird, um sich dem<br />
Reglement eines Pfl egeheimes unterordnen zu müssen,<br />
mit festgelegten Weckzeiten, Essenszeiten, Aktivitäten<br />
und Zu-Bett-geh-Zeiten. «Wahrscheinlich<br />
können sich nur wenige von uns vorstellen, unter<br />
welchen Bedingungen ein Dasein noch ‹lebenswert›<br />
sein kann ...», so umschreibt die Situation Abt-Zegelin.<br />
Abt-Zegelin zeigt in ihrem Text «Mein linker Fuss<br />
muss immer wieder rausgucken ...» eindrücklich, wie<br />
Pfl ege im Sinne von Autonomie in einer Pfl egeeinrichtung<br />
sein sollte. Ihre Vorstellungen teilt sie hoffentlich<br />
mit uns allen, sicher aber vor allem mit älteren<br />
pfl egebedürftigen Menschen, die bereits im<br />
Pfl egeheim leben.<br />
14 NOVAcura 10|09<br />
Das Umfeld, die Beziehung der Bewohner zu Pfl egenden<br />
und Angehörigen spielt eine grosse Rolle.<br />
Die Pfl egenden mobilisierten beispielsweise Frau<br />
Vincenz immer wieder, nahmen sich ausreichend<br />
Zeit beim Reichen der Mahlzeiten und sprachen mit<br />
ihr. Heute unterhält sie mit ihrem Charme und ihren<br />
Sprüchen Mitbewohner und Personal und<br />
nascht am liebsten Schokolade.<br />
Wichtig ist auch, wie pfl egebedürftige alte Menschen<br />
den Umzug ins Pfl egeheim empfi nden: Haben<br />
Angehörige und Betreuende mit dem Betroffenen<br />
darüber gesprochen? Pfl egebedürftigkeit entwickelt<br />
sich nicht unbedingt plötzlich. Im Laufe der Zeit<br />
entwickeln sich chronische Krankheiten, körperliche<br />
und geistige Einschränkungen. Wie damit umgegangen<br />
wird, hängt auch davon ab, wie der alte<br />
Mensch im Leben gelernt hat, mit Krankheiten umzugehen,<br />
und wie er überhaupt mit dem Alter umgeht.<br />
Entscheidend ist dabei, dass Betroffene immer<br />
wieder Ressourcen erkennen können und diese selber<br />
nutzen. Das bedeutet auch, dass Hilfe und Unterstützung<br />
angenommen werden muss. Pfl egende<br />
sollten ihren älteren Klienten helfen, ihre persönlichen<br />
Ressourcen zu nutzen. Seniorenzentren, Essen<br />
auf Rädern oder Transportdienste sind nur einige der<br />
Möglichkeiten, die dabei hilfreich sind. Ältere Menschen<br />
sollten zwischen den Angeboten wählen können,<br />
wenn es darum geht, die Bedürfnisse zu befriedigen<br />
und Ressourcen zu nutzen.<br />
Religion und Spiritualität gewinnen mit zunehmendem<br />
Altern meist an Bedeutung. Wer inneren<br />
Frieden fi ndet, muss weniger verzweifeln. Manchen<br />
Menschen hilft die Zwiesprache mit Gott über Einsamkeit<br />
und Hoffnungslosigkeit hinweg.<br />
Wenn sich Pfl egebedürftige machtlos fühlen und<br />
das Gefühl haben, sie könnten nichts an ihrer Situation<br />
ändern, erscheint ihnen meist auch das Aneignen<br />
neuer Kenntnisse und zielgerichtetes Handeln<br />
überfl üssig. Gerade diese beiden Faktoren beeinfl ussen<br />
aber, ob eine Anpassung an eine Krankheit oder<br />
Situation gelingt oder scheitert.<br />
Massnahmen, Machtlosigkeit zu überwinden und<br />
das Kontrollgefühl älterer Pfl egebedürftiger zu verstärken<br />
sind:<br />
Auswahlmöglichkeiten schaffen und damit Entscheidungsfähigkeit<br />
erhalten<br />
Stereotype vermeiden, die Hilfl osigkeit fördern<br />
wie: «Alt zu sein bedeutet, nicht mehr für sich<br />
selbst sorgen zu können.»<br />
verhindern, dass sich Betroffene Schuld am Verlauf<br />
der Dinge geben und sie zur Mitgestaltung<br />
der Versorgung motivieren<br />
Erfolgserlebnisse durch realistische Ziele<br />
unrealistische Erwartungen modifi zieren, ohne<br />
die Hoffnung zu nehmen<br />
Kontrollgefühl durch Kommunikation erhöhen,<br />
denn die Beziehung zum Pfl egebedürftigen ist das<br />
wichtigste Werkzeug der Pfl egekraft (Fitzgerald<br />
Miller, S. 184).<br />
Die Möglichkeit Pfl egebedürftiger, an bisherigen<br />
Lebensgewohnheiten festhalten zu können, hilft<br />
dabei, zu hoffen und immer wieder «aufzustehen»<br />
... ■
Alter verbergen oder<br />
gestalten und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />
Es ist schon legendär: «Alt werden wollen alle – alt sein will niemand!» Also versucht man<br />
aktiv gegen das vermeintliche Alter vorzugehen. «Anti-Aging» ist das Stichwort der Stunde;<br />
vielfältige Angebote geben vor, das Alter zu verschieben, Altersprozesse rückgängig oder<br />
ungeschehen zu machen. Anti-Aging fi ndet bislang weitgehend ausserhalb der etablierten<br />
medizinischen und pfl egerischen Strukturen statt, nichtsdestotrotz sind vor allem<br />
Ärzte, seltener Pfl egende, daran beteiligt. Das Thema wird für beide Berufsgruppen<br />
zunehmend wichtiger. Und was wollen die Älteren selbst? Gibt es ein Programm «gutes<br />
Alter»? Andreas Gerlach<br />
Kreative Geister erfi nden laufend neue Begriffe<br />
wie «Well Aging», «Happy Aging» oder «Active<br />
Aging» und bauen einen zunehmend<br />
<strong>wachsen</strong>den paramedizinischen Komplex mit hohen<br />
Umsätzen und höchsten fi nanziellen Gewinnen<br />
für die «Alters-minimierende Versorgung» des älteren<br />
und alten Mensch auf. «Die Anti-Aging-Welle<br />
rollt unaufhörlich», diagnostiziert Kolb 1 , und legt<br />
dem Leser die Gefahr nahe, dass diese die Senioren<br />
überrollen könnte.<br />
Die biologischen Grundlagen sind recht einfach<br />
Alle biologischen Systeme, der Mensch eingeschlossen,<br />
altern ab ihrer Geburt und sterben – falls nicht<br />
aus anderen Ursachen zuvor – als Folge dieses lebenslangen<br />
Alterungsprozesses.<br />
Die biologischen Grenzen sind eigentlich bekannt.<br />
Schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts<br />
konnte Leonard Hayfl ick nachweisen, dass sich<br />
undifferenzierte, pluripotente Stammzellen nur<br />
40–50 Mal teilen können. Die aktuelle Theorie tendiert<br />
zu der Vorstellung, dass bestimmte Genabschnitte,<br />
die Telomere, bei jeder Teilung kürzer werden<br />
und irgendwann «aufgebraucht» sind. Andere<br />
Theorien gehen von einer Summierung kleiner Fehler<br />
aus, die irgendwann das Funktionieren und Leben<br />
der Zelle beeinträchtigen.<br />
Damit ist die Heilung, Reparatur und Regenera-<br />
NOVAcura 10|09<br />
1 Kolb, GF: Anti-Aging.<br />
EuroJGer Vol 7. (2005)<br />
No 3, 153 f.<br />
«Pro-Aging» stellt die<br />
Möglichkeit eines<br />
ak tiven, «guten» Alterns<br />
gegen die Lüge des<br />
Anti-Aging.<br />
Foto: © irisblende.de<br />
15
Dr. med. Andreas Gerlach<br />
ist Chefarzt der Abteilung<br />
Geriatrie und Physiotherapie<br />
im St. Marien-Hospital<br />
in Lünen.<br />
gerlach.andreas@hotmail.de<br />
tion aller differenzierten Gewebe begrenzt. Wer das<br />
Glück «guter» Gene hat und mögliche Gen-relevante<br />
Umwelteinfl üsse vermeiden kann, hat vielleicht ein<br />
persönliches Hayfl ick-Limit näher an der Zahl 50;<br />
genetische Pechvögel und/oder besonders belastete<br />
Menschen liegen näher bei 40 Teilungen und erreichen<br />
ihre Alters- und Lebensgrenzen schon früher.<br />
Unsere persönliche genetische Ausstattung ist<br />
nicht messbar; eine aufmerksame Betrachtung des<br />
Stammbaumes darf aber manchmal Hoffnung machen<br />
– auch wenn uralt gewordene Eltern und<br />
Grosseltern noch keine sicheren Rückschlüsse auf<br />
die eigenen Chancen zulassen. Dazu ist die Genetik<br />
dann doch zu vielschichtig und kompliziert.<br />
Noch komplizierter wird es, die Lebens- und Umwelteinfl<br />
üsse erkennen und beeinfl ussen zu wollen.<br />
Zweifellos «verbrauchen» hohen Strahlendosen oder<br />
erhebliche toxische Belastungen zusätzliche Stammzellen<br />
und führen zu früherem Altern. Andererseits<br />
hat die Medizin erst vor relativ kurzer Zeit gelernt,<br />
dass auch ein Mangel an Umweltreizen, beispielsweise<br />
durch übertriebene Hygiene, zu einen unzureichend<br />
geschulten Immunsystem und zu früherer<br />
Alterung führt.<br />
« Kurzfristig gelingt eine bessere,<br />
‹jugendliche› Regeneration der<br />
verschiedenen Gewebe.»<br />
Was soll der Mensch tun? Die Antwort ist einfach:<br />
möglichst gesund leben – was immer die aktuelle<br />
Wissenschaft und das verfügbare Wissen als «gesund»<br />
defi nieren. Dabei geht jedermann das natürliche<br />
Risiko ein, dass unser Wissen unvollständig ist<br />
und sich erheblich ändern kann. Ein anderes Risiko<br />
besteht darin, so zwanghaft gesund leben zu wollen,<br />
dass der Gesundheitsstress jeden Nutzen negativ<br />
weit überwiegt.<br />
Aber das Wissen um das Hayfl ick-Limit bietet<br />
noch mehr. Einige Therapien und Methoden, die das<br />
Altern scheinbar aufhalten, beruhen möglicherweise<br />
auf einer hormonell induzierten vermehrten Aktivierung<br />
und entsprechendem Verbrauch von<br />
Stammzellen. Kurzfristig gelingt eine bessere, «jugendliche»<br />
Regeneration der verschiedenen Gewebe;<br />
später fehlen die verbrauchten Stammzellen dann<br />
aber – das Alter schlägt dann stärker und brutaler zu.<br />
Nun ja: Die Biologie des Menschseins lässt sich nicht<br />
wirklich betuppen.<br />
Die Tücken des Alters Wenden wir den Blick weg<br />
vom gesunden alternden Menschen auf den lebenswirklichen.<br />
Chronische Krankheiten wie Alkoholismus,<br />
Arteriosklerose mit koronarer Herzkrankheit,<br />
arterieller Hypertonie und cerebralem Insult, Demenz,<br />
rheumatische und degenerative Gelenkerkrankungen,<br />
Krebs und Stoffwechselstörungen – alle<br />
diese Krankheiten verbrauchen ihrerseits Stammzellen<br />
und lassen viele Patienten im wahrsten Sinne des<br />
Wortes älter, alt oder vorgealtert erscheinen.<br />
16 NOVAcura 10|09<br />
Unverkennbar haben wir die «Patientenversion»<br />
des alten Menschen vor uns: Leben und Krankheiten<br />
haben die Stammzell- und Regenerationsreserven<br />
weitgehend erschöpft, an allen Ecken und Ende<br />
fehlt dem Körper die Kraft zum Erhalten und Erneuern<br />
– eine Schwäche gebiert die nächste Krankheit,<br />
diese wiederum schafft eine neue Insuffi zienz mit<br />
wiederum zusätzlichen Problemen; kurzum: Das<br />
Kartenhaus des lange gelebten Lebens droht an vielen<br />
Stellen einzustürzen. Erfahrungen, die in der<br />
Pfl ege oder medizinischen Betreuung älterer und alter<br />
Menschen täglich gemacht werden und sicherlich<br />
ganz erheblich dazu beitragen, dass Alter eine<br />
Lebensphase ist, vor der viele Menschen am liebsten<br />
weglaufen möchten.<br />
Gesellschaft macht das Alter nicht einfacher Jung-<br />
Senioren mögen ob ihrer hohen Rente inzwischen<br />
als Konsumenten akzeptiert und umworben sein,<br />
alle anderen Alten sind es kaum. Grünert 2 weist dabei<br />
auf einen interessanten sprachlichen Zusammenhang<br />
hin: Das Wort Alter geht auf den Wortstamm<br />
«al» zurück und bedeutet somit Wachstum<br />
und Reife. In viele Kulturen hatten daher die weisen<br />
erfahrenen Menschen besondere Stellungen, waren<br />
hochgeschätzte Berater, teilweise sogar Regierende.<br />
Zu den Gemeinheiten der modernen Zeit gehört<br />
es aber leider, dass die Zeit so schnell verläuft und<br />
sich so dynamisch verändert, dass das kumulierte<br />
Wissen und die mühsam erworbene Erfahrung nur<br />
noch sehr begrenzt nützlich sind. Der Romancier<br />
Dick Francis beschreibt: »Da lernen Sie Ihr ganzes<br />
Leben, perfekte Langbögen herzustellen, und irgendwer<br />
erfi ndet einfach das Schiessgewehr» (in Dick<br />
Francis: Proof) 3 . Oder für unsere Zeit: Welche mühsam<br />
erworbene und teilweise teuer bezahlte Lebenserfahrung<br />
ermöglicht der 75-Jährigen, Handy, Computer<br />
und Internet erfolgreich zu bedienen und<br />
damit überhaupt erst den Kontakt zu den Enkeln zu<br />
erhalten, die vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht,<br />
von den gesammelten Erfahrungen der Grossmutter<br />
profi tieren könnten (und wollen?)?<br />
« Dummerweise ist ein Gegenprogramm<br />
für ein ‹gutes› Alter nur<br />
in Teilen entwickelt und kaum<br />
als Lebensentwurf akzeptiert.»<br />
Also, her mit Hormonen, Viagra, Botox, Melatonin,<br />
Wachstumhormonen und allen anderen Modedrogen,<br />
die Alter tatsächlich kurzfristig aufhalten<br />
können, deren Wirkungen aber günstigstenfalls begrenzte<br />
Zeit anhalten und deren langfristige Nebenwirkungen<br />
offensichtlich weit unterschätzt werden?<br />
Der Geschichtsprofessor Michael Stürmer betont auf<br />
Geriatriekongressen immer wieder den «Schrecken<br />
und Charme der Patina». Wer alte Möbel einige Male<br />
abschleift, hat nur noch das Blindholz vor sich, wer<br />
feuervergoldete Beschläge nachvergoldet, verdirbt<br />
sie, und wer altes Silber konsequent überarbeitet, re-
duziert dessen Wert bis auf den Materialpreis. Stürmer<br />
äussert sich zwar nicht zu Botox-gebügelten Gesichtern<br />
oder Viagra-Greisen mit Freundinnen im<br />
Alter ihrer Enkelinnen, aber ist der Unterschied<br />
wirklich so gross?<br />
« Lebensweise und Pharmaka<br />
müssen nicht das Altern stoppen,<br />
sondern sollten jetzt aktives und<br />
gestaltetes Alter ermöglichen.»<br />
«Meine Falten sind ehrlich erworben!» oder «Ich<br />
passe in meine Haut!»; solche Parolen wollen wegführen<br />
von der Täuschung und dem Wahn, ein<br />
künstlich restauriertes Äusseres könnte dauerhaft in<br />
Frieden mit dem gealterten Kern leben. «Pro-Aging»<br />
stellt die Möglichkeit eines aktiven, «guten» Alterns<br />
gegen die Lüge des Anti-Aging mit ihrer Zerrissenheit<br />
zwischen dem Sein-Wollen und Ist.<br />
Ein Programm für ein gutes Alter Ernst Lang, einer<br />
der Erfi nder und Propheten des Begriffes «Pro-<br />
Aging», hat immer gefordert, den Altersprozess als<br />
unumkehrbar zu beg<strong>reifen</strong>, aber ihn gleichzeitig<br />
nicht als chronische Krankheit zu verstehen. 4 Die alterstypischen<br />
Veränderungen an Körper und Geist<br />
lassen sich umfänglich beschreiben und beweisen,<br />
dass der 60-Jährige nicht mehr mit dem 30-Jährigen<br />
konkurrieren kann. Aber warum soll er das auch?<br />
Der Dreissigjährige möchte – im Normalfall – auch<br />
nicht mehr wie das Kleinkind an die Brust seiner<br />
Mutter, mit vielen bunten Klötzchen spielen und auf<br />
lauten und ungehaltenen Zuruf sechsmal täglich frische<br />
Windeln bekommen. Warum soll der aktivgealterte<br />
Siebzigjährige denn dann um zwanzigjährige<br />
Schönheiten konkurrieren, deren Welt sich ihm ohnehin<br />
kaum noch erschliesst, um Karriere, Macht<br />
und Geld buhlen oder in superschnellen Autos einer<br />
Zeit nacheilen, die ihm trotzdem locker enteilt.<br />
Dummerweise ist ein Gegenprogramm für ein<br />
«gutes» Alter nur in Teilen entwickelt und kaum als<br />
Lebensentwurf akzeptiert. Verschiede Entwicklungsprogramme<br />
setzen Senioren gezielt als Lehrer und<br />
Spezialisten in Kulturen ein, die Alter und Wissen<br />
noch nicht gewaltsam getrennt haben. Seniorenstudiengänge<br />
bieten die Möglichkeit, Wissen zu erwerben,<br />
vielleicht sogar zu mehren, ohne dass das Ziel<br />
dieser Tätigkeit ein Beruf, eine Möglichkeit des Gelderwerbs<br />
sein muss. Seniorenwohngemeinschaften<br />
probieren Lebens- und Wohnformen, die vor wenigen<br />
Jahren allenfalls den jugendlichen Dränglern<br />
und Stürmern vorbehalten waren. Programme wie<br />
«Soziale Grosseltern» erlauben fremden Kindern und<br />
Senioren, bestimmte familienähnliche Strukturen<br />
trotz der modernen Zerrissenheit der Familien zu<br />
erleben; «Zeitzeugen» können in Schulen oder<br />
Gemeinden eloquent davon erzählen, dass viele<br />
Unglaublichkeiten keineswegs vor vielen dunklen<br />
Jahrhunderten stattfanden, sondern vor weniger als<br />
einem Menschenleben. Die eigene Grossmutter er-<br />
zählte beispielsweise beeindruckend vom ersten<br />
Auto in ihrer gar nicht so kleinen Heimatstadt. Und<br />
ist es angesichts der Diskussionen um Afghanistan<br />
und den Irak so falsch, wieder einmal jemandem zuzuhören,<br />
der Krieg tatsächlich persönlich erlebt hat?<br />
Natürlich setzen derartige Aktivitäten eine gewisse<br />
geistige und körperliche Gesundheit voraus.<br />
«Patina» heisst eben nicht Zerstörung, sondern erlebte<br />
Erfahrung. Damit verschieben sich die Gewichte:<br />
Lebensweise und Pharmaka müssen jetzt<br />
nicht das Altern stoppen, vielleicht sogar ein bisschen<br />
(scheinbar) zurückdrängen, sondern sollten<br />
jetzt aktives und gestaltetes Alter ermöglichen; nach<br />
Kolb: «Funktion und Autonomie und vor allem<br />
Identität bewahren».<br />
Daraus ergeben sich Fragestellungen, die bislang<br />
noch nicht dem Begriff Prävention zugeordnet worden<br />
sind, eigentlich aber dazu gehören. Wie kann<br />
ich mich vor «schlechtem» Altern schützen? Was bewahrt<br />
meine geistige Leistungsfähigkeit – und was<br />
schadet ihr langfristig? Wie lerne ich, mit der Zeit<br />
zu gehen, ohne dem Zeitgeist zum Opfer zu fallen?<br />
Was bleibt als Fazit? Wer ein aktives, sinnhaltiges<br />
Altern mit ganz neuen, anderen Horizonten, Lebensweisen<br />
und Erfahrungsmöglichkeiten fordert und<br />
umsetzen will, stellt sich gegen einen starken Zeitgeist.<br />
Er darf sich aber auf Erfahrungen und Modelle,<br />
Informationen und Zeugnisse stützen, die zeigen,<br />
dass Alter als selbstständiger, spannender und<br />
fruchttragender Lebensabschnitt erfahren und gelebt<br />
werden kann. Zu den Voraussetzungen gehören<br />
allerdings wohl eine frühzeitige Planung eines «guten»<br />
Alters, eine Prävention vor zu vielen gesundheitlichen,<br />
seelischen oder geistigen Einschränkungen<br />
und ein Lernen auf das Alter hin. An vielen<br />
Punkten werden pfl egerischer und medizinischer<br />
Sachverstand, betreuende Begleitung und beratende<br />
Unterstützung gebraucht werden – eine grossartige<br />
Herausforderung für Pfl ege und Medizin. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Alter kann als selbstständiger,<br />
spannender und<br />
fruchttragender Lebensabschnitt<br />
erfahren und<br />
gelebt werden.<br />
Foto: Martin Glauser<br />
2 Grünert, A: Wann ist der<br />
Mensch alt und welche<br />
Auswirkungen hat das<br />
Altern auf entstehende<br />
Krankheiten? Klinikarzt<br />
2009; 38 (3): 109<br />
3 Dem Autor dieses Textes<br />
ist durchaus bewusst,<br />
dass Francis’ Held hier<br />
in Waffenkunde irrt. Der<br />
Langbogen wurde eher<br />
von der Armbrust verdrängt,<br />
das Gewehr kam<br />
erst später. Aber das Zitat<br />
verdeutlicht sehr schön<br />
das eigentliche Problem.<br />
4 U.a.: Lang, E, K. G. Gassmann:<br />
Pro Aging statt<br />
Anti-Aging – was ist da<br />
anders? EuroJGer Vol. 7<br />
(2005) No 3, 190–192<br />
17
Die grosse Herausforderung<br />
für das Lernen im<br />
Alter ist einerseits offen<br />
zu bleiben und andererseits<br />
auf das schon angesammelte<br />
und erworbene<br />
Wissen zurückzug<strong>reifen</strong>.<br />
Foto: © irisblende.de<br />
Claudia Sciborski ist dipl.<br />
Pädagogin, dipl. Pfl egewirtin<br />
(FH), Pfl egefachfrau<br />
und Übersetzerin der<br />
italienischen Sprache<br />
c.sciborski@online.de<br />
Lebenslanges Lernen<br />
Das, was uns Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, ist die Tatsache,<br />
dass wir lernen können – und das zeitlebens. Mehr noch: Es ist für den Menschen<br />
überlebenswichtig, zu lernen. Claudia Sciborski<br />
Wir lernen Trinken, Laufen, Sprechen, Essen,<br />
Singen, Lesen, Radfahren, Schreiben,<br />
Rechnen, Englisch und uns zu benehmen<br />
– mit mehr oder weniger Erfolg. Im Er<strong>wachsen</strong>enalter<br />
lernen wir einen Beruf, jemanden kennen,<br />
Kinder zu erziehen, vielleicht Vorgesetzter zu sein –<br />
wieder mit unterschiedlichem Erfolg. Ebenso lernen<br />
wir – vielleicht im hohen Alter – für andere da zu<br />
sein, uns nicht mehr so wichtig zu nehmen, mit der<br />
Rente auszukommen, uns vom Beruf zu verabschieden,<br />
uns auf den Tod vorzubereiten (Spitzer 2007:<br />
XIII).<br />
Lernfähigkeit im Alter Von seiner Bedeutung her<br />
ist das Wort «lernen» mit den Wörtern «lehren» und<br />
«List» verwandt und gehört zur Wortgruppe «leisten»,<br />
das ursprünglich «einer Spur nachgehen, nachspüren»<br />
bedeutete. Die indogermanische Wurzel<br />
«lais-» bedeutet «Spur, Bahn, Furche». Schon der<br />
Herkunft nach hat «lernen» etwas mit «Spuren hinterlassen»,<br />
aber auch mit «nachspüren» zu tun (Duden<br />
7, 1997). Lernen soll also sowohl im Gedächtnis<br />
als auch in der Umwelt Spuren hinterlassen.<br />
Denn: Wer lernt, der ändert sich. Das kann aber auch<br />
Angst machen. Das Aufnehmen von Neuem bedeutet<br />
Veränderung in dem, der aufnimmt.<br />
Der Gehirnforscher Manfred Spitzer (2007)<br />
kommt zu dem Schluss, dass der Mensch zum Lernen<br />
geboren ist. Gehirne sind äusserst effektiv im<br />
Aufnehmen von Informationen. Alles Wichtige um<br />
uns herum nehmen wir in uns auf und verarbeiten<br />
es. Wir können gar nicht anders, als zu lernen, so<br />
Spitzers Aussage (Spitzer 2007: 11 ff.).<br />
Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen<br />
dem Lernen von jungen und älteren Menschen. Für<br />
Kinder ist das Lernen leicht und schnell. Ältere Men-<br />
18 NOVAcura 10|09<br />
schen lernen meist langsam. Die Abnahme der Lerngeschwindigkeit<br />
im Alter ist jedoch nicht nur negativ<br />
zu bewerten, sondern sie ist sogar sinnvoll. Langsames<br />
Lernen oder Lernen in kleinen Schritten hat<br />
den Vorteil, dass nicht beständig Neues nur oberfl<br />
ächlich gelernt wird sondern sich jede einzelne Erfahrung<br />
nur gering dafür stetig niederschlägt und so<br />
die allgemeinen Strukturen dieser Erfahrung durch<br />
häufi ges Wiederholen gefestigt werden. So lernen<br />
wir in ähnlichen Situationen auf bereits Bekanntes<br />
und bisher Gelerntes zurückzug<strong>reifen</strong>. Das bedeutet<br />
für das Lernen bei älteren Menschen, dass sie erfahrener<br />
sind, ihre Umwelt besser kennen als jüngere<br />
Menschen. Man spricht dann von dem alten, erfahrenen<br />
Meister. Ältere Menschen haben nämlich<br />
schon sehr viel gelernt und können dieses Wissen<br />
dazu einsetzen, neues Wissen besser zu integrieren.<br />
Je mehr man schon von einer Sache weiss, desto besser<br />
kann man neue Inhalte mit dem schon vorhandenen<br />
Wissen verknüpfen.<br />
Die Kehrseite der Medaille ist aber auch, dass dieses<br />
Wissen den Blick verstellen kann, uns blind machen<br />
kann, für das, was neu ist oder direkt vor unseren<br />
Augen liegt. Das ist die grosse Herausforderung<br />
fürs Lernen im Alter: einerseits offen zu bleiben und<br />
andererseits auf das schon angesammelte und erworbene<br />
Wissen zurückzug<strong>reifen</strong>. Alt Bekanntes soll in<br />
neuen Situationen angewendet werden.<br />
Dennoch bleibt es für ältere Menschen eine besondere<br />
Herausforderung, sich diesen neuen Situationen<br />
zu stellen. Praktisch zeigt sich dies auch in<br />
der Erfahrung Pfl egender: Ältere Menschen haben<br />
Schwierigkeiten, sich einer neuen Umwelt anzupassen,<br />
wenn sie ihre stabile Umgebung verlassen müssen.<br />
Dies ist ganz besonders bei einem Umzug in ein<br />
Alten- und Pfl egeheim zu beachten.
