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Entwickeln, wachsen, reifen ... - bops

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cura10<br />

| 09<br />

NOVA<br />

<strong>Entwickeln</strong>, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong> ...<br />

Das Fachmagazin für Pfl ege und Betreuung<br />

Werde, was du bist 6 Die Suche nach den eigenen Wurzeln 20 Psychomotorische<br />

Entwicklung und Autonomie im Alter 33 Spitexorganisationen<br />

in Veränderung 42 Transfer-Coaching im Pfl egestudium 48


Ruth Frei<br />

Redaktorin NOVAcura<br />

ruth.frei@curahumanis.ch<br />

Editorial<br />

Ursprünglich wollte ich Ihnen mit einem gerontologisch-journalistischen Paukenschlag<br />

die Quintessenz unseres Heftthemas «entwickeln, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong> ...» im Rahmen<br />

des Editorials sozusagen «um die Ohren werfen«. Es ist mir nicht gelungen. Ist<br />

eigentlich auch logisch. Es wäre ja fast schon ein bisschen anmassend, im Rahmen<br />

von ungefähr 2800 Zeichen sozusagen einen Rundumschlag zum menschlichen<br />

Wachsen und Werden machen zu wollen. Und so überlasse ich dies den Fach leuten.<br />

Dem Philosophen, dem Gesundheitsexperten, der Pfl egefachfrau, dem Mediziner,<br />

dem Pfl egeexperten, den Bildungsfachleuten ... Sie werden Ihnen auf rund 56 Seiten<br />

nicht nur Hintergründiges zum Thema aufzeigen, sondern auch ganz konkrete<br />

Inputs mitgeben, die Sie in Ihrem Berufsalltag (hoffentlich) umsetzen können. Ganz<br />

im Sinne von entwickeln, <strong>wachsen</strong> und <strong>reifen</strong>.<br />

Ich aber bleibe bei meinem Kerngeschäft, beim redaktionellen Handwerk, und<br />

berichte Ihnen, wie «unser Werk, die NOVAcura» wächst, gedeiht und reift: Wenn<br />

wir eine Themennummer vorbereiten, liegen zuerst meist eine ganze Menge Ideen<br />

auf dem Tisch, die es zu bündeln gilt. Viele persönliche und telefonische Gespräche<br />

sind nötig, bis der defi nitive Inhalt einer Ausgabe von NOVAcura endlich steht.<br />

Manchmal gleicht das Ganze einem Puzzlespiel. Einiges wird verworfen, manches<br />

ver ändert sich im Laufe der Recherchen. Es gilt Abgrenzungen zu machen zwischen<br />

den inhaltlichen Ausrichtungen der einzelnen Artikel. Den Sachen auf den Grund<br />

zu gehen. Das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Und oft dauert es<br />

einige Zeit, bis der Durchblick endlich möglich ist. Die fertigen Texte der Autorinnen<br />

und Autoren trudeln ein, sie werden bearbeitet und redigiert. Rückmeldungen,<br />

Anpassungen sind zu machen. Passendes Bildmateriel muss gefunden<br />

werden, um die Kernaussagen zu verdeutlichen. Gespräche mit dem Layouter, Textgestaltung,<br />

Vorschläge prüfen, abändern und, und, und ... Eine spannende Sache –<br />

und manchmal läuft einem die Zeit davon. Eines Tages aber liegt das fertige Produkt<br />

im Briefkasten und damit – so hoffe ich – Informationen und Anregungen für<br />

Ihren Berufsalltag, die Sie immer wieder mal dazu ermuntern, Bestehendes zu hinterfragen,<br />

zu verändern und neu zu entwickeln. Dass es aber manchmal Geduld<br />

braucht, bis der Samen aufgeht, wächst und reift, das wissen wir alle.<br />

Deshalb muss ich – auch auf die Gefahr hin, dass Sie es als moralisierend und<br />

pathetisch empfi nden – meinen bereits zu Beginn meines Schreibens geplanten<br />

(und zwischenzeitlich schon fast verworfenen) Schlusssatz einfach doch noch platzieren:<br />

Mir bricht es manchmal fast das Herz, wenn ich sehe, höre und erlebe, wie<br />

alte (reife) Menschen mit einer langen Lebensgeschichte und einem reichen Schatz<br />

von Erfahrungen zu hilfl osen Wesen gemacht und nicht ernst genommen werden.<br />

Das könnte man doch ändern. Oder?<br />

Ruth Frei


Zur Titelseite<br />

Was <strong>wachsen</strong> und<br />

zum Leben <strong>reifen</strong> soll,<br />

braucht Sorgfalt und<br />

Pfl ege.<br />

Foto: F1online<br />

Inhalt<br />

Dossier<br />

6 Werde, was du bist! Dr. phil. Beat Vonarburg<br />

9 Spurenleger Thomas Hax-Schoppenhorst<br />

12 Die Hoffnung nicht aufgeben<br />

Zwischen Machtlosigkeit und «Auferstehung» im Alter<br />

Sylke Werner<br />

15 Alter verbergen oder gestalten und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />

Dr. med. Andreas Gerlach<br />

18 Lebenslanges Lernen Claudia Sciborski<br />

20 Die Suche nach den eigenen Wurzeln Elke Steudter<br />

22 Fotobüchsen sind wie Pralinenschachteln ...<br />

Jürgen Georg<br />

24 Gesundheitsförderung für ältere Menschen<br />

Robert Weller<br />

26 Die Würde des Menschen ist unantastbar<br />

Prof. Dr. Helmut Bachmaier<br />

28 Herausforderndes Verhalten<br />

Eine Aufforderung an Institutionen und Pfl egende<br />

Jasmin Kleiner<br />

31 Psychomotorische Entwicklung und Autonomie<br />

im Alter Christopher Kahl<br />

34 Praxisentwicklung<br />

Ein Prozess mit dem Ziel einer effektiven und gästeorientierten<br />

Pfl ege Franziska Zúñiga und Irena Anna Frei<br />

37 Verstehen, wer wir sind<br />

Buchrezension Simone Anna Heitlinger<br />

38 Curahumanis nutzt Entwicklungspotenzial<br />

Fusion fordert Veränderungen und Neuorientierung<br />

Joachim Cerny<br />

40 Zwischen Führungs- und Pfl egeaufgabe<br />

Margrit Freivogel Kayser<br />

41 Sandwich-Position Stationsleiterin<br />

Fachtagung Curahumanis<br />

Spitex<br />

42 Spitexorganisationen in Veränderung Markus Kopp<br />

44 In den Ruhestand Elisabeth Conte und Walter Wyrsch<br />

Bildung<br />

48 Transfer-Coaching im Pfl egestudium<br />

Lucie Schmied-Fuchs und Markus Berner<br />

50 Käse, Papageien und alte Hasen Jürgen Georg<br />

Palliative Care<br />

52 Krankengeschichte oder Geschichte des Menschen<br />

Von der Bedeutung der Salutogenese in der Palliative Care<br />

Cornelia Knipping<br />

Rubriken Editorial 3 Bezugsquellen 49 Cartoon 55 Vorschau 55<br />

Spurenleger<br />

Von Geburt an bis zum Lebensende<br />

muss sich der Mensch unterschiedlichen<br />

Entwicklungsaufgaben stellen. Mit zunehmendem<br />

Alter schauen manche gelassen<br />

und andere nachdenklich zurück<br />

auf das, was war. Gleichzeitig stellt sich<br />

die Frage, was es noch zu tun gibt. 9<br />

Alter verbergen oder gestalten<br />

und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />

Das Alter könne verschoben und Alterungsprozesse<br />

rückgängig gemacht<br />

werden. So wird propagiert. Es braucht<br />

fast schon Mut, sich gegen diesen Zeitgeist<br />

zu stellen. Die Lebensphase Alter<br />

bietet aber ein breites Spektrum an<br />

Erfahrungs- und Gestaltungsmöglichkeiten.<br />

15<br />

Fotobüchsen sind wie<br />

Pralinenschachteln<br />

Bilder haben vielfältige Funktionen im<br />

Leben eines Menschen. Der Entwicklung<br />

und Lebensgeschichte alter Menschen<br />

anhand von Fotos nachzuspüren ist ein<br />

sehr spannender und reizvoller Aspekt<br />

der Pfl ege- und Aktivierungsarbeit. 22


Werde, was du bist!<br />

<strong>Entwickeln</strong>, <strong>wachsen</strong>, <strong>reifen</strong>? Philosophische und<br />

persönliche Überlegungen zum Thema mit Bezug<br />

zum Alltäglichen. Beat Vonarburg<br />

Das viel zitierte Wort von Goethe zeigt den<br />

Weg des <strong>Entwickeln</strong>s im Sinne von Auswickeln,<br />

bis das Eingewickelte zum Vorschein<br />

kommt. Es scheint also, dass ein Kern im Verborgenen<br />

vorhanden ist. Da der Kern verborgen bzw. eingewickelt<br />

ist, muss er offengelegt werden, um offenbar<br />

zu werden. Es geht um die Offenbarung des<br />

Innern, des Wesens, der Eigentlichkeit. Wie beim<br />

Entblättern der Artischocke – man verzeihe mir diesen<br />

trivialen Vergleich – befreit man das Herzstück.<br />

Dabei braucht es auch bei Tisch etwas Geduld, obwohl<br />

die Blätter bereits am Innenrand Teile des Innern<br />

aufweisen, die man im Wissen auf das Grössere<br />

geniessen kann. Es sind Hinweise auf das Kommende,<br />

Vorboten, dass man sich auf dem richtigen<br />

Weg befi ndet.<br />

Bei Platon, im 4. Jh. vor Chr., war es noch ganz<br />

anders. Im Höhlengleichnis stieg der Mensch in die<br />

eigenen Tiefen hinab, um zur Erfahrung zu gelangen,<br />

dass man sich von der Scheinwelt lösen muss,<br />

dass es gilt, sich von den Trugbildern der Welt loszureissen<br />

und aufzusteigen aus dem Schattenreich<br />

ins Licht der ewigen Ideen, ins Reich des Guten und<br />

Wahren. Das bedeutet mit andern Worten, dass es<br />

6 NOVAcura 10|09<br />

Künstlerische<br />

Selbst verwirklichung<br />

eines Kleinbauern<br />

im Luzerner Seetal.<br />

Foto: Edi Frei<br />

das objektiv Gute und Wahre gibt. Du fi ndest es auf<br />

dem Weg in die Innerlichkeit. Es gilt, der Welt der<br />

Dinge, dem Körper oder, wie es später heisst, dem<br />

Fleisch zu entsagen, um in die Welt des Geistes emporzusteigen.<br />

Das Heil ist in einer geistigen Welt zu<br />

fi nden, fern der Versuchungen der körperlichen<br />

Diesseitigkeit.<br />

Bereits bei Aristoteles, Platons Schüler, gibt es dieses<br />

absolute Heil nicht mehr. An die Stelle eines religiösen<br />

Heilsversprechens tritt die Anleitung zum<br />

klugen Leben. Die Philosophie wendet sich dem<br />

praktischen Leben im Diesseits zu. Sie wird zur Lebensorientierung,<br />

zur Refl exion über die Argumentationsprozesse,<br />

die nötig sind, um sich über die eigene<br />

Identität Klarheit zu verschaffen. Ziel ist eine<br />

authentische Lebensführung, die über den Weg der<br />

Selbstrefl exion zu fi nden ist. Nicht mehr das absolut<br />

Gute und Wahre ist die Idealnorm, sondern das<br />

Gute und Wahre für das Individuum ist wichtig. Die<br />

Tugend als sittliche Richtschnur ist nicht mehr das<br />

absolut Gute, sondern die Mitte zwischen zwei Extremen.<br />

Das Gleichmass ist das für den Menschen<br />

Bekömmliche. Sich entwickeln heisst fortan, das für<br />

den Menschen gedeihliche Mass zu suchen und zu<br />

fi nden.<br />

Selbstverwirklichung gegen Selbstverdinglichung<br />

Der Begriff stammt nicht aus dem 20. Jahrhundert,<br />

denn bereits in der antiken Philosophie wurde er für<br />

die Suche nach dem Selbst verwendet. In den Auf-


üchen und Verwerfungen der 68er-Jahre war er ein<br />

Leitmotiv der antiautoritären Strömungen und demzufolge<br />

auch ein Reizwort für die konservative Reaktion.<br />

Dabei geht es schlicht nur um die Suche nach<br />

der Ganzheit, um die Mitte des personalen Ichs. Die<br />

Wirklichkeit des Selbst hat nichts zu tun mit Selbstverliebtheit<br />

oder mit Schwärmen in Selbstvergessenheit.<br />

Es handelt sich im Gegenteil um die Herausforderung,<br />

die Ichbezogenheit aufzugeben und sich aus<br />

einer erkennenden Distanz wahrzunehmen. Es ist<br />

somit die Bewegung der Abgrenzung, die aber nicht<br />

zur Ausgrenzung führen soll, sondern zur Einsicht,<br />

dass das Selbst nicht grenzenlos ist und sich nur fi ndet<br />

im Verkehr mit den Andern. Selbstverwirklichung<br />

ist der Versuch des Selbstbezugs im Bemühen,<br />

sich in einer grösseren Ordnung zu orten.<br />

Das Recht auf Entwicklung musste erkämpft werden<br />

Dass die Verwirklichung des Selbst in der<br />

2. Hälfte des 20. Jahrhunderts auch eine Befreiung<br />

aus autoritären gesellschaftlichen Strukturen bedeutet,<br />

ist den Nostalgikern der alten Ordnung ein Dorn<br />

im Auge. Denken wir an die Frauenbewegung, an<br />

den Kampf um die sexuelle Selbstbestimmung, an<br />

die Mitbeteiligung am ökonomischen Aufschwung.<br />

Kurz gesagt: Es ging um den Aufbau einer zunehmenden<br />

Autonomie des Individuums. Ich denke zurück<br />

an meine 60er-Jahre: Zum Glück wusste meine<br />

französische Frau nichts von ihrer rechtlichen Entmündigung<br />

am Tage unserer Zivilheirat! Mit einem<br />

Schlag war sie nicht mehr unterschriftsfähig ohne<br />

mein Einverständnis, und auch die politischen<br />

Rechte waren noch nicht in Reichweite. Küche, Kinder,<br />

Kirche, das war die Losung oder vielmehr das<br />

Los. Die Frau hatte dem Mann den Rücken freizuhalten<br />

wie im Roman von Saint Exupéry «Vol de<br />

Nuit», in dem der Mann mit seinem Flugzeugphallus<br />

in den Himmel sticht, während die Frau an der<br />

Landepiste wartet. Warten auf den Helden und<br />

Heimkehrer. Noch in den 70er-Jahren wurde eine<br />

mir bekannte Mathematikerin an einem Lehrerseminar<br />

angewiesen, sich um ihr zukünftiges Kind zu<br />

kümmern und einem Mann Platz zu machen. Heute<br />

sind diese Kinder 40 Jahre alt und können sich kaum<br />

vorstellen, welche Entwicklung sich damals für eine<br />

Frau als angemessen schickte.<br />

Eine andere Reminiszenz aus meinen Jugendjahren<br />

ist weit entfernt von Selbstverwirklichung und<br />

geht eher in Richtung Selbstverdinglichung: In den<br />

damals grossen Industriewerken in Emmenbrücke<br />

im Kanton Luzern, wo einige Tausend Arbeiter beschäftigt<br />

wurden, gab es den Dreischichtenbetrieb<br />

und die vierzehntägliche gelbe Lohntüte. Der Lohn<br />

wurde auf dem Lohnbüro ohne Zählmaschinen berechnet.<br />

Aufbesserungen gab es manchmal im halben<br />

Rappenbereich. Um sechs Uhr früh traf man<br />

sich beim Schnaps im Spunten. So mussten im<br />

Rhythmus von 14 Tagen einige Arbeiterfrauen ihre<br />

Männer mit List und Takt aus den Beizen holen, damit<br />

das Lohntütlein nicht zu stark entleert wurde.<br />

Die Männer waren auf dem Selbstertränkungstrip,<br />

weil sie sich nicht selbst gehörten. Sie waren zuerst<br />

Arbeiter und erst am Sonntag ein wenig Menschen.<br />

Viele wussten nicht, dass sie nur als Verdingmen-<br />

schen gehalten wurden. Hundert Jahre lang waren<br />

sie an ihre Dinglichkeit gewöhnt worden. Ihr Selbst<br />

war zugeschüttet, die Bedürfnisse weggedrückt.<br />

Wurde der Druck zu gross, half das gebrannte Wasser:<br />

Sie konnten eine Stunde lang träumen. Die Befreiung<br />

zu ihrem Selbst musste noch eine Weile warten.<br />

Ein paar Jahrzehnte später brauste eine neue<br />

Welle der Verdinglichung über die westliche Welt:<br />

Das Zeitalter des Konsums hatte das Selbst zugedeckt.<br />

Nach dem Hunger die Verschwendung. Es war<br />

die Zeit der Anhäufung im Materiellen. Mann verwirklichte<br />

sich in den Pferdestärken, und Frau durfte<br />

sich im kurzen Rock auf dem Sozius präsentieren<br />

oder am Strand in Rimini. Nach Theodor W. Adorno<br />

war die Geschichte eine permanente Katastrophe.<br />

Verführt durch den Willen zur Macht, verfi el der<br />

Mensch im Herrschen über die Natur selbst dem<br />

Herrschaftsdenken. Er wurde vom Subjekt zum Objekt,<br />

zum Ding, das von den Dingen aufgefressen<br />

wird. Fortschritt ist in sein Gegenteil umgeschlagen.<br />

Noch etwas später und bis heute kam die Äufnung<br />

von Finanzwerten dazu, bis die Blase der globalen Illusion<br />

platzte und das Selbst nackt da stand. Nun<br />

kommt der Dalai Lama, spricht vor vollen Sälen, und<br />

die Schweizer Regierung ist verhindert. Zum Teil verständlich:<br />

Sie ist mit der UBS in Amerika beschäftigt.<br />

Oder in die chinesische Handelskammer eingeladen.<br />

Auch das ist Entwicklung.<br />

Verklärter Herbst<br />

Gewaltig endet so das Jahr<br />

Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.<br />

Rund schweigen Wälder wunderbar<br />

Und sind des Einsamen Gefährten.<br />

Da sagt der Landmann: Es ist gut.<br />

Ihr Abendglocken lang und leise<br />

Gebt noch zum Ende frohen Mut.<br />

Ein Vogelzug grüsst auf der Reise.<br />

Es ist der Liebe wilde Zeit<br />

Im Kahn den blauen Fluss hinunter.<br />

Wie schön sich Bild an Bildchen reiht.<br />

Das geht in Ruh und Schweigen unter.<br />

Georg Trakel<br />

Wachsen und zum Leben <strong>reifen</strong> Alles, was lebt,<br />

wächst bis zum Er<strong>wachsen</strong>sein, der Mensch, das Tier<br />

wie das Gewächs. Er<strong>wachsen</strong> sein ist folglich ein biologischer<br />