Im naturwissenschaftlichen Bereich ist zu beobachten,<br />
dass vor allem junge Leute neue, bahnbrechende<br />
Erfi ndungen gemacht haben. Rasches Lernen,<br />
Bereitschaft zum Umlernen, grosse Verarbeitungskapazität<br />
und schnelle Verarbeitungsleistung<br />
sind in der Mathematik und den Naturwissenschaften<br />
offensichtlich nötig, um Bahnbrechendes zu<br />
leisten.<br />
Anders ist das allerdings in den Sozialwissenschaften.<br />
Grosse Leistungen in den Sozialwissenschaften<br />
werden nicht von 20-jährigen gemacht, sondern<br />
von den 40- und 50-jährigen. Grund dafür ist, dass<br />
wir im Bereich der sozialen Interaktionen lebenslang<br />
dazulernen. Wir lernen die Menschen im Idealfall<br />
immer besser verstehen und werden deshalb im Umgang<br />
mit ihnen immer weiser.<br />
Ältere Menschen sind daher eher Experten im<br />
Bereich der Ethik, der psychosozialen Fragen. Ältere<br />
Menschen können deshalb Probleme des Zwischenmenschlichen<br />
häufi g besser überschauen.<br />
Das ist es, was man unter Lebenserfahrung versteht.<br />
Gerade im Bereich des menschlichen Zusammenlebens<br />
bis hin zum Regieren einer Nation benötigen<br />
wir Menschen mit Lebenserfahrung. Verantwortungsvolle<br />
Regierungsaufgaben bekommt man<br />
nicht in jungen Jahren. Das aktive Wahlrecht wird<br />
in vielen Staaten erst mit 18 Jahren gegeben. Gewählt<br />
wird man für ein verantwortungsvolles politisches<br />
Amt in der Regel, wenn man die 40 überschritten<br />
hat. Der Papst war sogar 78 Jahre, als er für<br />
dieses Amt gewählt wurde.<br />
Ältere Menschen werden in den meisten Kulturen<br />
gerade wegen ihrer sozialen Kompetenzen geschätzt.<br />
Sie sind wertvoll für die gesamte Gesellschaft<br />
bzw. Gruppe aufgrund ihrer Erfahrung und<br />
ihres Wissens. Vor allem heute ist zu beobachten,<br />
dass Frauen, deren höhere soziale Kompetenz in<br />
mehreren Studien belegt ist, im Alter eine wichtige<br />
Funktion bei der Erziehung der Enkel übernehmen.<br />
Sie stellen einen reichen Erfahrungsschatz dar, der<br />
für die Gesellschaft wichtig ist (Spitzer 2007: 277 ff.).<br />
Altenbildung Die maximale Lebenserwartung liegt<br />
beim Menschen etwa bei 120 Jahren. Der demografi<br />
sche Wandel ist eine Alltagserfahrung geworden.<br />
In Städten und Gemeinden bestimmen ältere Menschen<br />
das Strassenbild, es gibt sogar bestimmte Feriengebiete,<br />
die in gewissen Monaten ausschliesslich<br />
von Senioren besucht werden.<br />
Man spricht paradoxerweise von einer «Verjugendlichung»<br />
des Alters. «Wir werden immer jünger,<br />
obwohl wir immer älter werden.» Das will heissen,<br />
dass die Grenzen des Jungseins sich um ca. zehn<br />
Jahre nach hinten verschoben haben. Wer heute 50<br />
ist, fühlt sich wie 40, wer 60 ist wie 50.<br />
Mit dem demografi schen Wandel wird das Alter<br />
nun zu einer Phase des gesteigerten Lernens. Hierbei<br />
gibt es einen Zusammenhang von Hilfe und Lernen.<br />
Wenn gewisse Fähigkeiten wie Hören, Sehen,<br />
Sichbewegen im Alter eingeschränkt sind, so muss<br />
der ältere Mensch lernen, mit Hilfsgeräten diese Einschränkungen<br />
zu kompensieren. So ist z.B. die korrekte<br />
Bedienung und Anwendung eines Hörgerätes<br />
oft nur möglich, wenn sich der Betroffene die kom-<br />
plexe Bedienungsanleitung aneignet und diese umzusetzen<br />
vermag.<br />
Wollen ältere Menschen zu Hause leben – trotz<br />
körperlicher Einschränkungen und Hilfebedarf –, so<br />
müssen sie soziale Dienste für sich nutzen und technische<br />
Hilfsmittel bedienen lernen. Kommt ein<br />
älterer Mensch dann doch in ein Alten- und Pfl egeheim,<br />
so muss er lernen, sich zu integrieren. Er muss<br />
quasi alte Gewohnheiten verlernen, er muss umlernen<br />
und neu das Leben in einer Institution erlernen.<br />
Ältere Menschen geniessen aber auch für ihre persönliche<br />
Bildung und ihr individuelles Lernen ihre<br />
sogenannte «späte Freiheit». Frei von Familienaufgaben<br />
und fi nanziell abgesichert können sie sich einer<br />
zweckfreien Bildung widmen, d.h. Lernen und<br />
Bildungsmassnahmen dienen nicht mehr nur der<br />
berufl ichen Weiterentwicklung. Theaterbesuche,<br />
kulturelle Reisen, die Teilnahme an Volkshochschulkursen<br />
und sogar ein Studium speziell für Senioren<br />
ermöglichen eine vertiefende Auseinandersetzung<br />
mit dem eigenen Lernen und zugleich die Entfaltung<br />
der Persönlichkeit.<br />
Altenbildung wird von der öffentlich verantworteten<br />
Er<strong>wachsen</strong>enbildung, also den Volkshochschulen,<br />
kirchlichen und gemeinwohlorientierten<br />
Institutionen, selbstorganisierten Initiativen, Reiseveranstaltern,<br />
Organisationen des Gesundheitssystems<br />
(Krankenkassen), Seniorenorganisationen der<br />
Parteien oder auch Museen angeboten. Den Teilnehmer/innen<br />
wird durch diese Angebote zum einen<br />
ermöglicht, sich kreativ zu entfalten, sich selbst zu<br />
verwirklichen, zum anderen aber auch in Gemeinschaft<br />
zu sein. Solidarität unter der älteren Generation<br />
soll so gefördert werden. Andere gesellschaftlich<br />
und sozial engagierte ältere Menschen nutzen<br />
ihre Zeit für ein bürgerschaftliches Engagement bzw.<br />
Ehrenamt.<br />
Ebenso wird eine zukünftige Altenbildung vermehrt<br />
darauf abzielen, dass ältere Menschen ihr Expertenwissen<br />
an jüngere Menschen weitergeben<br />
oder sich vermehrt um die Kinderbetreuung und<br />
-erziehung kümmern. Sich nützlich machen, sich<br />
einmischen und dazu noch lebenslang dazulernen,<br />
das sind sinnvolle Aufgaben für ältere Menschen<br />
(Nittel, Seitter 2006).<br />
Lernen hört also niemals auf, und gerade die persönlichen<br />
und sozialen Kompetenzen, die ältere<br />
Menschen im Laufe ihres Lebens erworben haben,<br />
sind ein wertvoller Schatz für die nachfolgende Generation.<br />
Folgendes Bild wird zukünftig sicher ein ganz<br />
selbstverständliches sein: Die Enkelkinder bringen<br />
ihren Grosseltern den Umgang mit dem Computer<br />
bei, sie zeigen ihnen, wie sie ihn nicht nur bedienen<br />
können, sondern wie sie damit elektronische Post<br />
verschicken und sich Informationen aus dem Internet<br />
besorgen können. Im Gegenzug dazu hören die<br />
Grosseltern ihren Enkeln zu, sprechen mit ihnen,<br />
nehmen sie ernst, versuchen ihre Nöte zu verstehen<br />
und helfen ihnen, Konfl ikte und Auseinandersetzungen<br />
zu lösen, Entscheidungen für die Zukunft zu<br />
treffen. Hier treffen neues Wissen und Lebenserfahrung<br />
plus soziale Kompetenz aufeinander. Die Generationen<br />
lernen respektvoll voneinander. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Literatur<br />
Duden. Etymologie:<br />
Herkunftswörterbuch der<br />
deutschen Sprache. 1997,<br />
Band 7. 2. Aufl age.<br />
Mannheim: Dudenverlag.<br />
Nittel, D. & Seitter, W.<br />
(2006). Die Bedeutung<br />
des demographischen<br />
Wandels für die Er<strong>wachsen</strong>enbildung.<br />
In: Der<br />
pädagogische Blick. Zeitschrift<br />
für Wissenschaft<br />
und Praxis in pädagogischen<br />
Berufen. 3/2006:<br />
132–140.<br />
Spitzer, M. (2007). Lernen.<br />
Gehirnforschung und die<br />
Schule des Lebens.<br />
München: Elsevier.<br />
19
Elke Steudter ist Diplomberufspädagogin<br />
Pfl egewissenschaft<br />
und arbeitet<br />
als Pfl egefachfrau und<br />
freie Lektorin. Sie ist wissenschaftlicheMitarbeiterin<br />
am WE'G, Aarau.<br />
info@steudter.net<br />
Die Beschäftigung mit der<br />
Familiengeschichte wird Ahnen-<br />
oder Familienforschung<br />
genannt. Vielen ist sie auch<br />
als Beschreibung des Familienstammbaums<br />
bekannt.<br />
Lateinisch nennt sich diese<br />
Dis ziplin Genealogie<br />
(Hennes, 2006).<br />
Es gibt viele Gründe, sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln und<br />
auf die Reise zu den Geschichten der eigenen Familie zu begeben. Um<br />
als Mensch <strong>wachsen</strong> zu können, muss man seinen Ursprung kennen.<br />
Wie soll man auf der Suche danach vorgehen, und was muss beachtet<br />
werden? Elke Steudter<br />
Früher lebten mehrere Generationen oft unter<br />
einem Dach zusammen. Geschichten von den<br />
Vorfahren – aber auch von entfernten Verwandten<br />
– konnten so einfach an die nächste Generation<br />
in Erzählungen weitergegeben werden. Wenn<br />
die Grosseltern lange genug lebten, erhielt man vielleicht<br />
sogar Informationen einer weiter zurückliegenden<br />
Generation. Selten erlebt man heute noch<br />
die Generation vor den Grosseltern. Klar ist aber,<br />
dass die Familie auch vorher schon bestanden haben<br />
muss, sonst wären heute keine Nachkommen<br />
da. Kaum jemand weiss jedoch, wie die weit zurückliegenden<br />
Generationen genannt werden bzw. wie<br />
man sie korrekt bezeichnet, wenn man sie bei der<br />
Ahnenforschung suchen möchte (siehe Tabelle 1).<br />
Oft wird die Frage nach der Herkunft und der Familie<br />
dann aktuell, wenn man alte Familienfotos fi ndet,<br />
plötzlich eine entfernte Verwandte wie aus dem<br />
Nichts auftaucht oder ein Familienmitglied stirbt<br />
und die Erbangelegenheiten geregelt werden müssen.<br />
Ein weiterer Grund mag die lebensbegleitende<br />
Frage nach dem «Wer bin ich?» sein, die uns veranlasst,<br />
uns auf die familiäre Spurensuche zu begeben.<br />
Welche Persönlichkeiten hat die Familie hervorgebracht,<br />
und wie viel erkennt man möglicherweise<br />
davon bei sich selbst? Denn trotz der individualisierten<br />
Welt stehen die Familie und die Zugehörigkeit<br />
zum Familienverbund heute (wieder) hoch im Kurs.<br />
Und nicht nur in Zeiten der Not berufen sich viele<br />
auf die Familie und deren besondere Verbindungen.<br />
Familienbande bestehen ein Leben lang. Anders als<br />
seine Freunde, sucht man sich seine Familie nicht<br />
aus. Man wird in sie hineingeboren und bleibt ihr<br />
ein Leben lang mehr oder weniger verbunden.<br />
Unbekannte Familie Viele denken nun vielleicht,<br />
sie möchten ebenfalls mehr über ihre Vorfahren wissen,<br />
erklären können, wo die Wurzeln der Familie<br />
20 NOVAcura 10|09<br />
liegen und wer tatsächlich weitverzweigt dazu gehört.<br />
Aber die Grosseltern sind schon lange tot, die<br />
Eltern können nur unzureichend Auskunft geben,<br />
und es gibt niemanden, den man über die Generationen<br />
befragen könnte; und überhaupt: Wie fängt<br />
man so etwas an? Ahnenforschung betreibt man<br />
nicht ebenso mal nebenher. Die Beschäftigung<br />
damit kann Monate, gar Jahre dauern. Anhand von<br />
alten Unterlagen und Dokumenten lassen sich die<br />
Lebensdaten der Familienmitglieder ermitteln, die<br />
geknüpften Verbindungen der einzelnen Personen<br />
rekonstruieren und so nach und nach die Entstehung<br />
der heutigen Familie in deren Konstellation<br />
nachvollziehen. Aber woher weiss ich, ob ich der<br />
richtigen – nämlich meiner – Familie auf der Spur<br />
bin? Ein Problem, das nie ganz gelöst werden kann,<br />
vor allem dann, wenn man einen sehr häufi gen Familiennamen<br />
trägt.<br />
Tabelle 1: Generationen und deren<br />
Bezeichnung (Auswahl, nach Hennes, 2006)<br />
Bezeichnung<br />
Proband (Person der jüngsten Generation)<br />
Generation<br />
Eltern I<br />
Grosseltern II<br />
Urgrosseltern III<br />
Alteltern (Ur-Urgrosseltern) IV<br />
Altgrosseltern V<br />
Alturgrosseltern VI<br />
Obereltern VII<br />
Obergrosseltern VIII<br />
Oberurgrosseltern IX<br />
Stammeseltern X<br />
Foto: © irisblende.de
Wer sich auf die Reise in die familiäre Vergangenheit<br />
über mehrere Generationen hinweg begeben<br />
möchte, benötigt Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen<br />
– und die Fähigkeit, möglichst systematisch<br />
und geordnet die gefundenen Daten zu dokumentieren.<br />
Denn dies ist eine zwingende Voraussetzung,<br />
um den Überblick im Laufe des Rechercheprozesses<br />
zu behalten. Jede Recherche nach Familienmitgliedern<br />
verläuft nach aufeinanderfolgenden<br />
Schritten.<br />
Ahnensuche step by step In einem ersten Schritt<br />
sollte geklärt werden, was über die Familie bereits<br />
bekannt ist. Hierzu gehören insbesondere Namen,<br />
Nachnamen, Geburts-, mögliches Heirats- und Sterbedatum,<br />
Beruf sowie die Lebensorte. Wichtige Informationsquellen<br />
sind die noch lebenden Verwandten.<br />
Ebenso können aber auch Familienbücher,<br />
Zeitungsausschnitte oder amtliche Dokumente (Geburts-<br />
und Sterberegister oder andere Auszeichnungen<br />
der Kirchengemeinde) wichtige Informationen<br />
oder Hinweise liefern.<br />
In einem zweiten Schritt sollte überlegt werden,<br />
wonach genau gesucht oder geforscht werden soll.<br />
Sucht man ein bestimmtes Familienmitglied und<br />
möchte über diese Person Näheres bzw. Biografi sches<br />
erfahren, muss wenigstens der vollständige Name,<br />
die ungefähren Daten von Geburt und Tod sowie der<br />
Wohnort bekannt sein. Oder soll möglichst weit der<br />
Familienstammbaum zurückverfolgt werden und<br />
alle zur Familie gehörigen Personen aufgelistet werden?<br />
Das setzt eine umfangreiche und zeitintensive<br />
Recherche voraus, in der der Suchprozess stets von<br />
neuem begonnen wird und so das Familiepuzzle<br />
langsam zusammengefügt werden kann. Sinnvollerweise<br />
beginnt man mit der Generation, die einem<br />
am nächsten ist, und arbeitet sich dann zurück.<br />
Zunächst muss der frühere Aufenthaltsort der Personen<br />
gefunden werden, über die man Informationen<br />
haben möchte, da an diesem Ort bzw. an den<br />
öffentlichen Ämtern die Wahrscheinlichkeit von<br />
brauchbaren Dokumenten am grössten ist. Im Bürgerort<br />
von Schweizern und Schweizerinnen werden<br />
alle standesamtlichen Daten der Familien und derer<br />
Mitglieder gesammelt. Dies ermöglicht eine relativ<br />
schnelle und umfangreiche Datenerhebung. Auskunft<br />
über Familien erhalten jedoch nur Personen,<br />
die nachweislich von der Familie abstammen. Bei<br />
Verwandten, die ursprünglich nicht aus der Schweiz<br />
kommen, muss am letztbekannten Wohn- oder am<br />
Geburts- bzw. Sterbeort gesucht werden. Auch hier<br />
sind wieder Kirchenbücher oder andere Archive hilfreich.<br />
Eine weitere Möglichkeit ist die Anfrage bei<br />
einem genealogischen Verein, der sich auf den gefundenen<br />
Ort und seine Geschichte spezialisiert hat.<br />
Möglicherweise fördern deren Dokumentationen<br />
weitere Informationen über die gesuchten Personen<br />
zutage. Schwierig wird es bei Familienmitgliedern,<br />
die ausgewandert sind. Möchte man hier suchen,<br />
setzt dies voraus, dass man die fremde Sprache beherrscht<br />
(bei formalen Anfragen, zur Durchsicht der<br />
fremdsprachigen Dokumente). Möchte man am Lebens-<br />
bzw. Wohnort der Vorfahren forschen, werden<br />
Reisen nötig (W001).<br />
Systematik im Chaos Alle gefundenen und erhaltenen<br />
Informationen müssen übersichtlich und systematisch<br />
– am besten in einem oder mehreren Ordnern<br />
– abgelegt bzw. dokumentiert werden. Wann<br />
immer möglich, sollen Kopien von Geburts- und<br />
Sterbeurkunde, aber auch alle anderen schriftlichen<br />
Beweise über Herkunft, Beruf oder Biografi e gesammelt<br />
werden. In einem weiteren Schritt geht es dann<br />
daran, diese Informationen auszuwerten. Wurde gefunden,<br />
was gesucht wurde? Wie zuverlässig und<br />
umfangreich sind die Quellen? Gibt es widersprüchliche<br />
Angaben?<br />
Wurden genug Informationen über den ausgewählten<br />
Vorfahren gefunden, ist dieser Ahnensuchprozess<br />
abgeschlossen. Nun wendet man sich einer<br />
anderen verstorbenen Person aus der Familie zu und<br />
geht in der gleichen Art und Weise wie oben vor.<br />
Möglichkeiten im medialen Zeitalter Inzwischen<br />
bieten der Computer und das Internet allerlei Möglichkeiten,<br />
die oben beschriebenen Schritte zu<br />
unterstützen bzw. zu vereinfachen. Verschiedene<br />
Anbieter vertreiben Softwareprogramme, die es ermöglichen,<br />
die gefundenen Daten systematisch zu<br />
erfassen und in entsprechender<br />
Form aufzubereiten. Dies kann<br />
die Verwaltung der Daten ganz<br />
erheblich erleichtern. Dies vor<br />
allem dann, wenn bereits sehr<br />
viele Daten gefunden werden<br />
konnten. Die An gebote bzw. die<br />
Möglichkeiten, die diese Produkte<br />
bieten, sind sehr unterschiedlich<br />
und sollten vorab erfragt<br />
und vor dem Hintergrund<br />
der eigenen Bedürfnisse ausgewählt<br />
werden.<br />
Sehr viel Arbeit erspart man sich, wenn auf bereits<br />
erforschte und belegte Daten zurückgegriffen<br />
werden kann. Daher sollte im Ahnenforschungsprozess<br />
geklärt werden, ob es nicht schon jemanden –<br />
evtl. aus der entfernt verwandten Familie – gibt, der<br />
sich ebenfalls mit der Familiengeschichte beschäftigt.<br />
In extra dafür eingerichteten Foren können sich<br />
Mitglieder der verschiedenen Genealogievereine untereinander<br />
austauschen und sich bei der oft klein<br />
schrittigen Suche nach entfernten Verwandten helfen.<br />
Reise in die eigene Vergangenheit Die intensive<br />
Beschäftigung mit den Mitgliedern der Familie und<br />
deren individuelle Geschichte ist auch eine Reise zur<br />
eigenen Person. Während der Auseinandersetzung<br />
mit den Vorfahren lernt man sich möglicherweise<br />
immer besser kennen, und die Verbundenheit mit<br />
den eigenen Wurzeln wächst. Dieses Wissen kann<br />
hilfreich sein, um seinen Weg weiterzugehen. Dabei<br />
sollte man sich stets bewusst sein, dass auch nicht<br />
wünschenswerte Informationen über die Vorfahren<br />
in Erfahrung gebracht werden können wie zum Beispiel<br />
die Beteiligung an Kriegs- oder anderen Verbrechen.<br />
Auf jeden Fall ist es eine spannende Beschäftigung<br />
mit der eignen und der weit zurückliegenden<br />
Familiengeschichte. ■<br />
« Sinnvollerweise beginnt<br />
man mit der Generation,<br />
die einem am nächsten<br />
ist, und arbeitet sich<br />
dann zurück.»<br />
NOVAcura 10|09<br />
Literatur<br />
Hennes, H. W. (2006).<br />
Ahnenforschung:<br />
www.ahnenforschung.org<br />
W001: http://wiki-de.<br />
genealogy.net<br />
Hilfreiche Webseiten<br />
www.familienstammbaum.de<br />
www.familytreemaker.com<br />
www.ancestry.de<br />
www.genealogy.net<br />
21
Fotobüchsen sind wie<br />
Pralinenschachteln …<br />
Bildhaft gesprochen besteht die durchschnittliche Lebensdauer eines in der Schweiz<br />
lebenden Menschen aus 2 Milliarden 554 Millionen und 416 000 Augenblicken. Nur Bruchteile<br />
dieser Momente werden in Bildern festgehalten. Dennoch haben Bilder vielfältige<br />
Funktionen in unserem Leben und unserer Entwicklung, die es im Folgenden exemplarisch<br />
darzustellen und zu deuten gilt. Jürgen Georg<br />
Jürgen Georg (MScN) ist<br />
Pfl egefachmann, -lehrer,<br />
-lektor und Hobbyfotograf.<br />
juergen.georg@hanshuber.<br />
com<br />
Abb. 1: Mit Fotos Gespräche<br />
beginnen und aufrechterhalten.<br />
Abb. 2: Fotobüchsen sind<br />
wie Pralinenschachteln,<br />
man weiss nie, was<br />
einem darin erwartet.<br />
Fotos: Jürgen Georg<br />
Bilder als Einsteig und Basis für Gespräche Beim<br />
letzten Besuch meiner 87-jährigen Grossmutter<br />
hatte ich eine ganze Reihe von Fotos mit, welche ich<br />
in den vergangenen Wochen von Menschen fotografi<br />
ert hatte, die in ihrem unmittelbaren dörfl ichen<br />
Umfeld lebten. Nach der anfänglichen Freude des<br />
Wiedersehens und Fragen nach dem Befi nden zeigte<br />
ich ihr diese, worauf rasch ein angeregtes Gespräch<br />
und ein reger Austausch über die alten und neue<br />
«Originale» aus dem Dorf entstanden. Diese Situation<br />
zeigt, dass man alte und aktuelle Fotos gut nutzen<br />
kann, um in ein Gespräch einzusteigen. Wenngleich<br />
meine Grossmutter manche der Bilder immer<br />
wieder betrachtete und häufi g ähnliche Fragen dazu<br />
stellte, zum Beispiel, wer die Person auf dem Porträt<br />
sei, wo dieses Foto entstanden sei, so konnte ich<br />
durch variierende Antworten für beide Seiten das<br />
Gespräch interessant halten, zumal meine Grossmutter<br />
immer wieder kleine Geschichten zu den Personen<br />
parat hatte.<br />
Tipp: Achten Sie bei der Begegnung mit Bewohnern<br />
auf Bilder und Fotos in der Umgebung und probieren<br />
Sie, ob sich über diese Bilder ein Gespräch<br />
entwickeln lässt (Abb. 1).<br />
Erinnerungen auslösen, wiederbeleben, erhalten<br />
und stützen Im Laufe des Gesprächs brachte meine<br />
Mutter eine Büchse mit Fotos herbei, in der ältere<br />
und neuere Bilder aus der Familie meiner Grossmutter<br />
kunterbunt versammelt waren. Die Büchse erinnerte<br />
mich etwas an einen Ausspruch von Forrest<br />
Gump: «Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel.<br />
1 2<br />
22 NOVAcura 10|09<br />
Man weiss nie was man bekommt.» Trotz der offensichtlichen<br />
Unordnung dieses Panoptikums an fotografi<br />
schen Erinnerungen ergab diese Sammlung<br />
doch ein facettenreiches Bild der Entwicklungen<br />
und Rollenveränderungen im Leben meiner Grossmutter.<br />
Von der Tochter, Schwester, Geliebten,<br />
Ehefrau, Freundin, Bäuerin, Mutter, Tante, Schwiegermutter,<br />
Witwe bis hin zur Grossmutter und Urgrossmutter.<br />
Wie von allein lösten diese Bilder Erinnerungen<br />
aus, lebten kleine Anekdoten wieder auf,<br />
wurden Personen, Situationen und Emotionen in<br />
der dargestellten Situation erinnert.<br />
Tipp: Fragen Sie Angehörige, ob sie Fotoalben<br />
oder -schachteln eines Bewohners mitbringen können,<br />
und nutzen Sie diese für Gespräche und Erinnerungsarbeit<br />
(Abb. 2).<br />
Erinnerungen an geliebte Menschen wach halten<br />
Immer wieder tauchten auch alte Bilder von Freundinnen,<br />
Geschwistern und ihrem Ehemann auf.<br />
Beim Blick auf ein Foto mit ihren guten Freundinnen<br />
entfuhr meiner Grossmutter ein trauriges «die leben<br />
alle nicht mehr». Da wurde mir klarer, wie schmerzhaft<br />
es für viele alte Menschen sein muss, wenn allmählich<br />
ihr Freundeskreis im Himmel grös ser als auf<br />
Erden wird. Ähnlich war es bei ihren drei Geschwistern,<br />
die sie alle bis auf ihren Bruder überlebt hatte.<br />
– Fotos können die Erinnerungen an geliebte Menschen<br />
wach halten, aber sie bewahren nicht davor,<br />
dass diese Erinnerungen mitunter sehr wehtun.<br />
Beim weiteren Stöbern in der Fotokiste stiess<br />
meine Grossmutter, neben feschen Jugendfotos mei-
nes Grossvaters, auch auf dessen Todesanzeige. Für<br />
einige Momente wurde sie ganz still, hielt inne und<br />
wandte sich dann wieder den anderen Bildern zu.<br />
Was mag sie wohl in diesen Augenblicken gedacht<br />
und bewegt haben?<br />
Tipp: Fotos wecken mitunter (schmerzliche) Erinnerungen<br />
an geliebte Menschen, scheuen Sie nicht<br />
davor zurück, denn diese Erinnerungen sagen Wesentliches<br />
über einen Menschen aus (Abb. 3).<br />
Das Selbstbewusstsein einer Person stärken Als<br />
meine Grossmuster auf ein Passfoto stiess, das sie<br />
etwa siebzigjährig zeigte, hielt sie es mir verschmitzt<br />
entgegen. So als wollte sie schelmisch sagen: «Hab<br />
mich doch gut gehalten, oder?» Das sprach für ihren<br />
Humor und ihr Selbstbewusstsein. – Hatte ich<br />
an dem Nachmittag einige Zeit damit verbracht,<br />
häufi g gestellte, gleich lautende Fragen immer wieder<br />
geduldig zu beantworten, so verblüffte mich<br />
meine Grossmutter am Ende des Nachmittags. Als<br />
sie beim Anblick eines Fotos meiner Frau, die ihr am<br />
Tisch gegenüber sass, zum fünften Mal fragte, wer<br />
denn dieses «Mädchen» sei, wollte ich schon ausholen,<br />
um ihr wortreich zu erklären, dass diese Frau<br />
ihre Schwiegerenkelin sei, die sie seit 15 Jahren<br />
kenne. Bevor ich dazu kam blickte sie mich spitzbübisch<br />
an und zwinkerte mit den Augen. Sie hatte<br />
mich und ihre Vergesslichkeit auf den Arm genommen.<br />
Ich musste schmunzeln, fühlte ich mich doch<br />
davon mehr in statt auf den Arm genommen.<br />
Tipp: Verwenden Sie Fotos von Bewohnern, um<br />
deren Selbstbewusstsein zu stärken und nutzen Sie<br />
«Humorpotenziale», die in manchen Fotos stecken<br />
(Abb. 4).<br />
Vergangenes und Gegenwärtiges verbinden Eines<br />
der Fotos zeigte auch die verstorbene Boxerhündin<br />
meiner Grossmutter, die wir beide sehr geliebt hatten.<br />
Beim Anblick des Hundes meinte sie: «Junge,<br />
du hast mir noch nie was Böses gewollt und getan,<br />
bist ein guter Junge. Immer wenn ich dich sehe,<br />
muss ich daran denken, wie du als kleiner Junge in<br />
der Wiese hinterm Haus gelegen hast, alle nach dir<br />
suchten, und unsere Boxerhündin Tonja über dich<br />
wachte und aufgepasst hat, dass dir nichts passiert.»<br />
– So verbinden Fotos Vergangenes und Gegenwärtiges<br />
sowie Enkel und Grosseltern.<br />
Fotos sehen lernen Neben den persönlichen Geschichten,<br />
die wir mit Fotos verbinden, «sprechen»<br />
3 4<br />
Fotografi en auch auf nonverbale Weise zu uns. Um<br />
diese Bildsprache zu verstehen und Merkmale von<br />
Bildern besser «lesen» und analysieren zu können,<br />
helfen die folgenden orientierenden Fragen von<br />
Akert aus Schuster (2005: 82f):<br />
Was ist der erste Eindruck? Wen sieht man, was<br />
sieht man?<br />
Was passiert auf dem Foto?<br />
Ist der Hintergrund, der gewählt wurde von Bedeutung?<br />
Hat er eine symbolische Bedeutung,<br />
steht er in einer sinnvollen Beziehung zu der Person<br />
und ihren sozialen Beziehungen?<br />
Welche Gefühle weckt das Bild im Betrachter?<br />
Was kann man über körperliche Nähe und Distanz<br />
der Personen sagen?<br />
Berühren sich die Menschen auf dem Bild? Wie<br />
berühren sie sich?<br />
Wie fühlen sich die abgebildeten Menschen in Bezug<br />
auf ihren Körper? Sind sie stolz auf ihren Körper<br />
oder schämen/verstecken sie sich?<br />
Wie ist der (mutmassliche) emotionale Zustand<br />
jeder einzelnen Person? Wie wird diese Emotion<br />
durch einen Gesichtsausdruck oder eine Körperhaltung<br />
erkennbar? Sicher lächeln die Personen<br />
auf den Fotos. Es kommt aber darauf an, wie sie<br />
lächeln. Ist es ein gezwungenes Lächeln oder ein<br />
offenes entspanntes Lächeln? Lächelt die Person<br />
eine andere Person der fotografi erten Gruppe an<br />
oder nur den Fotografen?<br />
Wie harmoniert die Gruppe? Sind alle entspannt?<br />
Wer hat die «Macht» in der Gruppe?<br />
Gibt es irgendetwas besonderes bezüglich einzelner<br />
Körperteile jedes Menschen? Betrachten Sie<br />
sorgfältig das Gesicht, die Arme, Hände, Beine<br />
und Füsse einer Person. Sind die einzelnen Teile<br />
harmonisch bezüglich des Ausdrucks oder gibt es<br />
Inkonsistenzen?<br />
Lernen Sie, ein Foto wie ein Buch zu lesen, lernen<br />
Sie, es Segment für Segment, zu betrachten. Von<br />
links nach rechts, von oben nach unten. Wiederholen<br />
Sie die Suche und versuchen Sie jedes Mal<br />
etwas zu entdecken, was Ihnen vorher entgangen<br />
ist.<br />
Der Entwicklung und Lebensgeschichte alter Menschen<br />
anhand von Fotos nachzuspüren, ist ein reizvoller<br />
Aspekt der Pfl ege- und Aktivierungsarbeit. Neben<br />
all dem, was man über den Bewohner oder die<br />
Bewohnerin erfährt, lernt man dabei oft etwas über<br />
sich und für seine Entwicklung. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Literatur<br />
Craig, C. (2009): Exploring<br />
the Self through Photography.<br />
London, JKP.<br />
Georg, J.: Fotografi sches<br />
Gedächtnis. NOVAcura 39<br />
(2008) 11: 18–19<br />
Schweitzer, P.; Bruce, E.<br />
(2010): Das Remineszenzbuch.<br />
Bern: Huber.<br />
Schuster, M. (2005): Fotos<br />
sehen, verstehen, gestalten.<br />
Heidelberg: Springer.<br />
Abb. 3: Fotos helfen sich<br />
seiner selbst zu vergewissern<br />
und halten Erinnerungen<br />
an geliebte<br />
Menschen wach.<br />
Abb. 4: Mit Fotos hält<br />
man auch ein Stück eigener<br />
Lebensentwicklung in<br />
Händen.<br />
23
Gesundheitsförderung<br />
für ältere Menschen<br />
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer erkennbar ist, ältere Menschen besitzen<br />
viele Ressourcen, die es zu nutzen gilt. Eine kreative und ganzheitliche Gesundheitsförderung<br />
hat positive Auswirkungen auf Autonomie und Wohlbefi nden und unterstützt beim<br />
Erreichen persönlicher Lebensziele. Robert Weller<br />
Robert Weller ist Pfl egefachmann,<br />