Terminus, wie Reife bzw. Reifung. Es sind<br />

Anleihen aus der Natur, die für den Menschen unzureichend<br />

sind. Die reife Frucht fällt oder wird gepfl<br />

ückt. Die er<strong>wachsen</strong>en Menschen würden sich dagegen<br />

verwahren, mit 20 Jahren gepfl ückt zu werden.<br />

Bei den Franzosen nennt man den Maturus am<br />

Ende des Gymnasiums einen Baccalaureatus, das<br />

heisst der mit Lorbeer Bekränzte. Früher gab es nur<br />

die männliche Form. Heute haben die jungen Frauen<br />

NOVAcura 10|09<br />

Dr. phil. Beat Vonarburg<br />

war während vieler Jahre<br />

in der Lehrerbildung und<br />

in der Bildungsverwaltung<br />

tätig und engagiert<br />

sich heute in Politik und<br />

Philosophie.<br />

bfvonarburg@bluewin.ch<br />

7


Foto: Edi Frei<br />

Ein Meister aus Deutschland<br />

Philosophie beginne erst,<br />

wenn wir den Mut haben,<br />

das Nichts begegnen zu<br />

lassen. Das Nichts ist nicht<br />

nichts, sondern etwas, das<br />

wir nicht zu fassen vermögen.<br />

Dem gegenüber sei<br />

der Mensch etwas Schöpferisches,<br />

wo aus nichts etwas<br />

und aus etwas nichts<br />

wird. Das sei das Positive<br />

der Lebensangst: Sie führt<br />

uns zur Möglichkeit der Gestaltung,<br />

sie führt uns zur<br />

Eigentlichkeit, zur Offenbarung,<br />

dass die Flucht vor<br />

dem Selbst ins Bodenlose<br />

führt. Man muss den<br />

Schock der Zufälligkeit zulassen,<br />

um der Neigung zur<br />

Flucht den Weg abzuschneiden.<br />

Heidegger und seine Zeit<br />

Nach R. Safransky, Hanser,<br />

1994<br />

die Mehrheit. Bei uns ist eine Matura 18 Jahre jung;<br />

vor zwei Jahrzehnten brauchte es noch 20 Jahre bis<br />

zu dieser Reife. Die religiöse Reife jedoch erreichen<br />

alle ohne Leistung mit 16. In Deutschland heissen<br />

die Lern-Reifen Abiturienten. Und politisch reif wird<br />

man in der Schweiz mit 18, auch ohne Anstrengung.<br />

Man muss nur die Jahre an<strong>wachsen</strong> lassen. Die Frage<br />

sei erlaubt, ob man in diesem Alterssegment bereits<br />

reif, das heisst emanzipiert, ist? Emanzipation bedeutet<br />

nämlich Besitzübernahme, man erreicht einen<br />

Zustand, in dem man sich in der Hand hält. Ein<br />

Fuhrhalter würde sagen, man halte fortan die Zügel<br />

in den Händen. Vorne am Zaumzeug sind die Pferde,<br />

die es zu zügeln gilt. Die Gereiften sind in der Lage,<br />

ihre Triebpferde selber zu zügeln, die Energie in vernünftige<br />

Bahnen zu lenken. Individuelles und politisches<br />

Ziel der Emanzipation ist die Befreiung von<br />

Fremdbestimmung. Der Weg dazu ist das Bewusstsein<br />

von Abhängigkeit, damit die Menschen fähig<br />

werden, die Freiheit für sich und die Gesellschaft gestalten<br />

zu wollen. Frage: Wie lange dauert der Weg<br />

der Befreiung?<br />

Mehr Ausdruck verschafft uns der Terminus der<br />

«Mündigkeit». Wer mündig ist, hat keinen Vormund,<br />

er darf seinen Mund selber brauchen und seinen<br />

Willen kundtun. Niemand steht ihm vor dem<br />

Mund. Er ist seines Wortes selber mächtig. Seit der<br />

Aufklärung kennen wir das berühmte Wort von Kant<br />

vom «Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit».<br />

Kant ersetzte die seit Aristoteles gesetzte<br />

Frage nach dem, was gut ist für mich, «durch die moralisch-politische<br />

Frage nach den Regeln eines gerechten<br />

Zusammenlebens, das gleichermassen gut<br />

ist für alle. Als gerecht gelten diejenigen Normen,<br />

die im gleichmässigen Interesse eines jeden liegen<br />

und daher auf die allgemeine Zustimmung vernünftiger<br />

Subjekte rechnen dürfen.» (J. Habermass, Wahrheit<br />

und Rechtfertigung, 1999)<br />

Zur Reife des Einzelnen wie der Gesellschaft gehört<br />

folglich die Autonomie, der autonome Lebensvollzug.<br />

Das bedeutet weder Willkür noch Egoismus,<br />

sondern ist die Fähigkeit, den eigenen Willen den<br />

Gesetzen zu unterwerfen, die aus der Vernunft des<br />

allgemeinen Willens entstanden sind. Rousseau hat<br />

diese Gesellschaftsvorstellung im «Contrat social»<br />

grundgelegt, was bedeutet, dass es sich um einen<br />

Vertrag unter mündigen Menschen handelt, um einen<br />

Vertrag auf Zeit, der auch gekündigt werden<br />

kann und somit der Willkür des damals geltenden<br />

Gottesgnadentum entzogen war. Wir können uns<br />

vorstellen, welche Sprengkraft in solchen Ideen angelegt<br />

war. Damals führte die Idee der Autonomie<br />

zur französischen Revolution, und heute sorgt sie<br />

in der Erziehungsdebatte noch immer für rote<br />

Köpfe.<br />

Erziehung zur Menschlichkeit Seit dem späten<br />

Mittelalter steht der Mensch im Zentrum der philosophischen<br />

Debatte. Im Humanismus wird versucht,<br />

die menschliche Selbstbestimmung zu defi nieren,<br />

Ziele und Werte aus der Sicht des Menschen zu formulieren.<br />

Diese kopernikanische Wende in der Philosophie<br />

wurde von R. Descartes eingeleitet. Der Mathematiker<br />

und Philosoph schrieb im «Discours de<br />

8 NOVAcura 10|09<br />

la méthode», 1637, dass sein Denken zuerst alles gemeinhin<br />

Angenommene radikal in Frage stelle bis<br />

zu einem Punkt, da er auf den eigenen Grund stosse<br />

und nicht weiterkomme. Auf diesem Grund angekommen,<br />

sagte er: «cogito, ergo sum», das heisst<br />

«ich denke, also bin ich». Und denken heisst bei<br />

Descartes zweifeln. Das Zweifeln war seine Methode,<br />

nicht das Ziel, denn er wollte verlässliche Antworten.<br />

Es galt, die Humanität in Konzepte zu fassen,<br />

human zu defi nieren, um ein Leben in Selbstbestimmung<br />

zu führen.<br />

Der heutige Philosoph Peter Sloterdijk (Regeln für<br />

den Menschenpark, 1999) wird bei der Humanismusdiskussion<br />

etwas polemisch. Er schreibt von Domestikation,<br />

von Selbstzähmung und Züchtung, lies<br />

Machtergreifung von Menschen über Menschen.<br />

Menschen seien Tiere, von denen die einen lesen<br />

und schreiben können. Das bedeute auch auslesen,<br />

die andern züchten, es gebe Züchter und Gezüchtete.<br />

Der Mensch als «animal rationale» habe nur<br />

eine erweiterte Animalität mit kulturellem und metaphysischem<br />

Überbau, der es erlaube, den Menschen<br />

zu entbestialisieren.<br />

Was kommt nach der Reife? 250 Jahre vorher<br />

heisst es bei Voltaire, wir lebten in den besten aller<br />

Welten. Am Schluss eines Lebens mit Katastrophen<br />

zu Hauf landet Candide bei einem orientalischen<br />

Weisen, der ihm folgenden Rat gibt: «Man muss seinen<br />

Garten besorgen.» Vor dem Haus sitzen und<br />

dem Wachsen zuhören. Das ist die Bescheidenheit,<br />

zu der der Weise gefunden hat. Sich und das Leben<br />

annehmen, das Werden und das Vergehen, die Vergänglichkeit,<br />

das Schrumpfen, die Runzeln und den<br />

Tod. Im Garten wird es wieder <strong>wachsen</strong>.<br />

Mit dieser Aussicht auf die Existenz ist der 1959<br />

verunfallte Albert Camus nicht einverstanden. Er<br />

fi ndet, der Tod sei der Skandal des Lebens, sich auf<br />

den Tod hin zu entwickeln, zur Vernichtung, sei absurd.<br />

Der Mensch befi nde sich in totaler Orientierungslosigkeit.<br />

Dazu ein Bild: Der Mensch ist irgendwo<br />

in einem Raum, der mit Chaos aufgefüllt<br />

ist. Um sich in diesem Absurdum einigermassen zu<br />

orientieren, kann er versuchen, das Chaos etwas zurückzudrängen<br />

und auf diese Weise einen relativen<br />

Raum der Ordnung zu schaffen. Das Ganze bleibt<br />

aber im Chaos gefangen, und die Kräfte des Absurden<br />

dringen dauernd in die mühsam erworbene<br />

Ordnung ein. Der Mensch ist wie der antike Held<br />

Sisyphus, der den Stein auf den Hügel trägt, obwohl<br />

er weiss, dass er oben wieder hinunterkollert.<br />

Sisyphus ist stark, er gibt nicht auf; ein ewiger<br />

Rebell.<br />

Könnte man sagen, in der Zeit nach der biologischen<br />

Reife wächst die Einsicht in das Ungewisse?<br />

M. Heidegger sagte, die Philosophie beginne erst,<br />

wenn wir den Mut haben, das Nichts begegnen zu<br />

lassen. Ich muss gestehen, auf dieser Höhe wird mir<br />

schwindlig. Ich respektiere die Dimension des Tragischen<br />

im Menschen, Voltaires Garten steht mir<br />

aber näher. Die Aussicht auf den ewigen Kreislauf eröffnet<br />

die Versöhnung. Nach der biologischen Reife<br />

kommt die Zeit des Friedens mit der Vergänglichkeit.<br />


Impressum<br />

NOVAcura – Offi zielles<br />

Organ von curahumanis<br />

40. Jahrgang<br />

Herausgeber<br />

curahumanis,<br />

Obergrundstrasse 44,<br />

6003 Luzern,<br />

Tel. 041 249 00 80,<br />

Fax 041 249 00 89,<br />

info@curahumanis.ch,<br />

www.nova-fachmagazin.ch,<br />

www.curahumanis.ch<br />

Redaktion<br />

Ruth Frei,<br />

Rebmesserweg 4b,<br />

6285 Hitzkirch,<br />

Tel./Fax 041 917 05 85,<br />

ruth.frei@curahumanis.ch<br />

Margrit Freivogel,<br />

Wissibach 9,<br />

6072 Sachseln,<br />

Tel./Fax 041 660 90 79,<br />

margrit.freivogel@<br />

cura humanis.ch<br />

Redaktionelle<br />

Mitarbeiter/innen<br />

Kathrin Derksen, Markus<br />

Feuz, Jürgen Georg, Linda<br />

Hutzler, Markus Kopp, Elke<br />

Steudter, Carsten Niebergall,<br />

Elvira Tschan, Walter Wyrsch,<br />

Fredy Durrer, Simone Heitlinger,<br />

Tomas Kobi, Ruth<br />

Manetsch, Brigitte Zaugg<br />

Layout, Druck und<br />

Spedition<br />

Stämpfl i Publikationen AG,<br />

Bern<br />

Anzeigenverwaltung<br />

Dr. Hans Balmer AG,<br />

Postfach 260, 4601 Olten,<br />

Tel. 062 212 25 55,<br />

Fax 062 212 86 47,<br />

nova-inserate@balmerwerbung.com<br />

Abonnentendienst<br />

siehe Herausgeber oben<br />

curahumanis<br />

Abonnentenpreis<br />

(Erscheinungsweise<br />

11-mal jährlich) Jahresabonnement:<br />

Inland Fr. 98.– inkl. 2,4%<br />

MWSt., Ausland EUR 75.–<br />

(3 Ausgaben) Schnupperabonnement:<br />

Inland Fr. 20.– inkl. 2,4%<br />

MWSt., Ausland EUR 20.–<br />

Einzelnummer<br />

Inland Fr. 11.– inkl. 2,4%<br />

MWSt., Ausland EUR 9.–<br />

ISSN 1422-4178<br />

WEMF-bestätigte<br />

Aufl age 2008:<br />

7910 Ex.<br />

Copyright<br />

Nachdruck nur mit schriftlicher<br />

Genehmigung der<br />

Redaktion und mit Quellenangabe.<br />

Für nicht angeforderte<br />

Manu skripte und Bilder<br />

übernimmt die Redaktion<br />

keine Verantwortung<br />

cura11|<br />

0 9<br />

NOVA<br />

Schlaf<br />

Nr. 11| 2009<br />

Schlaf<br />

Das Fachmagazin für Pfl ege und Betreuung<br />

Schlafen Sie gut? Wunderbar. Mit<br />

grosser Wahrscheinlichkeit freuen<br />

Sie sich jeweils darauf, abends unter<br />

die Decke zu kriechen. Sie<br />

schlafen vermutlich nach kurzer<br />

Zeit bereits ein, schlummern tief<br />

und fest und steigen am Morgen<br />

voller Elan wieder aus dem Bett.<br />

Glück gehabt. Viele Menschen<br />

klagen nämlich über Schlafprobleme.<br />

Die nächtlichen Stunden<br />

im Bett sind ihnen eine Qual.<br />

Klar, dass sich das nächtliche<br />

Wach sein auch auf die Tagesbefi<br />

ndlichkeit auswirkt. Wo die Ursachen<br />

für solche Probleme liegen,<br />

wie Betroffene damit umgehen<br />

und welche Möglichkeiten es<br />

gibt, um beispielsweise mit einer<br />

besseren Schlafhygiene die Probleme<br />

in den Griff zu bekommen,<br />

darüber berichten wir in der<br />

nächs ten NOVAcura.<br />

Cartoon<br />

Vorschau<br />

Wichtig ist aber auch, dass wir<br />

versuchen zu ergründen wie es<br />

nachts um die Befi ndlichkeit jener<br />

Menschen steht, die wir betreuen<br />

und pfl egen. Wie lang sind<br />

ihre Nächte? Wie sinnvoll sind<br />

Schlafmedikamente? Brauchen<br />

wir vermehrt Nachtangebote für<br />

Menschen, die nachts nicht schlafen<br />

können und wie können oder<br />

sollen solche aussehen?<br />

Sie sehen: die Themenpalette<br />

rund um das Schlafen ist breit.<br />

Vielleicht dient Ihnen die nächste<br />

NOVAcura als Bettlektüre. Sie werden<br />

dabei unter anderem auch<br />

erfahren, ob das oftmals gross<br />

pos tulierte «Lernen im Schlaf»<br />

möglich ist.


Von der Geburt bis zum Lebensende hat der Mensch sich unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben zu<br />

stellen, um letztlich zu einer gesunden Persönlichkeit zu werden. Während Kindheit und Jugend in erster<br />

Linie davon geprägt sind, dass er zu einem selbstständig denkenden und handelnden, sozial fähigen Wesen<br />

gedeiht, stehen im Er<strong>wachsen</strong>enalter jene Fragen im Vordergrund, wie nun der gereifte Mensch sein<br />

Leben konkret gestaltet, welche Lebensaufgaben er wählt, welche Ziele er mit welchen Mitteln erreichen<br />

will. Entscheidungen für oder gegen eine eigene Familie, mit der man das Leben an kommende Generationen<br />

weitergibt, und generell die Suche nach einem sinnerfüllten Leben sind bestimmend. Am Ende des<br />

Lebens fragt sich schliesslich jeder: «Was habe ich erreicht?» bzw. «Hat sich mein Leben gelohnt?»<br />

Thomas Hax-Schoppenhorst<br />

Der 1902 in Frankfurt am Main geborene Psychoanalytiker<br />

Eric H. Erikson defi nierte acht<br />

psychosoziale Stadien der Ich-Entwicklung,<br />

in denen der Einzelne eine neue Orientierung zu sich<br />

selbst und zu den Personen seiner Umwelt fi ndet.<br />

Für jedes Stadium werden Entwicklungsaufgaben<br />

(Leitmotive) formuliert, die positiv oder negativ bewältigt<br />

werden können. Das Modell geht also davon<br />

aus, dass jeder Mensch sich in Stufen ent wickelt, die<br />

in jedem von Geburt an angelegt sind. Jede dieser<br />

Stufen besitzt eine besondere Thematik, die jeweils<br />

in der entsprechenden Stufe aktuell wird. Die Aktualität<br />

eines Themas steigert sich schlussendlich zu einer<br />

Krise. Wurde die Krise bewältigt, folgt die nächste<br />

Stufe. Im Lebenszyklus eines Menschen entwickeln<br />

sich, in aufsteigender Reihenfolge, Hoffnung, Wille,<br />

Entschlusskraft, Kompetenz, Treue, Liebe, Fürsorge<br />

und Weisheit – acht Stufen bis zum Glück.<br />

Generativität und Integrität Die fünf Stadien von<br />

Kindheit und Jugend können hier nicht Thema sein.<br />

Im Zusammenhang mit der Betreuung und Pfl ege alter<br />

Menschen sind Eriksons Ausführungen zu den<br />

letzten beiden der drei Stadien des Er<strong>wachsen</strong>enlebens<br />

jedoch erwähnenswert. Im Stadium «Generativität<br />

gegen Stagnierung» (Stadium 7) bezieht er<br />

sich auf die Elternschaft. «Eltern», so Erikson, «werden<br />

bald wünschen (…), mit vereinter Kraft einen<br />

gemeinsamen Sprössling aufzuziehen. Diesen<br />

Wunsch habe ich das Streben nach Generativität ge-<br />

NOVAcura 10|09<br />

9<br />

Illustration: Elias Frei


Thomas Hax-Schoppenhorst<br />

ist pädagogischer<br />

Mitarbeiter an der LVR-<br />

Klinik Düren (D) und<br />

Lehrer an Schulen für<br />

Pfl egeberufe sowie Sachbuchautor.<br />

Thascho@gmx.de<br />

nannt, weil es sich (…) auf die nächste Generation<br />

richtet.» Generativität ist also das Interesse an der<br />

Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation.<br />

Doch nicht nur Eltern zeigen dieses Interesse, denn<br />

es gibt auch Menschen, die «wegen unglücklicher<br />

Umstände oder aufgrund besonderer Gaben diesen<br />

Trieb nicht auf ein Kind, sondern auf eine andere<br />

schöpferische Leistung richten, die ihren Teil an elterlicher<br />

Verantwortung absorbieren kann.» Menschen,<br />

die keine Generativität entwickeln, «fallen<br />

oft sich selbst gegenüber dem Gefühl anheim, als<br />

seien sie ihr eigenes, einziges Kind: sie beginnen sich<br />

selber zu verwöhnen.» Das Stadium der Generativität<br />

gilt es jedoch zu entwickeln bzw. zu gestalten!<br />

Blosse Elternschaft bzw. blosses Tun ohne ein Ziel<br />

vor Augen genügen nicht. Der Mensch braucht nach<br />

Erikson schon ein stabiles «Vertrauen in die Gattung»,<br />

um nicht bis zum Lebensende nur mit sich<br />

beschäftigt zu sein.<br />

Ist es gelungen, dem Leben ein ganz individuelles,<br />

markantes Profi l zu geben, konnten Spuren hinterlassen<br />

werden, denen andere interessiert folgen,<br />

so erreicht in späten Lebensjahren der Mensch Integrität<br />

(Stadium 8). «Nur wer einmal die Sorge für<br />

Dinge und Menschen auf sich genommen hat, wer<br />

sich den Triumphen und Enttäuschungen angepasst<br />

hat, (…) – nur dem kann allmählich die Frucht dieser<br />

[vorausgehenden, d. V.] sieben Stadien heran<strong>wachsen</strong>.<br />

Ich weiss kein besseres Wort dafür als Integrität»,<br />

fasst Erikson zusammen. Dieser seelische<br />

Zustand «bedeutet die Annahme seines einen und<br />

einzigen Lebenszyklus und der Menschen, die in<br />

ihm notwendig da sein mussten und durch keine<br />

anderen ersetzt werden können. Er bedeutet eine<br />

neue, andere Liebe zu den Eltern, frei von dem<br />

Wunsch, sie möchten anders gewesen sein als sie waren,<br />

und die Bejahung der Tatsache, dass man für<br />

das eigene Leben allein verantwortlich ist. Er enthält<br />

ein Gefühl von Kameradschaft zu den Männern und<br />

Frauen ferner Zeiten und Lebensformen, die Ordnungen<br />

und Dinge und Lehren schufen, welche die<br />

menschliche Würde und Liebe vermehrt haben.»<br />

Gandhi und Luther waren für Erikson exemplarische<br />

und überlebensgrosse Gestalten, an denen sich<br />

der Kampf um Identität und Generativität gut verdeutlichen<br />

lässt: Sie hielten unbeirrbar an ihrem eingeschlagenen<br />

Weg fest, sie waren von ihrem Tun fest<br />

überzeugt, sie rissen die Menschen mit und zeigten<br />

sich kämpferisch und altruistisch zugleich.<br />

Grossvaters Schreibtisch Kurz vor meiner Einschulung<br />

besuche ich gemeinsam mit meiner Mutter<br />

meine Grosseltern. Mein Grossvater, ehemaliger<br />

Schulrektor, ist ein imposanter Mann. Aus Erzählungen<br />

weiss ich, dass er als guter Lehrer und bei Kollegen<br />

und Schülern geachtet, dass er mit Leib und<br />

Seele Pädagoge war. Sein Auftreten besteht in meiner<br />

kindlichen Wahrnehmung aus einer angenehmen<br />

Mischung aus Güte, Weisheit und Strenge. In<br />

seiner Nähe zu sein, löst in mir Respekt aus – es ist<br />

mir aber keineswegs unangenehm. Eines Morgens –<br />

meine Mutter ist mit meiner Grossmutter beim Einkaufen<br />

– schellt der Postbote, um neben einem Brief<br />

auch eine Barauszahlung abzugeben. Mein Opa<br />

10 NOVAcura 10|09<br />

nimmt diese an und verabschiedet den Boten freundlich.<br />

Danach geht er mit mir in das Arbeitszimmer<br />

an einen grossen, sehr alten Schreibtisch, öffnet die<br />

Schublade und legt die Geldscheine und einige Münzen<br />

sorgfältig und sichtlich mit Stolz hinein. Auf<br />

meine Frage, wer denn das Geld wofür geschickt<br />

habe, informiert mich mein Grossvater bereitwillig:<br />

Er war, auch noch längere Zeit über seine Pensionierung<br />

hinaus, für einen Schulbuchverlag als Autor tätig.<br />

Sein grosses Wissen und seine Fähigkeit, jungen<br />

Menschen komplizierte Sachverhalte anschaulich zu<br />

vermitteln, liessen dem Verlagsleiter meinen Opa als<br />

Autor geeignet erscheinen. Für die verkauften Bücher<br />

bekommt er seit Jahrzehnten zum Jahresbeginn<br />

etwas Geld – nicht viel, aber darum scheint es ihm<br />

auch nicht zu gehen. Er steht auf, geht zum Regal,<br />

zieht ein Buch hervor, öffnet es, wendet sein Inneres<br />

mir zu und zeigt auf einer der ersten Seiten geradezu<br />

andächtig auf seinen Namen. Mein Grossvater,<br />

ein frommer, höchst bescheidener und zurückhaltender<br />

Mensch, strahlt! Er setzt sich zurück an den<br />

Schreibtisch, legt die Hände auf die abgenutzte lederne<br />

Schreibtischunterlage und schaut mich an.<br />

«Das Schreiben macht mir Spass», sagt er. «Wenn Du<br />

etwas Sinnvolles schreibst, tust Du der Menschheit<br />

etwas Gutes und berührst mit der Spitze eines Fingers<br />

ein Zipfelchen von der Ewigkeit.» Obwohl ich<br />

sehr jung war, ahnte ich, was er meinte. Mein Grossvater<br />

hat nicht nur bei seinen Kindern, er hat auch<br />

bei mir Eindruck hinterlassen! Auch ich wurde<br />

Pädagoge, seit 20 Jahren schreibe ich … Mein Grossvater<br />

war ein höchst generativer Mensch!<br />

« Wenn Du etwas Sinnvolles<br />

schreibst, tust Du der Menschheit<br />

etwas Gutes und berührst mit<br />

der Spitze eines Fingers ein Zipfelchen<br />

von der Ewigkeit.»<br />

Persönliches Profi l Nun können nicht alle Menschen<br />

leben wie Gandhi oder Luther bzw. Bücher<br />

schreiben. Generativität und Integrität lassen sich<br />

zwar recht gut mit diesen exponierten Beispielen erklären,<br />

letztlich aber ist der von aussen erkennbare<br />

Erfolg nicht das entscheidende Kriterium. Wer in die<br />

Jahre gekommen ist, schaut – manchmal gelassen,<br />

mitunter nachdenklich – auf das zurück, was war;<br />

zugleich kann damit die Frage verbunden sein, was<br />

es noch zu tun gilt. Im Zusammensein mit den Kindern<br />

erleben die älter gewordenen Eltern, was diese<br />

von ihnen übernommen haben und was sie von ihnen<br />

unterscheidet. Sie sind voller Hoffnung, dass der<br />

eingeschlagene Weg ihrer Kinder der richtige ist, geben<br />

Unterstützung und Rat und erfahren im Idealfall<br />

im Gegenzug Dankbarkeit, Anerkennung und<br />

Zuwendung. Prägt ein insgesamt gutes Gefühl diese<br />

Beziehung, können die alt Gewordenen leichter loslassen;<br />

sie haben die Gewissheit, dass ein Teil ihres<br />

Schaffens und Strebens in der nachfolgenden Generation<br />

weiterlebt.


Aber auch die kinderlos Gebliebenen ziehen ihre<br />

Bilanz. Vielleicht erinnern sie sich zufrieden an ihre<br />

aktive Zeit in diversen Vereinen, vielleicht zeigen sie<br />

sich auch noch im höheren Alter in irgendeiner<br />

Weise nützlich und entwickeln damit das Gefühl,<br />

das Steuer nicht abzugeben und das Leben aktiv mitzugestalten.<br />

Wer an seinem persönlichen Profi l arbeitet,<br />

erteilt dem alltäglichen Einerlei eine Absage<br />

und zeigt der Gleichgültigkeit die Stirn. «Nach mir<br />

die Sintfl ut!» – Sprüche wie diese sind für den generativen,<br />

Integrität entwickelnden Menschen ein absolutes<br />

Tabu.<br />

Geschichten erzählen Der Publizist Heiko Ernst<br />

hebt hervor, dass generative Menschen sich und anderen<br />

ihre Geschichte auf eine typische, bestimmte<br />

Weise erzählen. Sie fassen ihr Leben als eine sehr<br />

wohl erzählbare, sinnvolle Geschichte mit einem<br />

guten Schluss auf. Solche Geschichten ermöglichen<br />

folglich eine tröstliche, versöhnliche Perspektive. Es<br />

macht wenig Angst, auch an den Schluss zu denken.<br />

Das persönliche Ende muss nicht das Ende aller Geschichten<br />

sein. Voraussetzung hierfür ist, dass im<br />

mittleren Er<strong>wachsen</strong>enalter Generativität zum Leitthema<br />

des Lebens gemacht wurde. Nach Studien erzählen<br />

sich generative Er<strong>wachsen</strong>e überwiegend solche<br />

Geschichten, in denen sie Krisen und Konfl ikte<br />

überwinden und auf ein Happy End zusteuern konnten.<br />

Ihr Fazit: Ich habe trotz aller Probleme aus meinem<br />

Leben etwas gemacht!<br />

Aus diesen Erkenntnissen lassen sich wichtige<br />

Empfehlungen für den Umgang mit alten Menschen<br />

in den Einrichtungen ableiten. Pfl egende sollten<br />

auch ihr Gegenüber ermuntern, ihre Geschichte zu<br />

erzählen. Selbst bei insgesamt tragischen Lebensverläufen<br />

fi nden sich bei fast allen Menschen die Geschichten,<br />

aus denen sie «siegreich» und gereift her-<br />

vorgegangen sind. Manchmal bedarf es lediglich eines<br />

behutsamen Nachfragens bzw. einer Ermunterung,<br />

auch die kleinen Erfolge zu würdigen, bis dann<br />

doch die Erinnerung einsetzt. Ausserdem werden<br />

durch dieses Vorgehen alte Menschen angehalten,<br />

dem vielleicht aus dem Auge verlorenen «roten Faden»<br />

ihres Lebens nachzuspüren, das Gewesene als<br />

Mosaik zu betrachten, das sich langsam – Stein für<br />

Stein – zusammenfügt. Es mag sein, dass die vielen<br />

Älteren eigene grosse Bescheidenheit der klaren Benennung<br />

des Geleisteten zunächst im Wege steht,<br />

dennoch sollten Pfl egende Hilfestellung geben, wenn<br />

die Frage «Hat es sich gelohnt?» spürbar im Raum<br />

steht. Vielfach zweifeln Menschen im hohen Alter<br />

an ihren Leistungen und Erfolgen und sehen mehr<br />

die aufgekommenen Schatten und dunklen Wolken<br />

als das wärmende Licht. Hier kann die gezielte Würdigung<br />

der Lebensleistung, die es im Gespräch wach<br />

zu halten gilt, das Gefühl neu aufl eben lassen, doch<br />

eine Menge geschafft zu haben. Es gilt den zu Pfl egenden<br />

klar zu machen, dass bzw. welche Spuren sie<br />

in ihrem Leben gelegt und damit hinterlassen haben.<br />

Wer, wenn nicht Sie?! Allein durch ihre Berufswahl<br />

haben sich Pfl egende für Generativität, für ein sinnerfülltes<br />

Handeln, das auch noch nach ihrem Leben<br />

Wirkung zeigt, entschieden. Den ihnen Anempfohlenen<br />

zollen sie Respekt und transportieren somit<br />

nachhaltig die Botschaft von der Würde des Menschen.<br />

Sie begleiten alte Menschen bei ihrer Lebensbilanz<br />

und stärken sie in der Gewissheit, dass sie sich<br />

dem Leben mit Erfolg gestellt haben. Sie ermuntern<br />

sie, sich mit ihrem Leben zu versöhnen und dieses<br />

– irgendwann – als «rund» abschliessen zu können.<br />

Pfl egende sind somit in aller Regel Menschen, die<br />

viel geben, vieles weitergeben und damit «Spurenleger»<br />

und «Spurensucher» im besten Sinne sind. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Es gilt zu sehen, welche<br />

Spuren Menschen in<br />

ihrem Leben gelegt und<br />

damit hinterlassen haben.<br />

Foto: Martin Glauser<br />

Literatur<br />

Erikson, E. H. (1966).<br />

Identität und Lebenszyklus.<br />

Drei Aufsätze. Frankfurt<br />

am Main: Suhrkamp.<br />

Ernst, H. (2008). Weitergeben!<br />

Anstiftung zum<br />

generativen Leben.<br />

Hamburg: Hoffmann und<br />

Campe.<br />

11


Die Hoffnung nicht aufgeben<br />

Zwischen Machtlosigkeit und «Auferstehung» im Alter<br />

Krankheit, Gebrechlichkeit, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, beeinträchtigen<br />

die Freude am Leben. Menschen, die keine Hoffnung haben, ziehen sich zurück. Was kann Menschen<br />

dazu bewegen, dass sie – trotz allem – wieder am Leben teilnehmen? Welchen Beitrag, kann, muss<br />

und soll das Umfeld leisten? «Manchmal stehen wir auf – stehen wir zur Auferstehung auf – mitten am<br />

Tage ...», so schreibt die Dichterin Maria Luise Kaschnitz. Die Interpretation ihres Gedichts und Beispiele<br />