Lehrer für<br />
Pfl egeberufe, Gesundheitswissenschaftler<br />
(B.Sc.) und arbeitet als<br />
Lehrer für Pfl egeberufe<br />
am Kreisklinikum Siegen<br />
GmbH<br />
r.weller@sanosalveo.de<br />
1 Als sekundäre Pfl anzenstoffe<br />
(Phytamine) werden<br />
bestimmte Inhaltsstoffe<br />
von pfl anzlichen<br />
Lebensmitteln bezeichnet,<br />
die von den Pfl anzen unter<br />
anderem als Abwehr-,<br />
Geruchs- und Farbstoffe,<br />
aber auch als Wachstumsregulator<br />
gebildet<br />
werden.<br />
Ist die Lebensphase Alter geprägt von Defi ziten,<br />
Gebrechlichkeit und zunehmender Abhängigkeit<br />
und Pfl ege? Oder – soll älteren Menschen die «Lebenslust»<br />
durch einen übertriebenen Körperkult geraubt<br />
werden (Lütz 2002)? Weder dies noch jenes.<br />
Denn: Zwischen diesen beiden extremen Posi tionen<br />
angesiedelt, beschreiben Märki (2004), Renteln-<br />
Kruse (2007) und Pfi ster (2006) Wege zur Gesundheitsförderung,<br />
die zu einer höheren Selbstbestimmung,<br />
zu verstärkter körperlicher, geistiger und<br />
seelischer Gesundheit und damit zu einer erhöhten<br />
Lebensqualität beitragen.<br />
Bewegungsaktivitäten aufbauen und intensivieren<br />
In den letzten Jahrzehnten hat aufgrund der<br />
technologischen Entwicklung der Bewegungsmangel<br />
deutlich zugenommen. In der Schweiz bewegen<br />
sich nach Martin und Marti (1998) nur ein Drittel<br />
der Männer und ein Viertel der Frauen regelmässig<br />
und in ausreichendem Mass. Bewegung stellt jedoch<br />
eine wichtige Gesundheitsressource dar. Möglicherweise<br />
sind Bewegungsaktivitäten bei vielen Menschen<br />
mit Zwang, schwerer Arbeit und bei älteren<br />
Männern auch mit militärischem Drill negativ verknüpft.<br />
Liesen (2009) beschreibt ein «kreatives ganzheitliches<br />
Training der Sinne» als Bewegungstraining.<br />
Gemeinsam mit älteren Menschen sollte ressourcenorientiert<br />
eine Bewegungsart oder Sportart<br />
gesucht werden, die Spass macht. Bewegungen, die<br />
freudig ausgeführt und emotional positiv bewertet<br />
und erfahren werden, sind langfristig gesundheitsförderlich.<br />
Ein solches Training ist abwechslungsreich, koordinationsfördernd,<br />
erfolgsvermittelnd und muskelkräftigend.<br />
Orientiert an den persönlichen körperlichen<br />
Fähigkeiten kann ein Training dieser Art von<br />
einfachen Bewegungsübungen im Sitzen, über Spaziergänge,<br />
Schwimmen bis hin zum Golfen reichen.<br />
Werden die Bewegungen in der beschriebenen Art<br />
und Weise ausgeführt, wird damit «automatisch» das<br />
zentrale Nervensystem mittrainiert (Liesen 2009).<br />
Bewegungsaktivitäten zu entwickeln und aufzubauen<br />
ist in jedem Lebensalter sinnvoll. Selbst hoch<br />
betagte Menschen können durch Muskelaufbautraining<br />
an Kraft hinzugewinnen und werden zum Beispiel<br />
sicherer in ihrem Gang. Je früher Menschen<br />
mit solchen Aktivitäten beginnen, umso grösser<br />
24 NOVAcura 10|09<br />
kann der spätere Nutzen sein. Martin und Marti<br />
(1998) sehen bereits einen wesentlichen Gesundheitsgewinn,<br />
wenn pro Woche etwa 1000 kcal durch<br />
Bewegung verbraucht werden. Ein solches «Bewegungsprogramm»<br />
beinhaltet beispielsweise zwei bis<br />
drei 30-minütige Spaziergänge bei mässigem Tempo<br />
sowie Schwimmen und gymnastische Übungen. Je<br />
nach Fitnesszustand kann der Kalorienverbrauch<br />
pro Woche durch Bewegung bis zu einem Verbrauch<br />
von etwa 3000 kcal gesteigert werden (Martin und<br />
Marti 1998). Sportliche Betätigung kann ausserdem<br />
auf psychischer Ebene nachweislich depressives<br />
Erleben positiv beeinfl ussen und zu Angstabbau<br />
führen.<br />
Flüssigkeits- und Nährstoffzufuhr optimieren Ausgehend<br />
von einer anfänglichen Analyse der Trink-<br />
und Ernährungsgewohnheiten, gibt es einfache und<br />
individuelle Empfehlungen. Geht man davon aus,<br />
dass je nach Gesundheitszustand täglich zwischen<br />
1,5 und 3 Liter Flüssigkeit zugeführt werden sollten,<br />
trinken viele ältere Menschen viel zu wenig.<br />
Mit frischem Wasser kann das Gros der täglichen<br />
Trinkmenge kostengünstig und ressourcenschonend<br />
aufgenommen werden. Dabei sollten Faktoren berücksichtigt<br />
werden, die den Wasser- und Elektrolythaushalt<br />
beeinfl ussen, wie Medikamente (Diuretika)<br />
oder klimatische Bedingungen (Hitzewelle).<br />
« Mit frischem Wasser kann das Gros<br />
der täglichen Trinkmenge kostengünstig<br />
und ressourcenschonend<br />
aufgenommen werden.»<br />
Bezüglich der Ernährung nimmt der reine Energiebedarf<br />
bei vielen älteren Menschen ab, der Nährstoffbedarf<br />
kann jedoch zunehmen. Deshalb ist zum<br />
Beispiel wichtig, viel Obst und Gemüse zu essen. Sekundäre<br />
Pfl anzenstoffe 1 haben in den letzten Jahren<br />
eine erstaunliche «Karriere» gemacht. Ursprünglich<br />
galten diese höchstens als zweitrangig, mittlerweile<br />
schwärmen Wissenschaftler von deren erstaunlichen<br />
Fähigkeiten. Dittrich und Leitzmann (1996)
eschreiben beispielsweise positive Wirkungen auf<br />
das Immunsystem und die Blutdruckregulierung sowie<br />
zur Krebsprävention zur Förderung der Verdauung.<br />
Eine einfache Regel zur Aufnahme von sekundären<br />
Pfl anzenstoffen heisst, möglichst bunt und<br />
vielfältig Obst und Gemüse zu essen. Dabei sollten<br />
pro Tag mindestens fünf Portionen gegessen werden.<br />
Eine weitere Möglichkeit ist die Zufuhr von frisch<br />
gepressten Obst- und Gemüsesäften.<br />
Motivation, Empowerment und das transtheoretische<br />
Modell Ein wesentlicher Baustein der Gesundheitsförderung<br />
älterer Menschen ist, deren<br />
Motivation zu einem positiven Bewegungs- und Ernährungsverhalten<br />
aufzubauen und zu stärken. Wie<br />
schwer allerdings Menschen zu motivieren sind,<br />
macht das Zitat von Eugen Roth deutlich:<br />
«Damit es komme nicht zum Knaxe,<br />
erfand der Mensch die Prophylaxe.<br />
Doch lieber beugt der Mensch, der Tor,<br />
sich vor der Krankheit, als sich vor.»<br />
Als eine mögliche Lösung dieses Problems bietet<br />
Märki (2004) die Anwendung des Transtheoretischen<br />
Modells (TTM) an. Bei diesem Modell ist die<br />
Verhaltensänderung eingebettet in einen Veränderungsprozess,<br />
der in sechs Stufen verläuft. Übertragen<br />
auf das Gesundheitsverhalten denkt eine Person<br />
in der ersten Phase nicht über eine Verhaltensänderung<br />
nach. In der zweiten Phase wird eine Veränderung<br />
erwogen, Vorteile und Nachteile werden bedacht<br />
und bewertet. In der Phase der Vorbereitung<br />
wird eine konkrete Handlung geplant und es werden<br />
beispielweise Termine für eine sportliche Aktivität<br />
oder für einen Kurs zur Ernährungsberatung ermittelt.<br />
Die vierte Stufe ist erreicht, wenn das neue Verhalten<br />
konkret umgesetzt und die Aktivität tatsächlich<br />
ausgeführt wird. Wird das Verhalten über einen<br />
Zeitraum von sechs Monaten aufrechterhalten, ist<br />
der Übergang in die Phase der Termination, also der<br />
festen Implementierung im Leben gegeben. Mit dem<br />
Übergang in jede weitere Phase kann die Selbstwirksamkeit<br />
zunehmen. Das bedeutet, dass die Betroffenen<br />
immer mehr an die eigenen Fähigkeiten<br />
glauben, Handlungen umsetzen zu können. Die<br />
Handlungsergebnis erwartung, also die Überzeugung,<br />
dass das angestrebte Verhalten einen positiven<br />
Effekt hat, nimmt mit dem Übergang in die konkrete<br />
Handlung ebenso zu.<br />
1.<br />
Vorbetrachtung<br />
➟<br />
4.<br />
Handlung<br />
Selbstwirksamkeit<br />
2.<br />
➟ Betrachtung ➟<br />
➟ ➟ ➟<br />
Positive Handlungsergebniserwartung<br />
Selbstwirksamkeit<br />
3.<br />
Vorbereitung<br />
5.<br />
6.<br />
➟ Aufrechterhaltung ➟ Termination<br />
➟<br />
Grafi k: Robert Weller<br />
Übertragen auf das Konzept der Gesundheitsförderung<br />
wurde von Märki (2004) die Wirksamkeit des<br />
TTM nachgewiesen. Gesundheitsförderliche Massnahmen<br />
müssen auf die persönlichen Lebensumstände,<br />
Fähigkeiten, Motivation und den Informationsstand<br />
zugeschnitten werden. Unter diesen Voraussetzungen<br />
befähigen (engl. to empower) sie ältere<br />
Menschen. Empowerment kann eine positive Spirale<br />
in Gang setzen. Wiedergewonnene Fähigkeiten, wie<br />
die Bereitschaft belastende Lebensereignisse anzugehen,<br />
Informationen zu gewinnen, neue Technologien<br />
zu nutzen und die eigenen Lebensumstände zu<br />
gestalten, motivieren zu neuen Erfahrungen.<br />
Erfahrungen aus Modellprojekten In verschiedenen<br />
Modellprojekten (Renteln-Kruse 2007; Pfi ster<br />
2006) konnte die Wirksamkeit der Gesundheitsförderung<br />
bei älteren Menschen nachgewiesen werden.<br />
Kennzeichnend für die verschiedenen Projekte<br />
waren zusammenarbeitende interdisziplinäre Teams<br />
aus unterschiedlichen Professionen und kooperierende<br />
ambulante und stationäre Sektoren. Gesundheitsberater<br />
führten mit älteren Menschen ausführliche<br />
Gespräche und erstellten dabei ein umfangreiches<br />
Assessment. Mit Hilfe dieser Informationen<br />
konnten individuelle Massnahmen und präventive<br />
Hausbesuche durchgeführt werden. Die Zusammenarbeit<br />
von Pfl ege, Gesundheitswissenschaften, Medizin,<br />
Physiotherapie, Ernährungswissenschaften<br />
und Sozialpädagogik erwies sich als erfolgreich. So<br />
konnten beispielsweise die Einweisungen in ein Pfl egeheim<br />
bei über 75-jährigen Personen um ein Drittel<br />
reduziert werden. Weiterhin führten die Massnahmen<br />
zu gesteigerter körperlicher Aktivität, besserer<br />
Gang- und Gleichgewichtsfunktionen und zu<br />
einem erhöhten Verzehr von Ballaststoffen.<br />
Ältere Menschen sind erstaunlich kompetent,<br />
Probleme zu bewältigen und einen gesundheitsförderlichen<br />
Lebensstil aufzubauen. Es gilt diese Ressourcen<br />
zu erschliessen und es nicht erst im<br />
Roth’schen Sinne zum «Knaxe» kommen zu lassen.<br />
■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Bewegung ist eine<br />
wichtige Gesundheitsressource.<br />
Foto: Markus Weller<br />
Literatur<br />
Dittrich, K. & Leitzmann,<br />
C. (1996). Bioaktive Substanzen.<br />
Stuttgart: Georg<br />
Thieme.<br />
Lütz, M. (2002). Lebenslust.<br />
Wider die Diät-Sadisten,<br />
den Gesundheitswahn<br />
und den Fitnesskult.<br />
München: Pattloch<br />
Verlag: München<br />
Weitere Literatur beim<br />
Autor.<br />
25
Die Würde des Menschen<br />
ist unantastbar<br />
Dass dem Menschen gleichursprünglich mit seiner Existenz eine Würde zukommt, ist ein Gedanke, der in<br />
der Geschichte der abendländischen Ethik und in den Naturrechts debatten fest verankert ist. Die Würde<br />
des Menschen steht heute auch unter verfassungs mässigem Schutz. Mit einigen Herausforderungen verbunden<br />
ist die Situation oftmals bei Einschränkungen der Entscheidungsmöglichkeiten wie zum Beispiel<br />
bei einer Demenz. Das Konzept für Pfl ege und Betreuung heisst stellvertretendes Handeln, und dies im<br />
Sinne der betroffenen Menschen. Helmut Bachmaier<br />
Prof. Dr. Helmut Bachmaier<br />
ist Präsident<br />
des Stiftungsrates der<br />
TER TIANUM-Stiftung.<br />
helmut.bachmaier@<br />
uni-konstanz.de<br />
Zur Würde gehört, dass<br />
jeder in seiner Freiheit<br />
und in seinen Lebensentwürfen<br />
geachtet wird;<br />
dass Unversehrtheit<br />
garantiert werden muss.<br />
Illustration: Elias Frei<br />
Mit dem Terminus «Würde» wird zweierlei<br />
bezeichnet: Einmal wird dadurch die Stellung<br />
und Geltung einer Person (als Würdenträger)<br />
in der Öffentlichkeit festgehalten: Würde<br />
als soziales Prädikat. Zum anderen wird Würde als<br />
Merkmal betrachtet, das den Menschen im Unterschied<br />
zu anderen Lebewesen auszeichnet, bzw. den<br />
inneren Wert eines Menschen ausmacht. «Würde»<br />
bezieht sich also auf den sozialen Rang des Menschen<br />
in der Lebenswelt oder auf seine Einzigartigkeit.<br />
Diese Einzigartigkeit wird entweder mit der<br />
Teilhabe an der Vernunft oder mit der Gottebenbildlichkeit<br />
begründet.<br />
Historische Formulierungen des Würde-Begriffs<br />
Ausser an das christliche Menschenbild soll hier besonders<br />
an den Renaissance-Philosophen Giovanni<br />
Pico della Mirandola (1463–1494) erinnert werden,<br />
dessen Schrift bzw. bilderreiche Rede «De dignitate<br />
26 NOVAcura 10|09<br />
hominis» («Über die Würde des Menschen», 1496)<br />
einen Meilenstein in der Diskussion darstellt.<br />
Die Würde des Menschen besteht für den Humanisten<br />
Pico im Reichtum an Möglichkeiten, die in dem<br />
einzelnen wie in einem eigenen Mikrokosmos angelegt<br />
sind, und in der Verpfl ichtung, daraus in freier<br />
Entscheidung zu wählen, also individuelle Möglichkeiten<br />
in Freiheit zu erg<strong>reifen</strong>. Er sah darin die dem<br />
Menschen durch Gott gegebene Bestimmung: Würde<br />
ist somit die dem Menschen von Natur aus gegebene,<br />
unaufhebbare Möglichkeit, sich in Freiheit vernünftig<br />
entscheiden zu können und demgemäss zu handeln.<br />
Der bedeutende Vertreter des Naturrechtsgedankens<br />
Samuel von Pufendorf («De iure naturae et gentium»,<br />
1672) leitete aus der Menschenwürde direkt<br />
die natürliche Gleichheit aller Menschen im rechtlichen<br />
Sinne ab. Diese Auffassung hat massgeblich<br />
die amerikanische Erklärung der Menschenrechte<br />
von 1776 beeinfl usst.
In der Moralphilosophie Kants («Grundlegung<br />
zur Metaphysik der Sitten», 1785) hat die Menschenwürde<br />
einen ausgezeichneten Rang erhalten. Mit<br />
«Würde» bezeichnet Kant das, was keinen relativen<br />
Wert, d.h. bezogen auf Äquivalente, darstellt. Würde<br />
ist ein absoluter, innerer Wert, unter dem allein etwas<br />
als Selbstzweck aufgefasst werden kann – und<br />
dies ist die Moralität. Der Grund dafür ist die Autonomie<br />
des Menschen, die Fähigkeit, sich selbstgegebenen<br />
und dennoch allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen.<br />
Nach Kant bedeutet die Menschenwürde<br />
demnach eine aus der Autonomie hervorgehende<br />
Selbstgesetzgebung des vernünftigen Menschen,<br />
durch die er sich verbindlich in seinem Handeln beschränkt.<br />
Im Horizont dieser Diskurse stehen die verschiedenen<br />
Menschenrechtserklärungen in der Folgezeit.<br />
Stellvertretendes Handeln – das Konzept für die<br />
Pfl ege In den philosophischen Zeugnissen werden<br />
Würde und Gleichheit aufeinander bezogen oder<br />
eine autonome Gesetzgebung und die freie Entscheidung<br />
mit der personalen Würde identifi ziert. Da die<br />
Würde unteilbar und unaufhebbar ist und von keiner<br />
menschlichen Autorität verliehen oder entzogen<br />
werden kann, bedeutet dies bei Einschränkungen<br />
der Entscheidungsmöglichkeiten wie bei Demenz,<br />
dass die persönliche Begleitung dafür zu sorgen hat,<br />
dass stellvertretend für die betreffende Person, in ihrem<br />
Sinne, gehandelt werden muss. Gespräche, Biografi<br />
e- und Angehörigenarbeit oder Patientenverfügungen<br />
sind einige der Informationsquellen. Dabei<br />
müssen elementare Bedürfnisse garantiert erfüllt<br />
werden: ein angemessenes Mass einer ressourcenorientierten<br />
Grundversorgung, die Wahrung der Intimsphäre,<br />
ein Verbot jeder Instrumentalisierung,<br />
Schutz und Sicherheit für den Patienten. Daraus ergibt<br />
sich die ethische Fundierung der Pfl ege.<br />
Die Wahrung der Intimsphäre, diese im engeren<br />
wie im weiteren Sinne verstanden, bedeutet, vor allem<br />
das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz<br />
zu fi nden, dabei Schamgrenzen und Tabus zu beachten,<br />
die nicht nur alters-, sondern auch kulturabhängig<br />
sind. Dies ist ein wichtiges Thema, bereits in der<br />
Ausbildung der Pfl egenden. Gerade dort, wo Ältere<br />
und Jüngere miteinander umgehen müssen, sind<br />
Stilfragen, Höfl ichkeit, Respekt oder die richtige Ansprache<br />
ein erster Prüfstein für das pfl egende Handeln.<br />
Die Mitwirkung der Angehörigen ist unverzichtbar<br />
und für diese eine grosse Herausforderung und<br />
Anstrengung. Aber dabei geht es nicht um ihre personale<br />
Würde, sondern mehr um eine Entlastung,<br />
damit sie ihren Alltag und die Pfl ege eines Angehörigen<br />
vereinbaren können. Diese Herausforderungen<br />
betreffen insbesondere Frauen, ob Ehefrau, Partnerin<br />
oder Tochter, denn der grösste Teil der Pfl ege erfolgt<br />
in familialen Netzwerken.<br />
Der Sozialethiker Hans Ruh plädierte bereits vor<br />
einigen Jahren (vgl. NZZ, 22.3.2005) mit Blick auf<br />
das Alter für eine «Würde der Abhängigkeit», denn<br />
unsere Gesellschaft sei nicht nur eine Arbeits- und<br />
Lebensgemeinschaft, sondern auch eine Abhängigkeits-<br />
und Gebrechlichkeitsgesellschaft. Daran zu er-<br />
innern ist verdienstvoll, denn oft wird Würde nur<br />
mit Autonomie und freien Entscheidungsmöglichkeiten<br />
in Beziehung gesetzt. Die Anerkennung der<br />
Begrenztheit des Menschen und damit seiner Abhängigkeit<br />
sind jedoch der eigentliche Inhalt der<br />
Humanitätsidee.<br />
Unteilbar, unaufhebbar Die Würde, die mit der<br />
menschlichen Existenz gleichursprünglich und unveräusserlich<br />
gegeben ist und über den Tod hinaus<br />
wirkt, ist keineswegs etwas, das ein Mensch verlieren<br />
kann, schon gar nicht aus bloss empirischen Bedingungen<br />
wie Krankheit oder Alter. Auch Menschen<br />
mit einer Demenz-Erkrankung können noch<br />
im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln und damit<br />
etwas zum Ausdruck bringen. Wird ihnen dies abgesprochen<br />
oder in Frage gestellt, dann verlieren sie<br />
ihre Menschheit. Es gibt also keine graduellen Unterschiede<br />
von mehr oder weniger würdig, sondern<br />
nur die eine innere Würde.<br />
Heinz Rüegger (NOVA 11/2004) stellte dazu in<br />
kluger Voraussicht fest: «Die Frage, ob und wie Demenzkranke<br />
in ihrer bleibenden Würde geachtet<br />
werden, könnte in den kommenden Jahrzehnten<br />
zum Testfall für die Humanität unserer Gesellschaft<br />
werden.» Dies ist plausibel angesichts von gegenwärtig<br />
ca. 100 000 Menschen in der Schweiz, die an Alzheimer<br />
oder einer anderen Form einer Demenz leiden.<br />
Der Demenzpatient verkörpert eigentlich – so<br />
Rüegger – gerade das Gegenteil des heute favorisierten<br />
Menschenbildes, bei dem das Gewicht auf Rationalität,<br />
Autonomie und Produktivität liegt. Abhängigkeit,<br />
kognitive Einschränkungen, mangelnde<br />
Selbstgestaltung des Lebens gehörten jedoch auch<br />
zum Menschsein.<br />
Menschenwürde und Rechtsgleichheit in der Verfassung<br />
Die Eidgenössische Bundesverfassung regelt<br />
in Art. 7: «Die Würde des Menschen ist zu achten<br />
und zu schützen.» Und in Art. 8 wird die Rechtsgleichheit<br />
festgeschrieben: «(1) Alle Menschen sind<br />
vor dem Gesetz gleich. (2) Niemand darf diskriminiert<br />
werden, namentlich nicht wegen der Herkunft,<br />
der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache,<br />
der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen,<br />
weltanschaulichen oder politischen Überzeugung<br />
oder wegen einer körperlichen, geistigen oder<br />
psychischen Behinderung.» Mit diesen kategorischen<br />
Feststellungen wird der Unteilbarkeit und Unaufhebbarkeit<br />
der Würde das entsprechende verfassungsmässige<br />
Fundament gegeben.<br />
Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie<br />
steht unter verfassungsmässigem Schutz. Zur Würde<br />
gehört, dass jeder in seiner Freiheit und in seinen<br />
Lebensentwürfen geachtet wird, dass Unversehrtheit<br />
garantiert werden muss. Würde und Achtung sind<br />
im Alter dann besonders hohe Güter, wenn Einschränkungen<br />
und Gebrechen dem Menschen die<br />
Selbstgestaltung seines Lebens kaum mehr möglich<br />
machen. Jeder Hilfl ose hat Anspruch auf Würde<br />
und Achtung. Dies ist mehr als blosser Respekt, nämlich<br />
jemanden in seinem So-Sein anzuerkennen.<br />
Diese Anerkennung garantiert dem anderen die<br />
Würde. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Menschenrechtserklärungen<br />
Erklärung der Rechte von<br />
Virginia, 12.6.1776<br />
Artikel 1: Alle Menschen<br />
sind von Natur aus gleichermassen<br />
frei und unabhängig<br />
und besitzen gewisse<br />
angeborene Rechte,<br />
deren sie, wenn sie den<br />
Status einer Gesellschaft<br />
annehmen, durch keine Abmachung<br />
ihre Nachkommenschaft<br />
beraubt oder<br />
entkleidet werden können,<br />
und zwar den Genuss des<br />
Lebens und der Freiheit und<br />
dazu die Möglichkeit, Eigentum<br />
zu erwerben und<br />
zu besitzen und Glück und<br />
Sicherheit zu erstreben und<br />
zu erlangen.<br />
Erklärung der Menschenund<br />
Bürgerrechte,<br />
26.8.1789<br />
Artikel 1: Die Menschen<br />
werden frei und gleich an<br />
Rechten geboren und bleiben<br />
es.<br />
Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenrechte<br />
der Vereinten Nationen,<br />
10.12.1948<br />
Artikel 1: Alle Menschen<br />
werden frei und gleich an<br />
Würde und Rechten geboren.<br />
Sie sind mit Vernunft<br />
und Gewissen begabt und<br />
sollen sich zueinander im<br />
Geist der Brüderlichkeit<br />
verhalten.<br />
27
Herausfordendes Verhalten<br />
Eine Aufforderung an Institutionen und Pfl egende<br />
Verhaltensauffälligkeiten, die sich im Laufe einer demenziellen Erkrankung zeigen können,<br />
stellen eine grosse Herausforderung für die Einrichtungen und das Pfl ege- und Betreuungspersonal<br />
dar. Institutionen und Pfl egende haben aber durchaus Möglichkeiten,<br />
um damit in der Praxis konstruktiv und positiv umzugehen. Die Zahl der Personen im<br />
Altersheim, die an einer Demenz erkranken, steigt, da sich das Risiko, neu an einer<br />
Demenz zu erkranken, mit zunehmendem Alter erhöht. Wie sich die Situation in den<br />
Altersheimen der Stadt Zürich darstellt und wie sie mit dieser Herausforderung umgehen,<br />
wurde im Rahmen einer Masterarbeit erfasst. Jasmin Kleiner<br />
Jasmin Kleiner, Pfl egewirtin<br />
FH,M.Sc. Gerontologie,<br />
ist Leiterin Betreuung<br />
und Pfl ege im Altersheim<br />
Mittelleimbach in<br />
Zürich.<br />
jasmin.kleiner@zuerich.ch<br />
Verhaltensauffälligkeit und herausforderndes<br />
Verhalten beinhalten folgende Veränderungen<br />
und Probleme zusammengefasst: Persönlichkeitsveränderungen,<br />
Schlafstörungen, Wahnsymptome,<br />
Halluzinationen, Psychomotorische<br />
Unruhe und Weglauftendenz, aggressives Verhalten<br />
und Enthemmungssymptome. Der Begriff «herausfordernd»<br />
kennzeichnet, dass das Verhalten nicht alleine<br />
die Demenzbetroffenen betrifft, sondern dass<br />
auch bestimmte Anforderungen an das Verhalten<br />
der Pfl egenden und die Umgebung gestellt wird. Das<br />
gezeigte Verhalten von demenzerkrankten Bewohnenden<br />
zeigt auch häufi g die Grenze an, was andere<br />
Menschen privat oder berufl ich dauerhaft zu ertragen<br />
vermögen.<br />
28 NOVAcura 10|09<br />
Häufi gkeit des herausfordernden Verhaltens In<br />
den befragten Altersheimen wird der gestörte Tag-/<br />
Nachtrhythmus der Bewohner/innen von insgesamt<br />
17 Einrichtungen am häufi gsten als herausfordernde<br />
Verhaltensweise benannt. Am zweithäufi gsten<br />
kommt die Teilnahmslosigkeit/Apathie vor. Das ziellose<br />
Herumwandern und die Unruhe von Bewohner/innen<br />
wurde von 16 Einrichtungen angegeben<br />
und steht somit an dritter Stelle, gefolgt von den<br />
Wahnvorstellungen mit 14 Nennungen (Abb. 1).<br />
Betreuungs- und Wohnformen In fünf der befragten<br />
Altersheime werden die Bewohner/innen mit<br />
herausforderndem Verhalten, wie alle anderen Bewohner/innen<br />
auch, räumlich im Altersheim be-<br />
Foto: © irisblende.de
treut (integrativ). In neun Altersheimen sind diese<br />
Bewohner/innen räumlich im Altersheim integriert,<br />
sie werden jedoch tagsüber für eine bestimmte Zeitspanne<br />
in einer speziellen Gruppe betreut (teil-separativ).<br />
In vier Altersheimen liegt die separative<br />
Wohnform vor, in der diese Bewohner/innen in getrennten<br />
Räumlichkeiten leben (Abb. 2).<br />
Die Vor- und Nachteile der teil-separativen Wohnform<br />
für die Bewohner/innen wurden von den befragten<br />
Leitungen Betreuung und Pfl ege wie folgt<br />
eingeschätzt.<br />
Vorteile der teil-separativen Wohnform<br />
Kleine Gruppengrösse<br />
Durch spezifi sche Betreuung werden die Bewohner/innen<br />
aktiviert<br />
Keine öffentliche Stigmatisierung<br />
Überforderungssituationen für die Bewohner/innen<br />
werden minimiert<br />
Konstante Betreuung durch permanente Präsenz<br />
einer Bezugsperson<br />
Kreative Aufgabe für Betreuungs- und Pfl egepersonal<br />
Verkürzte Arbeitswege<br />
Mitarbeiter können ihre Stärken und Ausbildungen<br />
einsetzen (z.B. FaBe)<br />
Weniger Konfl ikte mit Mitbewohnenden<br />
Nachteile der teil-separativen Wohnform<br />
Bewohner/innen werden aus dem Gemeinschaftsleben<br />
ausgeschlossen<br />
Keine Durchmischung der Bewohner/innen<br />
Intensive Betreuung auf engem Raum<br />
Personal mit entsprechender Ausbildung und<br />
Fähigkeiten fehlt<br />
Angebotsvielfalt für alle Bewohnergruppen im<br />
Altersheim<br />
Kotschmieren/-essen, Urinieren, Einkoten in die Wohnräume<br />
(nicht als Folge der Inkontinenz)<br />
Zeigt aggressives Verhalten an sich selber<br />
(z.B. selbstverletzendes Verhalten)<br />
Anhaltendes Schreien<br />
Unangemessenes und unpassendes An- und Ausziehen<br />
Eindringen in fremde Räume<br />
Zeigt aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen<br />
(z.B. Schlagen, Beschimpfen)<br />
Gestörtes Essverhalten<br />
(z.B. unkontrollierte übermässige Nahrungsaufnahme)<br />
Bestehlungs-, Verfolgungs-, Vergiftungswahn<br />
Zielloses Herumwandern, Unruhe<br />
Teilnahmslosigkeit/Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung<br />
(apathisches Verhalten)<br />
Gestörter Tag-/Nacht-Rhytmus<br />
Anzahl der Altersheime<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
Die Vor- und Nachteile der integrativen Wohnform<br />
wurden wie folgt benannt:<br />
Vorteile der integrativen Wohnform<br />
Alle Bewohner/innen sind in der Hausgemeinschaft<br />
integriert<br />
Gegenseitige Akzeptanz wird gefördert<br />
Abwechslungsreiche Arbeit<br />
Keine Verlegung von Bewohner/innen<br />
Breites Altersspektrum<br />
Sparpotenzial vorhanden<br />
Infrastruktur muss nicht angepasst werden<br />
Nachteile der integrativen Wohnform<br />
Es entstehen Konfl ikte zwischen den Bewohnenden,<br />
Angehörigen und Besucher/innen<br />
Den Bedürfnissen und dem Zustand der Bewohner/innen<br />
kann man nicht immer vollständig gerecht<br />
werden<br />
Ein Grossteil der Aufmerksamkeit richtet sich auf<br />
die auffälligen Bewohner/innen<br />
Bewohner/innen verirren sich im Haus<br />
5<br />
8<br />
9<br />
9<br />
10<br />
12<br />
13<br />
14<br />
14<br />
15<br />
Betreuungsform Gesamt<br />
Integrative Betreuung Teilsegregative Betreuung Segregative Betreuung<br />
17<br />
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18<br />
Anzahl der Altersheime<br />
Kommt bei weniger als einem ¼ der Bewohner/innen vor Kommt bei ca. ¼ bis ½ der Bewohner/innen vor<br />
5<br />
1<br />
9<br />
1<br />
1<br />
3<br />
4<br />
NOVAcura 10|09<br />
Abb. 2: Betreuungsform<br />
Gesamt (N = 18 Altersheime)<br />
Abb. 1: Antworthäufi gkeit<br />
für «Gesamtdarstellung<br />
der herausfordernden<br />
Verhaltensweisen – über<br />
alle befragten Altersheime»<br />
(N = 18 Altersheime)<br />
29
Dieser Artikel basiert auf<br />
der Masterarbeit der Autorin<br />
Jasmin Kleiner am Institut<br />
für Psychogerontologie<br />
der Universität in Erlangen-<br />
Nürnberg, Studiengang M.<br />
Sc. Gerontologie, zum<br />
Thema: Betreuungs- und<br />
Wohnformen für Bewohnerinnen<br />
und Bewohner mit<br />
herausforderndem Verhalten<br />
in den Altersheimen der<br />
Stadt Zürich.<br />
Anhand einer schriftlichen<br />
teilstandardisierten<br />
Befragung von 19 Altersheimen<br />
der Stadt Zürich<br />
wurde untersucht, in welchen<br />
Versorgungsformen<br />
Bewohnerinnen und Bewohner<br />
betreut werden, die<br />
herausforderndes Verhalten<br />
zeigen. Es wurden Erfahrungswerte<br />
abgefragt, welche<br />
die Leitungen Betreuungen<br />
und Pfl ege in ihren Altersheimen<br />
machen.<br />
Weitere Informationen:<br />
jasmin.kleiner@zuerich.ch<br />
Altersheime der Stadt Zürich<br />
– 27 Altersheime und ein Gästehaus<br />
– ca. 2000 Bewohner/innen/durchschn.<br />
Eintrittsalter 85 Jahre<br />
– ca. 1200 Mitarbeitende<br />
Zur Ausrichtung der Altersheime gehören Wahlfreiheit für die<br />
verschiedenen Dienstleistungen wie z.B. die der Mahlzeiten,<br />
der Wäscheversorgung oder die Reinigung des Zimmers. Die<br />
Bewohnerinnen und Bewohner können, wenn immer möglich,<br />
bis zu ihrem Tode im Altersheim wohnen bleiben, auch wenn<br />
sie an einer Demenz erkranken.<br />
Es entstehen Situationen für das Personal, welches<br />
Stress auslösen kann<br />
Integration als eine grosse Herausforderung<br />
Konzentration der Betreuung auf wenige<br />
Negatives Aussenbild, wenn in öffentlichen Räumen<br />
das Schreien und Rufen gehört wird<br />
Die Schlussfolgerungen Die Frage, welches die geeignete<br />
Wohnform für die Betreuung von Bewohner/innen<br />
mit herausforderndem Verhalten in den<br />
Altersheimen der Stadt Zürich ist, konnte diese Arbeit<br />
nicht abschliessend klären. Es ist jedoch eine<br />
starke Tendenz zur teil-separativen Betreuung festzustellen,<br />
die mehr Vorteile als Nachteile in der täglichen<br />
Praxis aufweist.<br />
In den Altersheimen der Stadt Zürich zeigen 17%<br />
der Bewohnerinnen und Bewohner herausforderndes<br />
Verhalten. Diese Zahl hat weit reichende Konsequenzen,<br />
denn diese Personengruppe braucht eine<br />
entsprechende medizinische Betreuung und gerontopsychiatrisches<br />
Fachwissen, ein milieutherapeutisches<br />
Umfeld, das die Verhaltensweisen nicht<br />
verstärkt, verstehendes Personal und informierte Angehörige.<br />
Aus den Befragungsergebnissen geht hervor, dass<br />
es für die Bewohnenden von Vorteil ist, dass sie in<br />
einer Gruppe leben können, in der sie aufgehoben<br />
sind, die Sicherheit vermittelt und einen ständigen<br />
Ansprechpartner haben. Es zeigt sich, dass die inte-<br />
30 NOVAcura 10|09<br />
grative Betreuungsform sowohl bewohnerbezogen,<br />
personell wie organisatorisch immer wieder an<br />
Grenzen stösst. Um dieser Bewohnergruppe gerecht<br />
zu werden, hat sich ein Grossteil der Altersheime für<br />
eine teil-separative Betreuungsform entschieden.<br />
Eine Spezialisierung der Betreuungsform bedeutet<br />
auch eine Spezialisierung der Mitarbeiterinnen und<br />
Mitarbeiter. Wie eine Leitungskraft der Altersheime<br />
betont, ist hierbei die Bezugspfl ege mit einer konstanten<br />
Bezugsperson nach wie vor von grosser Bedeutung.<br />
Dieses Betreuungskonzept wird in der Praxis<br />
weiter gefördert und kontinuierlich angepasst.<br />
Um herausforderndes Verhalten zu verstehen und<br />
diesem angemessen begegnen zu können, muss die<br />
Biografi e bekannt sein. Auch müssen aktuelle soziale,<br />
psychische, biologische und umgebungsbezogene<br />
Aspekte betrachtet werden. Es gibt aber auch<br />
Situationen, in denen trotz grosser Bemühungen<br />
und Anwendung strukturierter Methoden die Ursache<br />
für das Verhalten nicht erkennbar ist. Das Wissen<br />
um Rituale, Abneigungen oder Vorlieben von<br />
Menschen mit Demenz ist keine Garantie zur Vorbeugung<br />
von unerwartetem und auch aggressivem<br />
Verhalten.<br />
Innovatives und engagiertes Personal ist einer der<br />
wichtigsten Grundpfeiler, um die Herausforderung,<br />
die demenziell erkrankte Menschen an uns stellen,<br />
aufzunehmen. Eine absolvierte Qualifi zierung in Bezug<br />
auf Demenz und Verhalten ist sicherlich von<br />
Vorteil, jedoch ist die innere Einstellung des pfl egenden<br />
und betreuenden Menschen das Allerwichtigste.<br />
Es ist Personal vonnöten, welches sich intensiv mit<br />
dem Krankheitsbild auseinandersetzt und selbständige<br />
Überlegungen anstellt, wie man etwas besser<br />
machen kann, um die problematischen Situationen<br />
zu meistern. Hierzu braucht es auf Leitungsebene<br />
Führungskräfte, die dieses kreative Denken fördern<br />
und unterstützen. Die Literatur stellt zudem einige<br />
wissenschaftliche Ansätze zum Umgang mit demenziell<br />
erkrankten Menschen mit herausforderndem<br />
Verhalten zur Verfügung. Um diese in der Praxis zu<br />
implementierten, braucht es motiviertes Personal<br />
auf allen Ebenen, das bereit ist, Veränderungen mitzutragen.<br />
■
Die Psyche wurde im Altgriechischen in einem<br />
sehr umfassenden Sinn verstanden und sogar<br />
zur Umschreibung der ganzen Person<br />
verwendet. In der naheliegenden und deswegen<br />
wohl ursprünglichen Auffassung von Atmen und<br />
Atem stand sie als Zeichen für Belebtheit. Insofern<br />
konnte sie auch als Lebensprinzip aufgefasst und sogar<br />
mit Leben gleichgesetzt werden. Damit sind das<br />
Gemüt und das Herz, der Mut und die Herzhaftigkeit<br />
gemeint, der Sitz der Leidenschaften, die Begehrlichkeit,<br />
die Lust und sogar der Appetit und<br />
über die Sinne betrachtet auch das Denkvermögen,<br />
der Verstand, die Klugheit sowie ganz allgemein das<br />
Geistige. Motorik ist die Fähigkeit des Körpers eines<br />
Menschen, sich zu bewegen. Mit dem Begriff wird<br />
auch das Bewegungsverhalten beschrieben. Motorik<br />
umfasst alle Steuerungs- und Funktionsprozesse von<br />
Haltung und Bewegung. Damit ist Motorik mehr als<br />
ein objektiver Vorgang der Veränderung menschlicher<br />
Körpermassen in Raum und Zeit.<br />
Zusammenspiel von Psyche und Motorik Psychische<br />
Vorgänge wie zum Beispiel Emotionalität oder<br />
Konzentration, aber auch die individuelle Persönlichkeitsanlage<br />
beeinfl ussen das spontane Bewegungsspiel.<br />
Diese ursächliche Verknüpfung wird Psychomotorik<br />
genannt. Sie ist ein ganzheitliches und<br />
Die psychomotorische Entwicklung ist von<br />
entscheidender Bedeutung für das Mass<br />
an Autonomie, die ein Mensch erreichen<br />
kann. Die Frage ist, welche Faktoren diese<br />
Entwicklung beeinfl ussen und welche Interventionen<br />
es bei Störungen gibt.<br />
Christopher Kahl<br />
entwicklungsorientiertes Konzept, das sowohl die<br />
Wahrnehmung als auch die Bewegung gleichermassen<br />
fördert. Es geht um das Zusammenspiel des<br />
psychischen Erlebens eines Menschen bzw. seiner<br />
psychisch-seelisch-emotionalen Entwicklung und<br />
der Entwicklung von Motorik und Wahrnehmung.<br />
Dabei werden die Einfl üsse der sozialen und materiellen<br />
Umwelt auf das Gefüge von Psyche und Motorik<br />
mitberücksichtigt. Im Wortsinn «be-greift»<br />
der Mensch seine Umwelt im Reiz-Reaktions-Muster.<br />
Basierend auf den frühen Erfahrungen, welche<br />
der Ausbildung der persönlichen Integrität dienen,<br />
entwickelt sich der Mensch zur Reife im Alter. Wird<br />
die Grundsicherheit resp. das Grundvertrauen durch<br />
fehlende oder reduzierte Anreize während der Entwicklung<br />
enttäuscht, kann es schon im Präsenium<br />
zu Phänomenen sozialer Isolierung und zur mentalen<br />
Stagnation kommen. Erik H. Erikson nennt treffend<br />
als etwas vom Wesentlichsten die Phase der<br />
Ich-Erkenntnis, in welcher der Mensch in der letzten<br />
Stufe, dem Senium, «ist, was er sich angeeignet<br />
hat».<br />
Die Physiologie der Bewegung Die Gesamtheit<br />
der vom Zentralnervensystem kontrollierten bewussten<br />
Bewegungen des Körpers wird als Willkür-<br />
NOVAcura 10|09<br />
Motorik ist mehr als ein<br />
Vorgang der Veränderung<br />
menschlicher Körpermassen<br />
in Raum und Zeit.<br />
Illustration: Elias Frei<br />
Christopher Kahl ist Lehrer,<br />
Autor und Rezensent.<br />
Er arbeitet am Berufsbildungszentrum<br />
des Kantons<br />
Schaffhausen.<br />
kahl@bbz-sh.ch<br />
31
Literatur<br />
Pritzel, M. et al. (2003):<br />
Gehirn und Verhalten.<br />
Heidelberg: Spektrum<br />
Akademischer Verlag.<br />
Erikson, E. H. (1966):<br />
Identität und Lebenszyklus.<br />
Drei Aufsätze.<br />
Frankfurt: Suhrkamp.<br />
Schädler, S. et al.<br />
(2006): Assessments in<br />
der Neurorehabilitation.<br />
Bern: Huber.<br />
Motorische Tests<br />
(Auswahl):<br />
Gehgeschwindigkeit/<br />
Gehtests mit Zeitnahme:<br />
gemessen wird je nach<br />
Test die Zeit, die benötigt<br />
wird, eine defi nierte<br />
Strecke zu gehen (10m-<br />
Gehtest) oder die Strecke,<br />
die während einer<br />
bestimmten Zeit zurückgelegt<br />
wird (6min-Gehtest).<br />
Mobilität: Arm-Hand-<br />
Funktion (Wolf Motor<br />
Function Test (WMFT):<br />
dieser Test bewertet die<br />
Fähigkeit, die obere Extremität<br />
in einfachen oder<br />
komplexen Bewegungen<br />
bzw. funktionellen Tätigkeiten<br />
einzusetzen.<br />
motorik bezeichnet. Im Gegensatz dazu stehen einerseits<br />
unwillkürliche Refl exe des Körpers, physiologische<br />
Mitbewegungen wie die Pendelbewegungen<br />
der Arme beim Gehen und andererseits die Mimik,<br />
die im Wesentlichen auf der Tätigkeit der<br />
mimischen Muskulatur beruht und zum grössten<br />
Teil unbewusst gesteuert wird.<br />
Es wird unterschieden zwischen Grobmotorik (zum<br />
Beispiel Reaktionsschnelligkeit und allgemeines Reaktionsvermögen<br />
sowie der allgemeinen Körper-<br />
und Gliederstärke und Bewegungskoordination)<br />
und Feinmotorik (zum Beispiel Mimik, Fingergeschicklichkeit).<br />
Eine weitere Einteilung basiert auf der Art der Bewegung:<br />
Lokomotorik: Fortbewegungen des Körpers wie<br />
Klettern, Laufen, Gehen und Springen<br />
Mimik: Veränderungen des Gesichtsausdrucks<br />
Vasomotorik: Veränderungen des Lumens der<br />
Blutgefässe<br />
Sudomotorik: Verhalten der Schweissdrüsen.<br />
Zur Steuerung der Motorik bedarf es grundlegender<br />
Prozesse in den Bereichen<br />
Neuromotorik (neurophysiologisch)<br />
Sensomotorik (sensomotorisch)<br />
Psychomotorik (psychisch, kognitiv, motivational)<br />
Soziomotorik (sozial, kulturell)<br />
Zur sogenannten Statomotorik zählen Halte- und<br />
Stützrefl exe mit Blick auf die Körperhaltung. Weitere<br />
Unterscheidungsbereiche sind Gestik (Körperbewegungen)<br />
und Pantomimik (Körperhaltung). Unter<br />
Taxis versteht man unter anderem die Axialorientierung<br />
von Kopf und Rumpf sowie Blick- und<br />
Körperkontakt (Taktilkontakt) wie beispielsweise<br />
Schulterklopfen oder Händeschütteln. Die Bewegungskompetenz<br />
ist die Fähigkeit, die eigene Bewegung<br />
zu nutzen, um Herausforderungen motorischer,<br />
kognitiver oder sozialer Natur über Bewegung<br />
zu lösen und Situationen optimal zu gestalten.<br />
Konzepte mit unterschiedlichem Schwerpunkt<br />
Der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe<br />
J. Piaget (1896–1980) unterscheidet vier<br />
gros se Entwicklungsabschnitte (Phasen), die als optimale<br />
Vorbereitung auf spätere Lebensalter durchlaufen<br />
werden sollten. Wichtig ist: In jeder Phase<br />
müssen Reize und Stimuli geboten werden.<br />
Die Konzepte der Psychomotorik fi nden sich mit<br />
unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, unter den<br />
Begriffen Bewegungspädagogik, Bewegungstherapie,<br />
Motopädagogik, Motopädie, Mototherapie, psychomotorischer<br />
Therapie etc. wieder. Die Psychomotorik<br />
ist sowohl ein pädagogisches als auch ein therapeutisches<br />
Konzept. Im Wortsinn bedeutet dies, die<br />
Menschen «be-g<strong>reifen</strong>».<br />
Die Motodiagnostik bietet Verfahren zur Messung<br />
des motorischen Status unter standardisierten Bedingungen.<br />
Hier können u.a. motorische Defi zite<br />
resp. Hinweise auf Hirnschädigungen erkannt<br />
werden. Unterschieden werden motometrische, motoskopische<br />
und motografi sche Verfahren zur Testung.<br />
32 NOVAcura 10|09<br />
Pathophysiologie der Wahrnehmungs- und Integrationsstörungen<br />
Die Wahrnehmungsfähigkeit<br />
(Perzeption) eines Menschen ist von der Funktionsfähigkeit<br />
der Sinnesorgane abhängig. Von einer<br />
Wahrnehmungs- und damit Integrationsstörung<br />
wird jedoch auch dann gesprochen, wenn fehlerhafte<br />
Abläufe trotz der Intaktheit der Sinnesorgane<br />
im Wahrnehmungsprozess entstehen, wie die folgenden<br />
zwei wesentlichen Beispiele zeigen.<br />
Störung der propriozeptiven Wahrnehmung<br />
Ungenaue und undifferenzierte Informationen über<br />
die Spannung und Lageveränderung der Muskulatur<br />
und Gelenke haben eine unzureichende Eigenwahrnehmung<br />
zur Folge. Bei einer Störung der Tiefenwahrnehmung<br />
haben die betroffenen Personen kein<br />
differenziertes Körpergefühl. Einzelne Körperteile<br />
können im Körperschema fehlen. Bei komplexen Tätigkeiten<br />
werden die einzelnen Körperteile nicht<br />
oder nur nach Aufforderung benutzt. Gerade beim<br />
alten Menschen ist das Erlernen komplexer Bewegungsabläufe<br />
oft verzögert, die Automatisierung von<br />
Bewegungen ist erschwert. Ein gezielt gesteuerter Bewegungsablauf<br />
und das Dosieren des Krafteinsatzes<br />
können beeinträchtigt sein. Häufi g treten Probleme<br />
in der fi gurellen Wahrnehmung auf, da die Differenzierung<br />
einzelner Reize und ihre unterschiedliche<br />
Bedeutsamkeit gestört sind. Die mehr oder minder<br />
zu beobachtende ausdrucksarme Mimik könnte soziodynamische<br />
Konsequenzen haben. Leben die Betroffenen<br />
doch entweder in der häuslichen Umgebung<br />
oder in Altersinstitutionen, so ist in beiden<br />
Lebenssituationen davon auszugehen, dass soziale<br />
Netze vorhanden sind, die stützend wirken.<br />
Störung der vestibulären Wahrnehmung<br />
Bei einer vestibulären Überempfi ndlichkeit ist zu beobachten,<br />
dass die Menschen bei nahezu jeder Beanspruchung<br />
ihres Gleichgewichtssystems verunsichert<br />
sind. Je älter der Mensch wird, umso deutlicher<br />
nehmen physiologische Prozesse qualitativ ab.<br />
Das Innenohr dient dem Menschen als Gleichgewichts-<br />
und Hörorgan. Der Gleichgewichtsnerv<br />
(N. vestibularis) vereinigt sich mit dem Hörnerv<br />
(N. cochlearis) zum VIII. Hirnnerv (N. vestibulocochlearis).<br />
Und genau hier kann das entsprechende<br />
Problem zu fi nden sein: Sich verschlechterndes<br />
Hören korreliert eng mit einem alternsbedingt reduzierten<br />
Gleichgewichtssinn. Die Folgen sind offensichtlich:<br />
erhöhte Sturzgefahr, verminderte Orientierungsfähigkeit<br />
im Alter, sozialer Rückzug etc.<br />
Phänomene und therapeutische Interventionen<br />
Bei alten Menschen geht man davon aus, dass sie<br />
während ihres Lebens ausreichende perzeptive Erfahrungen<br />
machen konnten. Ist das nicht der Fall,<br />
spricht man von angeborenen resp. erworbenen Störungen.<br />
Im Bereich der Psyche bedeutet das: Misstrauen,<br />
Selbstbildstörungen, Mutlosigkeit, Schuldgefühle,<br />
Gefühle der Minderwertigkeit, Stagnation, Verzweiflung,<br />
Deprivation.<br />
Im Bereich des Körpers bedeutet das: eingeschränkte<br />
Mobilität durch motorische Schädigun-
gen des zentralen oder peripheren Nervensystems,<br />
Körperbildstörungen, Suchterkrankungen<br />
Konkrete Massnahmen<br />
Psychotherapie: Stärkung des Selbstvertrauens<br />
und des Selbstwertgefühls<br />
Psychomotorik: Analyse der Wechselwirkung zwischen<br />
Denken, Fühlen und Bewegen und deren<br />
Bedeutung für die Entwicklung des Menschen in<br />
seinem Umfeld, Schulung des Gleichgewichts, Tonusregulation,<br />
Behandlung von Verhaltensstörungen<br />
und Kommunikationsschwierigkeiten<br />
Sozialtherapie: Verhindern, Lindern oder Lösen<br />
sozialer Probleme von Individuen in sozialen Systemen:<br />
sozialpathologische Expertise biopsychischer<br />
und biopsychosomatischer Störungsbilder<br />
und einer sozialarbeitswissenschaftsgestützten Intervention<br />
im Rahmen von Beratung, Behandlung<br />
und Prävention.<br />
Gefordert: ganzheitliche Sichtweise Autonom alt<br />
werden – wer wünscht sich das nicht? In unserer individualisierten<br />
Gesellschaft ist Autonomie längst<br />
zu einem zentralen Wert avanciert, der auch von alten<br />
Menschen allen anderen Werten gegenüber vorgezogen<br />
wird. Es geht darum, möglichst lange von<br />
der Hilfe anderer unabhängig zu sein. Aber wie defi<br />
nieren die alten Menschen ihre Autonomie? Ralf<br />
Schwarzer von der Fachuniversität Berlin benannte<br />
die folgenden Kriterien zur Charakterisierung der<br />
Autonomie älterer Menschen (aus: Wahrgenommene<br />
Autonomie im Alter, WAA, 2008):<br />
Ich komme im Alter gut allein zurecht.<br />
Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und<br />
lasse mich nicht von anderen Menschen bevormunden.<br />
Ich gestalte mein Leben nach meinen eigenen<br />
Vorstellungen.<br />
Ich bewältige meinen Alltag ohne fremde Hilfe.<br />
Auch wenn ich gesundheitlich eingeschränkt bin,<br />
lasse ich es mir nicht nehmen, über mich selbst<br />
zu bestimmen.<br />
Auch beim Älterwerden beherrsche ich meine Gedanken<br />
und Gefühle, ohne mich von anderen<br />
lenken zu lassen.<br />
Das Gedankengut der Psychomotorik, die Möglichkeiten<br />
von zielgerichteten Interventionen und Unterstützungsangeboten<br />
kann einen wesentlichen<br />
Teil beitragen, damit Menschen ihren Alltag so leben<br />
und gestalten können, wie es ihren Bedürfnissen<br />
entspricht. Ein Arbeitsziel im Pfl ege- und Betreuungsalltag<br />
kann sein, den Menschen die Angebote<br />
bzgl. der Aufnahme und Verarbeitung bestimmter<br />
Reize zu schaffen. Wesentlich ist der ganzheitliche<br />
Aspekt. Dabei ist nicht nur die Betrachtung einzelner<br />
Wahrnehmungsbereiche von Bedeutung; es sind<br />
die allgemeinen sensorischen und motorischen<br />
Möglichkeiten, Motivation, Emotionen und Erfahrungen,<br />
die das «Be-g<strong>reifen</strong>» ermöglichen und fördern.<br />
■<br />
Vorankündigung<br />
11. März 2010<br />
Fachkongress curahumanis<br />
in Luzern<br />
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NOVAcura 10|09<br />
33
Praxisentwicklung<br />
Ein Prozess mit dem Ziel einer effektiven und gäste orientierten Pfl ege<br />
Ein zentrales Anliegen der Praxisentwicklung ist, Pfl egende in der Weiterentwicklung einer evidenzbasierten<br />
Praxis zu unterstützen. Dabei sind die Erfahrung und die Expertise der Pfl egenden als Evidenz<br />
genauso wichtig wie Ergebnisse aus der Forschung. In der Tages- und Nachtklinik des Pfl egezentrums<br />
Kloten überarbeiteten die Pfl egenden im Rahmen eines Praxisentwicklungsprojektes das Eintrittsassessment<br />
für ihre Gäste. Erkenntnisse aus dem Projekt kommen dem ganzen Betrieb zugute.<br />
Das pfl egerische Eintrittsassessment<br />
ist die<br />
Basis für den Beziehungsaufbau<br />
zum Gast<br />
und seinen Angehörigen<br />
und der erste Schritt im<br />
Pfl egeprozess.<br />
Foto: Martin Glauser<br />
Herr Z. pfl egt seine 70-jährige Partnerin seit zwei Jahren zu<br />
Hause. Sie hat eine vaskuläre Demenz und ist zunehmend<br />
desorientiert. Für Herrn Z. wird es immer schwieriger, aus<br />
dem Haus zu gehen und seine Frau alleine zu lassen. Er macht<br />
sich jeweils Sorgen, da Frau Z. manchmal vergisst, die Herdplatte<br />
abzustellen.<br />
Für pfl egebedürftige ältere Menschen ist es wichtig,<br />
so lange wie möglich zu Hause leben zu können. Einen<br />
grossen Teil der Unterstützung und Pfl ege zu<br />
Hause übernehmen Angehörige. Diese kommen dadurch<br />
oft an Belastungsgrenzen, und ihre psychische<br />
und körperliche Gesundheit leidet (Kesselring et al.,<br />
2001). Pfl egende Angehörige spielen eine zentrale<br />
Rolle bei der Bewältigung des zukünftigen Bedarfs<br />
in der Alterspfl ege (Höpfl inger & Hugentobler,<br />
2004). Tagesbetreuungen und Ferienbetten sind<br />
wichtige Entlastungsangebote (Höpfl inger & Stuckelberger,<br />
1999), deren Nutzung bei pfl egenden Angehörigen<br />
zu Stressreduktion und höherem Wohlbefi<br />
nden führt (Gaugler et al., 2003).<br />
Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden,<br />
hat das Pfl egezentrum Kloten (PZK) 2004 eine Tages-<br />
und Nachtklinik (TNK) mit acht Tages- und fünf<br />
Nachtplätzen eröffnet. Das Angebot richtet sich vor<br />
allem an Personen über 70 Jahre mit einer dementiellen<br />
Erkrankung und kann für einzelne Tage pro<br />
34 NOVAcura 10|09<br />
Franziska Zúñiga und Irena Anna Frei<br />
Woche oder wenige Wochen aneinander benutzt<br />
werden. Die TNK unterstützt die Gäste, ihre Selbstständigkeit<br />
sowie Sozialkontakte zu erhalten. Pfl egende<br />
Angehörige erleben dadurch Entlastung und<br />
Begleitung in ihrer Aufgabe.<br />
Pfl egerisches Eintrittsassessment<br />
Vom Hausarzt hat Herr Z. vernommen, dass es in der Nähe<br />
seines Wohnortes eine Tages- und Nachtklinik gibt. Er hat<br />
schon länger nach einer solchen Entlastungsmöglichkeit gesucht<br />
und ruft gleich an, um den Ort anschauen zu können.<br />
Die Pfl egefachperson vereinbart den Termin für ein Erstgespräch<br />
mit dem Ehepaar Z.<br />
Die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie<br />
formuliert als Ziel von Entlastungsaufenthalten und<br />
Tagespfl egeplätzen, dass die «physischen, psychischen<br />
und sozialen Kompetenzen und Ressourcen<br />
der pfl egebedürftigen Menschen unter geriatrischer<br />
Anleitung bzw. Beratung erhalten und gefördert werden»<br />
(2007). Dies erfordert eine sorgfältige pfl egerische<br />
Eintrittsabklärung. Die Gäste werden weiterhin<br />
von ihren Hausärzten betreut. Oft sind weitere<br />
Dienste wie Spitex oder Mahlzeitendienst involviert.<br />
Durch eine aufmerksame Zusammenarbeit mit den<br />
Angehörigen und den involvierten Diensten kann<br />
die TNK zur Kontinuität in der Betreuung beitragen.<br />
Das pfl egerische Eintrittsassessment ist die Basis<br />
für den Beziehungsaufbau zum Gast und seinen Angehörigen<br />
und der erste Schritt im Pfl egeprozess. Das<br />
Assessment ermöglicht den Pfl egenden, zusammen<br />
mit dem Gast und seinen Angehörigen klare Zielsetzungen<br />
zu formulieren und entsprechende Unterstützungsangebote<br />
einzuleiten (Brobst, 1996). Wenn<br />
Kenntnisse über die Gepfl egten mangeln, wird entweder<br />
zu viel oder zu wenig Pfl ege geleistet, was sich<br />
negativ auf die Erhaltung ihrer Selbständigkeit und<br />
auf ihr Wohlergehen auswirkt. Eine Strukturierung<br />
des pfl egerischen Eintrittsassessment gibt den Pfl egenden<br />
eine klare Richtung in der Betreuung (Vincenzi<br />
& Spirig, 2006).<br />
Während des Erstgesprächs ist Frau Z. spürbar nervös und<br />
äussert mehrmals, dass sie nun wieder nach Hause möchte.<br />
Die Pfl egende informiert Herr Z. über das Angebot der TNK<br />
und sucht Frau Z. in das Gespräch einzubeziehen, soweit ihre<br />
Aufmerksamkeitsspanne dies zulässt. Sie sammelt erste Informationen<br />
zum Unterstützungsbedarf von Frau Z., ihren
Lieblingsbeschäftigungen, kognitiven Fähigkeiten und zu der<br />
Belastungssituation von Herrn Z. und zeigt den beiden anschliessend<br />
die Räumlichkeiten.<br />
Die Pfl egenden der TNK im PZK sind geübt im Führen<br />
von Erstgesprächen mit Gästen und deren<br />
Angehörigen, doch sie wünschten, den Inhalt und<br />
Ablauf der Situationserfassung bei Eintritt zu optimieren.<br />
Dies wurde als Anlass für ein Praxisentwicklungsprojekt<br />
genommen mit der Zielsetzung, ein auf<br />
die Eintrittssituation in der TNK angepasstes Assessment<br />
zu entwickeln und einzuführen.<br />
Praxisentwicklung: das Projekt In diesem Praxisentwicklungsprojekt<br />
werden Methoden der Aktionsforschung,<br />
des Projektmanagements und der Evaluationsforschung<br />
eingesetzt (vgl. Abbildung). Diese<br />
werden anhand des Projektablaufs nachfolgend genauer<br />
erläutert.<br />
Das Projekt beinhaltet die Erarbeitung, Umsetzung<br />
und Evaluation des Eintrittsassessments, dauert<br />
zehn Monate und endet im November 2009. Der<br />
Leiter Pfl ege des PZK erteilte den Projektauftrag einer<br />
Mitarbeiterin des Qualitätsmanagements, welche<br />
das Praxisentwicklungsprojekt im Rahmen ihres<br />
Studiums am Institut für Pfl egewissenschaft an der<br />
Universität Basel durchführt. In der Projektgruppe<br />
arbeiten eine diplomierte Pfl egende und die Leitung<br />
der TNK mit.<br />
1. Phase des Projektes – Look<br />
In der ersten Phase des Aktionsforschungszyklus<br />
werden Informationen zusammengetragen, um eine<br />
klare Ausgangslage zu haben. Das Ziel der Look-<br />
Phase im Projekt war, Kriterien zu formulieren für<br />
den Inhalt und den Ablauf des neuen Eintrittsassessments.<br />
In einer gemeinsamen Analyse zeigten die<br />
Pfl egenden die Stärken und Schwächen des momentanen<br />
Vorgehens sowie Gefahren und Chancen eines<br />
neuen Eintrittsassessments auf. Eine Dokumentenanalyse<br />
der Gästedokumentation beleuchtete die<br />
wichtigsten Inhalte des Eintrittsassessments, die bisher<br />
erfragt wurden. Des Weiteren befragte die Projektgruppe<br />
den Leiter Pfl ege, den leitenden Arzt, die<br />
Leiterin Therapien, die Bettendisponentin und zwei<br />
Angehörige von Gästen zu ihren Erwartungen an Inhalt<br />
und Ablauf das Eintrittsassessment.<br />
Die Analyse ergab die Notwendigkeit von drei<br />
Schritten für das Eintrittsassessment: 1) ein Erstgespräch,<br />
welches Gästen und Angehörigen als Basis<br />
für die Entscheidung bezüglich der Nutzung der<br />
TNK dient und den Pfl egenden eine erste Situationseinschätzung<br />
ermöglicht; 2) Vertiefung der Einschätzung<br />
des Gastes während den ersten Aufenthaltstagen;<br />
3) Standortgespräch mit Gast und Angehörigen<br />
nach 5–8 Besuchstagen zur Evaluation des bisherigen<br />
Aufenthaltes, Klärung von Fragen, Vertiefung<br />
des Assessments und Besprechung der weiteren Betreuung.<br />
Die Pfl egenden wünschten sich für die Gespräche<br />
ein einfach anwendbares Instrument, das<br />
eine schnelle, passende Einschätzung erlaubt. In einer<br />
Literaturrecherche liessen sich kaum Angaben<br />
für ein spezifi sches pfl egerisches Eintrittsassessment<br />
im Bereich der Tageskliniken fi nden. Da die Gäste-<br />
Aktionsforschung:<br />
LOOK<br />
Forschungsplan und<br />
Datensammlung<br />
Projektmanagement:<br />
Projektstart<br />
(Genehmigter<br />
Projektauftrag)<br />
Evaluationsforschung:<br />
Vorevaluation<br />
(prospektiv,<br />
projektsteuernd)<br />
THINK<br />
Analyse und<br />
Kommunikation<br />
Projektumsetzung<br />
(Umsetzung der Projektziele)<br />
Formative Evaluation<br />
(Überwachung und<br />
Anpassung)<br />
dokumentation anhand des Strukturmodells der<br />
Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens<br />
(AEDL) nach Krohwinkel (2008) aufgebaut ist,<br />
lag es nahe, das Eintrittsassessment analog zu strukturieren.<br />
Nach dem Erstgespräch dokumentiert die Pfl egende alle Angaben.<br />
Herr. Z. ist froh, dass seine Frau freitags die TNK besuchen<br />
kann. An den Besuchstagen macht Frau Z. gerne Würfelspiele<br />
und hilft beim Backen. Die Pfl egenden lernen Frau<br />
Z. immer besser kennen. Es fällt ihnen auf, dass sie nach dem<br />
Mittag unruhig wird und herumzuwandern beginnt. Sie planen<br />
zu diesem Zeitpunkt jeweils einen Spaziergang ein. Am<br />
achten Besuchstag nach Eintritt machen sie mit dem Ehepaar<br />
Z. ein Standortgespräch, um in Ruhe den bisherigen Aufenthalt<br />
zu evaluieren. Die Pfl egende bespricht ihre Beobachtungen<br />
und klärt offene Fragen und Anliegen von Herrn Z. Dieser<br />
nutzt die Gelegenheit, um Tipps für das Herumwandern von<br />
Frau Z. zu Hause zu erhalten.<br />
2. Phase des Projektes – Think<br />
Das Ziel der Think-Phase war die Erstellung des<br />
neuen Eintrittsassessments auf Basis der vorher formulierten<br />
Kriterien. Die Pfl egenden erarbeiteten einen<br />
nach den AEDL strukturierten Erhebungsbogen<br />
für die beiden Gespräche mit den Inhalten, welche<br />
aufgrund der Analyse als wichtig erachtet wurden.<br />
Dies erlaubte, zentrale Themen einer Tages- und<br />
Nachtklinik, zum Beispiel die Alltagsgestaltung der<br />
Gäste, ihr soziales Netz und die Belastungssituation<br />
der Angehörigen, besonders zu gewichten. Bei der<br />
Informationssammlung und Beobachtung während<br />
der Aufenthaltstage hat das Assistenzpersonal in der<br />
TNK eine zentrale Rolle, da sie oft die Gäste in den<br />
Aktivitäten des täglichen Lebens unterstützen. Damit<br />
sie ihre Beobachtungen gezielter dokumentieren<br />
können, wurden an einer Teamsitzung zusammen<br />
mit ihnen die AEDL besprochen und mit für<br />
die TNK spezifi schen Inhalten gefüllt. In einem letzten<br />