aus dem Pfl egealltag zeigen Möglichkeiten. Sylke Werner<br />

Sylke Werner ist Altenpfl<br />

egerin, Bachelor of<br />

Science (B. Sc.) Pfl ege-/<br />

Gesundheitsmanagement.<br />

Sylke.Werner63@web.de<br />

Auferstehung<br />

Manchmal stehen wir auf<br />

Stehen wir zur Auferstehung auf<br />

Mitten am Tage<br />

Mit unserem lebendigen Haar<br />

Mit unserer atmenden Haut.<br />

Nur das Gewohnte ist um uns.<br />

Keine Fata Morgana von Palmen<br />

Mit weidenden Löwen<br />

Und sanften Wölfen.<br />

Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken<br />

Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.<br />

Und dennoch leicht<br />

Und dennoch unverwundbar<br />

Geordnet in geheimnisvolle Ordnung<br />

Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.<br />

Marie Luise Kaschnitz<br />

Frau Vincenz, 80 Jahre, ist dement. Als sie vor<br />

einem Jahr ins Pfl egeheim kam, sprach sie<br />

kaum, konnte sich nicht selbstständig bewegen,<br />

hatte wenig Appetit.<br />

Mittlerweile antwortet sie je nach Befi nden auf<br />

Fragen, spricht nach, was Schwestern und Bewohner<br />

sagen und gibt deutlich zu verstehen, was sie<br />

möchte und was nicht. Sie läuft am Rollator, manchmal<br />

sogar ein paar Schritte ohne Hilfe.<br />

Frau Harms, 86 Jahre alt, lebt ebenfalls in einem<br />

Pfl egeheim.<br />

Bis zu ihrem Schlaganfall versorgte sie sich selbst,<br />

war mit ihrem Gehstock mobil und äusserte sehr<br />

überzeugend Wünsche und Bedürfnisse. Über einen<br />

Monat weilte sie im Spital. Als sie ins Heim zurückkam,<br />

konnte sie nicht mehr stehen und gehen, war<br />

zeitweise nicht ansprechbar. Ihr rechter Arm war<br />

vollständig gelähmt. Sie benötigte vollständige Unterstützung.<br />

Heute, mehrere Jahre nach dem Schlaganfall,<br />

ist Frau Harms wieder wie früher, schwingt<br />

ihren Gehstock und lässt sich nicht «die Butter vom<br />

Brot nehmen».<br />

Umstände, die zum «Rückzug» führen? Krankheit,<br />

Depression, Einsamkeit und das Gefühl, auf fremde<br />

Hilfe angewiesen zu sein, nehmen die Freude am Leben.<br />

Pfl egebedürftige, die nicht mehr wie früher am<br />

gesellschaftlichen Leben teilnehmen<br />

und um sich selbst kümmern können,<br />

erfahren genau das. Sie fühlen<br />

sich machtlos, denn «... mit einem<br />

12 NOVAcura 10|09<br />

Etikett versehen zu werden, dass mit<br />

Unterlegenheit gegenüber anderen<br />

Personen konnotiert ist ...» (z.B. bei<br />

Demenz oder körperlichen Behinderungen)<br />

oder «... als erniedrigend<br />

empfundene Tätigkeiten/Rollen übernehmen<br />

müssen und frühere befriedigende<br />

und geschätzte Tätigkeiten/<br />

Rollen nicht mehr ausüben zu können»<br />

führen zur Machtlosigkeit (Fitzgerald<br />

Miller, S. 170). Betroffene fühlen<br />

sich inkompetent und nutzlos.<br />

Chronische Krankheiten sind eine<br />

Ursache für Machtlosigkeit bei älteren<br />

Menschen. Sie können gewohnten<br />

Aktivitäten nur noch in begrenz-<br />

tem Umfang nachgehen, sind zunehmend auf<br />

fremde Hilfe angewiesen und in ihrer Entscheidungsfähigkeit<br />

eingeschränkt. Kontrolle über das eigene<br />

Leben zu haben, Unabhängigkeit und die Fähigkeit,<br />

sich selbst zu versorgen, sind wichtige Aspekte<br />

in unserem Leben.<br />

«Machtlosigkeit ist eine der häufi gsten Pfl egediagnosen<br />

bei Senioren, die in eine Akutpfl egeeinrichtung<br />

kommen» (Fitzgerald Miller, S. 171).<br />

Auch Frau Vincenz war machtlos, als sie ins Pfl egeheim<br />

kam. Doch sie «stand wieder auf», nimmt<br />

am Alltag im Heim teil und wirkt zufrieden. Vielleicht<br />

dachte sie an Momente eines erfüllten Lebens<br />

zurück, an ihre Kindheit, ihre Eltern, an gemeinsame<br />

Erlebnisse mit ihrem Mann und spürte die Sorge der<br />

Pfl egenden, die mit ihr sprachen und sich mit ihr<br />

beschäftigten. Das liess sie hoffen und «auferstehen».<br />

Verliert ein Mensch die Hoffnung, kann das zum<br />

Rückzug und sogar zum vorzeitigen Tod führen.<br />

Heimbewohner, die heute in eine stationäre Pfl egeeinrichtung<br />

einziehen, versterben häufi g innerhalb<br />

eines relativ kurzen Zeitraums. Ein unfreiwilliger<br />

Umzug in ein Pfl egeheim nimmt einem alten Menschen<br />

den letzten Rest von Kontrolle. Für die meisten<br />

alten Menschen bedeutet das Pfl egeheim die<br />

letzte Station in ihrem Leben. Sie nehmen ihre Situation<br />

bewusst war, vergleichen die Gegenwart mit der<br />

Vergangenheit und nehmen kleinste Veränderungen<br />

ihres Gesundheitszustandes sofort wahr, was sich<br />

unmittelbar auf ihr seelisches Befi nden auswirkt.<br />

Frau Friedrich war eine lustige und aktive Frau.<br />

Sie war Diabetikern. Ausserdem war sie auf regelmässige<br />

Dialyse angewiesen. Frau Friedrich schöpfte ihre<br />

Ressourcen aus und versorgte sich weitestgehend<br />

selbst. Sie nahm nur kleine Hilfestellungen in Anspruch.<br />

Unsere Hilfe benötigte sie, wenn sie Schmerzen<br />

hatte oder sich ihren Kummer von der Seele reden<br />

musste. Sie weinte oft. Vier Wochen nach ihrem<br />

Einzug, um die Weihnachtszeit, zog sie sich während<br />

eines Ausfl uges mit Angehörigen einen Schenkelhalsbruch<br />

zu.<br />

Aus dem Spital kam sie nicht mehr zurück ...<br />

Frau Vincenz und Frau Harms, beide psychisch<br />

krank, sind dagegen voller Lebensmut. Frau Vincenz<br />

geniesst es, Mitbewohner, Pfl egepersonal und Angehörige<br />

mit ihren kecken Sprüchen zu überraschen.


Sie scheint das Hier-und-Jetzt zu geniessen. Jeder Tag<br />

ist für sie neu und lebenswert.<br />

Frau Harms lebt weiter «in ihrer Welt», wobei sie<br />

viel Wert auf Selbstständigkeit und Entscheidungsfähigkeit<br />

legt.<br />

Die Unberechenbarkeit des Schweregrades und<br />

der Krankheitsverlauf bereiteten Frau Friedrich<br />

gros se Angst. Krankheit und Behinderung griffen ihr<br />

Selbstwertgefühl und ihre Unabhängigkeit als Person<br />

an. Der Einzug ins Pfl egeheim sowie die Einweisung<br />

ins Spital verstärkten dieses Gefühl bis hin zu<br />

einer gewissen Bedrohung.<br />

«Gelingt es nicht, das Gefühl der Machtlosigkeit<br />

unter Kontrolle zu bringen, setzt ein Kreislauf aus<br />

Machtlosigkeit, Depression und Hoffnungslosigkeit<br />

ein, der zum Wegbereiter des Todes werden kann»<br />

(Fitzgerald Miller, S. 170).<br />

Was bewegt den betroffenen Menschen, wieder am<br />

Leben teilzunehmen?<br />

«Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken<br />

Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.»<br />

Das Leben geht weiter. Ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl<br />

bei älteren Menschen fördert den Kampf gegen<br />

Verzweifl ung und trägt zur Ich-Integrität bei, anstatt<br />

die Hoffnung zu verlieren und sich machtlos<br />

zu fühlen.<br />

Ein wichtiger Indikator ist die Entscheidungsfreiheit.<br />

Das ist besonders für die Pfl ege und Betreuung<br />

in Pfl egeeinrichtungen von Bedeutung. Studien belegen,<br />

dass sich Heimbewohner, die selbst entscheiden<br />

können, wohler fühlen, zufriedener sind und<br />

eine bessere Stimmungslage aufweisen. (Fitzgerald<br />

Miller, S. 174)<br />

Die Bewältigung von Anforderungen und Verlusten<br />

hängt auch von der psychischen Widerstandskraft<br />

des Menschen ab, von den Erfahrungen, die er<br />

diesbezüglich im Leben bereits gemacht hat.<br />

Frau Harms wurde im Zweiten Weltkrieg während<br />

eines Bombenangriffs verschüttet. Diese Erfahrung,<br />

dem Tod so nahe gewesen zu sein und überlebt zu<br />

haben, begleitet sie ihr ganzes Leben. Ihre Psyche ist<br />

krank, aber ihre Widerstandskraft scheint ungebrochen.<br />

Sie will am Leben teilhaben. In der Pfl egeeinrichtung<br />

fühlt sie sich wohl. Sie hat das Gefühl, Entscheidungen<br />

selbst zu treffen.<br />

«Nur das Gewohnte ist um uns.<br />

Keine Fata Morgana von Palmen<br />

Mit weidenden Löwen<br />

Und sanften Wölfen.»<br />

Betroffene müssen die Realität akzeptieren, nicht in<br />

eine Scheinwelt fl üchten und die Zuversicht verlieren.<br />

Die Situation annehmen, die verbliebenen<br />

Ressourcen entdecken und sich auf die Fähigkeiten<br />

besinnen, die noch erhalten sind – das klingt einfacher,<br />

als es tatsächlich ist. Dazu gehören Selbstakzeptanz,<br />

positive Beziehungen zu anderen, erfolgreiche<br />

Gestaltung des Umfelds, Sinnfi ndung und<br />

Persönlichkeitswachstum.<br />

Die meisten alten Menschen wie Frau Vincenz<br />

oder Frau Harms haben im Laufe ihres Lebens unterschiedliche<br />

Probleme bewältigt, und es gelang ihnen,<br />

solche Erfahrungen für sich bewusst oder unbewusst<br />

fruchtbar zu machen. Sie haben gelernt,<br />

nicht zu früh zu resignieren oder die Hoffnung zu<br />

verlieren.<br />

Pfl egende können helfen, diese Erfolge ins Gedächtnis<br />

zurückzurufen.<br />

Der Einfl uss von Pfl egenden und Angehörigen<br />

Pfl egende, Angehörige und weitere Kontaktpersonen<br />

müssen die Machtlosigkeit erkennen und Massnahmen<br />

erg<strong>reifen</strong>, um der daraus resultierenden Hoffnungslosigkeit<br />

entgegenzuwirken.<br />

Elementare Bedürfnisse nach Nahrung und Sicherheit<br />

werden im Pfl egeheim gewöhnlich befrie-<br />

NOVAcura 10|09<br />

Trotz allem: Das Leben<br />

geht weiter ...<br />

Illustration: Elias Frei<br />

13


Literatur<br />

Abt-Zegelin, A. (2009).<br />

Mein Fuss muss immer<br />

rausgucken – persönliche<br />

Anmerkungen zur Patientenverfügung.<br />

In: M. W.<br />

Schnell (Hrsg.): Patientenverfügung.<br />

Begleitung<br />

am Lebensende im Zeichen<br />

des verfügten Patientenwillens<br />

– Kurzlehrbuch<br />

für die Palliative<br />

Care. Bern: Huber.<br />

Fitzgerald Miller, J., Bohm<br />

Oertel, Ch. (2003). Machtlosigkeit<br />

bei Senioren.<br />

In: Fitzgerald Miller, J.<br />

(2003). Coping fördern –<br />

Machtlosigkeit überwinden.<br />

Hilfen zur Bewältigung<br />

chronischen<br />

Krankseins. Bern: Huber.<br />

Wingenfeld, K. (2008).<br />

Stationäre pfl egerische<br />

Versorgung alter Menschen.<br />

In: Kuhlmey, A.,<br />

Schaeffer, D. (Hrsg.)<br />

(2008). Alter, Gesundheit<br />

und Krankheit. Bern:<br />

Huber.<br />

Kaschnitz, M. L. (1962).<br />

Dein Schweigen – meine<br />

Stimme. Gedichte 1958–<br />

1961. – Hamburg: Claassen.<br />

Pfl egende sollten ihren älteren Klienten helfen,<br />

ihre persönlichen Ressourcen zu nutzen.<br />

Foto: Martin Glauser<br />

digt. Bedürfnisse nach Liebe, sozialer und gesellschaftlicher<br />

Anerkennung, Würde und Selbstwert<br />

fi nden jedoch weniger Beachtung. Hier kommt den<br />

Pfl egenden, Betreuenden und Angehörigen eine<br />

wichtige Aufgabe zu.<br />

Jede Massnahme, die einem Menschen das Gefühl<br />

gibt, mehr Kontrolle über sein Leben zu haben,<br />

steigert das allgemeine Wohlbefi nden und wirkt sich<br />

günstig auf seine Lebenserwartung aus.<br />

Pfl egende sollten den Bewohner/innen ein Lebensumfeld<br />

schaffen, das ihnen Autonomie und<br />

bestmögliche Pfl ege gewährt. Die Möglichkeit, selbst<br />

entscheiden zu können und Kontrolle zu haben,<br />

spielt eine grosse Rolle. Bewohner/innen können<br />

zum Beispiel ihr Essen selbst auswählen, ihre Kleidung<br />

aussuchen und den Friseurtermin selbst bestimmen.<br />

Alle Aktivitäten und Pfl egemassnahmen<br />

orientieren sich an der Biografi e. Wie schlimm muss<br />

es sein, wenn man plötzlich aus seinem gewohnten<br />

Lebensrhythmus herausgerissen wird, um sich dem<br />

Reglement eines Pfl egeheimes unterordnen zu müssen,<br />

mit festgelegten Weckzeiten, Essenszeiten, Aktivitäten<br />

und Zu-Bett-geh-Zeiten. «Wahrscheinlich<br />

können sich nur wenige von uns vorstellen, unter<br />

welchen Bedingungen ein Dasein noch ‹lebenswert›<br />

sein kann ...», so umschreibt die Situation Abt-Zegelin.<br />

Abt-Zegelin zeigt in ihrem Text «Mein linker Fuss<br />

muss immer wieder rausgucken ...» eindrücklich, wie<br />

Pfl ege im Sinne von Autonomie in einer Pfl egeeinrichtung<br />

sein sollte. Ihre Vorstellungen teilt sie hoffentlich<br />

mit uns allen, sicher aber vor allem mit älteren<br />

pfl egebedürftigen Menschen, die bereits im<br />

Pfl egeheim leben.<br />

14 NOVAcura 10|09<br />

Das Umfeld, die Beziehung der Bewohner zu Pfl egenden<br />

und Angehörigen spielt eine grosse Rolle.<br />

Die Pfl egenden mobilisierten beispielsweise Frau<br />

Vincenz immer wieder, nahmen sich ausreichend<br />

Zeit beim Reichen der Mahlzeiten und sprachen mit<br />

ihr. Heute unterhält sie mit ihrem Charme und ihren<br />

Sprüchen Mitbewohner und Personal und<br />

nascht am liebsten Schokolade.<br />

Wichtig ist auch, wie pfl egebedürftige alte Menschen<br />

den Umzug ins Pfl egeheim empfi nden: Haben<br />

Angehörige und Betreuende mit dem Betroffenen<br />

darüber gesprochen? Pfl egebedürftigkeit entwickelt<br />

sich nicht unbedingt plötzlich. Im Laufe der Zeit<br />

entwickeln sich chronische Krankheiten, körperliche<br />

und geistige Einschränkungen. Wie damit umgegangen<br />

wird, hängt auch davon ab, wie der alte<br />

Mensch im Leben gelernt hat, mit Krankheiten umzugehen,<br />

und wie er überhaupt mit dem Alter umgeht.<br />

Entscheidend ist dabei, dass Betroffene immer<br />

wieder Ressourcen erkennen können und diese selber<br />

nutzen. Das bedeutet auch, dass Hilfe und Unterstützung<br />

angenommen werden muss. Pfl egende<br />

sollten ihren älteren Klienten helfen, ihre persönlichen<br />

Ressourcen zu nutzen. Seniorenzentren, Essen<br />

auf Rädern oder Transportdienste sind nur einige der<br />

Möglichkeiten, die dabei hilfreich sind. Ältere Menschen<br />

sollten zwischen den Angeboten wählen können,<br />

wenn es darum geht, die Bedürfnisse zu befriedigen<br />

und Ressourcen zu nutzen.<br />

Religion und Spiritualität gewinnen mit zunehmendem<br />

Altern meist an Bedeutung. Wer inneren<br />

Frieden fi ndet, muss weniger verzweifeln. Manchen<br />

Menschen hilft die Zwiesprache mit Gott über Einsamkeit<br />

und Hoffnungslosigkeit hinweg.<br />

Wenn sich Pfl egebedürftige machtlos fühlen und<br />

das Gefühl haben, sie könnten nichts an ihrer Situation<br />

ändern, erscheint ihnen meist auch das Aneignen<br />

neuer Kenntnisse und zielgerichtetes Handeln<br />

überfl üssig. Gerade diese beiden Faktoren beeinfl ussen<br />

aber, ob eine Anpassung an eine Krankheit oder<br />

Situation gelingt oder scheitert.<br />

Massnahmen, Machtlosigkeit zu überwinden und<br />

das Kontrollgefühl älterer Pfl egebedürftiger zu verstärken<br />

sind:<br />

Auswahlmöglichkeiten schaffen und damit Entscheidungsfähigkeit<br />

erhalten<br />

Stereotype vermeiden, die Hilfl osigkeit fördern<br />

wie: «Alt zu sein bedeutet, nicht mehr für sich<br />

selbst sorgen zu können.»<br />

verhindern, dass sich Betroffene Schuld am Verlauf<br />

der Dinge geben und sie zur Mitgestaltung<br />

der Versorgung motivieren<br />

Erfolgserlebnisse durch realistische Ziele<br />

unrealistische Erwartungen modifi zieren, ohne<br />

die Hoffnung zu nehmen<br />

Kontrollgefühl durch Kommunikation erhöhen,<br />

denn die Beziehung zum Pfl egebedürftigen ist das<br />

wichtigste Werkzeug der Pfl egekraft (Fitzgerald<br />

Miller, S. 184).<br />

Die Möglichkeit Pfl egebedürftiger, an bisherigen<br />

Lebensgewohnheiten festhalten zu können, hilft<br />

dabei, zu hoffen und immer wieder «aufzustehen»<br />

... ■


Alter verbergen oder<br />

gestalten und aktiv <strong>reifen</strong>?<br />

Es ist schon legendär: «Alt werden wollen alle – alt sein will niemand!» Also versucht man<br />

aktiv gegen das vermeintliche Alter vorzugehen. «Anti-Aging» ist das Stichwort der Stunde;<br />

vielfältige Angebote geben vor, das Alter zu verschieben, Altersprozesse rückgängig oder<br />

ungeschehen zu machen. Anti-Aging fi ndet bislang weitgehend ausserhalb der etablierten<br />

medizinischen und pfl egerischen Strukturen statt, nichtsdestotrotz sind vor allem<br />

Ärzte, seltener Pfl egende, daran beteiligt. Das Thema wird für beide Berufsgruppen<br />

zunehmend wichtiger. Und was wollen die Älteren selbst? Gibt es ein Programm «gutes<br />