Schritt klärten die Pfl egenden die Rahmenbedingungen<br />
für das Erst- und Standortgespräch und deren<br />
Organisation. Wichtig war ihnen, dass Gast und<br />
Angehörige dieselbe Pfl egende als Gesprächspartnerin<br />
in Erst- und Standortgespräch haben.<br />
3. Phase des Projektes – Act<br />
Zur Act-Phase gehören die Umsetzung und die Evaluation<br />
des angepassten Eintrittsassessments. Dieses<br />
NOVAcura 10|09<br />
ACT<br />
Umsetzung und Evaluation<br />
Abb. 1: Methoden der<br />
Praxisentwicklung (in<br />
Anlehnung an Ullmann-<br />
Bremi, Spirig, & Ullmann,<br />
2004)<br />
Franziska Zúñiga, BNS,<br />
Studentin am Institut für<br />
Pfl egewissenschaft,<br />
Universität Basel; Pfl egespezialistin,Krankenheimverband<br />
Zürcher<br />
Unterland<br />
franziska.zuniga@<br />
stud.unibas.ch<br />
In Zusammenarbeit mit:<br />
Dr. Irena Anna Frei, Pfl egeexpertin,<br />
Abteilung<br />
Klinische Pfl egewissenschaft,<br />
Universitätsspital<br />
Basel<br />
35<br />
Projektabschluss<br />
(Abschlussbericht und<br />
Refl exion)<br />
Summative Evaluation<br />
(Nutzen und<br />
Erkenntnisgewinn)
McCormack, B., Manley,<br />
K. & Garbett, R. (2009).<br />
Praxisentwicklung in der<br />
Pfl ege. Bern: Hans Huber.<br />
Weitere Literatur bei der<br />
Erstautorin<br />
wird seit Anfang Mai in der TNK umgesetzt, und die<br />
Pfl egenden sind mit den ersten Erfahrungen sehr<br />
zufrieden. Sie können gezielt die wesentlichen Informationen<br />
erfassen und erleben eine verbesserte<br />
Kontinuität in der Einschätzung der Gäste. Zum Abschluss<br />
des Projektes fi ndet im November eine summative<br />
Evaluation des Projektes statt, um das Erreichte<br />
zu überprüfen.<br />
Frau. Z. hat sich unterdessen gut in der TNK eingelebt. Herr<br />
Z. ruft zwischendurch an, um Fragen zu besprechen, und ist<br />
sehr froh um die Unterstützung und die Entlastung, die ihm<br />
ermöglichen, weiterhin zu Hause für Frau. Z. zu sorgen.<br />
Gewinn eines Praxisentwicklungsprojektes Ein<br />
Vorteil der Praxisentwicklung mit Aktionsforschung<br />
ist, dass pfl egerische Inhalte der Praxis von und mit<br />
den Praktizierenden selber entwickelt werden, um<br />
wirksame und nachhaltige Pfl ege anzubieten. Im<br />
besten Fall bringt das Praxisentwicklungsprojekt<br />
Antworten auf Fragen, welche die Pfl egenden in<br />
ihrem Alltag beschäftigen, und verknüpft diese mit<br />
aktuellen Erkenntnissen aus der Pfl egeforschung<br />
(Rycroft-Malone et al., 2004). Dabei müssen Forschungsergebnisse<br />
so weit mit der Praxis in Beziehung<br />
gesetzt werden, dass die Pfl egenden sie in den<br />
Pfl egealltag integrieren können. Während der Entwicklung<br />
des neuen Eintrittsassessments setzten die<br />
Pfl egenden der TNK sich mit der Literatur auseinander<br />
und verknüpften sie mit ihrer Erfahrung und ihrem<br />
Expertenwissen, um ein Resultat zu erreichen,<br />
36 NOVAcura 10|09<br />
das in der Praxis umsetzbar ist. Da die Pfl egenden<br />
die Entwicklung des neuen Instrumentes massgeblich<br />
steuerten, konnten sie sich auch in hohem Mass<br />
mit dem Ergebnis identifi zieren.<br />
B. Dyamant, dipl. Pfl egefachfrau HF und Projektgruppenmitglied,<br />
äussert rückblickend: «Für mich<br />
war die Mitwirkung am Praxisentwicklungsprojekt<br />
sehr interessant, lehrreich und wichtig, da wir als<br />
Betreuungspersonen das neu entwickelte Eintrittsassessment<br />
in der Praxis einsetzen und anwenden.<br />
So konnte ich meine Wünsche, Ideen und Vorstellungen<br />
einbringen. Mit dem Resultat bin ich<br />
sehr zufrieden. Das Instrument ist einfach anzuwenden,<br />
übersichtlich, und wir erhalten die für die<br />
Pfl ege relevanten Informationen. Die Zusammenarbeit<br />
in der Projektgruppe empfand ich als speditiv,<br />
konstruktiv und effi zient. Es gab mir Einblick in andere<br />
Sichtweisen, was für meinen Alltag sehr bereichernd<br />
ist.»<br />
Praxisentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess<br />
in Richtung einer effektiven und gästeorientierten<br />
Pfl ege, der einerseits auf der Ebene der Pfl egeteams<br />
abläuft, aber auch die Entwicklung der Organisation<br />
und Kultur eines Betriebes widerspiegelt (McCormack,<br />
Manley, & Garbett, 2009). Die Projektleitung<br />
kann die Erfahrungen aus dem Projekt in ein betriebsüberg<strong>reifen</strong>des<br />
Projekt einfl iessen lassen zur<br />
Ausarbeitung eines Eintrittsassessments für alle Stationen.<br />
Dieses Projekt wird wieder Auswirkungen<br />
haben auf die TNK, sodass die Entwicklung kontinuierlich<br />
weitergeht. ■
Verstehen, wer wir sind<br />
Buchrezension<br />
Die hier vorgestellte Publikation versteht sich als Versuch, Zusammenhänge zu schaffen,<br />
indem sie Lebensgeschichten von Menschen, die heute zur AHV-Generation gehören,<br />
in Verbindung zur Geschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts bringt. Das<br />
Buch ist sozusagen ein Muss für Menschen, die sich mit Biografi earbeit beschäftigen.<br />
Simone Anna Heitlinger<br />
Es ist ein umfangreiches Projekt, einen wie im<br />
Untertitel versprochenen «Streifzug durch die<br />
Schweizer Sozialgeschichte» auf allgemein ansprechendem<br />
Niveau in eine handliche Buchform<br />
zu bringen. Ohne Spagat zwischen dem Auswählen<br />
von relevanten Schwerpunkten und dem Differenzieren<br />
von interessanten Details kann das nicht<br />
bewältigt werden. Die Pro Senectute Schweiz als<br />
schweizerische Stiftung «Für das Alter» hat sich zu<br />
ihrem 90-Jahr-Jubiläum im Jahre 2007 dieser<br />
Herausforderung gestellt. Der ursprüngliche Gedanke<br />
des Buches war es, die Leistungen der älteren<br />
Generationen zugunsten der Gesellschaft durch eine<br />
Untersuchung transparent werden zu lassen. Einzelne<br />
Fakten hierzu sind mittlerweile bezifferbar. So<br />
ersetzen zum Beispiel Grosseltern pro Jahr rund<br />
100 000 Krippenplätze und vererben ca. 30 Milliarden<br />
Franken. Für ein Gesamtbild reichen solche<br />
Zahlen jedoch nicht aus. Es ist daraus die Idee entstanden,<br />
Porträts von Frauen und Männern zusammenzustellen,<br />
die den Alltag einzelner Menschen in<br />
die «grosse» Geschichte einbetten. Neben geschichtlichen<br />
Fakten sollte die Vielfalt der Biografi en der<br />
heutigen Generation 65+ Ausdruck fi nden.<br />
Die Schweiz – ein Entwurf Basierend auf der Idee<br />
von Max Frisch, dass die Schweiz aus nichts anderem<br />
als einem utopischen Gedanken – im positiven<br />
Sinne – entstanden ist, beleuchtet Kurt Seifert im ersten<br />
Teil des Buches auf ca. 50, sehr übersichtlich gestalteten<br />
Seiten die Schweizer Sozialgeschichte von<br />
1918 bis heute. In Form eines Abrisses greift der Autor,<br />
Verantwortlicher für den Bereich Politik und Gesellschaft<br />
bei Pro Senectute Schweiz, wichtige Etappen<br />
heraus, die das Land und die in ihm lebenden<br />
Menschen geprägt haben. Die vielfach gescheiterten<br />
und manchmal geglückten Versuche, aus der<br />
Schweiz den Entwurf eines freiheitlichen, demokratischen<br />
und solidarischen Staatswesens zu formen,<br />
sind leitend in der Auswahl der Schwerpunkte. Die<br />
Darstellungen reichen vom Landesstreik 1918 über<br />
die grosse Krise der Dreissigerjahre, den Zweiten<br />
Weltkrieg zu der danach folgenden Zeit des Kalten<br />
Krieges. Die Expo 1964 mit ihrem Anspruch, schöpferische<br />
Leistungen anzuspornen sowie zur Mitgestaltung<br />
geschichtlichen Daseins anzuregen, ist<br />
ebenso prägnant skizziert und untermauernd bebildert<br />
wie Themen rund um die alt-neuen Ängste vor<br />
Überfremdung, das Frauenstimmrecht bis hin zu<br />
den Auseinandersetzungen um die Rolle der Armee<br />
und die Bedeutung der Neutralität. Treffende Zitate<br />
verschiedenster Persönlichkeiten bringen komplexe<br />
Gegebenheiten immer wieder auf den Punkt und inspirieren<br />
zum Nachdenken.<br />
Menschen und ihre Geschichte Sie lesen sich<br />
leicht, die zehn sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten<br />
auf den 50 Seiten im zweiten Teil, auch<br />
wenn sie viel Schweres berichten. Und sie sind voller<br />
Weisheiten, auch wenn jemand zusammenfasst:<br />
«nichts Aussergewöhnliches, einfach ein Leben voller<br />
Arbeit» (S. 73). So bemerkt z.B. Imelda Abbt: «Es<br />
wird vergessen, dass das Alter ein selbstverständlicher<br />
Teil der menschlichen Biografi e ist und ein erfülltes<br />
Leben von eigenen und nicht von fremden<br />
Wertmassstäben abhängt» (S. 57), oder alt Bundesrat<br />
Rudolf Friedrich, gefragt, wie man auf neue Entwicklungen<br />
reagiere, sagt: «Man muss offen bleiben<br />
gegenüber allem Neuen und der Gefahr ausweichen<br />
zu behaupten, früher sei alles besser und schöner gewesen.<br />
Das stimmt ja gar nicht. Und selbst wenn es<br />
stimmen würde, nützt rückwärtsgerichtetes Denken<br />
ohnehin niemandem» (S. 65). Sechs Frauen und vier<br />
Männer sind es, die von der Luzerner Journalistin<br />
Kathrin Spring und vom Basler Journalisten Heinz<br />
Eckert im Laufe des Jahres 2006 befragt worden sind.<br />
Einige haben sich auf einen Aufruf in der Zeitschrift<br />
«Zeitlupe» selbst gemeldet, andere sind angefragt<br />
worden. Der Zürcher Fotograf Dominic Ott hat einfühlsame<br />
Porträtaufnahmen beigesteuert. Die Fotos,<br />
die Geschichten, die Zitate sowie die vereinzelt eingestreuten<br />
Bemerkungen der Journalisten wirken auf<br />
verschiedenen Ebenen anregend und vernetzend.<br />
Empfehlenswert Es gibt viele Gründe, die dieses<br />
Buch lesenswert machen: ausgewählte geschichtliche<br />
Fakten, kurz und bündig beschrieben, ohne<br />
fl ach zu wirken, aussagekräftige Bilder, eine klare<br />
Struktur mit Querverweisen, hilfreiche Quellenangaben<br />
auf der jeweiligen Seite, ein ansprechendes<br />
Layout und ein Sprachstil, der fl üssig zu lesen ist,<br />
auch wenn drei Autoren beteiligt sind. Ich lege<br />
das gelungene Buchprojekt allen ans Herz, die im<br />
Kontakt mit alten Menschen in der Schweiz biografi<br />
sche Zusammenhänge entdecken möchten, sei es<br />
im privaten oder im berufl ichen Kontext, und dadurch<br />
ein Stückchen mehr verstehen lernen, wer sie<br />
sind. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Simone Anna Heitlinger<br />
ist Gerontologin MAS und<br />
Bildungsverantwortliche<br />
Langzeitpfl ege, Spital<br />
Affoltern.<br />
simone.heitlinger@<br />
spital affoltern.ch<br />
Kein Buchtitel könnte<br />
besser zum Schwerpunktthema«<strong>Entwickeln</strong><br />
– <strong>wachsen</strong> – <strong>reifen</strong>»<br />
dieser Novacura-<br />
Ausgabe passen als der<br />
«Streifzug durch die<br />
Schweizer Sozialgeschichte».<br />
Setzt doch<br />
wirkliche Entwicklung<br />
bzw. inneres Wachstum<br />
das Erkennen und Verstehen<br />
von Zusammenhängen<br />
voraus.<br />
Seifert, Kurt. (2007):<br />
Verstehen, wer wir sind.<br />
Streifzug durch die<br />
Schweizer Sozialgeschichte.<br />
Pro Senectute Schweiz.<br />
Zürich: Zeitlupe.<br />
37
Curahumanis<br />
Anlässlich der Generalversammlung im Mai 2008 besiegelten<br />
die Mitglieder von SBGRL und Vivica die Fusion zum<br />
neuen Fachverband für Pfl ege und Betreuung «curahumanis».<br />
Der Themenschwerpunkt «entwickeln – <strong>wachsen</strong> – <strong>reifen</strong>»<br />
dieser Ausgabe ist ein guter Anlass, den Ereignissen<br />
nachzugehen, die diesem formalen Beschluss vorausgingen.<br />
Welche Erwartungen waren damit verbunden und wurden<br />
diese eingelöst? Was hat sich inzwischen verändert und<br />
entwickelt? Joachim Cerny<br />
Erfahrungsgemäss sind Firmenfusionen oder Verbandszusammenschlüssen<br />
mehrjährige Prozesse<br />
nachgelagert, welche verschiedene Bereiche<br />
wie Verbandskultur, Geschäftsabläufe, Teamkonstellationen<br />
und vieles mehr betreffen. Oftmals ist<br />
die Geschäftsleitung von der Bewältigung all dieser<br />
Vorgänge absorbiert und verliert den Kontakt zu den<br />
Kunden und Mitgliedern. Aus diesem Grund müssen<br />
die einzelnen Schritte klar priorisiert und die allzeitige<br />
Verfügbarkeit der Dienstleistungen sichergestellt<br />
werden. Wenn Sie als Mitglied den Verband in seinen<br />
Aktivitäten jetzt deutlicher wahrnehmen und<br />
sich die Qualität unserer Dienstleistungen erhöht, so<br />
ist es uns gelungen, die beschriebenen Stolpersteine<br />
einer Fusion erfolgreich aus dem Weg zu räumen.<br />
Motive für die Fusion Um die heutige Situation resp.<br />
die bereits vollzogenen und geplanten Veränderungen<br />
aufzuzeigen und zu analysieren, ist ein Blick in<br />
die Vergangenheit sinnvoll. Welche Beweggründe veranlassten<br />
zum Zusammenschluss von SBGRL und Vivica?<br />
Welche Erwartungen waren damit verbunden?<br />
38 NOVAcura 10|09<br />
Ein Zusammenschluss<br />
setzt Prozesse in Gang.<br />
Foto: Martin Glauser<br />
nutzt Entwicklungspotenzial<br />
Fusion fordert Veränderungen und Neurorientierung<br />
Silvia Indermaur, eine Vertreterin des vormaligen<br />
Verbandes Vivica und heutigen Vize-Präsidentin von<br />
curahumanis, erläutert die Beweggründe für ein Zusammengehen<br />
mit dem damaligen SBGRL:<br />
«Vivica war bereits ein Zusammenschluss des SVH<br />
Schweizerischer Verband der Hauspfl egerinnen sowie<br />
eines Hauspfl egerinnen-Verbandes in der Westschweiz<br />
und im Tessin. Mit der Erkenntnis, dass ein<br />
Berufsverband nur auf schweizerischer Ebene Sinn<br />
macht, wurde ein Zusammenschluss dieser drei<br />
Gruppen angestrebt und unter dem Namen Vivica<br />
realisiert. Der neue Verband Vivica beheimatete nun<br />
nicht mehr ausschliesslich Hauspfl egerinnen, sondern<br />
öffnete sich für alle weiteren Berufsangehörigen<br />
in der Spitex.<br />
Mit dem neuen schweizerischen Berufsbildungsgesetz<br />
wurden die Berufsbereiche Gesundheit, Soziales<br />
und Kunst in die BBT-Systematik integriert. Die<br />
Hauspfl egerin wurde in der Bildungsverordnung bei<br />
der Fachangestellten Gesundheit mit eingeschlossen.<br />
Damit wurde die Ausbildung zur Hauspfl egerin eingestellt<br />
und dem Verband die ‹Grundlage› entzogen.<br />
Es musste der Tatsache ins Auge gesehen werden,<br />
dass unter diesen neuen Umständen Vivica früher<br />
oder später in seiner Existenz bedroht sein würde. Daher<br />
waren wir gezwungen, uns mit den Konsequenzen<br />
dieser Realität auseinanderzusetzen. Die Verbandsführung<br />
erarbeitete verschiedene Szenarien.<br />
Am Schluss blieb nur der Zusammenschluss mit dem<br />
SBGRL übrig, da dies der einzige Verband im Gesundheitswesen<br />
war, welcher Berufe mit Abschluss auf der<br />
Sekundarstufe II aufnahm.<br />
Es war eine Vernunftehe, und die Erwartungen für<br />
eine gemeinsame Entwicklung waren verhalten.<br />
Nach einem anfänglich etwas harzigen Start wurde
und wird die Zusammenarbeit innerhalb des neuen<br />
Verbandes immer besser.»<br />
Gabi Bortolotti, Präsidentin von curahumanis und<br />
langjähriges Vorstandsmitglied des SBGRL, zeigt die<br />
Motive auf, welche die Verantwortlichen des SBGRL<br />
zu einer Verbandsfusion veranlassten: «Für den SBGRL<br />
wurde es zunehmend klar, dass es für eine wirksame Vertretung<br />
der Anliegen seiner Mitglieder mehr Einfl uss in<br />
den entsprechenden Gremien benötigt, was nur durch einen<br />
höheren Mitgliederbestand machbar wäre. Alle Aktivitäten<br />
sind sehr fi nanz -und personal intensiv, weshalb<br />
es eine wirksame Grösse benötigt und zudem eine gesamtschweizerische<br />
Ausrichtung. Mit Vivica bestand zusätzlich<br />
die Möglichkeit, mit der Spitex einen Bereich zu integrieren,<br />
der beim SBGRL fast nicht vertreten war.<br />
Der SBGRL hatte sich in den vergangenen Jahren eine<br />
schlankere Struktur und damit mehr Professionalisierung<br />
geschaffen, aber mit diesen Veränderungen auch etwas<br />
an seiner Profi lierung und aktiven Einbindung von Mitgliedern<br />
in die Verbandsarbeit eingebüsst. Die Fusion<br />
wurde als Chance gesehen, auf den neuen Strukturen eine<br />
breitere Basis aufzubauen, sowie einen gesamtschweizerisch<br />
verwendbaren und markanten neuen Namen zu<br />
wählen. Zudem standen damit mehr Ressourcen für die<br />
Verbands- und Vorstandsarbeit zur Verfügung und die<br />
Erhöhung der Mitgliederzahl verleiht dem neuen Verband<br />
mehr Gewicht und Einfl uss in den regionalen wie auch<br />
nationalen Gremien.»<br />
Was ist seit dem Zusammenschluss passiert? An<br />
der Generalversammlung von curahumanis im Mai<br />
2009 präsentierte der Vorstand seine neue Ausrichtung<br />
und Prioritäten für die Aktivitäten von Vorstand<br />
und Geschäftsleitung. Die thematisch klare Ausrichtung<br />
auf die Pfl ege und Betreuung zu Hause und in<br />
Institutionen im Zusammenhang mit Alter und<br />
Chronizität ermöglicht eine eigenständige Profi lierung<br />
und Abgrenzung zu anderen Berufsverbänden<br />
der Pfl ege. Im Bildungsbereich wird die Zuständigkeit<br />
für Bildungsabschlüsse und Qualifi zierung der Pfl ege<br />
und Betreuung in der Ausrichtung Sekundarstufe II<br />
klar von curahumanis in Anspruch genommen.<br />
Um auf nationaler Ebene diese Ansprüche umsetzen<br />
zu können, ist curahumanis dem Schweizerischen<br />
Verband der Berufe im Gesundheitswesen<br />
SVBG beigetreten. Damit wird der Zugang zur OdA-<br />
Santé sichergestellt, welche eine entscheidende Rolle<br />
bei der Neu- und Umgestaltung der Berufe im Gesundheitswesen<br />
spielt. Zudem wird curahumanis in<br />
der Geschäftsleitung des SVBG Einsitz nehmen.<br />
Die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden und<br />
Organisationen im Gesundheitswesen konnte auf der<br />
Führungsebene bereits entscheidend verbessert werden.<br />
Mehr Zeit wird für das gegenseitige Verständnis<br />
in den regionalen Strukturen notwendig sein.<br />
In weiteren nationalen Gremien fand bereits eine<br />
Mitarbeit statt oder wurde angebahnt, so beispielsweise<br />
in der IG Pfl egefi nanzierung, welche die Arbeiten<br />
zum gleichnamigen Gesetz kritisch begleitete.<br />
Das Thema DRG wurde im Rahmen der immer noch<br />
laufenden Petition aufgegriffen, da die Einführung<br />
der DRGs ohne entsprechende Begleitmassnahmen<br />
negative Auswirkungen auf den Arbeitsplatz der Pfl egenden<br />
in Heim und Spitex haben wird. Weitgehend<br />
unbeachtet laufen seit einigen Jahren Projekte im Bereich<br />
eHealth (Informatik im Gesundheitswesen).<br />
Daraus resultiert zum Beispiel die neue Krankenversicherungskarte,<br />
mit deren Hilfe Daten von Patient<br />
und Arzt abrufbar sind. Weitere Projekte werden grossen<br />
Einfl uss auf die zukünftige Arbeitsweise der Pfl egenden<br />
haben, weshalb sich curahumanis bei den<br />
entsprechenden Gremien des BAG eingeklinkt hat.<br />
Ziel: optimale Mitglieder- und Kursteilnehmerbetreuung<br />
Ein dynamischer Verband benötigt eine<br />
professionelle Führung und Unterstützung!<br />
Die bisherige Organisationsstruktur auf der Geschäftsstelle<br />
war für eine optimale Mitgliederbetreuung<br />
nicht dienlich. Durch Überschneidungen der Zuständigkeit<br />
ereigneten sich Missverständnisse und<br />
Fehler mit teilweise unangenehmen Auswirkungen<br />
auf die Mitglieder. Der Mehrsprachigkeit wurde in<br />
den Publikationen teilweise nicht die Bedeutung beigemessen,<br />
welche ihr eigentlich zugestanden hätte.<br />
Erste Veränderungen auf der Geschäftsstelle wurden<br />
in die Wege geleitet und sind fassbar, andere Umgestaltungen<br />
werden erst im Verlauf des nächsten<br />
Jahres spürbar werden. Neu sind die Zuständigkeiten<br />
in sogenannte «Competence Center» unterteilt mit<br />
dem Ziel, eine bestmögliche Mitglieder- und Kursteilnehmerbetreuung<br />
umzusetzen. Ebenso möchten wir<br />
damit die fi nanziellen Auswirkungen der einzelnen<br />
Aktivitäten den Mitgliedern transparent machen<br />
können.<br />
Die infrastrukturelle Ausstattung der Geschäftsstelle<br />
in Luzern ist für einen Bildungsbetrieb we niger<br />
geeignet und führt im Alltag zu unbefriedigenden Situationen.<br />
Darum streben wir eine Verbesserung der<br />
räumlichen Situation für die Bildungsveranstaltungen<br />
an. Es soll den Bedürfnissen der Kursteilnehmenden<br />
bezüglich Gruppenräumlichkeiten, Erholung<br />
und Verpfl egung Rechnung getragen werden können.<br />
Unsere intensive Suche war erfolgreich, weshalb<br />
diese Anforderung jetzt in der Realität umgesetzt werden<br />
kann.<br />
Es ist unser oberstes Ziel, dass Sie wirklich davon<br />
überzeugt sind, für Ihren Mitgliederbeitrag das Bestmögliche<br />
angeboten zu bekommen, was ein Verband<br />
für seine Mitglieder realisieren kann. Ob es sich dabei<br />
um Weiterentwicklungen unseres Dienstleistungs-<br />
und Bildungsangebotes oder die aktive Einfl<br />
ussnahme auf die Gestaltung Ihrer Arbeitsumstände<br />
und -bedingungen handelt, oder ob es darum geht,<br />
eine Mitsprache bei der zukünftigen Anerkennung<br />
Ihrer Berufsabschlüsse oder den Stellenwert Ihrer täglichen<br />
Arbeit in der Pfl ege und Betreuung der breiten<br />
Öffentlichkeit deutlich zu machen: Wir sind hoch<br />
motiviert Sie täglich vom hohen Stellenwert Ihrer<br />
Mitgliedschaft bei curahumanis zu überzeugen.<br />
Dabei können Sie uns selbstverständlich unterstützen.<br />
Sagen Sie uns Ihre Meinung, teilen Sie uns<br />
mit, was wir verbessern können, machen Sie uns darauf<br />
aufmerksam, was Sie vermissen. Und nicht zuletzt,<br />
reden Sie mit Ihren Kolleginnen über die Vorteile<br />
einer Mitgliedschaft bei curahumanis. Wenn Sie<br />
dieses Gespräch voller Überzeugung führen können,<br />
dann wissen wir, dass wir uns gut weiterentwickelt<br />
haben! ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Joachim Cerny<br />
Geschäftsführer<br />
curahumanis<br />
joachim.cerny@<br />
curahumanis.ch<br />
39
Margrit Freivogel<br />
Kayser<br />
Redaktorin NOVAcura<br />
margrit.freivogel@<br />
cura humanis.ch<br />
Zwischen Führungs-<br />
und Pfl ege aufgabe<br />
Die Übernahme einer Stationsleitung ist ein anspruchsvoller Karriereschritt. Eine<br />
Sandwichposition zwischen führen, pfl egen und geführt werden zu bekleiden, bedeutet<br />
nicht allein, Druck von allen Seiten zu bekommen. Druck lässt sich ventilieren,<br />
Know-how kann gezielt aufgebaut werden. Worauf in dieser Führungsrolle geachtet<br />
werden sollte und wie die gewonnenen Erkenntnisse in die Führungsarbeit einfl iessen<br />
können, ist Thema der 15. Fachtagung für Stationsleiterinnen und Stationsleiter am<br />
5. November 2009. Margrit Freivogel Kayser<br />
Viele Stationsleitende stehen immer mehr vor<br />
dem Dilemma, wie sie den Spagat schaffen<br />
sollen zwischen ihrer Führungsaufgabe und<br />
den Anforderungen, die als Pfl egefachpersonen an<br />
sie gestellt werden. Über Führung reden ist das eine,<br />
führend handeln das andere. In der Praxis führen<br />
sie dann oft, ohne sich die Zeit für Selbstbeobachtung<br />
und Refl exion zu nehmen. Die Konsequenz<br />
sind häufi g Rollenkonfl ikte, die nicht leicht zu lösen<br />
sind.<br />
Rollenwechsel als Knackpunkt Die Anforderungen,<br />
die der Rollenwechsel von der Pfl egefachperson<br />
zur Stationsleitung mit sich bringt, werden vielfach<br />
unterschätzt. Wird man befördert, ist man nicht<br />
mehr Arbeitskollegin, sondern vorgesetzte Person<br />
mit Sanktionsmacht. Reine Intuition und Erfahrungswissen<br />
reichen nicht aus, um diese Führungs-<br />
Die Referenten/innen<br />
40 NOVAcura 10|09<br />
Gabriele Hasler, Pfl egefachfrau und<br />
Er<strong>wachsen</strong>enbildnerin, Geschäftsführerin<br />
der SPIELBAR Hasler & Herzberg<br />
Dr. phil. Esther Rüegger, Psychologin,<br />
Supervisorin OE BSO<br />
Daniel Hinder, dipl. Psychologe FH und<br />
dipl. Betriebsökonom FH, Laufbahnberater<br />
Joachim Cerny, Betriebsökonom,<br />
Geschäftsführer curahumanis<br />
Sibylle Schröder, Sozialarbeiterin FH,<br />
Geschäftsführerin Arsana AG<br />
Ralf Höller, Chefredakteur eines Rhetorik-<br />
Newsletters, Fachautor für Zeitschriften<br />
im Pfl ege- und Medizinbereich, Autor<br />
verschiedener Sachbücher<br />
funktion erfolgreich auszuüben. Ein fundiertes Wissen<br />
bezüglich Führungsinstrumente und -techniken,<br />
das ständig aktualisiert und vervollständigt wird, ist<br />
unabdingbar. Ausserdem ist es zwingend, die eigene<br />
Führungsarbeit regelmässig kritisch zu hinterfragen<br />
und zu refl ektieren, um die Führungskompetenzen<br />
nachhaltig weiter verbessern zu können.<br />
Ein Muss: Delegation und Kommunikation Die<br />
Kompetenzen in der Menschenführung, die Stationsleiter/innen<br />
mitbringen, steigern deren Leistungsfähigkeit<br />
in der Führungsrolle am stärksten.<br />
Wer sich nicht getraut, Aufgaben zu delegieren, riskiert<br />
Überlastung und Leistungseinbussen. Ein konsequentes<br />
Unterscheiden zwischen Führungs- und<br />
Handlungsverantwortung ist deshalb erforderlich.<br />
Führung bedeutet auch mehrheitlich Kommunikation.<br />
Insbesondere mit den unterstellten Mitarbeitenden<br />
sollte eine Führungsperson regelmässig das<br />
Gespräch suchen.<br />
Als Berufsperson durch refl ektierte Erfahrung Experte/Expertin<br />
sein Die STL-Tagung will neben<br />
Fachreferaten auch eine Plattform bieten, wo Stationsleitende<br />
aus verschiedenen Regionen und Institutionen<br />
mit unterschiedlichen Führungsmodellen<br />
über ihre Erfahrungen diskutieren. Was brennt<br />
unter den Nägeln, welche Knackpunkte erleben sie,<br />
wie lösen sie diese, welche Empfehlungen, Wege aus<br />
dem Dilemma und Lösungsvorschläge können sie<br />
aufzeigen? Unter der Leitung von Gabriele Hasler<br />
diskutieren Bernadette Gabathuler, Ilir Hoxha, Daniela<br />
Keller und Christine Stutz. Sie werden den<br />
Finger auf wunde Punkte legen und die Fachreferentinnen<br />
und -referenten herausfordern.<br />
Zielpublikum Die Tagung richtet sich an Menschen,<br />
die ihre Führungserfahrungen vertiefen oder<br />
sich auf neue Führungsaufgaben vorbereiten wollen.<br />
Die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erhalten<br />
wichtige Impulse, worauf es in der Führungsrolle<br />
als Stationsleiter/in ankommt und wie sie die gewonnenen<br />
Erkenntnisse in ihre Führungsarbeit einfl<br />
iessen lassen können.<br />
Anmeldung mit nebenstehendem Anmeldetalon<br />
oder online unter www.curahumanis.ch ■
«Sandwich-Position Stationsleiterin»<br />
Nicht nur eingeklemmt!<br />
15. Fachtagung für Stationsleiterinnen und Stationsleiter<br />
THEMEN<br />
Zeitmanagement und Rollenwechsel zwischen Führungsund<br />
Pfl egeaufgabe<br />
Stationsleiterinnen und Stationsleiter im Gespräch – Podiumsdiskussion<br />
und Erfahrungsaustausch – Spielpädagogische Intervention<br />
Diskussionsleitung und Abschlussreferat: Gabriele Hasler, Er<strong>wachsen</strong>enbildnerin<br />
und Pfl egefachfrau, Coach und Spielpädagogin<br />
Handlungs- und Gestaltungsspielräume der Stationsleitenden<br />
Eigenverantwortung und -motivation stärken statt Opfer der Umstände<br />
werden<br />
Dr. phil. Esther Rüegger, Psychologin, Supervisorin OE BSO<br />
Führen und geführt werden<br />
Umgang mit Positions- und Rollenwechsel<br />
Daniel Hinder, Psychologe, Betriebsökonom, Laufbahnberater<br />
Wie gelingt die Arbeitsrückkehr von erkrankten Mitarbeitenden?<br />
Die Rolle der Vorgesetzten und des Case Managements<br />
Joachim Cerny, Betriebsökonom, Geschäftsführer curahumanis<br />
Sibylle Schröder, Sozialarbeiterin FH, Geschäftsführerin Arsana GmbH<br />
Lenker kann man lenken<br />
Chefs brauchen, um führen zu können, Orientierung, Input aus<br />
der Praxis und Rückmeldungen von Mitarbeitenden<br />
Ralf Höller, Journalist, Fachautor für Zeitschriften im Pfl ege-<br />
und Medizinbereich, Buchautor<br />
Anmeldetalon<br />
Bitte diesen Talon ausgefüllt und unterschrieben<br />
an die Geschäftsstelle von curahumanis,<br />
Fachverband für Pfl ege und Betreuung,<br />
Obergrundstrasse 44, 6003 Luzern,<br />
senden oder faxen an 041 249 00 89.<br />
Name:<br />
Vorname:<br />
Funktion:<br />
Strasse/Nr.:<br />
PLZ/Ort:<br />
Telefon:<br />
E-Mail:<br />
❏ Ich bin Mitglied von curahumanis.<br />
❏ Ich wünsche, dass die Rechnung auf den<br />
Namen meines Arbeitgebers ausgestellt wird.<br />
Name und Adresse des Arbeitgebers:<br />
Ort: Kongresszentrum Seedamm-Plaza,<br />
Pfäffi kon SZ<br />