Alter»? Andreas Gerlach<br />

Kreative Geister erfi nden laufend neue Begriffe<br />

wie «Well Aging», «Happy Aging» oder «Active<br />

Aging» und bauen einen zunehmend<br />

<strong>wachsen</strong>den paramedizinischen Komplex mit hohen<br />

Umsätzen und höchsten fi nanziellen Gewinnen<br />

für die «Alters-minimierende Versorgung» des älteren<br />

und alten Mensch auf. «Die Anti-Aging-Welle<br />

rollt unaufhörlich», diagnostiziert Kolb 1 , und legt<br />

dem Leser die Gefahr nahe, dass diese die Senioren<br />

überrollen könnte.<br />

Die biologischen Grundlagen sind recht einfach<br />

Alle biologischen Systeme, der Mensch eingeschlossen,<br />

altern ab ihrer Geburt und sterben – falls nicht<br />

aus anderen Ursachen zuvor – als Folge dieses lebenslangen<br />

Alterungsprozesses.<br />

Die biologischen Grenzen sind eigentlich bekannt.<br />

Schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts<br />

konnte Leonard Hayfl ick nachweisen, dass sich<br />

undifferenzierte, pluripotente Stammzellen nur<br />

40–50 Mal teilen können. Die aktuelle Theorie tendiert<br />

zu der Vorstellung, dass bestimmte Genabschnitte,<br />

die Telomere, bei jeder Teilung kürzer werden<br />

und irgendwann «aufgebraucht» sind. Andere<br />

Theorien gehen von einer Summierung kleiner Fehler<br />

aus, die irgendwann das Funktionieren und Leben<br />

der Zelle beeinträchtigen.<br />

Damit ist die Heilung, Reparatur und Regenera-<br />

NOVAcura 10|09<br />

1 Kolb, GF: Anti-Aging.<br />

EuroJGer Vol 7. (2005)<br />

No 3, 153 f.<br />

«Pro-Aging» stellt die<br />

Möglichkeit eines<br />

ak tiven, «guten» Alterns<br />

gegen die Lüge des<br />

Anti-Aging.<br />

Foto: © irisblende.de<br />

15


Dr. med. Andreas Gerlach<br />

ist Chefarzt der Abteilung<br />

Geriatrie und Physiotherapie<br />

im St. Marien-Hospital<br />

in Lünen.<br />

gerlach.andreas@hotmail.de<br />

tion aller differenzierten Gewebe begrenzt. Wer das<br />

Glück «guter» Gene hat und mögliche Gen-relevante<br />

Umwelteinfl üsse vermeiden kann, hat vielleicht ein<br />

persönliches Hayfl ick-Limit näher an der Zahl 50;<br />

genetische Pechvögel und/oder besonders belastete<br />

Menschen liegen näher bei 40 Teilungen und erreichen<br />

ihre Alters- und Lebensgrenzen schon früher.<br />

Unsere persönliche genetische Ausstattung ist<br />

nicht messbar; eine aufmerksame Betrachtung des<br />

Stammbaumes darf aber manchmal Hoffnung machen<br />

– auch wenn uralt gewordene Eltern und<br />

Grosseltern noch keine sicheren Rückschlüsse auf<br />

die eigenen Chancen zulassen. Dazu ist die Genetik<br />

dann doch zu vielschichtig und kompliziert.<br />

Noch komplizierter wird es, die Lebens- und Umwelteinfl<br />

üsse erkennen und beeinfl ussen zu wollen.<br />

Zweifellos «verbrauchen» hohen Strahlendosen oder<br />

erhebliche toxische Belastungen zusätzliche Stammzellen<br />

und führen zu früherem Altern. Andererseits<br />

hat die Medizin erst vor relativ kurzer Zeit gelernt,<br />

dass auch ein Mangel an Umweltreizen, beispielsweise<br />

durch übertriebene Hygiene, zu einen unzureichend<br />

geschulten Immunsystem und zu früherer<br />

Alterung führt.<br />

« Kurzfristig gelingt eine bessere,<br />

‹jugendliche› Regeneration der<br />

verschiedenen Gewebe.»<br />

Was soll der Mensch tun? Die Antwort ist einfach:<br />

möglichst gesund leben – was immer die aktuelle<br />

Wissenschaft und das verfügbare Wissen als «gesund»<br />

defi nieren. Dabei geht jedermann das natürliche<br />

Risiko ein, dass unser Wissen unvollständig ist<br />

und sich erheblich ändern kann. Ein anderes Risiko<br />

besteht darin, so zwanghaft gesund leben zu wollen,<br />

dass der Gesundheitsstress jeden Nutzen negativ<br />

weit überwiegt.<br />

Aber das Wissen um das Hayfl ick-Limit bietet<br />

noch mehr. Einige Therapien und Methoden, die das<br />

Altern scheinbar aufhalten, beruhen möglicherweise<br />

auf einer hormonell induzierten vermehrten Aktivierung<br />

und entsprechendem Verbrauch von<br />

Stammzellen. Kurzfristig gelingt eine bessere, «jugendliche»<br />

Regeneration der verschiedenen Gewebe;<br />

später fehlen die verbrauchten Stammzellen dann<br />

aber – das Alter schlägt dann stärker und brutaler zu.<br />

Nun ja: Die Biologie des Menschseins lässt sich nicht<br />

wirklich betuppen.<br />

Die Tücken des Alters Wenden wir den Blick weg<br />

vom gesunden alternden Menschen auf den lebenswirklichen.<br />

Chronische Krankheiten wie Alkoholismus,<br />

Arteriosklerose mit koronarer Herzkrankheit,<br />

arterieller Hypertonie und cerebralem Insult, Demenz,<br />

rheumatische und degenerative Gelenkerkrankungen,<br />

Krebs und Stoffwechselstörungen – alle<br />

diese Krankheiten verbrauchen ihrerseits Stammzellen<br />

und lassen viele Patienten im wahrsten Sinne des<br />

Wortes älter, alt oder vorgealtert erscheinen.<br />

16 NOVAcura 10|09<br />

Unverkennbar haben wir die «Patientenversion»<br />

des alten Menschen vor uns: Leben und Krankheiten<br />

haben die Stammzell- und Regenerationsreserven<br />

weitgehend erschöpft, an allen Ecken und Ende<br />

fehlt dem Körper die Kraft zum Erhalten und Erneuern<br />

– eine Schwäche gebiert die nächste Krankheit,<br />

diese wiederum schafft eine neue Insuffi zienz mit<br />

wiederum zusätzlichen Problemen; kurzum: Das<br />

Kartenhaus des lange gelebten Lebens droht an vielen<br />

Stellen einzustürzen. Erfahrungen, die in der<br />

Pfl ege oder medizinischen Betreuung älterer und alter<br />

Menschen täglich gemacht werden und sicherlich<br />

ganz erheblich dazu beitragen, dass Alter eine<br />

Lebensphase ist, vor der viele Menschen am liebsten<br />

weglaufen möchten.<br />

Gesellschaft macht das Alter nicht einfacher Jung-<br />

Senioren mögen ob ihrer hohen Rente inzwischen<br />

als Konsumenten akzeptiert und umworben sein,<br />

alle anderen Alten sind es kaum. Grünert 2 weist dabei<br />

auf einen interessanten sprachlichen Zusammenhang<br />

hin: Das Wort Alter geht auf den Wortstamm<br />

«al» zurück und bedeutet somit Wachstum<br />

und Reife. In viele Kulturen hatten daher die weisen<br />

erfahrenen Menschen besondere Stellungen, waren<br />

hochgeschätzte Berater, teilweise sogar Regierende.<br />

Zu den Gemeinheiten der modernen Zeit gehört<br />

es aber leider, dass die Zeit so schnell verläuft und<br />

sich so dynamisch verändert, dass das kumulierte<br />

Wissen und die mühsam erworbene Erfahrung nur<br />

noch sehr begrenzt nützlich sind. Der Romancier<br />

Dick Francis beschreibt: »Da lernen Sie Ihr ganzes<br />

Leben, perfekte Langbögen herzustellen, und irgendwer<br />

erfi ndet einfach das Schiessgewehr» (in Dick<br />

Francis: Proof) 3 . Oder für unsere Zeit: Welche mühsam<br />

erworbene und teilweise teuer bezahlte Lebenserfahrung<br />

ermöglicht der 75-Jährigen, Handy, Computer<br />

und Internet erfolgreich zu bedienen und<br />

damit überhaupt erst den Kontakt zu den Enkeln zu<br />

erhalten, die vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht,<br />

von den gesammelten Erfahrungen der Grossmutter<br />

profi tieren könnten (und wollen?)?<br />

« Dummerweise ist ein Gegenprogramm<br />

für ein ‹gutes› Alter nur<br />

in Teilen entwickelt und kaum<br />

als Lebensentwurf akzeptiert.»<br />

Also, her mit Hormonen, Viagra, Botox, Melatonin,<br />

Wachstumhormonen und allen anderen Modedrogen,<br />

die Alter tatsächlich kurzfristig aufhalten<br />

können, deren Wirkungen aber günstigstenfalls begrenzte<br />

Zeit anhalten und deren langfristige Nebenwirkungen<br />

offensichtlich weit unterschätzt werden?<br />

Der Geschichtsprofessor Michael Stürmer betont auf<br />

Geriatriekongressen immer wieder den «Schrecken<br />

und Charme der Patina». Wer alte Möbel einige Male<br />

abschleift, hat nur noch das Blindholz vor sich, wer<br />

feuervergoldete Beschläge nachvergoldet, verdirbt<br />

sie, und wer altes Silber konsequent überarbeitet, re-


duziert dessen Wert bis auf den Materialpreis. Stürmer<br />

äussert sich zwar nicht zu Botox-gebügelten Gesichtern<br />

oder Viagra-Greisen mit Freundinnen im<br />

Alter ihrer Enkelinnen, aber ist der Unterschied<br />

wirklich so gross?<br />

« Lebensweise und Pharmaka<br />

müssen nicht das Altern stoppen,<br />

sondern sollten jetzt aktives und<br />

gestaltetes Alter ermöglichen.»<br />

«Meine Falten sind ehrlich erworben!» oder «Ich<br />

passe in meine Haut!»; solche Parolen wollen wegführen<br />

von der Täuschung und dem Wahn, ein<br />

künstlich restauriertes Äusseres könnte dauerhaft in<br />

Frieden mit dem gealterten Kern leben. «Pro-Aging»<br />

stellt die Möglichkeit eines aktiven, «guten» Alterns<br />

gegen die Lüge des Anti-Aging mit ihrer Zerrissenheit<br />

zwischen dem Sein-Wollen und Ist.<br />

Ein Programm für ein gutes Alter Ernst Lang, einer<br />

der Erfi nder und Propheten des Begriffes «Pro-<br />

Aging», hat immer gefordert, den Altersprozess als<br />

unumkehrbar zu beg<strong>reifen</strong>, aber ihn gleichzeitig<br />

nicht als chronische Krankheit zu verstehen. 4 Die alterstypischen<br />

Veränderungen an Körper und Geist<br />

lassen sich umfänglich beschreiben und beweisen,<br />

dass der 60-Jährige nicht mehr mit dem 30-Jährigen<br />

konkurrieren kann. Aber warum soll er das auch?<br />

Der Dreissigjährige möchte – im Normalfall – auch<br />

nicht mehr wie das Kleinkind an die Brust seiner<br />

Mutter, mit vielen bunten Klötzchen spielen und auf<br />

lauten und ungehaltenen Zuruf sechsmal täglich frische<br />

Windeln bekommen. Warum soll der aktivgealterte<br />

Siebzigjährige denn dann um zwanzigjährige<br />

Schönheiten konkurrieren, deren Welt sich ihm ohnehin<br />

kaum noch erschliesst, um Karriere, Macht<br />

und Geld buhlen oder in superschnellen Autos einer<br />

Zeit nacheilen, die ihm trotzdem locker enteilt.<br />

Dummerweise ist ein Gegenprogramm für ein<br />

«gutes» Alter nur in Teilen entwickelt und kaum als<br />

Lebensentwurf akzeptiert. Verschiede Entwicklungsprogramme<br />

setzen Senioren gezielt als Lehrer und<br />

Spezialisten in Kulturen ein, die Alter und Wissen<br />

noch nicht gewaltsam getrennt haben. Seniorenstudiengänge<br />

bieten die Möglichkeit, Wissen zu erwerben,<br />

vielleicht sogar zu mehren, ohne dass das Ziel<br />

dieser Tätigkeit ein Beruf, eine Möglichkeit des Gelderwerbs<br />

sein muss. Seniorenwohngemeinschaften<br />

probieren Lebens- und Wohnformen, die vor wenigen<br />

Jahren allenfalls den jugendlichen Dränglern<br />

und Stürmern vorbehalten waren. Programme wie<br />

«Soziale Grosseltern» erlauben fremden Kindern und<br />

Senioren, bestimmte familienähnliche Strukturen<br />

trotz der modernen Zerrissenheit der Familien zu<br />

erleben; «Zeitzeugen» können in Schulen oder<br />

Gemeinden eloquent davon erzählen, dass viele<br />

Unglaublichkeiten keineswegs vor vielen dunklen<br />

Jahrhunderten stattfanden, sondern vor weniger als<br />

einem Menschenleben. Die eigene Grossmutter er-<br />

zählte beispielsweise beeindruckend vom ersten<br />

Auto in ihrer gar nicht so kleinen Heimatstadt. Und<br />

ist es angesichts der Diskussionen um Afghanistan<br />

und den Irak so falsch, wieder einmal jemandem zuzuhören,<br />

der Krieg tatsächlich persönlich erlebt hat?<br />

Natürlich setzen derartige Aktivitäten eine gewisse<br />

geistige und körperliche Gesundheit voraus.<br />

«Patina» heisst eben nicht Zerstörung, sondern erlebte<br />

Erfahrung. Damit verschieben sich die Gewichte:<br />

Lebensweise und Pharmaka müssen jetzt<br />

nicht das Altern stoppen, vielleicht sogar ein bisschen<br />

(scheinbar) zurückdrängen, sondern sollten<br />

jetzt aktives und gestaltetes Alter ermöglichen; nach<br />

Kolb: «Funktion und Autonomie und vor allem<br />

Identität bewahren».<br />

Daraus ergeben sich Fragestellungen, die bislang<br />

noch nicht dem Begriff Prävention zugeordnet worden<br />

sind, eigentlich aber dazu gehören. Wie kann<br />

ich mich vor «schlechtem» Altern schützen? Was bewahrt<br />

meine geistige Leistungsfähigkeit – und was<br />

schadet ihr langfristig? Wie lerne ich, mit der Zeit<br />

zu gehen, ohne dem Zeitgeist zum Opfer zu fallen?<br />

Was bleibt als Fazit? Wer ein aktives, sinnhaltiges<br />

Altern mit ganz neuen, anderen Horizonten, Lebensweisen<br />

und Erfahrungsmöglichkeiten fordert und<br />

umsetzen will, stellt sich gegen einen starken Zeitgeist.<br />

Er darf sich aber auf Erfahrungen und Modelle,<br />

Informationen und Zeugnisse stützen, die zeigen,<br />

dass Alter als selbstständiger, spannender und<br />

fruchttragender Lebensabschnitt erfahren und gelebt<br />

werden kann. Zu den Voraussetzungen gehören<br />

allerdings wohl eine frühzeitige Planung eines «guten»<br />

Alters, eine Prävention vor zu vielen gesundheitlichen,<br />

seelischen oder geistigen Einschränkungen<br />

und ein Lernen auf das Alter hin. An vielen<br />

Punkten werden pfl egerischer und medizinischer<br />

Sachverstand, betreuende Begleitung und beratende<br />

Unterstützung gebraucht werden – eine grossartige<br />

Herausforderung für Pfl ege und Medizin. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Alter kann als selbstständiger,<br />

spannender und<br />

fruchttragender Lebensabschnitt<br />

erfahren und<br />

gelebt werden.<br />

Foto: Martin Glauser<br />

2 Grünert, A: Wann ist der<br />

Mensch alt und welche<br />

Auswirkungen hat das<br />

Altern auf entstehende<br />

Krankheiten? Klinikarzt<br />

2009; 38 (3): 109<br />

3 Dem Autor dieses Textes<br />

ist durchaus bewusst,<br />

dass Francis’ Held hier<br />

in Waffenkunde irrt. Der<br />

Langbogen wurde eher<br />

von der Armbrust verdrängt,<br />

das Gewehr kam<br />

erst später. Aber das Zitat<br />

verdeutlicht sehr schön<br />

das eigentliche Problem.<br />

4 U.a.: Lang, E, K. G. Gassmann:<br />

Pro Aging statt<br />

Anti-Aging – was ist da<br />

anders? EuroJGer Vol. 7<br />

(2005) No 3, 190–192<br />

17


Die grosse Herausforderung<br />

für das Lernen im<br />

Alter ist einerseits offen<br />

zu bleiben und andererseits<br />

auf das schon angesammelte<br />

und erworbene<br />

Wissen zurückzug<strong>reifen</strong>.<br />

Foto: © irisblende.de<br />

Claudia Sciborski ist dipl.<br />

Pädagogin, dipl. Pfl egewirtin<br />

(FH), Pfl egefachfrau<br />

und Übersetzerin der<br />

italienischen Sprache<br />

c.sciborski@online.de<br />

Lebenslanges Lernen<br />

Das, was uns Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, ist die Tatsache,<br />

dass wir lernen können – und das zeitlebens. Mehr noch: Es ist für den Menschen<br />