Datum: Donnerstag, 5. November 2009<br />
Zielpublikum: Stationsleiter/innen, Pfl egedienstleiter/innen,<br />
Verantwortliche aus Heimen, weitere interessierte<br />
Personenkreise<br />
Kosten: Fr. 240.– für Mitglieder von curahumanis<br />
Fr. 290.– für Nichtmitglieder<br />
Organisation: curahumanis, Fachverband für Pfl ege und<br />
Betreuung gemeinsam mit Tertianum ZfP<br />
Auskunft und Geschäftsstelle curahumanis<br />
Anmeldung: Obergrundstrasse 44, 6003 Luzern<br />
Tel. 041 249 00 80; Fax 041 249 00 89<br />
online unter www.curahumanis.ch<br />
Abmeldebedingungen<br />
Eine kostenlose Abmeldung ist bis einschliesslich<br />
Montag, 5. Oktober 2009, möglich. Danach<br />
müssen die vollen Tagungskosten verrechnet<br />
werden, wenn für die abmeldende Person kein<br />
Ersatz gestellt werden kann.<br />
Ich akzeptiere die Abmeldebedingungen.<br />
Datum:<br />
Illustration: Elias Frei<br />
Unterschrift:<br />
www.zfp.tertianum.ch
Spitex<br />
Markus Kopp ist Berater<br />
und Projekt- und Schulungsleiter<br />
für Sozial-,<br />
Gesundheits- und Kulturorganisationen.<br />
markus.kopp@<strong>bops</strong>.ch<br />
Spitexorganisationen<br />
in Veränderung<br />
In hohem Tempo verändert sich die Spitexlandschaft der deutschen<br />
Schweiz. Viele Organisationen entwickeln sich und <strong>wachsen</strong> auf Druck<br />
von äusseren Veränderungen. Es ist ein nicht mehr zu stoppender Prozess.<br />
Umso wichtiger wird der Prozess der Entwicklung, den Spitexorganisationen<br />
selber beschreiten. Fakt ist, die Zeiten der gemächlichen<br />
Entwicklung gehören der Vergangenheit an. Markus Kopp<br />
Wenn der Spitexalltag im herkömmlichen<br />
Sinn nicht mehr<br />
weiterzuführen ist, treten viele<br />
Organisationen die Flucht «nach<br />
nirgendwo» an. In der Hoffnung,<br />
möglichst vieles aus der alten Organisation<br />
zu retten, schliessen sie<br />
Zusammenarbeitsverträge oder<br />
entscheiden sich für einen Zusammenschluss.<br />
Dies nicht selten<br />
ohne klare und realistische Zielvorstellungen.<br />
Nicht wenige Organisationen<br />
landen nach vollzogenen Zusammenschlüssen<br />
erst einmal in einer<br />
veritablen Unternehmenskrise.<br />
Dafür ist nicht die Fusion verantwortlich<br />
zu machen. Es sind die<br />
hausgemachten Fehler, die Fusionen<br />
scheitern lassen oder sich<br />
nach dem Start zu einem Debakel<br />
für die neue Organisation entwickeln:<br />
Die Komplexität der Veränderung<br />
wird unterschätzt oder zu<br />
stark simplifi ziert.<br />
Das Vorgehen ist zu schnell,<br />
um sichtbare Erfolge kurzfristig<br />
zeitigen zu können.<br />
Es gbt Fehler bei der Analyse<br />
der beteiligten Spitexorganisationen.<br />
Veränderungsprozess wird als<br />
Gewinner-Verlierer-Spiel inszeniert.<br />
Die Konfl iktkultur erlaubt<br />
nicht, Konfl ikte als Chance anzusehen<br />
und anzusprechen.<br />
Die Beteiligung der Betroffenen<br />
erfolgt zu spät.<br />
Visionen für den Zustand nach<br />
dem Zusammenschluss fehlen.<br />
42 NOVAcura 10|09<br />
Konkrete Fehler sind:<br />
Fusionen können kostenneutral<br />
erfolgen.<br />
Fusionskosten können nicht<br />
berechnet werden.<br />
Die Mitarbeitenden sollen arbeiten,<br />
es reicht, wenn sie sich<br />
nach der Fusion mit der neuen<br />
Organisation beschäftigen.<br />
Die Betriebsprozesse können<br />
nach der Fusion bearbeitet werden.<br />
Budget, Finanzplanung, Liquiditätsplanung<br />
usw. kann die<br />
neue Leitung der Organisation<br />
vor deren Start erstellen, es<br />
reicht, die Budgets der Vereine<br />
zusammenzuführen.<br />
Der neue Vorstand muss nichts<br />
von Spitex verstehen, wichtig<br />
ist, dass alle Interessengruppen<br />
und die Auftraggeber im Vorstand<br />
als Aufpasser vertreten<br />
sind.<br />
« Nicht wenige Organisationen<br />
landen nach<br />
vollzogenen Zusammenschlüssen<br />
erst einmal<br />
in einer veritablen<br />
Unternehmenskrise.»<br />
Am schlimmsten ist die Situation,<br />
wenn die beteiligten Vertreter der<br />
Organisationen und die Auftraggeber<br />
hinter der Bühne nicht oder<br />
nur zum Teil sichtbare Abmachungen<br />
treffen, um die alten<br />
Verhältnisse möglichst zu erhal-<br />
ten. Die Flucht «nach nirgendwo»<br />
gleicht dann einer Pokerpartie mit<br />
gezinkten Karten. Die Folge: ein<br />
Finanzdebakel, fehlende Investitionen,<br />
unzufriedene Mitarbeitende,<br />
überforderter Vorstand<br />
und überfordetes Management.<br />
Sich gezielt als Organisation<br />
entwickeln, <strong>wachsen</strong> und <strong>reifen</strong><br />
Entwicklungs- und Wachstumsprozesse<br />
sind komplexe Prozesse,<br />
die es zu gestalten und zu<br />
steuern gilt. Damit die Prozesse erfolgreich<br />
ablaufen, braucht es drei<br />
Eckpfeiler:<br />
politischen Voraussetzungen<br />
unternehmerisches Denken<br />
und Handeln<br />
professionelle Gestaltung des<br />
Entwicklungsprozesses<br />
Die politischen Verantwortlichen<br />
in den Gemeinden und Kantonen<br />
haben sich zusammen mit den<br />
Spitexorganisationen an einen<br />
Tisch zu setzen, um die Rahmenbedingungen<br />
für die Entwicklungs-<br />
und Wachstumsprozesse<br />
der Spitex festzulegen. Dies hat<br />
vor dem eigentlichen Fusionsprozess<br />
zu geschehen. Zu komplex ist<br />
die Entwicklung des Gesundheitswesens,<br />
als dass sich die Kantone<br />
auf die Aufgabenteilung zwischen<br />
den Gemeinden und dem Kanton<br />
berufen könnten.<br />
Für die Spitexorganisationen<br />
selbst ist es von grosser Bedeutung,<br />
dass der Zusammenschluss<br />
professionell gestaltet wird. Sinnvollerweise<br />
unterteilen die Beteiligten<br />
den Zusammenschluss in<br />
drei Phasen:
1. Phase Vorprojekt: umfasst alle<br />
Rahmenbedingungen des Fusionsprojektes.<br />
2. Phase Hauptprojekt: umfasst<br />
alle Arbeiten, die notwendig<br />
sind, um die Fusion zu vollziehen.<br />
3. Phase Umsetzung: Sie umfasst<br />
alle konkreten Arbeiten kurz<br />
vor und im ersten Jahr nach<br />
dem Start.<br />
Ebenso entscheidend ist auch,<br />
dass jede beteiligte Organisation<br />
überzeugt ist, den vereinbarten<br />
Weg wirklich beschreiten zu wollen.<br />
Aus diesem Grund lohnt es<br />
sich, im Vorfeld zu klären, mit<br />
welchen Partnerorganisationen<br />
man den Weg des Zusammenschlusses<br />
gehen will.<br />
Prozess der Entwicklung und des<br />
Wachstums hört nicht auf Nach<br />
dem Zusammenschluss intensiviert<br />
sich der Entwicklungsprozess.<br />
Es ist aus diesem Grund<br />
wichtig, dass die neue Organisation<br />
weiss, welche Ziele sie in Zukunft<br />
erreichen will und welche<br />
Arbeiten zu erledigen sind. Nur so<br />
kann die Organisation die im Zusammenschluss<br />
begonnene Entwicklung<br />
und das angestrebte<br />
Wachstum erfolgreich steuern<br />
und gestalten. Vor dem Start<br />
sind folgende Arbeiten zu erledigen:<br />
Die strategischen und operativen<br />
Ziele sind aufeinander abgestimmt<br />
und für die ersten<br />
drei Jahre nach dem Start verbindlich<br />
festgelegt.<br />
Es besteht eine verbindliche<br />
Unternehmensplanung für die<br />
strategische und die operative<br />
Ebene in den ersten zwei Betriebsjahren.<br />
Die Ressourcen und Rahmenbedingungen<br />
sind für die ersten<br />
zwei Betriebsjahre gesichert,<br />
um die Ziele bzw. die<br />
Unternehmensplanung zu erreichen<br />
und umzusetzen.<br />
Mit der neuen Organisation entsteht<br />
eine neue Betriebskultur.<br />
Diese ist das Schmiermittel erfolgreicher<br />
Entwicklungen. Im Wesentlichen<br />
sind es fünf Punkte,<br />
die für die Mitarbeitenden entscheidend<br />
sind, um sich auf eine<br />
neue Kultur einzulassen:<br />
1. Transparente und glaubwür-<br />
dige Information bezüglich des<br />
Projektes<br />
2. Einbezug der Mitarbeitenden<br />
ins Projekt<br />
3. Umgang mit den Mitarbeitenden<br />
während des Projektes<br />
4. Feste, Apéro und Zusammenkünfte,<br />
um sich gegenseitig<br />
kennenzulernen<br />
5. Gute Kulturelemente aus dem<br />
Vorfeld des Zusammenschlusses<br />
werden gezielt in die neue<br />
Organisation übernommen.<br />
Das Entstehen einer neuen Betriebskultur<br />
braucht Zeit. Aus diesem<br />
Grund sind für den Aufbau<br />
der neuen Betriebskultur Ressourcen<br />
bereitzustellen.<br />
Die Quintessenz Bei so komplexen<br />
Projekten wie Zusammenschlüssen<br />
von verschiedenen Organisationen<br />
sind Konfl ikte nicht<br />
zu vermeiden. Entscheidend ist<br />
immer der Umgang damit. Sollen<br />
die Konfl ikte gelöst werden, dürfen<br />
sie nicht abgewertet und als<br />
Entschuldigung für Unzulänglichkeiten<br />
des Projektes benutzt werden.<br />
Eine professionelle Gestaltung<br />
des Zusammenschlusses unter<br />
fachkundiger Leitung kann<br />
hier eine grosse Hilfe sein. Dies<br />
vor allem dann, wenn die Beteiligten<br />
im Vorprojekt eine Vereinbarung<br />
abgeschlossen haben, wie<br />
mit Konfl ikten umzugehen ist.<br />
Die Zusammenschlüsse müssen<br />
von den Mitarbeitenden mitgetragen<br />
werden. Das bedeutet für<br />
viele, dass sie ihre Arbeitsweise<br />
und die Haltung zur Arbeit überprüfen<br />
und ändern müssen. Dies<br />
verläuft nie reibungslos. Es macht<br />
Sinn, diesem Punkt durch die ProjektverantwortlichenAufmerksamkeit<br />
zu schenken. Die tragenden<br />
und gut qualifi zierten Mitarbeitenden<br />
reagieren stark, wenn<br />
Veränderungen in der Arbeit unausweichlich<br />
sind. Die neue Organisation<br />
ist auf sie angewiesen,<br />
will sie für ihre Klienten die reibungslose<br />
Versorgung nach dem<br />
Zusammenschluss sicherstellen.<br />
Ist die Entwicklung positiv? Die<br />
Frage ist nicht einfach zu beantworten.<br />
Ob die Beteiligten in einem<br />
Zusammenschluss die Entwicklung<br />
positiv bewerten, hängt<br />
stark vom Projekt und dessen Voraussetzungen<br />
ab.<br />
Blickt man auf die Spitexentwicklung<br />
generell, kann man die<br />
Frage mit Ja beantworten. Die Zusammenschlüsse<br />
bringen einige<br />
Vorteile:<br />
Die Spitexorganisationen werden<br />
grösser und damit einfl ussreicher<br />
und gestärkt im Gesundheitswesen.<br />
Neue und komplexere Aufgaben<br />
in der Pfl ege können übernommen<br />
werden.<br />
Es entstehen interessante und<br />
gesicherte Arbeitsplätze in der<br />
Spitex.<br />
Die Spitexorganisationen können<br />
ihre Organisation, ihre Betriebsabläufe<br />
und Dienstleistungen<br />
professionalisieren.<br />
« Die Zusammenschlüsse<br />
müssen von den Mitarbeitenden<br />
mitgetragen<br />
werden.»<br />
Wie geht es weiter in der Zukunft?<br />
Eine «Wetterprognose»<br />
im Gesundheitswesen zu erstellen,<br />
ist zum heutigen Zeitpunkt<br />
nur begrenzt möglich. Weitere<br />
Spitexzusammenschlüsse werden<br />
unausweichlich sein. Das Tempo<br />
in diesem Bereich wird sich erhöhen,<br />
und zwar aufgrund des<br />
Druckes von aussen, der auf die<br />
kleinen und mittleren Spitexorganisationen<br />
ausgeübt wird. Auch<br />
Zusammenschlüsse zwischen Heimen,<br />
Spitex und Spitälern sind in<br />
den nächsten Jahren früher oder<br />
später zu erwarten, um die Versorgungskette<br />
im Gesundheitswesen<br />
zu optimieren.<br />
Die Spitex ist eine Wachstumsbranche<br />
aufgrund der Bevölkerungsentwicklung<br />
und der veränderten<br />
Behandlungsmethoden in<br />
der Medizin. Sie ist dadurch ein<br />
Arbeitsgebiet mit Zukunft. Wer<br />
gerne in einem sich stark verändernden<br />
Gesundheitsbereich arbeitet,<br />
Veränderungen in der Organisation<br />
und in den Spitexleistungen<br />
akzeptieren und schätzen<br />
kann, der fi ndet in der Spitex ein<br />
Arbeitsfeld mit vielen spannenden<br />
Herausforderungen. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Spitex<br />
Der Autor hat zahlreiche<br />
Spitexzusammenschlüsse<br />
als Berater begleitet und<br />
als Projektleiter durchgeführt.<br />
Für Vorstände und<br />
Kader von Spitexorganisationen<br />
bietet er den<br />
Workshop «Alleingang,<br />
Kooperation, Fusion» an<br />
zur Klärung der eigenen<br />
Position, bevor sich Institutionen<br />
für einen Weg<br />
entscheiden.<br />
Weitere Informationen:<br />
www.<strong>bops</strong>.ch<br />
43
Spitex<br />
Elisabeth Conte arbeitet<br />
als Pfl egeexpertin<br />
HöFA 2 bei der Interkantonalen<br />
Spitex-Stiftung<br />
in Wilen/Sarnen. In dieser<br />
Funktion bietet sie<br />
Beratung und Weiterbildung<br />
für den Bereich<br />
der Hilfe und Pfl ege in<br />
der Spitex an.<br />
e.conte@prospitex.ch<br />
In den Ruhestand<br />
«Nach einem langen, engagierten und arbeitsreichen Berufsleben tritt<br />
nun unsere liebe Kollegin in den wohlverdienten Ruhestand» – so etwa<br />
könnte es bei der Verabschiedung einer Mitarbeitenden auch aus dem<br />
Pfl egeberuf tönen. Dann gäbe es sicher noch einen schönen Apéro und<br />
ein nettes Geschenk von den Kolleginnen. Und dann? Wars das?<br />
Der Ausstieg aus dem Erwerbsleben<br />
ist immer eine äusserst emotionale<br />
Angelegenheit. Manchmal<br />
ist er sehnlichst herbeigewünscht,<br />
um endlich selbstbestimmt leben<br />
zu können, und manchmal fällt<br />
das Abschiednehmen von der Arbeitswelt<br />
enorm schwer und kann<br />
beinahe nicht bewältigt werden.<br />
Ein paar Angaben zum beruflichen<br />
Werdegang von Frieda<br />
Winis törfer: 1972 schloss sie in<br />
Solothurn die Ausbildung in allgemeiner<br />
Krankenpfl ege (AKP) ab<br />
und machte, wie damals üblich,<br />
das sogenannte Pfl ichtjahr im Spital<br />
Solothurn. Anschliessend bildete<br />
sie sich zur «Operationsschwester»<br />
weiter und arbeitete<br />
während drei Jahren im Spital Solothurn<br />
im Operationssaal (OPS).<br />
Später zog sie von Solothurn nach<br />
Oberkirch und arbeitete in Sursee,<br />
später in Olten im OPS. Sie sei jedoch<br />
nie eine «begeisterte OPS-<br />
Schwester» gewesen, berichtet sie<br />
mir. Sie sei damals eher einer Idee<br />
als ihrem Herzen gefolgt.<br />
1977 heiratete sie, gebar später<br />
eine Tochter und einen Sohn.<br />
Trotz Familienpfl ichten blieb sie<br />
stets mit einem Fuss im Berufsleben<br />
und arbeitete in Olten auf Abruf<br />
auf der Notfallstation.<br />
Die Aussage «In die Spitex gehe<br />
ich erst arbeiten, wenn man mich<br />
nirgendwo sonst mehr brauchen<br />
kann» stammt tatsächlich von<br />
44 NOVAcura 10|09<br />
Gerade wegen dieser hohen<br />
Emotionalität ist eine sorgfältige<br />
und umfassende Vorbereitung auf<br />
die eigene Pensionierung oder die<br />
Pensionierung von Mitarbeitenden<br />
sehr wichtig. Es liegt auch in<br />
der Verantwortung eines Betriebs,<br />
seinen Mitarbeitenden diese Vorbereitung<br />
zu ermöglichen. Eine<br />
Elisabeth Conte und Walter Wyrsch<br />
gute Vorbereitung umfasst neben<br />
fi nanziellen auch psychologische<br />
und soziale Aspekte.<br />
Gespräche mit zwei langjährigen<br />
Spitex-Mitarbeitenden, die<br />
kurz vor dem Austritt aus dem Erwerbsleben<br />
stehen, geben einen<br />
Einblick in die Situation.<br />
«In die Spitex gehe ich erst arbeiten, wenn man<br />
mich nirgendwo sonst mehr brauchen kann ...»<br />
Elisabeth Conte sprach mit Frieda Winistörfer, Leiterin<br />
Pfl egedienst Spitex in Kriegstetten<br />
Frieda. Dieser Satz ist jedoch nicht<br />
gegen die Spitex gerichtet. Er<br />
folgte auf schlechte Erfahrungen<br />
im Spitex-Praktikum, als sie noch<br />
Lernende war.<br />
Als ihre Kinder einen gewissen<br />
Grad an Selbstständigkeit gewonnen<br />
hatten, entschloss sie sich zu<br />
Schnuppertagen bei der Spitex<br />
Kriegstetten. Nach diesem Einblick<br />
in die Spitex, der ihr ganz<br />
gut gefallen hatte, wurde sie für<br />
sechs Monate «Bademeisterin Spitex».<br />
Das heisst, sie kam vor allem<br />
dann zum Einsatz, wenn Klient/innen<br />
ein Vollbad brauchten.<br />
Gegen Ende 1986 erhielt sie dann<br />
einen Arbeitsvertrag auf Abruf<br />
und arbeitete, ganz nach Bedarf<br />
der Spitex, ein Wochenende pro<br />
Monat und ein bis zwei Halbtage<br />
pro Woche.<br />
Doch die Verantwortung liess<br />
nicht lange auf sich warten. 1991<br />
übernahm sie die stellvertretende<br />
Leitung Pfl ege zu 40 bis 60 Prozent<br />
und engagierte sich in der<br />
Ausbildungsbegleitung von Lernenden.<br />
Acht Jahre später über-<br />
nahm sie die Leitung ganz und<br />
arbeitet inzwischen gut 23 Jahre<br />
in der Spitex.<br />
Spitex vor 20 Jahren Die Dokumentation<br />
der Arbeit war damals<br />
minimal. Es gab eine Karteikarte,<br />
auf der für den Verlaufsbericht<br />
nicht üppig Platz war – aber so<br />
viele Verlaufskommentare waren<br />
ja auch nicht notwendig. Verordnungsblätter<br />
kannte sie ebenfalls<br />
nicht, und selbst die Pfl egemassnahmen<br />
waren nicht schriftlich<br />
festgelegt. Einmal stand Frieda<br />
Winistörfer vor einem Patienten,<br />
der Diabetiker war und Insulin<br />
brauchte. Sie hatte aber keine<br />
schriftlichen Unterlagen, aus denen<br />
ersichtlich gewesen wäre,<br />
wie viele Einheiten der Mann<br />
brauchte. Peinlich! Von da an begann<br />
sie aus eigener Initiative ein<br />
Heft zu führen, in dem sie die<br />
Pfl egemassnahmen festhielt und<br />
den Verlauf dokumentierte. Auch<br />
die Art, wie da Verbandwechsel<br />
gemacht wurden, blieb ihr lebhaft<br />
in Erinnerung. Der Patient wies<br />
sie an, das schmutzige Verbandsmaterial<br />
auf eine Zeitung am Boden<br />
zu legen. Dieses Päckli kam<br />
dann so in den Kehricht. Hand-
schuhe waren zu teuer. Immerhin<br />
gab es sterile Instrumente, aber<br />
das konnte ihr Hygienegewissen<br />
als ehemalige OP-Schwester nicht<br />
beruhigen.<br />
Die Krankenkasse musste Spitexleistungen<br />
nicht immer übernehmen,<br />
und das Personal bestand<br />
aus der Leitung und sogenannten<br />
«Stundenlöhner/innen».<br />
Darunter war auch eine Pfl egende,<br />
die keinen Abschluss gemacht<br />
hatte. Hauswirtschaft gab es innerhalb<br />
der Spitexorganisation<br />
nicht. Das übernahmen die<br />
Frauen- und Samaritervereine.<br />
Besser wurde die Situation, als<br />
sich die Gemeinden zusammenschlossen<br />
und eine Administratorin<br />
angestellt wurde. Dazu kam<br />
die externe Beratung. Nun ging es<br />
stetig aufwärts.<br />
Spitex heute Heute gibt es Hygienekonzepte,<br />
und die Spitex erreicht<br />
den Standard der Spitäler.<br />
Schriftliches, so meint Frieda Winistörfer,<br />
gebe es eher zu viel. Da<br />
müssen die ärztlichen Verordnungen<br />
ausgefüllt werden, die Krankenkasse<br />
verlangt Belege für Pfl egestunden<br />
und Material. Was soll<br />
dieses Misstrauen, fragt sie sich.<br />
Sie möchte ihre Zeit lieber für die<br />
Patienten einsetzen.<br />
Die Dokumentation hat heute<br />
einen ganz anderen Stellenwert.<br />
Die Spitex Kriegstetten arbeitet<br />
mit Pfl egediagnosen, erstellt Pfl egeplanungen,<br />
schreibt Verlaufsberichte.<br />
Jede Pfl egende weiss ganz<br />
genau, was ihr Auftrag ist, und<br />
kann diesen auch nachlesen.<br />
Meilensteine in der Spitexentwicklung<br />
sind für Frieda Winistörfer<br />
die Übernahme der Kosten<br />
durch die Krankenkassen und die<br />
Anerkennung, die die Spitex in<br />
der Öffentlichkeit inzwischen geniesst.<br />
Sie kann gut ausgebildetes<br />
Personal einsetzen, die Zusammenarbeit<br />
mit Ärzten und Spitälern<br />
ist selbstverständlich. Spitex<br />
ist eine anerkannte Partnerin im<br />
Gesundheitswesen. Es gäbe zwar<br />
Situationen mit älteren Ärzten, da<br />
müsse sie auch heute noch versichern:<br />
«... doch, doch, wir können<br />
das!»<br />
Persönliche Veränderungen durch<br />
die Arbeit in der Spitex Sie habe<br />
Selbstsicherheit gewonnen im<br />
Umgang mit den verschiedenen<br />
«Herren» – seien es Ärzte, Politiker<br />
oder Personen aus dem Vorstand.<br />
Inzwischen könne sie auch kompetenter<br />
argumentieren und auftreten.<br />
Da hätten der Management-Grundkurs<br />
dazu beigetragen,<br />
Erfahrungen in der Ausbildungsbegleitung<br />
von Lernenden<br />
und die regelmässigen Tagungen<br />
für Ausbildungsbegleiter/innen,<br />
welche die Schule in Sarnen anbot.<br />
Sie selber sei aber auch immer<br />
aktiv gewesen und nie Gefahr gelaufen,<br />
auf erworbenen Lorbeeren<br />
auszuruhen.<br />
Älter werden im Beruf Auf dieses<br />
Thema angesprochen, beginnt<br />
Frieda Winistörfer nicht etwa Beschwerden<br />
aufzuzählen, die die<br />
Schwerarbeit Pfl ege doch mit sich<br />
bringen könnte. Sie spricht davon,<br />
dass sie seitens der Klienten<br />
und Mitarbeiterinnen viel Offenheit<br />
und Vertrauen erfährt. Sie<br />
fühlt sich physisch und psychisch<br />
aktiv und munter. Höchstens kurz<br />
vor den Ferien kann es zu einem<br />
kurzen Energietief kommen.<br />
Überdruss in der Spitexarbeit<br />
kennt sie nicht. Das war in jener<br />
Zeit, als sie als Operationsfachfrau<br />
arbeitete, öfters der Fall. Natürlich<br />
gab es auch Krisen, mit Mitarbeiter/innen<br />
zum Beispiel. Aber die<br />
Pfl ege macht ihr viel Freude. Vielleicht<br />
brauche sie etwas mehr Zeit<br />
als jüngere Kolleginnen. Doch<br />
diese Zeit sei gut investiert in Gespräche<br />
und präventive Aktionen,<br />
fi ndet sie. Die Lebenserfahrung<br />
bringt es mit sich, dass sie die<br />
Komplexität gewisser Pfl egesituationen<br />
intuitiv wahrnimmt. Sie<br />
spürt, wenn da noch etwas im<br />
Hintergrund brodelt. Oder sie<br />
fragt nach, wenn etwas in der Luft<br />
NOVAcura 10|09<br />
Spitex<br />
Die Spitex Kriegstetten<br />
betreut insgesamt beinahe<br />
14 000 Einwohnerinnen<br />
und Einwohner in<br />
14 verschiedenen Gemeinden.<br />
Diese Umfassen<br />
die Agglomeration Solothurn<br />
und ganz ländliche<br />
Gebiete.<br />
Frieda Winistörfer im<br />
Heilkräuter-Garten der<br />
Spitex Kriegsstetten,<br />
von dem Spitex-Kunden<br />
profi tieren in Form von<br />
Wickeln und Aufl agen.<br />
Foto: zVg<br />
45
Spitex<br />
Die Spitex Reusstal hat<br />
ihren Sitz im luzernischen<br />
Root und versorgt 13 000<br />
Einwohnerinnen und Einwohner,<br />
verteilt über<br />
6 Gemeinden, mit Spitex-<br />
Leistungen. Sie ist im<br />
Grenzgebiet zu Zug und<br />
Aargau tätig. Eine Gemeinde<br />
liegt denn auch<br />
im Kanton Aargau, damit<br />
ist die Spitex Reusstal<br />
eine der wenigen interkantonalenSpitex-Organisationen.<br />
liegt. Und wenn dieses Etwas<br />
dann Platz braucht, nimmt sie<br />
sich auch Zeit dafür oder vereinbart<br />
einen Termin für ein späteres<br />
Gespräch.<br />
Gefühle in Bezug auf die Pensionierung<br />
Frieda Winistörfer freut<br />
sich auf ihre Pensionierung, die in<br />
Sichtweite kommt. Sie wird Zeit<br />
haben für ihre Hobbys, für Besuche,<br />
für Haus und Garten. Es<br />
gibt so vieles, was bisher immer<br />
hintenanstehen musste. Sicher,<br />
manchmal kommen ihr auch Fragen:<br />
Wird sie die Zeit gut ausfüllen<br />
können? Könnte Langeweile<br />
aufkommen?<br />
Doch gegen Langeweile sind<br />
die Grosskinder eine gute Therapie!<br />
Konkrete Aktionen plant sie<br />
nicht für die Zeit nach der Pensionierung.<br />
Sie lässt die Dinge auf<br />
sich zukommen. Doch, da fällt<br />
ihr plötzlich ein Traum ein:<br />
Sie könnte sich vorstellen, eine<br />
Gruppe von Sterbebegleiter/innen<br />
«Eigentlich wollte ich gar nicht<br />
in einen Pfl egeberuf»<br />
Walter Wyrsch sprach mit Cornelia Jeuch, Leiterin<br />
Kerndienste, Spitex Reusstal, Root<br />
Cornelia Jeuch arbeitet seit 20 Jahren<br />
als Pfl egefachfrau in der Spitex.<br />
Ihre Pfl egeausbildung hat sie<br />
erst mit 42 Jahren begonnen. Erst<br />
war sie als Pharmaassistentin,<br />
dann als gelernte Sozialpädagogin<br />
tätig.<br />
Seit dem Abschluss ihrer Pfl egeausbildung,<br />
die sie an der<br />
Schule für Gemeindekrankenpfl<br />
ege in Sarnen absolviert hatte,<br />
war sie ausschliesslich im Arbeitsfeld<br />
der Spitex aktiv. Heute leitet<br />
sie den Pfl egedienst einer Spitex<br />
in der Region der Stadt Luzern.<br />
«Eigentlich wollte ich gar nicht<br />
in den Pfl egeberuf wechseln, aber<br />
die Möglichkeit, Menschen zu<br />
Hause zu betreuen, das Arbeitsfeld<br />
Spitex, hat mich letztlich doch bewogen,<br />
noch eine Ausbildung<br />
anzupacken und in einen neuen<br />
Bereich zu wechseln.» Cornelia<br />
Jeuch zeigt im gesamten Gespräch<br />
46 NOVAcura 10|09<br />
ins Leben zu rufen, falls das gefragt<br />
ist. Damit Sterben zu Hause immer<br />
öfters möglich wird in der Spitex.<br />
Faszination Spitex Den Patienten<br />
in seiner Umgebung pfl egen<br />
können. Menschen nehmen, wie<br />
sie sind – da ist eine so enorme<br />
Vielfalt, und diese fasziniert Frieda<br />
stets neu. Zusammenarbeiten mit<br />
Angehörigen, mit anderen Diensten.<br />
Menschen sind das Faszinierende<br />
an der Spitex!<br />
Was Frieda gerne hinter sich<br />
lässt Bei diesem Punkt muss sie<br />
doch etwas länger überlegen. Unzufriedene<br />
Kunden lässt sie leichten<br />
Herzens zurück. Die vielen<br />
Papiere können ihr gestohlen<br />
bleiben, und der sogenannten<br />
«unverrechenbaren Arbeitszeit»<br />
wird sie keine Sekunde nachtrauern.<br />
«Unverrechenbare Arbeitszeit<br />
sollte eigentlich zum Unwort des<br />
Jahres erkoren werden! Gemeint<br />
ist jene Zeit, die nicht über die<br />
immer wieder auf, was sie mit diesem<br />
«Menschen zu Hause pfl egen»<br />
meint und welche Chancen<br />
und Möglichkeiten sie darin sieht.<br />
Dass die Pfl egebedürftigen und<br />
ihre Angehörigen den «Heimvorteil»<br />
haben, ist für sie Teil der professionellen<br />
Einstellung.<br />
Cornelia beschreibt grosse Veränderungen,<br />
die sie im Laufe der<br />
Zeit in der Spitex-Berufswelt erlebt<br />
hat. Dabei legt sie den Fokus<br />
zuerst auf den heute sehr professionellen<br />
Stand in der Spitex.<br />
Nicht nur der gesamte Betrieb,<br />
sondern auch die Trägerschaften<br />
seien heute, neben dem grossen<br />
Engagement, auch mit viel Fachwissen<br />
tätig. Die Organisationen<br />
mussten sich dauernd mit den gesundheitspolitischen<br />
und weiteren<br />
politischen Entwicklungen<br />
auseinandersetzen und sich diesen<br />
anpassen. Zu Beginn des Be-<br />
Versicherungen abgerechnet werden<br />
kann und die von den Vorständen<br />
nicht geschätzt wird, weil<br />
sie am Spitexbudget bzw. an den<br />
Finanzen der Gemeinden nagt.<br />
Für die Spitex-Zukunft wünscht<br />
sich Frieda, dass die administrativen<br />
Arbeiten nicht weiter zunehmen.<br />
Sie hofft darauf, dass auch<br />
künftig kompetentes und menschliches<br />
Personal eingestellt werden<br />
kann. Gerne möchte sie zum gegebenen<br />
Zeitpunkt von qualitativ<br />
hochstehenden Spitexdiensten<br />
profi tieren können. Sie wünscht,<br />
dass mit den Geldern für die Spitex<br />
nicht geknausert wird. Das erfordert<br />
ihrer Ansicht nach nicht<br />
zuletzt menschliche, offene Politiker;<br />
weitsichtige Personen im<br />
Gesundheitswesen, welche Verständnis<br />
aufbringen für alte und<br />
kranke Menschen sowie für die<br />
Situation der Spitex-Pfl egenden<br />
und die dieses Verständnis auch<br />
mit Kompetenz umsetzen. ■<br />
rufslebens hatte Cornelia Jeuch in<br />
diesem Bereich auch in einige<br />
Schwierigkeiten hineingesehen:<br />
hilfl ose Vorstände und wenig<br />
kaufmännische Kenntnisse mussten<br />
oft nebenbei noch von den<br />
Pfl egenden kompensiert werden.<br />
Selbstverständlich veränderten<br />
sich auch die Pfl egesituationen.<br />
«Heute bearbeiten wir Situationen,<br />
in denen wir medizinisch<br />
und sozial grösste Herausforderungen<br />
zu Hause bewältigen. Da<br />
ist das sogenannte Casemanagement<br />
nicht mehr ein blosses<br />
Schlagwort! Unsere Aufgabe ist in<br />
den 20 Jahren, die ich überblicke,<br />
viel komplexer geworden. Komplex<br />
in dem Sinne, als die Situationen<br />
vielschichtiger sind, deutlich<br />
mehr und vielfältigerer Zusammenarbeitsbedarf<br />
vorhanden<br />
ist und die sozialen Netzwerke der<br />
Menschen teilweise fehlen oder<br />
nicht mehr verfügbar sind. Auch<br />
medizinisch betreuen wir heute<br />
sehr anfordernde und teilweise<br />
hochtechnische Pfl egesituationen.»<br />
Als Leiterin der Spitex ist sie<br />
aber im Alltag auch besonders<br />
von der Kurzfristigkeit betroffen,<br />
mit der heute in der Spitex Lösungen<br />
gefunden werden müssen.