überlebenswichtig, zu lernen. Claudia Sciborski<br />

Wir lernen Trinken, Laufen, Sprechen, Essen,<br />

Singen, Lesen, Radfahren, Schreiben,<br />

Rechnen, Englisch und uns zu benehmen<br />

– mit mehr oder weniger Erfolg. Im Er<strong>wachsen</strong>enalter<br />

lernen wir einen Beruf, jemanden kennen,<br />

Kinder zu erziehen, vielleicht Vorgesetzter zu sein –<br />

wieder mit unterschiedlichem Erfolg. Ebenso lernen<br />

wir – vielleicht im hohen Alter – für andere da zu<br />

sein, uns nicht mehr so wichtig zu nehmen, mit der<br />

Rente auszukommen, uns vom Beruf zu verabschieden,<br />

uns auf den Tod vorzubereiten (Spitzer 2007:<br />

XIII).<br />

Lernfähigkeit im Alter Von seiner Bedeutung her<br />

ist das Wort «lernen» mit den Wörtern «lehren» und<br />

«List» verwandt und gehört zur Wortgruppe «leisten»,<br />

das ursprünglich «einer Spur nachgehen, nachspüren»<br />

bedeutete. Die indogermanische Wurzel<br />

«lais-» bedeutet «Spur, Bahn, Furche». Schon der<br />

Herkunft nach hat «lernen» etwas mit «Spuren hinterlassen»,<br />

aber auch mit «nachspüren» zu tun (Duden<br />

7, 1997). Lernen soll also sowohl im Gedächtnis<br />

als auch in der Umwelt Spuren hinterlassen.<br />

Denn: Wer lernt, der ändert sich. Das kann aber auch<br />

Angst machen. Das Aufnehmen von Neuem bedeutet<br />

Veränderung in dem, der aufnimmt.<br />

Der Gehirnforscher Manfred Spitzer (2007)<br />

kommt zu dem Schluss, dass der Mensch zum Lernen<br />

geboren ist. Gehirne sind äusserst effektiv im<br />

Aufnehmen von Informationen. Alles Wichtige um<br />

uns herum nehmen wir in uns auf und verarbeiten<br />

es. Wir können gar nicht anders, als zu lernen, so<br />

Spitzers Aussage (Spitzer 2007: 11 ff.).<br />

Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen<br />

dem Lernen von jungen und älteren Menschen. Für<br />

Kinder ist das Lernen leicht und schnell. Ältere Men-<br />

18 NOVAcura 10|09<br />

schen lernen meist langsam. Die Abnahme der Lerngeschwindigkeit<br />

im Alter ist jedoch nicht nur negativ<br />

zu bewerten, sondern sie ist sogar sinnvoll. Langsames<br />

Lernen oder Lernen in kleinen Schritten hat<br />

den Vorteil, dass nicht beständig Neues nur oberfl<br />

ächlich gelernt wird sondern sich jede einzelne Erfahrung<br />

nur gering dafür stetig niederschlägt und so<br />

die allgemeinen Strukturen dieser Erfahrung durch<br />

häufi ges Wiederholen gefestigt werden. So lernen<br />

wir in ähnlichen Situationen auf bereits Bekanntes<br />

und bisher Gelerntes zurückzug<strong>reifen</strong>. Das bedeutet<br />

für das Lernen bei älteren Menschen, dass sie erfahrener<br />

sind, ihre Umwelt besser kennen als jüngere<br />

Menschen. Man spricht dann von dem alten, erfahrenen<br />

Meister. Ältere Menschen haben nämlich<br />

schon sehr viel gelernt und können dieses Wissen<br />

dazu einsetzen, neues Wissen besser zu integrieren.<br />

Je mehr man schon von einer Sache weiss, desto besser<br />

kann man neue Inhalte mit dem schon vorhandenen<br />

Wissen verknüpfen.<br />

Die Kehrseite der Medaille ist aber auch, dass dieses<br />

Wissen den Blick verstellen kann, uns blind machen<br />

kann, für das, was neu ist oder direkt vor unseren<br />

Augen liegt. Das ist die grosse Herausforderung<br />

fürs Lernen im Alter: einerseits offen zu bleiben und<br />

andererseits auf das schon angesammelte und erworbene<br />

Wissen zurückzug<strong>reifen</strong>. Alt Bekanntes soll in<br />

neuen Situationen angewendet werden.<br />

Dennoch bleibt es für ältere Menschen eine besondere<br />

Herausforderung, sich diesen neuen Situationen<br />

zu stellen. Praktisch zeigt sich dies auch in<br />

der Erfahrung Pfl egender: Ältere Menschen haben<br />

Schwierigkeiten, sich einer neuen Umwelt anzupassen,<br />

wenn sie ihre stabile Umgebung verlassen müssen.<br />

Dies ist ganz besonders bei einem Umzug in ein<br />

Alten- und Pfl egeheim zu beachten.


Im naturwissenschaftlichen Bereich ist zu beobachten,<br />

dass vor allem junge Leute neue, bahnbrechende<br />

Erfi ndungen gemacht haben. Rasches Lernen,<br />

Bereitschaft zum Umlernen, grosse Verarbeitungskapazität<br />

und schnelle Verarbeitungsleistung<br />

sind in der Mathematik und den Naturwissenschaften<br />

offensichtlich nötig, um Bahnbrechendes zu<br />

leisten.<br />

Anders ist das allerdings in den Sozialwissenschaften.<br />

Grosse Leistungen in den Sozialwissenschaften<br />

werden nicht von 20-jährigen gemacht, sondern<br />

von den 40- und 50-jährigen. Grund dafür ist, dass<br />

wir im Bereich der sozialen Interaktionen lebenslang<br />

dazulernen. Wir lernen die Menschen im Idealfall<br />

immer besser verstehen und werden deshalb im Umgang<br />

mit ihnen immer weiser.<br />

Ältere Menschen sind daher eher Experten im<br />

Bereich der Ethik, der psychosozialen Fragen. Ältere<br />

Menschen können deshalb Probleme des Zwischenmenschlichen<br />

häufi g besser überschauen.<br />

Das ist es, was man unter Lebenserfahrung versteht.<br />

Gerade im Bereich des menschlichen Zusammenlebens<br />

bis hin zum Regieren einer Nation benötigen<br />

wir Menschen mit Lebenserfahrung. Verantwortungsvolle<br />

Regierungsaufgaben bekommt man<br />

nicht in jungen Jahren. Das aktive Wahlrecht wird<br />

in vielen Staaten erst mit 18 Jahren gegeben. Gewählt<br />

wird man für ein verantwortungsvolles politisches<br />

Amt in der Regel, wenn man die 40 überschritten<br />

hat. Der Papst war sogar 78 Jahre, als er für<br />

dieses Amt gewählt wurde.<br />

Ältere Menschen werden in den meisten Kulturen<br />

gerade wegen ihrer sozialen Kompetenzen geschätzt.<br />

Sie sind wertvoll für die gesamte Gesellschaft<br />

bzw. Gruppe aufgrund ihrer Erfahrung und<br />

ihres Wissens. Vor allem heute ist zu beobachten,<br />

dass Frauen, deren höhere soziale Kompetenz in<br />

mehreren Studien belegt ist, im Alter eine wichtige<br />

Funktion bei der Erziehung der Enkel übernehmen.<br />

Sie stellen einen reichen Erfahrungsschatz dar, der<br />

für die Gesellschaft wichtig ist (Spitzer 2007: 277 ff.).<br />

Altenbildung Die maximale Lebenserwartung liegt<br />

beim Menschen etwa bei 120 Jahren. Der demografi<br />

sche Wandel ist eine Alltagserfahrung geworden.<br />

In Städten und Gemeinden bestimmen ältere Menschen<br />

das Strassenbild, es gibt sogar bestimmte Feriengebiete,<br />

die in gewissen Monaten ausschliesslich<br />

von Senioren besucht werden.<br />

Man spricht paradoxerweise von einer «Verjugendlichung»<br />

des Alters. «Wir werden immer jünger,<br />

obwohl wir immer älter werden.» Das will heissen,<br />

dass die Grenzen des Jungseins sich um ca. zehn<br />

Jahre nach hinten verschoben haben. Wer heute 50<br />

ist, fühlt sich wie 40, wer 60 ist wie 50.<br />

Mit dem demografi schen Wandel wird das Alter<br />

nun zu einer Phase des gesteigerten Lernens. Hierbei<br />

gibt es einen Zusammenhang von Hilfe und Lernen.<br />

Wenn gewisse Fähigkeiten wie Hören, Sehen,<br />

Sichbewegen im Alter eingeschränkt sind, so muss<br />

der ältere Mensch lernen, mit Hilfsgeräten diese Einschränkungen<br />

zu kompensieren. So ist z.B. die korrekte<br />

Bedienung und Anwendung eines Hörgerätes<br />

oft nur möglich, wenn sich der Betroffene die kom-<br />

plexe Bedienungsanleitung aneignet und diese umzusetzen<br />

vermag.<br />

Wollen ältere Menschen zu Hause leben – trotz<br />

körperlicher Einschränkungen und Hilfebedarf –, so<br />

müssen sie soziale Dienste für sich nutzen und technische<br />

Hilfsmittel bedienen lernen. Kommt ein<br />

älterer Mensch dann doch in ein Alten- und Pfl egeheim,<br />

so muss er lernen, sich zu integrieren. Er muss<br />

quasi alte Gewohnheiten verlernen, er muss umlernen<br />

und neu das Leben in einer Institution erlernen.<br />

Ältere Menschen geniessen aber auch für ihre persönliche<br />

Bildung und ihr individuelles Lernen ihre<br />

sogenannte «späte Freiheit». Frei von Familienaufgaben<br />

und fi nanziell abgesichert können sie sich einer<br />

zweckfreien Bildung widmen, d.h. Lernen und<br />

Bildungsmassnahmen dienen nicht mehr nur der<br />

berufl ichen Weiterentwicklung. Theaterbesuche,<br />

kulturelle Reisen, die Teilnahme an Volkshochschulkursen<br />

und sogar ein Studium speziell für Senioren<br />

ermöglichen eine vertiefende Auseinandersetzung<br />

mit dem eigenen Lernen und zugleich die Entfaltung<br />

der Persönlichkeit.<br />

Altenbildung wird von der öffentlich verantworteten<br />

Er<strong>wachsen</strong>enbildung, also den Volkshochschulen,<br />

kirchlichen und gemeinwohlorientierten<br />

Institutionen, selbstorganisierten Initiativen, Reiseveranstaltern,<br />

Organisationen des Gesundheitssystems<br />

(Krankenkassen), Seniorenorganisationen der<br />

Parteien oder auch Museen angeboten. Den Teilnehmer/innen<br />

wird durch diese Angebote zum einen<br />

ermöglicht, sich kreativ zu entfalten, sich selbst zu<br />

verwirklichen, zum anderen aber auch in Gemeinschaft<br />

zu sein. Solidarität unter der älteren Generation<br />

soll so gefördert werden. Andere gesellschaftlich<br />

und sozial engagierte ältere Menschen nutzen<br />

ihre Zeit für ein bürgerschaftliches Engagement bzw.<br />

Ehrenamt.<br />

Ebenso wird eine zukünftige Altenbildung vermehrt<br />

darauf abzielen, dass ältere Menschen ihr Expertenwissen<br />

an jüngere Menschen weitergeben<br />

oder sich vermehrt um die Kinderbetreuung und<br />

-erziehung kümmern. Sich nützlich machen, sich<br />

einmischen und dazu noch lebenslang dazulernen,<br />

das sind sinnvolle Aufgaben für ältere Menschen<br />

(Nittel, Seitter 2006).<br />

Lernen hört also niemals auf, und gerade die persönlichen<br />

und sozialen Kompetenzen, die ältere<br />

Menschen im Laufe ihres Lebens erworben haben,<br />

sind ein wertvoller Schatz für die nachfolgende Generation.<br />

Folgendes Bild wird zukünftig sicher ein ganz<br />

selbstverständliches sein: Die Enkelkinder bringen<br />

ihren Grosseltern den Umgang mit dem Computer<br />

bei, sie zeigen ihnen, wie sie ihn nicht nur bedienen<br />

können, sondern wie sie damit elektronische Post<br />

verschicken und sich Informationen aus dem Internet<br />

besorgen können. Im Gegenzug dazu hören die<br />

Grosseltern ihren Enkeln zu, sprechen mit ihnen,<br />

nehmen sie ernst, versuchen ihre Nöte zu verstehen<br />

und helfen ihnen, Konfl ikte und Auseinandersetzungen<br />

zu lösen, Entscheidungen für die Zukunft zu<br />

treffen. Hier treffen neues Wissen und Lebenserfahrung<br />

plus soziale Kompetenz aufeinander. Die Generationen<br />

lernen respektvoll voneinander. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Literatur<br />

Duden. Etymologie:<br />

Herkunftswörterbuch der<br />

deutschen Sprache. 1997,<br />

Band 7. 2. Aufl age.<br />

Mannheim: Dudenverlag.<br />

Nittel, D. & Seitter, W.<br />

(2006). Die Bedeutung<br />

des demographischen<br />

Wandels für die Er<strong>wachsen</strong>enbildung.<br />

In: Der<br />

pädagogische Blick. Zeitschrift<br />

für Wissenschaft<br />

und Praxis in pädagogischen<br />

Berufen. 3/2006:<br />

132–140.<br />

Spitzer, M. (2007). Lernen.<br />

Gehirnforschung und die<br />

Schule des Lebens.<br />

München: Elsevier.<br />

19


Elke Steudter ist Diplomberufspädagogin<br />

Pfl egewissenschaft<br />

und arbeitet<br />

als Pfl egefachfrau und<br />

freie Lektorin. Sie ist wissenschaftlicheMitarbeiterin<br />

am WE'G, Aarau.<br />

info@steudter.net<br />

Die Beschäftigung mit der<br />

Familiengeschichte wird Ahnen-<br />

oder Familienforschung<br />

genannt. Vielen ist sie auch<br />

als Beschreibung des Familienstammbaums<br />

bekannt.<br />

Lateinisch nennt sich diese<br />

Dis ziplin Genealogie<br />

(Hennes, 2006).<br />

Es gibt viele Gründe, sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln und<br />

auf die Reise zu den Geschichten der eigenen Familie zu begeben. Um<br />

als Mensch <strong>wachsen</strong> zu können, muss man seinen Ursprung kennen.<br />