«Manchmal sind wir einfach die<br />
Letzen in einer Kette, und da<br />
fühle ich mich den Klienten gegenüber<br />
verpfl ichtet, manchmal<br />
schier Unmögliches möglich zu<br />
machen.»<br />
Dies verlangt von ihr selbst,<br />
aber auch von allen andern Mitarbeitenden<br />
eine stetige Entwicklung<br />
und laufende Weiterbildung.<br />
Diese Verantwortung hat sie für<br />
sich wahrgenommen und lebt sie<br />
auch im Betrieb: «Ohne laufende<br />
Persönlich<br />
Wenn ich an eine pensionierte Pfl egefachperson<br />
denke, dann taucht bei mir<br />
zuerst das Bild von «Schwester Martha»<br />
auf. Sie ist heute bald 90 Jahre alt und an<br />
vielen Anlässen der Gemeinde und der<br />
Pfarrei in meinem Wohnort anzutreffen.<br />
Für viele im Dorf ist sie «Schwester<br />
Martha» geblieben, obwohl sie schon<br />
über 20 Jahre pensioniert ist. Zuvor war<br />
sie allerdings doppelt so lange die «Gemeindekrankenschwester»<br />
im Ort. Ob<br />
das wohl heute pensionierten Berufsleuten<br />
immer noch so hängen bleibt?<br />
Wahrscheinlich kaum, unsere Arbeitswelt<br />
ist heute professioneller und<br />
strukturierter geworden, die Institution<br />
steht im Vordergrund, nicht die pfl egende<br />
Einzelperson. Heute besucht eben «die<br />
Spitex» und nicht mehr «Schwester<br />
Martha» die Menschen zu Hause.<br />
Walter Wyrsch<br />
Weiterbildung und die Auseinandersetzung<br />
mit Neuem könnte ich<br />
im Alltag nicht bestehen.»<br />
Den Veränderungen kann man<br />
sich nicht verschliessen, man<br />
muss diese aktiv bewältigen. Vor<br />
einiger Zeit hat der Betrieb eine<br />
elektronische Zeit- und Leistungsverrechnung<br />
eingeführt. Sie meint<br />
denn auch, dass mit den heutigen<br />
Bedarfsabklärungen, den modernen<br />
Hilfsmitteln und einem zeitgemässen<br />
Fachwissen, ganz besonders<br />
im Bereich der Pfl egediagnostik,<br />
die Problemstellungen in<br />
der Pfl ege und Betreuung viel rascher<br />
erkannt werden können.<br />
Zum Älterwerden im Beruf befragt,<br />
meint Cornelia Jeuch, dass<br />
die Bewältigung des Arbeitsalltags<br />
nicht leichter werde. «Sicher, die<br />
Erfahrungen sind vielfältig, und<br />
ich kann mein Wissen in einem<br />
hohen Mass vernetzen, aber ich<br />
bin nicht mehr immer so blitzschnell.»<br />
Die grosse Hektik ist<br />
denn auch ein Grund, weshalb<br />
sich Cornelia Jeuch für eine vorzeitige<br />
Pensionierung entschieden<br />
hat. Sie wird den Betrieb mit<br />
63 Jahren, im August 2010, verlassen.<br />
Die Planung dieses Ausstiegs<br />
hat sie schon mit 60 Jahren begonnen,<br />
da galt es natürlich zuerst,<br />
die fi nanziellen Aspekte zu<br />
berücksichtigen. Mit dem vorzeitigen<br />
Ruhestand geht in dieser Be-<br />
rufssparte eine fi nanzielle Einbusse<br />
einher. Für Cornelia Jeuch war<br />
es aber auch wichtig, diese Planung<br />
dem Arbeitgeber und ihrem<br />
Team transparent zu machen.<br />
Dies geschah bereits im Sommer<br />
2008. Leicht fi el ihr das nicht.<br />
Schliesslich betont Cornelia Jeuch<br />
immer wieder das ausgezeichnete<br />
Verhältnis der Mitarbeitenden untereinander<br />
und ihren guten<br />
Draht zu den Verantwortlichen in<br />
der Trägerschaft und der Gesamtleitung.<br />
Hier drückt auch ein wenig<br />
Wehmut durch, etwas zurückzulassen,<br />
wofür sie sich stark engagiert<br />
hat und worin sie auch<br />
schöne Erfolge erreicht hat.<br />
Für die Zeit nach der Pensionierung<br />
hat Cornelia Jeuch schon<br />
viele Überlegungen angestellt und<br />
Pläne geschmiedet. Auf die Frage,<br />
ob sie denn nicht befürchte, nachher<br />
in ein Loch zu fallen, meint<br />
sie: «Nein, ganz sicher nicht. Ich<br />
werde aber auch nicht einfach einen<br />
Schnitt machen und mich<br />
nicht mehr engagieren, ich werde<br />
ganz sicher ehrenamtliche Engagements<br />
übernehmen.» Da wird<br />
sie bestimmt nicht lange auf vielfältigste<br />
Anfragen warten müssen,<br />
schliesslich sind «jung pensionierte»<br />
Leute mit vielfältigen Fähigkeiten<br />
und Kenntnissen in Zukunft<br />
enorm gesucht, fast noch<br />
mehr als Pfl egefachleute. ■<br />
NOVAcura 10|09<br />
Spitex<br />
Für die Zeit nach der<br />
Pensionierung hat<br />
Cornelia Jeuch bereits<br />
einige Pläne.<br />
Foto: zVg<br />
Walter Wyrsch ist Pfl egefachmann,Er<strong>wachsen</strong>enbildner<br />
und Executive<br />
Master in «Social<br />
Services an Healthcare<br />
Management».<br />
w.wyrsch@prospitex.ch<br />
47
Bildung Transfer-Coaching<br />
im Pfl egestudium<br />
Lucie Schmied-Fuchs,<br />
MAS NPM, Leitung Ressort<br />
Praxisausbildung,<br />
Studiengang Pfl ege,<br />
Berner Fachhochschule<br />
Gesundheit.<br />
lucie.schmied@bfh.ch<br />
Markus Berner, Pfl egeexperte<br />
HöFa II, Privatklinik<br />
Wyss AG in Münchenbuchsee.<br />
m.berner@privatklinik-wys<br />
Der Studiengang zum Bachelor of Science in Pfl ege an der Berner Fachhochschule<br />
(BFH) bereitet durch seine Praxisorientierung auf eine Tätigkeit vor, die eine hohe<br />
Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz sowie die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
in der Praxis erfordert. Bachelor-Pfl egende zu ihren Berufskompetenzen<br />
hinzuführen, wird als gemeinsame Aufgabe von Fachhochschule und Praxis verstanden<br />
und widerspiegelt sich unter anderem im Konzept des Transfer-Coachings<br />
(TC). Lucie Schmied-Fuchs und Markus Berner<br />
Transfer Coaching (TC) Der Begriff<br />
Transfer wird als Übertragung<br />
einer Denk- oder Lernleistung abstrakter<br />
oder praktischer Art auf<br />
eine andere beschrieben: Der<br />
Transfer ist umso grösser, je mehr<br />
Elemente einer Situation mit denen<br />
einer anderen übereinstimmen<br />
(Holdener, 1999). Coaching<br />
versteht sich in diesem Konzept<br />
als professionelle individuelle<br />
Beratung im berufl ichen Kontext.<br />
Zielsetzungen des TC Im TC befassen<br />
sich die Studierenden mit<br />
der gezielten Umsetzung von bachelorspezifi<br />
schen Inhalten des<br />
Studienganges Pfl ege, der Evidence<br />
based Practice in ihrem Berufsfeld.<br />
Im Vordergrund stehen<br />
die Entwicklung der Fachkompetenzen<br />
und die Ausrichtung auf<br />
eine konsequente Wirkungsorientierung<br />
der Pfl ege. Wo immer<br />
möglich, werden im TC wissenschaftlich<br />
fundierte Erkenntnisse<br />
einbezogen, deren Wirksamkeit<br />
belegt ist. Daher ist die Unterstützung<br />
einer Praxismentorin mit<br />
wissenschaftlichem Know-how<br />
erforderlich.<br />
Die Inhalte der TC sind zudem<br />
fachbereichsspezifi sch ausgerichtet<br />
(Psychiatrie, Pädiatrie, Langzeitpfl<br />
ege usw.).<br />
Inhaltliche Beispiele:<br />
Kennenlernen von Instrumenten<br />
zur Schmerzerfassung oder<br />
Dekubituseinschätzung (Risikomanagement)<br />
Einschätzen der Patientensituation,<br />
Pfl egeprozess, Pfl egediagnostik<br />
Ethik, Besprechung von Pfl ege-<br />
48 NOVAcura 10|09<br />
situationen, fundierte Argumentation<br />
Einschätzung der Ernährungssituation<br />
bei Mangelernährung<br />
Rahmenbedingungen Die Studierenden<br />
habe pro Woche Anrecht<br />
auf drei Stunden TC mit der<br />
Praxismentorin. Die Praxismentorin<br />
ist eine wissenschaftlich<br />
ausgebildete Pfl egefachperson<br />
(Höfa II, FH). Eine Gruppe umfasst<br />
vier bis maximal fünf Studierende<br />
im TC. Betriebe können<br />
institutionsüberg<strong>reifen</strong>d zusammenarbeiten.<br />
Umsetzung in der Berufspraxis<br />
Das TC-Konzept wurde durch die<br />
Ausbildungsverantwortlichen in<br />
den Betrieben gutgeheissen und<br />
wird nun seit drei Jahren erfolgreich<br />
umgesetzt. Angepasst an die<br />
Grösse der Institution, die Ausbildungsstrukturen<br />
und die personelle<br />
Situation sind interessante<br />
Konzepte entstanden.<br />
Die Studierenden erleben das<br />
TC als äusserst lehrreich, fühlen<br />
sich von kompetenten Fachleuten<br />
unterstützt und erleben Modelle<br />
und Vorbilder für ihr Berufsleben.<br />
Nachfolgend wird das Konzept<br />
der Universitären Psychiatrischen<br />
Klinik Bern und der Psychiatrischen<br />
Privatklinik Wyss, Münchenbuchsee,<br />
vorgestellt.<br />
Üben und Refl ektieren Im Rahmen<br />
der Bachelorstudiengänge<br />
bieten die beiden Kliniken den<br />
Studierenden das TC als integralen,<br />
obligatorischen Bestanteil der<br />
Praxisausbildung an. Die Studierenden<br />
kommen aus den Kliniken<br />
Psychiatriezentrum Münsingen,<br />
Schlössli Biel, Universitäre Psychiatrische<br />
Dienste Bern und der Privatklinik<br />
Wyss, Münchenbuchsee.<br />
Im TC geht es um den persönlichen<br />
und fachlichen Umgang<br />
mit berufl ichen Aufgaben und<br />
Rollen. Das Lernziel besteht in der<br />
Klärung und Weiterentwicklung<br />
der berufl ichen Kompetenzen<br />
und Identität. Zentrale Aufgabe<br />
des Praxismentors ist es, die<br />
Studierenden in ihrem Lernprozess<br />
zu motivieren, zu beraten, die<br />
Lernziele festzulegen und die Integration<br />
von Theorie und Praxis<br />
zu unterstützen.<br />
Einerseits werden Handlungen<br />
geübt und in den Kontext gestellt,<br />
andererseits können Erfahrungen<br />
refl ektiert werden. Bei der Arbeit<br />
im Praxisfeld geht es für die Studierenden<br />
speziell darum, Methoden<br />
und Techniken der Pfl ege unter<br />
fachlicher Begleitung einzuüben<br />
und theoretische Ansätze<br />
auf ihre praktische Umsetzung<br />
hin kritisch zu refl ektieren.<br />
Selbststudium ist wichtiger Bestandteil<br />
Aus organisatorischen<br />
Gründen fi ndet das TC vierzehntäglich<br />
à je sechs Unterrichtsstunden<br />
statt. Zwischen zwei TCs steht<br />
den Studierenden ein Selbststudiumstag<br />
zur Verfügung. Sie erhalten<br />
zu Beginn des Praktikums<br />
einen Stundenplan. Darin sind, je<br />
nach Semester, Arbeitsaufträge für<br />
das Selbststudium formuliert. Die<br />
Ergebnisse aus dem Selbststudium<br />
werden jeweils im TC vorgestellt<br />
und durch die Lerngruppe kritisch<br />
betrachtet und refl ektiert. Zudem
erhalten die Studierenden von der<br />
Praxismentorin fachliche Inputs<br />
zu ausgewählten psychiatriespezifi<br />
schen Themen.<br />
Drei Praxiseinsätze Im ersten<br />
Praktikumseinsatz befassen sich<br />
die Studierenden mit ethischen<br />
Problemstellungen auf der Station.<br />
Sie refl ektieren die Situation<br />
mit einer ethischen Theorie. Das<br />
Thema Ethik wird mit einem<br />
Fachvortrag über Macht und<br />
Ohnmacht in der Psychiatrie abgerundet.<br />
Im Weiteren verfassen<br />
die Studierenden eine Fallbeschreibung<br />
ihres Bezugspatienten,<br />
vertiefen ihre Kenntnisse über die<br />
Bezugsquellen<br />
Bestattung<br />
Rudolf Egli AG<br />
Industriestrasse 4<br />
6215 Beromünster<br />
Tel. 041 930 17 15<br />
office@eglisarg.ch<br />
Bestattungswäsche<br />
Heimverwaltung<br />
Simultan HEIM<br />
Heimverwaltung<br />
Pflegedokumentation<br />
Sage Simultan AG, 6246 Altishofen<br />
Tel. 062 748 90 00, Fax 062 748 90 10<br />
www.sagesimultan.ch<br />
auf der Station gebräuchlichen<br />
Assessment-Instrumente, die Pfl egeplanung<br />
und die Pfl egeevaluation.<br />
Im zweiten Praxiseinsatz widmen<br />
sich die Studierenden einer<br />
praxisrelevanten Fragestellung<br />
mit weiterführender Literaturrecherche,<br />
vertiefen sich in einem<br />
psychiatrischen Krankheitsbild,<br />
erarbeiten ein Beratungskonzept<br />
für Patienten, die mit Psychopharmaka<br />
behandelt werden.<br />
Fachinputs erhalten die Studierenden<br />
zu Themen wie<br />
Beziehungsgestaltung<br />
Stigmatisierung<br />
Psychopharmaka<br />
Pflegehilfsmittel<br />
Therapiehilfen<br />
Pfl egeprozess und Pfl egediagnosen<br />
spezifi sche Pfl egekonzepte<br />
Im dritten Praktikum stehen die<br />
Themen Bezugspfl ege, Psycho-<br />
Edukation, Pfl egeplanung und<br />
psychische Krankheitsbilder im<br />
Zentrum. Im Weiteren üben die<br />
Studierenden das Leiten einer<br />
Fallbesprechung und die kollegiale<br />
Beratung ein.<br />
Die Studierenden arbeiten sehr<br />
engagiert und motiviert im TC<br />
mit. Bei der Evaluation des TC geben<br />
die Studierenden durchwegs<br />
positive Rückmeldungen über ihren<br />
Lernprozess. ■<br />
Fehlt Ihr Bezugsquellen-<br />
Eintrag auf dieser Seite?<br />
Frau Aldijana Selimovic und<br />
Herr Hans Balmer beraten Sie gerne.<br />
Telefon 062 212 25 55<br />
E-Mail: nova-inserate@<br />
balmerwerbung.com<br />
Ab Fr. 690.– pro Jahr sind<br />
Sie dabei!<br />
NOVAcura 10|09<br />
Bildung<br />
Im TC befassen sich die<br />
Studierenden mit der<br />
gezielten Umsetzung<br />
von bachelorspezifi -<br />
schen Inhalten des Studienganges<br />
Pfl ege, der<br />
Evidence based Practice<br />
in ihrem Berufsfeld.<br />
Foto: BFH<br />
49
Bildung Käse, Papageien<br />
und alte<br />
Hasen<br />
Jürgen Georg ist Pfl egefachmann,<br />
-lehrer, und<br />
-wissenschaftler<br />
(MScN). Sein «Käse»<br />
sind Pfl egediagnosen,<br />
seine «Papageien» heissen<br />
ChronoPfl ege und<br />
Pfl egebücher machen.<br />
juergen.georg@hanshuber.<br />
com<br />
Foto: Jürgen Georg<br />
Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben sich durch fast 50 Seiten NOVAcura hindurchgeschafft,<br />
Respekt! Sie haben über 20 Bilder betrachtet, möglicherweise etwa<br />
187 000 Zeichen gelesen und vermutlich die Hälfte davon wieder vergessen … Macht<br />
nichts, geht mir auch so. – Kommt Ihnen bei all der Lektüre zwischendurch nicht auch<br />
die ketzerische «Onkel-Wayne-Frage»? – «Wayn interessierts, was hat all das Gewachse<br />
und Gewerde mit mir zu tun?» – Recht haben Sie! Jürgen Georg<br />
Nähkästchen Eine Antwort auf<br />
Ihre berechtigte Frage kann in Ihrem<br />
Nähkästchen liegen. Holen<br />
Sie sich das bitte mal – ich erzähle<br />
derweil etwas aus meinem Nähkästchen<br />
und Kleintierzoo. – Haben<br />
Sie in Ihrem Nähkästchen ein<br />
Metermassband? Wunderbar, legen<br />
Sie den linken Daumen auf<br />
die Zahl, die Ihrem jetzigen Lebensalter<br />
entspricht. Vergleichen<br />
Sie diese Zahl mit der durchschnittlichen<br />
Lebenserwartung<br />
von Frauen (82,6 J.) und Männern<br />
(76,9 J.) in der Schweiz. Wie viel<br />
Zeit bleibt ihnen noch? – Schauen<br />
Sie auf Ihren linken Daumen, er<br />
liegt am ersten Lebensjahr und<br />
-tag Ihres restlichen Lebens. Nun<br />
gut, «der Rest Ihres Lebens» ist<br />
vielleicht etwas viel für einen<br />
zweiseitigen Artikel. Aber schauen<br />
Sie einmal genau hin, wo Ihr Daumen<br />
liegt. – Was haben Sie in den<br />
Jahren zuvor berufl ich gemacht?<br />
Welche Höhen und Tiefen gab es?<br />
Was haben Sie alles erfahren, gelernt<br />
und in Ihren «berufl ichen<br />
Proviantrucksack» gepackt, den<br />
Sie jetzt auf dem Rücken tragen?<br />
– Sicher eine ganze Menge, gut so!<br />
– Wagen Sie jetzt auf dem Metermassband<br />
einen Blick nach rechts,<br />
50 NOVAcura 10|09<br />
sagen wir fünf Ziffern weiter, das<br />
ist ein kleines Stück auf dem Massband,<br />
aber es können auch fünf<br />
Lebensjahre sein. Wie alt werden<br />
Sie dann sein, und wo sehen Sie<br />
sich dann berufl ich? Oh, Sie sehen<br />
noch gar nichts. Kein Problem,<br />
fünf Jahre ist ja auch kein<br />
Pappenstil. Aber schauen Sie noch<br />
einmal genauer hin. Was werden<br />
Sie tun? Welche berufl ichen Rollen<br />
werden Sie ausfüllen? Was<br />
werden Sie können? Für welche<br />
Ihrer Qualitäten wird man Sie<br />
schätzen?<br />
Käse Über Ihre berufl iche Zukunft<br />
nachzudenken ist anstrengend,<br />
nicht wahr? Machen Sie<br />
mal eine Pause. Schauen Sie mal,<br />
ob in Ihrem professionellen Proviantrucksack<br />
ein Stück Käse ist. –<br />
So ein Käse, werden Sie denken …<br />
genau! Sie haben es erkannt. Sie<br />
haben bisher einen guten Job gemacht,<br />
weil Sie immer geschaut<br />
haben, wo der «Käse» ist. Die alte<br />
Mäusestrategie geht immer, wie<br />
schon Spencer Johnson wusste.<br />
Wo immer Sie sich berufl ich positioniert<br />
haben, Sie haben sich immer<br />
gefragt, wo hier der «Käse»<br />
ist. Welche Probleme und Res-<br />
sourcen haben meine Bewohner<br />
und Bewohnerinnen häufi g, welches<br />
Handeln befriedigt am wirksamsten<br />
ihre Bedürfnisse, was<br />
muss ich wissen, um an diesem<br />
Ort für «meine» Bewohner oder<br />
Klienten hilfreich zu sein? Sicher<br />
haben Sie auf der Suche nach dem<br />
«Käse» zahlreiche Erfahrungen gemacht,<br />
viel gelernt, Fertigkeiten<br />
erworben und ihre Qualitäten verbessert.<br />
Gut so! Sie sind routiniert<br />
geworden, Sie wissen, wie es läuft.<br />
Papageien Aber den «Käse» suchen<br />
und fi nden letztlich alle. –<br />
Haben Sie in Ihrem Rucksack<br />
auch einen «Papagei»? So ein<br />
Blödsinn, werden Sie denken, natürlich<br />
nicht. Dieser Autor mag einen<br />
Vogel haben, aber ich keinen<br />
Papagei! – Schade, schauen Sie<br />
doch noch einmal genauer hin.<br />
«Papageien» sind in hiesigen Gefi<br />
lden relativ seltene Vögel. Haben<br />
Sie im Laufe Ihres Berufslebens<br />
nicht auch ein paar exotische Erfahrungen<br />
gemacht und Ungewöhnliches<br />
gelernt? Haben Sie<br />
sich Wissen erworben, über das<br />
viele ihrer Kolleg/innen nicht verfügen?<br />
Können Sie Dinge, zu denen<br />
keine/r Ihrer Kolleg/innen fä-
hig ist? Wenn ja, meinen Glückwunsch!<br />
Pfl egen Sie ihren «Papagei»<br />
gut, er unterscheidet Sie von<br />
allen anderen. Seien Sie selbstbewusst,<br />
manchmal kann es auch<br />
von Vorteil sein, einen Vogel zu<br />
haben. Vor allem, wenn es ein<br />
sehr schöner Vogel ist, den alle<br />
anderen auch gerne hätten. Ein<br />
solcher Papagei kann Ihnen in<br />
den nächsten fünf Jahren beruflich<br />
sehr weiterhelfen, insbesondere<br />
wenn Sie andere davon überzeugen<br />
können, dass es toll wäre,<br />
diesen Vogel zu besitzen. Ein<br />
Meister dieser Strategie war Tom<br />
Sawyer. Der hatte zwar keinen Vogel,<br />
aber einen tollen Gartenzaun,<br />
den nur er allein ganz toll streichen<br />
konnte. Aber er war so<br />
schlau, die anderen davon zu<br />
überzeugen, dass es etwas ganz<br />
Einzigartiges und Besonderes<br />
wäre, auf Tom Sawyers Gartenzaun<br />
herumzupinseln.<br />
Alte Hasen Neben dem «Käse»<br />
und Ihrem «Papagei» brauchen<br />
Sie noch ein paar «alte Hasen».<br />
«Alte Hasen» wissen, wo welcher<br />
«Käse» ist und haben mitunter<br />
mehrere «Papageien», und sie<br />
sind bereit, an andere weiterzugeben,<br />
wie der Hase läuft. «Alte Hasen»<br />
werden auf Neudeutsch auch<br />
gerne Mentoren genannt. Sie sind<br />
Menschen, die anderen gerne<br />
beim Wachsen zuschauen und ihnen<br />
dabei helfen. Pfl egen Sie den<br />
Kontakt zu «alten Hasen» gut, lernen<br />
Sie von ihnen, aber vergessen<br />
Sie dabei nicht das alte Spiel vom<br />
«Geben und Nehmen». Bringen<br />
sie ab und zu den alten Hasen<br />
Fragen zur Karriereentwicklung<br />
Wo komme ich her?<br />
– Wie ist mein Leben bisher verlaufen?<br />
– Was waren Höhe- und Tiefpunkte?<br />
– Wie lauten die Titel meiner Lebenskapitel?<br />
– Was ist mein Hintergrund, was sind<br />
meine Vorerfahrungen und was habe<br />
ich gelernt?<br />
Wo stehe ich jetzt?<br />
– Welche Erfolge konnte ich in meinem<br />
Beruf verbuchen?<br />
– Über welche Fähigkeiten und Qualitäten<br />
verfüge ich?<br />
Wohin möchte ich gelangen?<br />
– Was für ein Mensch möchte ich werden?<br />
– Was ist meine Vision, mein Traum für<br />
eine «Mohrrübe» mit. Selbst wenn<br />
es «nur» Ihre Begeisterung ist oder<br />
wenn Sie den alten Hasen das Gefühl<br />
vermitteln, dass das, was Ihnen<br />
weitergegeben wird, hilfreich<br />
und sinnvoll ist. Diese «generativen<br />
Mohrrüben» sind bei alten<br />
Hasen sehr beliebt.<br />
Wenn Sie nun meinen, ich<br />
hätte Ihnen mit den Papageien<br />
und alten Hasen nur Käse erzählt,<br />
dann stelle ich Ihnen ganz nüchtern<br />
die Fragen in einem Kasten<br />
zusammen, die Sie sich zur Entwicklung<br />
Ihrer Karriere stellen<br />
können. Damit können Sie für<br />
sich bestimmen, wo berufl ich Ihre<br />
Wurzeln sind, wo Sie berufl ich<br />
stehen, wohin Sie sich entwickeln<br />
möchten, wie Sie dorthin gelangen<br />
und wie Sie merken, dass Sie<br />
angekommen sind und ihre beruflichen<br />
Ziele erreicht haben.<br />
Käse, Papageien und Hummeln<br />
Möglicherweise sind Sie<br />
am Ende dieses seltsamen Beitrages<br />
noch unschlüssig, woraus genau<br />
Ihr «professioneller Käse» besteht,<br />
und auch Ihr «Papagei» hat<br />
noch nicht so recht Formen und<br />
Federn angenommen. Völlig offen<br />
ist noch, wie Sie andere dazu<br />
bringen, unbedingt Ihren Gartenzaun<br />
streichen zu wollen. Einige<br />
der Antworten halten Sie schon<br />
direkt in Ihren Händen. Die Zeitschrift<br />
NOVAcura ist ein hervorragendes<br />
Medium, um sich über<br />
den «Käse» klar zu werden, um<br />
den es in der Alten- und Langzeitpfl<br />
ege geht. Mitunter stellt auch<br />
einer der Autoren seinen «Papagei»<br />
vor. Sie können die NOVA-<br />
die Zukunft, wo sehe ich mich zukünftig?<br />
– persönlich?<br />
– familiär?<br />
– bezüglich meiner Mitmenschen (Gemeinde).<br />
– arbeitsbezogen?<br />
– Was möchte ich tun?<br />
– Welche Rolle(n) möchte ich einmal ausfüllen?<br />
– Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und<br />
Qualitäten muss ich erwerben?<br />
Wie gelange ich an mein Ziel?<br />
– Welche Erfahrungen muss ich machen,<br />
um das zu lernen, was ich lernen muss?<br />
– Welche Aus-, Fort-, Weiterbildungs- und<br />
Studienprogramme muss ich absolvieren?<br />
cura nutzen, um sich berufl ich<br />
weiterzuentwickeln und sich einen<br />
Namen als «Käse- oder Papageien-Experte»<br />
zu machen. Sie<br />
können hier Ihren «Käse» erzählen<br />
und von Ihren «Papageien»<br />
berichten. – Sie sind überzeugt,<br />
dass Sie einen guten Job machen?<br />
Dann tun Sie weiterhin Gutes, geben<br />
Sie es an ihre Kolleg/innen<br />
weiter, bilden Sie sich weiterhin<br />
fort, leiten Sie Bewohner dazu an<br />
und schreiben Sie darüber. Eine<br />
Doppelseite in einem NOVAcura-<br />
Heft kann im neuen Jahr Ihnen<br />
und Ihrem Papagei gehören.<br />