Wie soll man auf der Suche danach vorgehen, und was muss beachtet<br />

werden? Elke Steudter<br />

Früher lebten mehrere Generationen oft unter<br />

einem Dach zusammen. Geschichten von den<br />

Vorfahren – aber auch von entfernten Verwandten<br />

– konnten so einfach an die nächste Generation<br />

in Erzählungen weitergegeben werden. Wenn<br />

die Grosseltern lange genug lebten, erhielt man vielleicht<br />

sogar Informationen einer weiter zurückliegenden<br />

Generation. Selten erlebt man heute noch<br />

die Generation vor den Grosseltern. Klar ist aber,<br />

dass die Familie auch vorher schon bestanden haben<br />

muss, sonst wären heute keine Nachkommen<br />

da. Kaum jemand weiss jedoch, wie die weit zurückliegenden<br />

Generationen genannt werden bzw. wie<br />

man sie korrekt bezeichnet, wenn man sie bei der<br />

Ahnenforschung suchen möchte (siehe Tabelle 1).<br />

Oft wird die Frage nach der Herkunft und der Familie<br />

dann aktuell, wenn man alte Familienfotos fi ndet,<br />

plötzlich eine entfernte Verwandte wie aus dem<br />

Nichts auftaucht oder ein Familienmitglied stirbt<br />

und die Erbangelegenheiten geregelt werden müssen.<br />

Ein weiterer Grund mag die lebensbegleitende<br />

Frage nach dem «Wer bin ich?» sein, die uns veranlasst,<br />

uns auf die familiäre Spurensuche zu begeben.<br />

Welche Persönlichkeiten hat die Familie hervorgebracht,<br />

und wie viel erkennt man möglicherweise<br />

davon bei sich selbst? Denn trotz der individualisierten<br />

Welt stehen die Familie und die Zugehörigkeit<br />

zum Familienverbund heute (wieder) hoch im Kurs.<br />

Und nicht nur in Zeiten der Not berufen sich viele<br />

auf die Familie und deren besondere Verbindungen.<br />

Familienbande bestehen ein Leben lang. Anders als<br />

seine Freunde, sucht man sich seine Familie nicht<br />

aus. Man wird in sie hineingeboren und bleibt ihr<br />

ein Leben lang mehr oder weniger verbunden.<br />

Unbekannte Familie Viele denken nun vielleicht,<br />

sie möchten ebenfalls mehr über ihre Vorfahren wissen,<br />

erklären können, wo die Wurzeln der Familie<br />

20 NOVAcura 10|09<br />

liegen und wer tatsächlich weitverzweigt dazu gehört.<br />

Aber die Grosseltern sind schon lange tot, die<br />

Eltern können nur unzureichend Auskunft geben,<br />

und es gibt niemanden, den man über die Generationen<br />

befragen könnte; und überhaupt: Wie fängt<br />

man so etwas an? Ahnenforschung betreibt man<br />

nicht ebenso mal nebenher. Die Beschäftigung<br />

damit kann Monate, gar Jahre dauern. Anhand von<br />

alten Unterlagen und Dokumenten lassen sich die<br />

Lebensdaten der Familienmitglieder ermitteln, die<br />

geknüpften Verbindungen der einzelnen Personen<br />

rekonstruieren und so nach und nach die Entstehung<br />

der heutigen Familie in deren Konstellation<br />

nachvollziehen. Aber woher weiss ich, ob ich der<br />

richtigen – nämlich meiner – Familie auf der Spur<br />

bin? Ein Problem, das nie ganz gelöst werden kann,<br />

vor allem dann, wenn man einen sehr häufi gen Familiennamen<br />

trägt.<br />

Tabelle 1: Generationen und deren<br />

Bezeichnung (Auswahl, nach Hennes, 2006)<br />

Bezeichnung<br />

Proband (Person der jüngsten Generation)<br />

Generation<br />

Eltern I<br />

Grosseltern II<br />

Urgrosseltern III<br />

Alteltern (Ur-Urgrosseltern) IV<br />

Altgrosseltern V<br />

Alturgrosseltern VI<br />

Obereltern VII<br />

Obergrosseltern VIII<br />

Oberurgrosseltern IX<br />

Stammeseltern X<br />

Foto: © irisblende.de


Wer sich auf die Reise in die familiäre Vergangenheit<br />

über mehrere Generationen hinweg begeben<br />

möchte, benötigt Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen<br />

– und die Fähigkeit, möglichst systematisch<br />

und geordnet die gefundenen Daten zu dokumentieren.<br />

Denn dies ist eine zwingende Voraussetzung,<br />

um den Überblick im Laufe des Rechercheprozesses<br />

zu behalten. Jede Recherche nach Familienmitgliedern<br />

verläuft nach aufeinanderfolgenden<br />

Schritten.<br />

Ahnensuche step by step In einem ersten Schritt<br />

sollte geklärt werden, was über die Familie bereits<br />

bekannt ist. Hierzu gehören insbesondere Namen,<br />

Nachnamen, Geburts-, mögliches Heirats- und Sterbedatum,<br />

Beruf sowie die Lebensorte. Wichtige Informationsquellen<br />

sind die noch lebenden Verwandten.<br />

Ebenso können aber auch Familienbücher,<br />

Zeitungsausschnitte oder amtliche Dokumente (Geburts-<br />

und Sterberegister oder andere Auszeichnungen<br />

der Kirchengemeinde) wichtige Informationen<br />

oder Hinweise liefern.<br />

In einem zweiten Schritt sollte überlegt werden,<br />

wonach genau gesucht oder geforscht werden soll.<br />

Sucht man ein bestimmtes Familienmitglied und<br />

möchte über diese Person Näheres bzw. Biografi sches<br />

erfahren, muss wenigstens der vollständige Name,<br />

die ungefähren Daten von Geburt und Tod sowie der<br />

Wohnort bekannt sein. Oder soll möglichst weit der<br />

Familienstammbaum zurückverfolgt werden und<br />

alle zur Familie gehörigen Personen aufgelistet werden?<br />

Das setzt eine umfangreiche und zeitintensive<br />

Recherche voraus, in der der Suchprozess stets von<br />

neuem begonnen wird und so das Familiepuzzle<br />

langsam zusammengefügt werden kann. Sinnvollerweise<br />

beginnt man mit der Generation, die einem<br />

am nächsten ist, und arbeitet sich dann zurück.<br />

Zunächst muss der frühere Aufenthaltsort der Personen<br />

gefunden werden, über die man Informationen<br />

haben möchte, da an diesem Ort bzw. an den<br />

öffentlichen Ämtern die Wahrscheinlichkeit von<br />

brauchbaren Dokumenten am grössten ist. Im Bürgerort<br />

von Schweizern und Schweizerinnen werden<br />

alle standesamtlichen Daten der Familien und derer<br />

Mitglieder gesammelt. Dies ermöglicht eine relativ<br />

schnelle und umfangreiche Datenerhebung. Auskunft<br />

über Familien erhalten jedoch nur Personen,<br />

die nachweislich von der Familie abstammen. Bei<br />

Verwandten, die ursprünglich nicht aus der Schweiz<br />

kommen, muss am letztbekannten Wohn- oder am<br />

Geburts- bzw. Sterbeort gesucht werden. Auch hier<br />

sind wieder Kirchenbücher oder andere Archive hilfreich.<br />

Eine weitere Möglichkeit ist die Anfrage bei<br />

einem genealogischen Verein, der sich auf den gefundenen<br />

Ort und seine Geschichte spezialisiert hat.<br />

Möglicherweise fördern deren Dokumentationen<br />

weitere Informationen über die gesuchten Personen<br />

zutage. Schwierig wird es bei Familienmitgliedern,<br />

die ausgewandert sind. Möchte man hier suchen,<br />

setzt dies voraus, dass man die fremde Sprache beherrscht<br />

(bei formalen Anfragen, zur Durchsicht der<br />

fremdsprachigen Dokumente). Möchte man am Lebens-<br />

bzw. Wohnort der Vorfahren forschen, werden<br />

Reisen nötig (W001).<br />

Systematik im Chaos Alle gefundenen und erhaltenen<br />

Informationen müssen übersichtlich und systematisch<br />

– am besten in einem oder mehreren Ordnern<br />

– abgelegt bzw. dokumentiert werden. Wann<br />

immer möglich, sollen Kopien von Geburts- und<br />

Sterbeurkunde, aber auch alle anderen schriftlichen<br />

Beweise über Herkunft, Beruf oder Biografi e gesammelt<br />

werden. In einem weiteren Schritt geht es dann<br />

daran, diese Informationen auszuwerten. Wurde gefunden,<br />

was gesucht wurde? Wie zuverlässig und<br />

umfangreich sind die Quellen? Gibt es widersprüchliche<br />

Angaben?<br />

Wurden genug Informationen über den ausgewählten<br />

Vorfahren gefunden, ist dieser Ahnensuchprozess<br />

abgeschlossen. Nun wendet man sich einer<br />

anderen verstorbenen Person aus der Familie zu und<br />

geht in der gleichen Art und Weise wie oben vor.<br />

Möglichkeiten im medialen Zeitalter Inzwischen<br />

bieten der Computer und das Internet allerlei Möglichkeiten,<br />

die oben beschriebenen Schritte zu<br />

unterstützen bzw. zu vereinfachen. Verschiedene<br />

Anbieter vertreiben Softwareprogramme, die es ermöglichen,<br />

die gefundenen Daten systematisch zu<br />

erfassen und in entsprechender<br />

Form aufzubereiten. Dies kann<br />

die Verwaltung der Daten ganz<br />

erheblich erleichtern. Dies vor<br />

allem dann, wenn bereits sehr<br />

viele Daten gefunden werden<br />

konnten. Die An gebote bzw. die<br />

Möglichkeiten, die diese Produkte<br />

bieten, sind sehr unterschiedlich<br />

und sollten vorab erfragt<br />

und vor dem Hintergrund<br />

der eigenen Bedürfnisse ausgewählt<br />

werden.<br />

Sehr viel Arbeit erspart man sich, wenn auf bereits<br />

erforschte und belegte Daten zurückgegriffen<br />

werden kann. Daher sollte im Ahnenforschungsprozess<br />

geklärt werden, ob es nicht schon jemanden –<br />

evtl. aus der entfernt verwandten Familie – gibt, der<br />

sich ebenfalls mit der Familiengeschichte beschäftigt.<br />

In extra dafür eingerichteten Foren können sich<br />

Mitglieder der verschiedenen Genealogievereine untereinander<br />

austauschen und sich bei der oft klein<br />

schrittigen Suche nach entfernten Verwandten helfen.<br />

Reise in die eigene Vergangenheit Die intensive<br />

Beschäftigung mit den Mitgliedern der Familie und<br />

deren individuelle Geschichte ist auch eine Reise zur<br />

eigenen Person. Während der Auseinandersetzung<br />

mit den Vorfahren lernt man sich möglicherweise<br />

immer besser kennen, und die Verbundenheit mit<br />

den eigenen Wurzeln wächst. Dieses Wissen kann<br />

hilfreich sein, um seinen Weg weiterzugehen. Dabei<br />

sollte man sich stets bewusst sein, dass auch nicht<br />

wünschenswerte Informationen über die Vorfahren<br />

in Erfahrung gebracht werden können wie zum Beispiel<br />

die Beteiligung an Kriegs- oder anderen Verbrechen.<br />

Auf jeden Fall ist es eine spannende Beschäftigung<br />

mit der eignen und der weit zurückliegenden<br />

Familiengeschichte. ■<br />

« Sinnvollerweise beginnt<br />

man mit der Generation,<br />

die einem am nächsten<br />

ist, und arbeitet sich<br />

dann zurück.»<br />

NOVAcura 10|09<br />

Literatur<br />

Hennes, H. W. (2006).<br />

Ahnenforschung:<br />

www.ahnenforschung.org<br />

W001: http://wiki-de.<br />

genealogy.net<br />

Hilfreiche Webseiten<br />

www.familienstammbaum.de<br />

www.familytreemaker.com<br />

www.ancestry.de<br />

www.genealogy.net<br />

21


Fotobüchsen sind wie<br />

Pralinenschachteln …<br />

Bildhaft gesprochen besteht die durchschnittliche Lebensdauer eines in der Schweiz<br />

lebenden Menschen aus 2 Milliarden 554 Millionen und 416 000 Augenblicken. Nur Bruchteile<br />

dieser Momente werden in Bildern festgehalten. Dennoch haben Bilder vielfältige<br />

Funktionen in unserem Leben und unserer Entwicklung, die es im Folgenden exemplarisch<br />

darzustellen und zu deuten gilt. Jürgen Georg<br />

Jürgen Georg (MScN) ist<br />

Pfl egefachmann, -lehrer,<br />

-lektor und Hobbyfotograf.<br />

juergen.georg@hanshuber.<br />

com<br />

Abb. 1: Mit Fotos Gespräche<br />

beginnen und aufrechterhalten.<br />

Abb. 2: Fotobüchsen sind<br />

wie Pralinenschachteln,<br />

man weiss nie, was<br />

einem darin erwartet.<br />

Fotos: Jürgen Georg<br />

Bilder als Einsteig und Basis für Gespräche Beim<br />

letzten Besuch meiner 87-jährigen Grossmutter<br />

hatte ich eine ganze Reihe von Fotos mit, welche ich<br />

in den vergangenen Wochen von Menschen fotografi<br />

ert hatte, die in ihrem unmittelbaren dörfl ichen<br />

Umfeld lebten. Nach der anfänglichen Freude des<br />

Wiedersehens und Fragen nach dem Befi nden zeigte<br />

ich ihr diese, worauf rasch ein angeregtes Gespräch<br />

und ein reger Austausch über die alten und neue<br />

«Originale» aus dem Dorf entstanden. Diese Situation<br />

zeigt, dass man alte und aktuelle Fotos gut nutzen<br />

kann, um in ein Gespräch einzusteigen. Wenngleich<br />

meine Grossmutter manche der Bilder immer<br />

wieder betrachtete und häufi g ähnliche Fragen dazu<br />

stellte, zum Beispiel, wer die Person auf dem Porträt<br />

sei, wo dieses Foto entstanden sei, so konnte ich<br />

durch variierende Antworten für beide Seiten das<br />

Gespräch interessant halten, zumal meine Grossmutter<br />

immer wieder kleine Geschichten zu den Personen<br />

parat hatte.<br />

Tipp: Achten Sie bei der Begegnung mit Bewohnern<br />

auf Bilder und Fotos in der Umgebung und probieren<br />

Sie, ob sich über diese Bilder ein Gespräch<br />

entwickeln lässt (Abb. 1).<br />

Erinnerungen auslösen, wiederbeleben, erhalten<br />

und stützen Im Laufe des Gesprächs brachte meine<br />

Mutter eine Büchse mit Fotos herbei, in der ältere<br />

und neuere Bilder aus der Familie meiner Grossmutter<br />

kunterbunt versammelt waren. Die Büchse erinnerte<br />

mich etwas an einen Ausspruch von Forrest<br />

Gump: «Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel.<br />

1 2<br />

22 NOVAcura 10|09<br />

Man weiss nie was man bekommt.» Trotz der offensichtlichen<br />

Unordnung dieses Panoptikums an fotografi<br />

schen Erinnerungen ergab diese Sammlung<br />

doch ein facettenreiches Bild der Entwicklungen<br />

und Rollenveränderungen im Leben meiner Grossmutter.<br />

Von der Tochter, Schwester, Geliebten,<br />

Ehefrau, Freundin, Bäuerin, Mutter, Tante, Schwiegermutter,<br />

Witwe bis hin zur Grossmutter und Urgrossmutter.<br />

Wie von allein lösten diese Bilder Erinnerungen<br />

aus, lebten kleine Anekdoten wieder auf,<br />

wurden Personen, Situationen und Emotionen in<br />

der dargestellten Situation erinnert.<br />

Tipp: Fragen Sie Angehörige, ob sie Fotoalben<br />

oder -schachteln eines Bewohners mitbringen können,<br />

und nutzen Sie diese für Gespräche und Erinnerungsarbeit<br />

(Abb. 2).<br />

Erinnerungen an geliebte Menschen wach halten<br />

Immer wieder tauchten auch alte Bilder von Freundinnen,<br />

Geschwistern und ihrem Ehemann auf.<br />

Beim Blick auf ein Foto mit ihren guten Freundinnen<br />

entfuhr meiner Grossmutter ein trauriges «die leben<br />

alle nicht mehr». Da wurde mir klarer, wie schmerzhaft<br />

es für viele alte Menschen sein muss, wenn allmählich<br />

ihr Freundeskreis im Himmel grös ser als auf<br />

Erden wird. Ähnlich war es bei ihren drei Geschwistern,<br />

die sie alle bis auf ihren Bruder überlebt hatte.<br />

– Fotos können die Erinnerungen an geliebte Menschen<br />

wach halten, aber sie bewahren nicht davor,<br />

dass diese Erinnerungen mitunter sehr wehtun.<br />

Beim weiteren Stöbern in der Fotokiste stiess<br />

meine Grossmutter, neben feschen Jugendfotos mei-


nes Grossvaters, auch auf dessen Todesanzeige. Für<br />

einige Momente wurde sie ganz still, hielt inne und<br />

wandte sich dann wieder den anderen Bildern zu.<br />

Was mag sie wohl in diesen Augenblicken gedacht<br />

und bewegt haben?<br />

Tipp: Fotos wecken mitunter (schmerzliche) Erinnerungen<br />

an geliebte Menschen, scheuen Sie nicht<br />

davor zurück, denn diese Erinnerungen sagen Wesentliches<br />

über einen Menschen aus (Abb. 3).<br />

Das Selbstbewusstsein einer Person stärken Als<br />

meine Grossmuster auf ein Passfoto stiess, das sie<br />

etwa siebzigjährig zeigte, hielt sie es mir verschmitzt<br />

entgegen. So als wollte sie schelmisch sagen: «Hab<br />

mich doch gut gehalten, oder?» Das sprach für ihren<br />

Humor und ihr Selbstbewusstsein. – Hatte ich<br />

an dem Nachmittag einige Zeit damit verbracht,<br />

häufi g gestellte, gleich lautende Fragen immer wieder<br />

geduldig zu beantworten, so verblüffte mich<br />

meine Grossmutter am Ende des Nachmittags. Als<br />

sie beim Anblick eines Fotos meiner Frau, die ihr am<br />

Tisch gegenüber sass, zum fünften Mal fragte, wer<br />

denn dieses «Mädchen» sei, wollte ich schon ausholen,<br />

um ihr wortreich zu erklären, dass diese Frau<br />

ihre Schwiegerenkelin sei, die sie seit 15 Jahren<br />

kenne. Bevor ich dazu kam blickte sie mich spitzbübisch<br />

an und zwinkerte mit den Augen. Sie hatte<br />

mich und ihre Vergesslichkeit auf den Arm genommen.<br />

Ich musste schmunzeln, fühlte ich mich doch<br />

davon mehr in statt auf den Arm genommen.<br />

Tipp: Verwenden Sie Fotos von Bewohnern, um<br />

deren Selbstbewusstsein zu stärken und nutzen Sie<br />

«Humorpotenziale», die in manchen Fotos stecken<br />

(Abb. 4).<br />

Vergangenes und Gegenwärtiges verbinden Eines<br />

der Fotos zeigte auch die verstorbene Boxerhündin<br />

meiner Grossmutter, die wir beide sehr geliebt hatten.<br />

Beim Anblick des Hundes meinte sie: «Junge,<br />

du hast mir noch nie was Böses gewollt und getan,<br />

bist ein guter Junge. Immer wenn ich dich sehe,<br />

muss ich daran denken, wie du als kleiner Junge in<br />

der Wiese hinterm Haus gelegen hast, alle nach dir<br />

suchten, und unsere Boxerhündin Tonja über dich<br />

wachte und aufgepasst hat, dass dir nichts passiert.»<br />

– So verbinden Fotos Vergangenes und Gegenwärtiges<br />

sowie Enkel und Grosseltern.<br />

Fotos sehen lernen Neben den persönlichen Geschichten,<br />

die wir mit Fotos verbinden, «sprechen»<br />

3 4<br />

Fotografi en auch auf nonverbale Weise zu uns. Um<br />

diese Bildsprache zu verstehen und Merkmale von<br />

Bildern besser «lesen» und analysieren zu können,<br />

helfen die folgenden orientierenden Fragen von<br />

Akert aus Schuster (2005: 82f):<br />

Was ist der erste Eindruck? Wen sieht man, was<br />

sieht man?<br />

Was passiert auf dem Foto?<br />

Ist der Hintergrund, der gewählt wurde von Bedeutung?<br />

Hat er eine symbolische Bedeutung,<br />

steht er in einer sinnvollen Beziehung zu der Person<br />

und ihren sozialen Beziehungen?<br />

Welche Gefühle weckt das Bild im Betrachter?<br />

Was kann man über körperliche Nähe und Distanz<br />

der Personen sagen?<br />

Berühren sich die Menschen auf dem Bild? Wie<br />

berühren sie sich?<br />

Wie fühlen sich die abgebildeten Menschen in Bezug<br />

auf ihren Körper? Sind sie stolz auf ihren Körper<br />

oder schämen/verstecken sie sich?<br />

Wie ist der (mutmassliche) emotionale Zustand<br />

jeder einzelnen Person? Wie wird diese Emotion<br />

durch einen Gesichtsausdruck oder eine Körperhaltung<br />

erkennbar? Sicher lächeln die Personen<br />

auf den Fotos. Es kommt aber darauf an, wie sie<br />

lächeln. Ist es ein gezwungenes Lächeln oder ein<br />

offenes entspanntes Lächeln? Lächelt die Person<br />

eine andere Person der fotografi erten Gruppe an<br />

oder nur den Fotografen?<br />

Wie harmoniert die Gruppe? Sind alle entspannt?<br />

Wer hat die «Macht» in der Gruppe?<br />

Gibt es irgendetwas besonderes bezüglich einzelner<br />

Körperteile jedes Menschen? Betrachten Sie<br />

sorgfältig das Gesicht, die Arme, Hände, Beine<br />

und Füsse einer Person. Sind die einzelnen Teile<br />

harmonisch bezüglich des Ausdrucks oder gibt es<br />

Inkonsistenzen?<br />

Lernen Sie, ein Foto wie ein Buch zu lesen, lernen<br />

Sie, es Segment für Segment, zu betrachten. Von<br />

links nach rechts, von oben nach unten. Wiederholen<br />

Sie die Suche und versuchen Sie jedes Mal<br />

etwas zu entdecken, was Ihnen vorher entgangen<br />

ist.<br />

Der Entwicklung und Lebensgeschichte alter Menschen<br />

anhand von Fotos nachzuspüren, ist ein reizvoller<br />

Aspekt der Pfl ege- und Aktivierungsarbeit. Neben<br />

all dem, was man über den Bewohner oder die<br />

Bewohnerin erfährt, lernt man dabei oft etwas über<br />

sich und für seine Entwicklung. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Literatur<br />