Schreiben Sie jetzt Ihre Ideen auf<br />
ein Blatt, kontaktieren Sie die Redaktion<br />
(siehe Impressum!), sammeln<br />
Sie danach weiter Informationen<br />
zu Ihrem Thema in der<br />
Praxis, machen Sie sich schlau in<br />
Fachbüchern und -zeitschriften<br />
und fangen Sie an. In sechs Monaten<br />
Ihren «Käse» oder «Papagei»<br />
mit beispielsweise 7900 Zeichen<br />
zu skizzieren und zu beschreiben<br />
… das schaffen Sie locker!<br />
– Oh, Sie packt angesichts<br />
dieser Vorstellung das Ängstchen,<br />
nicht genügend «Käse» und «Papageien»<br />
auf der Pfanne zu haben.<br />
Macht nichts, dagegen gibt es<br />
noch ein letztes hilfreiches Tierchen<br />
– «die Hummel». Schauen<br />
Sie ihr beim Arbeiten zu. Die<br />
Hummel hat 0,7 cm 2 Flügelfl äche<br />
bei 1,2 g Gewicht, nach bekannten<br />
Gesetzen der Aerodynamik ist<br />
es unmöglich, bei diesem Gewicht<br />
zu fl iegen und Papageien hinterherzujagen.<br />
Die Hummel weiss<br />
das aber nicht und fl iegt einfach!<br />
– Guten Flug! ■<br />
– Welche Experimente, Wagnisse und<br />
Unternehmungen muss ich wagen?<br />
– Welche Hilfen benötige ich und von<br />
wem?<br />
Wie erkenne ich, dass ich an meinem/n<br />
Ziel/en angekommen bin?<br />
– Wie werde ich meine Lernerfahrungen<br />
bewerten und evaluieren?<br />
– Mit welchen Mitteln und Instrumenten<br />
kann ich mich selbst einschätzen?<br />
– Welche Rückmeldungen und Feedbacks<br />
benötige ich und von wem?<br />
Quelle: Hennessey, D.; Gilligan, J. H.: Identifying<br />
and Developing Tomorrow’s Nursing<br />
Trust Directors. Journal of Nursing Management.<br />
2, Nr. 1 (1994): 37–45.<br />
NOVAcura 10|09<br />
Bildung<br />
Literatur<br />
Albom, M. (2002):<br />
Dienstags bei Morrie –<br />
Die Lehre eines Lebens.<br />
München: Goldmann.<br />
Covey, S. R. (1997):<br />
Der Weg zum Wesentlichen.<br />
Frankfurt:<br />
Campus.<br />
Johnson, S. (2000):<br />
Die Mäusestrategie für<br />
Manager. München:<br />
Hugendubel.<br />
Knoblauch, J. & Hüger,<br />
J., Mockler, M. (2003):<br />
Dem Leben Richtung<br />
geben. Frankfurt:<br />
Campus.<br />
Weitere Literatur beim<br />
Autor<br />
51
Palliative<br />
Care<br />
Im Mittelpunkt steht die<br />
Frage nach dem Wie.<br />
Foto:<br />
Cécile Wittensöldner ©<br />
Die Salutogenese geht von der Annahme aus, dass der<br />
Mensch sich stets auf einem Gesundheits-Krankheits-<br />
Kontinuum befi ndet. Welche Bedeutung hat die salutogenetische<br />
Orientierung für die palliative Behandlung,<br />
Pfl ege und Begleitung? Cornelia Knipping<br />
Die Salutogenese will darauf verweisen,<br />
dass der Mensch sich immer<br />
in einem Sowohl-als-auch befi<br />
ndet. Im Kontext der Palliative<br />
Care drängt sich unweigerlich<br />
eine Frage auf: Wie kann ein<br />
Mensch im Erleben einer schweren<br />
und fortschreitenden Erkrankung,<br />
in der Aus einandersetzung<br />
mit einer chronischen gesundheitlichen<br />
Störung oder mit einem<br />
mühsamen Alterungsprozess<br />
dennoch auf Fähigkeiten, Ressourcen<br />
und Bedingungen zurückg<strong>reifen</strong><br />
oder diese im verstehenden<br />
und sinnerschliessenden<br />
Umgang mit Krankheit, Alterung,<br />
Fragilität, Sterben und Tod entwickeln?<br />
Das Salutogenesekonzept<br />
wurde in den Siebzigerjahren vom<br />
jüdischen Medizinsoziologen Aaron<br />
Antonovsky entwickelt. Ausgangspunkt<br />
des Salutogenesekonzeptes<br />
war für ihn eine Erfahrung,<br />
die er sein Leben lang nicht mehr<br />
vergass! Es geschah 1970 im Rahmen<br />
seiner Forschungsarbeiten in<br />
Israel. Antonovsky war mitten in<br />
der Datenanalyse einer Untersuchung<br />
über die Adaptation von<br />
Frauen verschiedener ethnischer<br />
Gruppen in Israel an das Klimakterium.<br />
Dabei stiess er auf Frauen<br />
von Überlebenden des Konzentra-<br />
52 NOVAcura 10|09<br />
Krankengeschichte oder<br />
Geschichte des Menschen<br />
Von der Bedeutung der Salutogenese in der Palliative Care<br />
tionslagers mit einer sehr ausgeprägten,<br />
guten physischen und<br />
psychischen Gesundheit. Beschreibungen<br />
dazu lauteten: […]<br />
«Den absolut unvorstellbaren<br />
Horror des Lagers durchgestanden<br />
zu haben, anschliessend jahrelang<br />
eine deplatzierte Person gewesen<br />
zu sein und sich dann ein neues<br />
Leben in einem Land neu aufgebaut<br />
zu haben, das drei Kriege erlebte,<br />
und dennoch in einem angemessenen<br />
Gesundheitszustand<br />
zu sein» […]. Das war für Antonovsky<br />
damals eine derart dramatische<br />
Erfahrung, die ihn bewusst<br />
auf den Weg brachte, das zu formulieren,<br />
was er später als «Salutogenetisches<br />
Modell» bezeichnete<br />
(Antonovsky, 1997: 15). Antonovsky<br />
beschäftigte einerseits<br />
die Frage, welche Faktoren eine<br />
Rolle spielen können, dass ein<br />
Mensch mit schwierigen Herausforderungen,<br />
ja mit regelrechten<br />
Widerwärtigkeiten in seinem Leben<br />
gesundheitserhaltend resp.<br />
gesundheitsförderlich umzugehen<br />
vermag. Andererseits bewegte<br />
ihn stark, wie mit Menschen, welche<br />
bereits eine gesundheitliche<br />
Störung aufweisen, ein salutogenetischer<br />
Umgang gepfl egt werden<br />
kann, um die gesunden Anteile<br />
im Menschen und die Bedin-<br />
gungen um ihn herum zu fördern<br />
und zu stärken. Der salutogenetische<br />
Umgang beabsichtigt, den<br />
Menschen als ganzen Menschen<br />
wahrzunehmen, ihn im Gesundsein<br />
zu stärken, damit der Umgang<br />
mit dem Kranksein von der<br />
erkrankten Person überhaupt<br />
(mit-)gestaltet werden kann. Antonovsky<br />
überträgt dieses Gesundheits-Krankheits-Kontinuum<br />
sogar auf die Sterbesituation: «Wir<br />
alle sind sterblich. Ebenso sind<br />
wir alle, solange noch ein Hauch<br />
von Leben in uns ist, in einem gewissen<br />
Ausmass gesund» (Antonovsky,<br />
1997: 22–23). Dies im Unterschied<br />
zur traditionellen Schulmedizin,<br />
der Pathogenese, welche<br />
auf der Annahme einer fundamentalen<br />
Trennung zwischen<br />
dem entweder gesunden oder<br />
kranken Menschen begründet ist.<br />
Eine Dichotomie (Trennung) zwischen<br />
gesunden und kranken<br />
Menschen wird vorgenommen.<br />
Der salutogenetische Ansatz fragt<br />
weniger nach Ursachen oder Risikofaktoren<br />
einer Krankheit als<br />
vielmehr nach äusseren und inneren<br />
«Bedingungen» von Gesundheit.<br />
Er fragt nach den Ursprüngen<br />
und Voraussetzungen, welche<br />
Gesundheit und Gesundsein ermöglichen.<br />
Gesundheit wird hier<br />
nicht verstanden als Abwesenheit<br />
von Krankheit, sondern vielmehr<br />
als Fähigkeit, mit physischen, psychosozialen,<br />
geistigen, kulturellen<br />
und spirituellen Herausforderungen,<br />
Krisen und Stressoren des Lebens<br />
gesundheitsförderlich und<br />
sinnerschliessend umzugehen.
Gesundheit – Zustand oder Gabe<br />
und Aufgabe Die Weltgesundheitsorganisation<br />
defi niert Gesundheit<br />
als einen […] «Zustand<br />
vollkommenen körperlichen, geistigen<br />
und sozialen Wohlbefi ndens<br />
und nicht allein das Fehlen von<br />
Krankheit und Gebrechen» (WHO,<br />
1946). Es ist der Frage wert, ob ein<br />
Mensch je diesen Zustand des<br />
«vollkommenen» körperlichen,<br />
geistigen und sozialen Wohlbefi ndens<br />
zu erreichen vermag. Kann<br />
Gesundheit statisch als «Zustand»<br />
bezeichnet werden, den man hat<br />
oder eben nicht hat? Oder ist<br />
Gesundheit nicht vielmehr ein<br />
prozesshaftes Ereignis menschlicher<br />
Existenz, in welcher der<br />
Mensch immer wieder neu angefragt<br />
und eingeladen ist, sich mit<br />
seinen physischen, psychosozialen,<br />
geistigen, kulturellen und spirituellen<br />
Herausforderungen auseinanderzusetzen,<br />
sich ihnen<br />
nach seinen je eigenen Möglichkeiten<br />
zu stellen, um für sich ganz<br />
persönlich einen einvernehmlichen<br />
und authentischen Umgang<br />
damit zu erschliessen und zu gestalten?<br />
Pathogenetische Orientierung<br />
Das Kreisen um den Gesundheitsbegriff<br />
im traditionell schulmedizinischen<br />
System manifestiert<br />
sich u.a. auf der Annahme einer<br />
fundamentalen Dichotomie: hier<br />
die Gesunden – da die Kranken.<br />
Die pathogenetische Orientierung<br />
beinhaltet die Vorstellung, dass<br />
Krankheiten durch bestimmte Ursachen<br />
ausgelöst werden. Es wird<br />
von ursächlichen Faktoren, von<br />
schädlichen Einfl üssen, von Risiken,<br />
von Dispositionen etc. gesprochen.<br />
Es geht um die Frage<br />
der Kausalität. Davon wird abgeleitet,<br />
dass pathogene Faktoren<br />
möglichst vermieden, rechtzeitig<br />
erkannt, kontrolliert und eliminiert<br />
werden müssen. Daten, Befunde<br />
und Diagnosen, kausale<br />
Zusammenhänge, Analysen und<br />
Hypothesen zur Krankheitsentstehung<br />
und Prognosen der Krankheitsentwicklung<br />
stehen im Fokus<br />
der Aufmerksamkeit. Um wieder<br />
gesund zu werden, hat sich der<br />
Mensch im Falle pathologischer<br />
Befunde spezifi schen Behandlungsmethoden<br />
zu unterwerfen,<br />
damit diese bestmöglich eliminiert,<br />
kontrolliert, supprimiert<br />
oder wenigstens stagniert werden<br />
können. Es scheint, als käme der<br />
Mensch als Subjekt hier gar nicht<br />
vor. Er wird statisch und statistisch<br />
geeicht auf Klassifi kationssysteme,<br />
Referenzbereiche, Normwerte<br />
und Hypothesen, die ihm<br />
attestieren und voraussagen, entweder<br />
gesund oder krank zu sein<br />
resp. zu werden. Die pathogene<br />
Orientierung impliziert, dass die<br />
«Kranken- oder Organgeschichte»<br />
mehr zählt als die Geschichte des<br />
ganzen Menschen. Die Aufmerksamkeit<br />
wird auf die Pathologie<br />
gerichtet und nicht auf den Menschen<br />
selbst mit einem medizinischen<br />
Problem. Es geht vielmehr<br />
um die Krankheit und weniger<br />
um den erkrankten Menschen,<br />
das Kranksein der ganzen Person.<br />
Die pathogenetische Orientierung<br />
fragt nach den Ursachen einer Erkrankung,<br />
anstatt zu fragen, warum<br />
jemand Einbussen seiner Gesundheit<br />
erfahren hat (Antonovsky,<br />
1997: 15–24).<br />
Salutogenetische Orientierung<br />
Die salutogenetische Orientierung<br />
geht davon aus, dass der<br />
Mensch sich stets in einer mehr<br />
oder weniger stark ausgeprägten<br />
Auseinandersetzung mit körperlichen,<br />
psychosozialen, geistigen,<br />
kulturellen und spirituellen Herausforderungen,<br />
Krisen oder Stressoren<br />
befi ndet. Es geht weniger<br />
um Fragen, wie sich eine Krankheit<br />
entwickelt, als vielmehr darum,<br />
wie sich die Gesundheit von<br />
Menschen – auch und gerade unter<br />
höchsten Belastungen – entwickelt<br />
und konsolidiert. Das ist das<br />
Geheimnis, das die salutogenetische<br />
Orientierung zu beschreiben<br />
versucht (Antonovsky, a.a.O: 16).<br />
Krisen und existenzielle Herausforderungen<br />
sind omnipräsent im<br />
Leben eines Menschen. Sie entsprechen<br />
seiner Lebensrealität,<br />
und die salutogenetische Frage<br />
lautet hier nicht, wie die Herausforderungen<br />
und Krisen, die<br />
scheinbar schädigenden Noxen<br />
um alles in der Welt vermieden<br />
resp. eliminiert werden können,<br />
sondern vielmehr, wie der Mensch<br />
sich zu diesen Ereignissen und<br />
Gefahren stellt und verhält, was<br />
seine Sicht der Dinge dazu ist und<br />
wie er für sich damit einen gesundheitsförderlichen<br />
Umgang<br />
gestalten kann. Der Mensch wird<br />
zum aktiven Mitgestalter seiner<br />
Gesundheit. Aber nicht nur der<br />
Mensch selbst, sondern auch<br />
seine Bedingungsfelder, zum Beispiel<br />
sozialer, familialer, schulischer,<br />
berufl icher, politischer,<br />
ökonomischer oder ökologischer<br />
Natur, stehen in direkter Beziehung<br />
zu seiner Genese von Gesundheit<br />
oder Krankheit. Gesundheit<br />
geht somit alle etwas an. Gesundheit<br />
in diesem Sinne ist nicht<br />
ein statischer Organbefund, ein<br />
Zustand, ein Resultat. Gesundheit<br />
ist nicht ein Kapital, das jemand<br />
besitzt oder eben nicht (mehr) besitzt.<br />
Gesundheit gründet und<br />
entwickelt sich auf Erfahrungen<br />
von Vertrauen und Zuversicht,<br />
von Verstehen und Erkennen sowie<br />
der Möglichkeit, dem persönlichen<br />
Erleben eine je eigene Bedeutung<br />
zuzumessen. Antonovsky<br />
machte im Verlaufe seiner<br />
Studien diese für ihn einzigartige<br />
Entdeckung, dass er selbst bei<br />
Menschen mit schweren traumatischen<br />
Erfahrungen drei immer<br />
wiederkehrende, stark ausgeprägte<br />
Merkmale fand, die dazu<br />
beigetragen haben, dass diese<br />
Menschen an ihrem Schicksal<br />
nicht zerbrochen sind, oder anders<br />
ausgedrückt, die körperlich<br />
wie seelisch in einem relativ guten<br />
Gesundheitserleben standen.<br />
Diese drei Merkmale, waren in<br />
sich stimmig, schlüssig, also «kohärent»,<br />
und deshalb defi nierte<br />
Antonovsky sie als sogenanntes<br />
Kohärenzkonzept. Es waren die<br />
Merkmale der Verstehbarkeit,<br />
Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit,<br />
welche den Menschen geholfen<br />
haben, mit schwierigen Lebensumständengesundheitserhaltend<br />
umzugehen. Es zeigt sich,<br />
Gesundheit ist etwas tief Existenzielles,<br />
Spirituelles und Ursprüngliches.<br />
Sie ist Gabe und Aufgabe<br />
von ständiger Reifung, Auseinandersetzung<br />
und Entwicklung eines<br />
Menschen, unabhängig davon,<br />
wie krank, fragil, alt oder<br />
sterbend er ist. Gesundheit in diesem<br />
Sinne entwickelt sich stets<br />
neu. Der salutogenetische Ansatz<br />
fragt nach der ganzen Geschichte<br />
des Menschen, nach seinen Ressourcen<br />
und Möglichkeiten, spezifi<br />
sche Ereignisse im Leben zu<br />
verstehen, sie zu handhaben und<br />
ihnen eine je eigene Bedeutung zu<br />
geben. Antonovsky schreibt dazu<br />
NOVAcura 10|09<br />
Palliative<br />
Care<br />
Cornelia Knipping ist<br />
seit Juli 2009 freiberuflich<br />
im eigenen Pallium-<br />
Atelier tätig. Sie ist<br />
Konsulentin an der Alpen-Adria-Universität<br />
Klagenfurt, Fakultät für<br />
Interdisziplinäre Forschung<br />
und Fortbildung<br />
(IFF), Abteilung Palliative<br />
Care und Organisationsethik<br />
in Wien, und<br />
Co-Seminar-Leiterin des<br />
MAS Palliative Care sowie<br />
Herausgeberin des<br />
Lehrbuchs Palliative<br />
Care, das im Huber-<br />
Verlag erschienen ist.<br />
c.knipping@bluewin.ch<br />
www.pallium-atelier.com<br />
53
Palliative<br />
Care<br />
Literatur<br />
Antonovsky, A. (1997).<br />
Salutogenese. Zur Entmystifi<br />
zierung der Gesundheit.<br />
Tübingen:<br />
dgvt<br />
Kruse, A. (2007). Das<br />
letzte Lebensjahr. Zur<br />
körperlichen, psychischen<br />
und sozialen<br />
Situation des alten<br />
Menschen am Ende seines<br />
Lebens. Stuttgart:<br />
Kohlhammer.<br />
Lorenz, R. (2005). Salutogenese.<br />
Grundwissen<br />
für Psychologen, Mediziner,<br />
Gesundheits- und<br />
Pfl egewissenschaftler.<br />
München: Reinhardt.<br />
Schiffer, E. (2001). Wie<br />
Gesundheit entsteht.<br />
Salutogenese: Schatzsuche<br />
statt Fehlerfahndung.<br />
Weinheim/Basel:<br />
Beltz.<br />
eine kleine, aber tiefgründige Geschichte:<br />
«Das Konzept der Geschichte entstammt<br />
von Cassells profunder Analyse<br />
(1979) des medizinischen Begriffs<br />
der Kausalität. In dieser berichtet<br />
er von einem älteren Patienten,<br />
der wegen eines ernstzunehmenden<br />
fortgeschrittenen Knieleidens stationär<br />
behandelt wurde. Identifi kation<br />
der Symptome, diagnostische Hypothesen,<br />
deren Bestätigung und Einleitung<br />
angemessener Therapieverfahren<br />
erfolgten kurz hintereinander,<br />
was zur Entlassung führte – und<br />
kurz darauf zur Wiedereinweisung.<br />
Denn was nur zufällig durch einen<br />
Medizinstudenten in Erfahrung gebracht<br />
wurde, war, dass dieser ältere<br />
Herr ein Jahr zuvor Witwer geworden<br />
und in diese fremde Stadt gezogen<br />
war, in der er weder Freunde noch<br />
Verwandte hatte, nur über ein geringes<br />
Einkommen verfügte und im vierten<br />
Stock eines Hause ohne Fahrstuhl<br />
wohnte. Das Knieproblem war sehr<br />
real und sehr ernst. Es war der derzeitige<br />
Anlass zur Einweisung gewesen;<br />
das nächste Mal hätten es<br />
Unterernährung, Lungenentzündung<br />
oder Depression und Suizidversuch<br />
sein können. Der salutogenetische<br />
Ansatz gibt keine Gewähr für die<br />
Problemlösung der komplexen Kreisläufe<br />
im menschlichen Leben, aber<br />
selbst im schlechtesten Fall führt er<br />
zu einem tiefergehenden Verständnis<br />
und Wissen und damit zu einer Voraussetzung,<br />
sich dem gesunden Pol<br />
des Kontinuums nähern zu können“<br />
(Antonovsky, 1997: 24).<br />
Was Antonovsky damit sagen will,<br />
ist, dass es um das tiefere<br />
Verständnis und Wissen vom<br />
Menschsein, seine innersten Quellen<br />
und Reichtümer, um seine unmittelbaren<br />
Lebensbezüge geht.<br />
Im Zuge der radikal zunehmenden<br />
Spezialisierung und Ökonomisierung<br />
im Gesundheitswesen<br />
laufen wir Gefahr, nur noch organ-,<br />
befund-, symptom- oder<br />
problemspezifi sch resp. kommerziell<br />
den Menschen wahrzunehmen,<br />
zu skalieren, zu kontrollieren<br />
und nicht zuletzt zu<br />
managen. Das aktuelle Vokabular<br />
bestätigt es: Es werden Konzepte<br />
für das Schmerz- und Symptommanagement,<br />
Delir- und Demenzmanagement<br />
entwickelt. Pathways<br />
und Guidelines halten Ein-<br />
54 NOVAcura 10|09<br />
zug. Schlagwörter wie «Prozessoptimierung»<br />
beschäftigen inzwischen<br />
ganze Spitäler. Im letzten<br />
Beispiel der Prozessoptimierung<br />
geht es im Grunde genommen um<br />
monetär fokussierte Ablaufprozesse,<br />
und nicht mehr um den<br />
Menschen selbst, das heisst um<br />
ihn als Person. Es geht vielmehr<br />
nur noch um sein Knie, welches<br />
eintritt und unverzüglich wieder<br />
austritt, damit das nächste Knie<br />
kommen kann ...<br />
Die salutogenetische Orientierung<br />
in der Palliative Care Antonovsky<br />
vertritt die Einsicht, dass<br />
es nicht darum geht, Leid, Krankheit<br />
und Krisen «um alles in der<br />
Welt» zu bekämpfen und zu beseitigen.<br />
Vielmehr geht es darum,<br />
dem Menschen wieder menschenfreundliche<br />
Bedingungen und<br />
Unterstützung anzubieten, um<br />
Leid(en), Krankheit, Krisen, Abschied,<br />
Trauer, Sterben und Tod<br />
verstehend, umgänglich und<br />
sinn erschliessend gestalten zu<br />
können: «Ich gehe davon aus,<br />
dass Heterostase, Ungleichgewicht<br />
und Leid inhärente Bestandteile<br />
menschlicher Existenz<br />
sind, ebenso wie der Tod […] (Lorenz<br />
a.a.O., S. 23 in Antonovsky<br />
1993 S. 8 f). Dieses Zitat korrespondiert<br />
mit dem Konzeptelement<br />
der WHO-Defi nition zu Palliative<br />
Care (2002): «Palliative<br />
Care an erkennt das Leben, betrachtet<br />
Sterben und Tod als einen<br />
natürlichen Prozess.» Man könnte<br />
hineinlesen: Palliative Care anerkennt<br />
das Leben mit seinen Krisen<br />
und Krankheiten, Leiden und Abschieden.<br />
Die Herausforderung<br />
besteht wieder darin, anzuerkennen,<br />
dass es in unterschiedlicher<br />
Dichte und Intensität Herausforderungen<br />
und Krisen im Leben eines<br />
jeden Menschen gibt. Antonovsky<br />
möchte den Blick wieder<br />
weiten auf die Endlichkeit und<br />
Sterblichkeit menschlichen Lebens.<br />
Zugleich aber auch darauf,<br />
dass der Mensch als Träger des<br />
Lebens immer auch Träger von<br />
Gesundheit ist – auch und gerade,<br />
wenn er schwer erkrankt,<br />
schwach, alt oder sterbend ist. Die<br />
salutogenetische Orientierung in<br />
der Palliative Care eröffnet den<br />
Blick für den ganzen Menschen<br />
mit seinen physischen, psychosozialen,<br />
geistigen, kulturellen und<br />
spirituellen Möglichkeiten, Ressourcen<br />
und Leiden. Sie schaut<br />
nicht nur auf Symptome wie<br />
Schmerz, Übelkeit oder Atemnot,<br />
sondern nähert sich stets einem<br />
Menschen, welcher unter Schmerzen,<br />
Übelkeit oder Atemnot leidet.<br />
Sie salutogenetische Orientierung<br />
in der Palliative Care konzentriert<br />
sich nicht darauf, alle<br />
Probleme und Symptome zu<br />
«kontrollieren» resp. zu eliminieren,<br />
in der Annahme, damit Lebensqualität,<br />
Würde und ein Sterben<br />
in Frieden zu generieren. Es<br />
lohnt sich, der Bedeutung des Kohärenzkonzeptes<br />
in der Palliative<br />
Care weiter nachzugehen: Es eröffnet<br />
ungeahnte Möglichkeiten<br />
für die Pfl egenden und Betreuenden<br />
in der Pfl ege und Begleitung<br />
von schwer kranken, alten und<br />
sterbenden Menschen. Die salutogenetisch<br />
orientierte Pfl ege und<br />
Begleitung in der Palliative Care<br />
könnte zu einem Meilenstein werden,<br />
um dem Menschen und seinen<br />
Zu- und Angehörigen zu helfen,<br />
seine und ihre Situation ein<br />
wenig besser zu verstehen, sie hilfreicher<br />
zu handhaben und ihr<br />
eine einvernehmliche Bedeutung<br />
zuzusprechen. Dies erfordert, dass<br />
man sich den Menschen nochmals<br />
mit einer anderen Haltung<br />
und Kultur nähert. Die Begegnung,<br />
das Anamnese- oder Trauergespräch<br />
kann sich dann nicht<br />
mehr nur auf Probleme und belastende<br />
Symptome, auf Defi zite und<br />
die offensichtlichen Störungen<br />
konzentrieren. Das salutogenetisch<br />
orientierte Gespräch interessiert<br />
sich für die Geschichte des<br />
ganzen Menschen, um ihn physisch,<br />
psychosozial, geistig, kulturell<br />
und spirituell darin zu unterstützen,<br />
besser zu erkennen und<br />
zu verstehen, einen hilfreicheren<br />
Umgang zur Gestaltung des Ereignisses<br />
zu fi nden und für sich persönlich<br />
dem Erleben eine Bedeutung<br />
geben zu können. Die Salutogenese<br />
ist darum bemüht, den<br />
schwer kranken, alten und sterbenden<br />
Menschen darin zu unterstützen,<br />
aktiv und individuell mit<br />
zu gestalten und zu erschliessen,<br />
was für ihn wahrhaft am Ende seines<br />
Lebens zählt. Der Mensch<br />
wird wieder angesehen, und das<br />
schenkt ihm Ansehen und würdigt<br />
ihn im Menschsein bis zuletzt.<br />
■