Craig, C. (2009): Exploring<br />

the Self through Photography.<br />

London, JKP.<br />

Georg, J.: Fotografi sches<br />

Gedächtnis. NOVAcura 39<br />

(2008) 11: 18–19<br />

Schweitzer, P.; Bruce, E.<br />

(2010): Das Remineszenzbuch.<br />

Bern: Huber.<br />

Schuster, M. (2005): Fotos<br />

sehen, verstehen, gestalten.<br />

Heidelberg: Springer.<br />

Abb. 3: Fotos helfen sich<br />

seiner selbst zu vergewissern<br />

und halten Erinnerungen<br />

an geliebte<br />

Menschen wach.<br />

Abb. 4: Mit Fotos hält<br />

man auch ein Stück eigener<br />

Lebensentwicklung in<br />

Händen.<br />

23


Gesundheitsförderung<br />

für ältere Menschen<br />

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer erkennbar ist, ältere Menschen besitzen<br />

viele Ressourcen, die es zu nutzen gilt. Eine kreative und ganzheitliche Gesundheitsförderung<br />

hat positive Auswirkungen auf Autonomie und Wohlbefi nden und unterstützt beim<br />

Erreichen persönlicher Lebensziele. Robert Weller<br />

Robert Weller ist Pfl egefachmann,<br />

Lehrer für<br />

Pfl egeberufe, Gesundheitswissenschaftler<br />

(B.Sc.) und arbeitet als<br />

Lehrer für Pfl egeberufe<br />

am Kreisklinikum Siegen<br />

GmbH<br />

r.weller@sanosalveo.de<br />

1 Als sekundäre Pfl anzenstoffe<br />

(Phytamine) werden<br />

bestimmte Inhaltsstoffe<br />

von pfl anzlichen<br />

Lebensmitteln bezeichnet,<br />

die von den Pfl anzen unter<br />

anderem als Abwehr-,<br />

Geruchs- und Farbstoffe,<br />

aber auch als Wachstumsregulator<br />

gebildet<br />

werden.<br />

Ist die Lebensphase Alter geprägt von Defi ziten,<br />

Gebrechlichkeit und zunehmender Abhängigkeit<br />

und Pfl ege? Oder – soll älteren Menschen die «Lebenslust»<br />

durch einen übertriebenen Körperkult geraubt<br />

werden (Lütz 2002)? Weder dies noch jenes.<br />

Denn: Zwischen diesen beiden extremen Posi tionen<br />

angesiedelt, beschreiben Märki (2004), Renteln-<br />

Kruse (2007) und Pfi ster (2006) Wege zur Gesundheitsförderung,<br />

die zu einer höheren Selbstbestimmung,<br />

zu verstärkter körperlicher, geistiger und<br />

seelischer Gesundheit und damit zu einer erhöhten<br />

Lebensqualität beitragen.<br />

Bewegungsaktivitäten aufbauen und intensivieren<br />

In den letzten Jahrzehnten hat aufgrund der<br />

technologischen Entwicklung der Bewegungsmangel<br />

deutlich zugenommen. In der Schweiz bewegen<br />

sich nach Martin und Marti (1998) nur ein Drittel<br />

der Männer und ein Viertel der Frauen regelmässig<br />

und in ausreichendem Mass. Bewegung stellt jedoch<br />

eine wichtige Gesundheitsressource dar. Möglicherweise<br />

sind Bewegungsaktivitäten bei vielen Menschen<br />

mit Zwang, schwerer Arbeit und bei älteren<br />

Männern auch mit militärischem Drill negativ verknüpft.<br />

Liesen (2009) beschreibt ein «kreatives ganzheitliches<br />

Training der Sinne» als Bewegungstraining.<br />

Gemeinsam mit älteren Menschen sollte ressourcenorientiert<br />

eine Bewegungsart oder Sportart<br />

gesucht werden, die Spass macht. Bewegungen, die<br />

freudig ausgeführt und emotional positiv bewertet<br />

und erfahren werden, sind langfristig gesundheitsförderlich.<br />

Ein solches Training ist abwechslungsreich, koordinationsfördernd,<br />

erfolgsvermittelnd und muskelkräftigend.<br />

Orientiert an den persönlichen körperlichen<br />

Fähigkeiten kann ein Training dieser Art von<br />

einfachen Bewegungsübungen im Sitzen, über Spaziergänge,<br />

Schwimmen bis hin zum Golfen reichen.<br />

Werden die Bewegungen in der beschriebenen Art<br />

und Weise ausgeführt, wird damit «automatisch» das<br />

zentrale Nervensystem mittrainiert (Liesen 2009).<br />

Bewegungsaktivitäten zu entwickeln und aufzubauen<br />

ist in jedem Lebensalter sinnvoll. Selbst hoch<br />

betagte Menschen können durch Muskelaufbautraining<br />

an Kraft hinzugewinnen und werden zum Beispiel<br />

sicherer in ihrem Gang. Je früher Menschen<br />

mit solchen Aktivitäten beginnen, umso grösser<br />

24 NOVAcura 10|09<br />

kann der spätere Nutzen sein. Martin und Marti<br />

(1998) sehen bereits einen wesentlichen Gesundheitsgewinn,<br />

wenn pro Woche etwa 1000 kcal durch<br />

Bewegung verbraucht werden. Ein solches «Bewegungsprogramm»<br />

beinhaltet beispielsweise zwei bis<br />

drei 30-minütige Spaziergänge bei mässigem Tempo<br />

sowie Schwimmen und gymnastische Übungen. Je<br />

nach Fitnesszustand kann der Kalorienverbrauch<br />

pro Woche durch Bewegung bis zu einem Verbrauch<br />

von etwa 3000 kcal gesteigert werden (Martin und<br />

Marti 1998). Sportliche Betätigung kann ausserdem<br />

auf psychischer Ebene nachweislich depressives<br />

Erleben positiv beeinfl ussen und zu Angstabbau<br />

führen.<br />

Flüssigkeits- und Nährstoffzufuhr optimieren Ausgehend<br />

von einer anfänglichen Analyse der Trink-<br />

und Ernährungsgewohnheiten, gibt es einfache und<br />

individuelle Empfehlungen. Geht man davon aus,<br />

dass je nach Gesundheitszustand täglich zwischen<br />

1,5 und 3 Liter Flüssigkeit zugeführt werden sollten,<br />

trinken viele ältere Menschen viel zu wenig.<br />

Mit frischem Wasser kann das Gros der täglichen<br />

Trinkmenge kostengünstig und ressourcenschonend<br />

aufgenommen werden. Dabei sollten Faktoren berücksichtigt<br />

werden, die den Wasser- und Elektrolythaushalt<br />

beeinfl ussen, wie Medikamente (Diuretika)<br />

oder klimatische Bedingungen (Hitzewelle).<br />

« Mit frischem Wasser kann das Gros<br />

der täglichen Trinkmenge kostengünstig<br />

und ressourcenschonend<br />

aufgenommen werden.»<br />

Bezüglich der Ernährung nimmt der reine Energiebedarf<br />

bei vielen älteren Menschen ab, der Nährstoffbedarf<br />

kann jedoch zunehmen. Deshalb ist zum<br />

Beispiel wichtig, viel Obst und Gemüse zu essen. Sekundäre<br />

Pfl anzenstoffe 1 haben in den letzten Jahren<br />

eine erstaunliche «Karriere» gemacht. Ursprünglich<br />

galten diese höchstens als zweitrangig, mittlerweile<br />

schwärmen Wissenschaftler von deren erstaunlichen<br />

Fähigkeiten. Dittrich und Leitzmann (1996)


eschreiben beispielsweise positive Wirkungen auf<br />

das Immunsystem und die Blutdruckregulierung sowie<br />

zur Krebsprävention zur Förderung der Verdauung.<br />

Eine einfache Regel zur Aufnahme von sekundären<br />

Pfl anzenstoffen heisst, möglichst bunt und<br />

vielfältig Obst und Gemüse zu essen. Dabei sollten<br />

pro Tag mindestens fünf Portionen gegessen werden.<br />

Eine weitere Möglichkeit ist die Zufuhr von frisch<br />

gepressten Obst- und Gemüsesäften.<br />

Motivation, Empowerment und das transtheoretische<br />

Modell Ein wesentlicher Baustein der Gesundheitsförderung<br />

älterer Menschen ist, deren<br />

Motivation zu einem positiven Bewegungs- und Ernährungsverhalten<br />

aufzubauen und zu stärken. Wie<br />

schwer allerdings Menschen zu motivieren sind,<br />

macht das Zitat von Eugen Roth deutlich:<br />

«Damit es komme nicht zum Knaxe,<br />

erfand der Mensch die Prophylaxe.<br />

Doch lieber beugt der Mensch, der Tor,<br />

sich vor der Krankheit, als sich vor.»<br />

Als eine mögliche Lösung dieses Problems bietet<br />

Märki (2004) die Anwendung des Transtheoretischen<br />

Modells (TTM) an. Bei diesem Modell ist die<br />

Verhaltensänderung eingebettet in einen Veränderungsprozess,<br />

der in sechs Stufen verläuft. Übertragen<br />

auf das Gesundheitsverhalten denkt eine Person<br />

in der ersten Phase nicht über eine Verhaltensänderung<br />

nach. In der zweiten Phase wird eine Veränderung<br />

erwogen, Vorteile und Nachteile werden bedacht<br />

und bewertet. In der Phase der Vorbereitung<br />

wird eine konkrete Handlung geplant und es werden<br />

beispielweise Termine für eine sportliche Aktivität<br />

oder für einen Kurs zur Ernährungsberatung ermittelt.<br />

Die vierte Stufe ist erreicht, wenn das neue Verhalten<br />

konkret umgesetzt und die Aktivität tatsächlich<br />

ausgeführt wird. Wird das Verhalten über einen<br />

Zeitraum von sechs Monaten aufrechterhalten, ist<br />

der Übergang in die Phase der Termination, also der<br />

festen Implementierung im Leben gegeben. Mit dem<br />

Übergang in jede weitere Phase kann die Selbstwirksamkeit<br />

zunehmen. Das bedeutet, dass die Betroffenen<br />

immer mehr an die eigenen Fähigkeiten<br />

glauben, Handlungen umsetzen zu können. Die<br />

Handlungsergebnis erwartung, also die Überzeugung,<br />

dass das angestrebte Verhalten einen positiven<br />

Effekt hat, nimmt mit dem Übergang in die konkrete<br />

Handlung ebenso zu.<br />

1.<br />

Vorbetrachtung<br />

➟<br />

4.<br />

Handlung<br />

Selbstwirksamkeit<br />

2.<br />

➟ Betrachtung ➟<br />

➟ ➟ ➟<br />

Positive Handlungsergebniserwartung<br />

Selbstwirksamkeit<br />

3.<br />

Vorbereitung<br />

5.<br />

6.<br />

➟ Aufrechterhaltung ➟ Termination<br />

➟<br />

Grafi k: Robert Weller<br />

Übertragen auf das Konzept der Gesundheitsförderung<br />

wurde von Märki (2004) die Wirksamkeit des<br />

TTM nachgewiesen. Gesundheitsförderliche Massnahmen<br />

müssen auf die persönlichen Lebensumstände,<br />

Fähigkeiten, Motivation und den Informationsstand<br />

zugeschnitten werden. Unter diesen Voraussetzungen<br />

befähigen (engl. to empower) sie ältere<br />

Menschen. Empowerment kann eine positive Spirale<br />

in Gang setzen. Wiedergewonnene Fähigkeiten, wie<br />

die Bereitschaft belastende Lebensereignisse anzugehen,<br />

Informationen zu gewinnen, neue Technologien<br />

zu nutzen und die eigenen Lebensumstände zu<br />

gestalten, motivieren zu neuen Erfahrungen.<br />

Erfahrungen aus Modellprojekten In verschiedenen<br />

Modellprojekten (Renteln-Kruse 2007; Pfi ster<br />

2006) konnte die Wirksamkeit der Gesundheitsförderung<br />

bei älteren Menschen nachgewiesen werden.<br />

Kennzeichnend für die verschiedenen Projekte<br />

waren zusammenarbeitende interdisziplinäre Teams<br />

aus unterschiedlichen Professionen und kooperierende<br />

ambulante und stationäre Sektoren. Gesundheitsberater<br />

führten mit älteren Menschen ausführliche<br />

Gespräche und erstellten dabei ein umfangreiches<br />

Assessment. Mit Hilfe dieser Informationen<br />

konnten individuelle Massnahmen und präventive<br />

Hausbesuche durchgeführt werden. Die Zusammenarbeit<br />

von Pfl ege, Gesundheitswissenschaften, Medizin,<br />

Physiotherapie, Ernährungswissenschaften<br />

und Sozialpädagogik erwies sich als erfolgreich. So<br />

konnten beispielsweise die Einweisungen in ein Pfl egeheim<br />

bei über 75-jährigen Personen um ein Drittel<br />

reduziert werden. Weiterhin führten die Massnahmen<br />

zu gesteigerter körperlicher Aktivität, besserer<br />

Gang- und Gleichgewichtsfunktionen und zu<br />

einem erhöhten Verzehr von Ballaststoffen.<br />

Ältere Menschen sind erstaunlich kompetent,<br />

Probleme zu bewältigen und einen gesundheitsförderlichen<br />

Lebensstil aufzubauen. Es gilt diese Ressourcen<br />

zu erschliessen und es nicht erst im<br />

Roth’schen Sinne zum «Knaxe» kommen zu lassen.<br />

■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Bewegung ist eine<br />

wichtige Gesundheitsressource.<br />

Foto: Markus Weller<br />

Literatur<br />

Dittrich, K. & Leitzmann,<br />

C. (1996). Bioaktive Substanzen.<br />

Stuttgart: Georg<br />

Thieme.<br />

Lütz, M. (2002). Lebenslust.<br />

Wider die Diät-Sadisten,<br />

den Gesundheitswahn<br />

und den Fitnesskult.<br />

München: Pattloch<br />

Verlag: München<br />

Weitere Literatur beim<br />

Autor.<br />

25


Die Würde des Menschen<br />

ist unantastbar<br />

Dass dem Menschen gleichursprünglich mit seiner Existenz eine Würde zukommt, ist ein Gedanke, der in<br />

der Geschichte der abendländischen Ethik und in den Naturrechts debatten fest verankert ist. Die Würde<br />

des Menschen steht heute auch unter verfassungs mässigem Schutz. Mit einigen Herausforderungen verbunden<br />

ist die Situation oftmals bei Einschränkungen der Entscheidungsmöglichkeiten wie zum Beispiel<br />

bei einer Demenz. Das Konzept für Pfl ege und Betreuung heisst stellvertretendes Handeln, und dies im<br />

Sinne der betroffenen Menschen. Helmut Bachmaier<br />

Prof. Dr. Helmut Bachmaier<br />

ist Präsident<br />

des Stiftungsrates der<br />

TER TIANUM-Stiftung.<br />

helmut.bachmaier@<br />

uni-konstanz.de<br />

Zur Würde gehört, dass<br />

jeder in seiner Freiheit<br />

und in seinen Lebensentwürfen<br />

geachtet wird;<br />

dass Unversehrtheit<br />

garantiert werden muss.<br />

Illustration: Elias Frei<br />

Mit dem Terminus «Würde» wird zweierlei<br />

bezeichnet: Einmal wird dadurch die Stellung<br />

und Geltung einer Person (als Würdenträger)<br />

in der Öffentlichkeit festgehalten: Würde<br />

als soziales Prädikat. Zum anderen wird Würde als<br />

Merkmal betrachtet, das den Menschen im Unterschied<br />

zu anderen Lebewesen auszeichnet, bzw. den<br />

inneren Wert eines Menschen ausmacht. «Würde»<br />

bezieht sich also auf den sozialen Rang des Menschen<br />

in der Lebenswelt oder auf seine Einzigartigkeit.<br />

Diese Einzigartigkeit wird entweder mit der<br />

Teilhabe an der Vernunft oder mit der Gottebenbildlichkeit<br />

begründet.<br />

Historische Formulierungen des Würde-Begriffs<br />

Ausser an das christliche Menschenbild soll hier besonders<br />

an den Renaissance-Philosophen Giovanni<br />

Pico della Mirandola (1463–1494) erinnert werden,<br />

dessen Schrift bzw. bilderreiche Rede «De dignitate<br />

26 NOVAcura 10|09<br />

hominis» («Über die Würde des Menschen», 1496)<br />

einen Meilenstein in der Diskussion darstellt.<br />

Die Würde des Menschen besteht für den Humanisten<br />

Pico im Reichtum an Möglichkeiten, die in dem<br />

einzelnen wie in einem eigenen Mikrokosmos angelegt<br />

sind, und in der Verpfl ichtung, daraus in freier<br />

Entscheidung zu wählen, also individuelle Möglichkeiten<br />

in Freiheit zu erg<strong>reifen</strong>. Er sah darin die dem<br />

Menschen durch Gott gegebene Bestimmung: Würde<br />

ist somit die dem Menschen von Natur aus gegebene,<br />

unaufhebbare Möglichkeit, sich in Freiheit vernünftig<br />

entscheiden zu können und demgemäss zu handeln.<br />

Der bedeutende Vertreter des Naturrechtsgedankens<br />

Samuel von Pufendorf («De iure naturae et gentium»,<br />

1672) leitete aus der Menschenwürde direkt<br />

die natürliche Gleichheit aller Menschen im rechtlichen<br />

Sinne ab. Diese Auffassung hat massgeblich<br />

die amerikanische Erklärung der Menschenrechte<br />

von 1776 beeinfl usst.


In der Moralphilosophie Kants («Grundlegung<br />

zur Metaphysik der Sitten», 1785) hat die Menschenwürde<br />

einen ausgezeichneten Rang erhalten. Mit<br />

«Würde» bezeichnet Kant das, was keinen relativen<br />

Wert, d.h. bezogen auf Äquivalente, darstellt. Würde<br />

ist ein absoluter, innerer Wert, unter dem allein etwas<br />

als Selbstzweck aufgefasst werden kann – und<br />

dies ist die Moralität. Der Grund dafür ist die Autonomie<br />

des Menschen, die Fähigkeit, sich selbstgegebenen<br />

und dennoch allgemeinen Gesetzen zu unterwerfen.<br />

Nach Kant bedeutet die Menschenwürde<br />

demnach eine aus der Autonomie hervorgehende<br />

Selbstgesetzgebung des vernünftigen Menschen,<br />

durch die er sich verbindlich in seinem Handeln beschränkt.<br />

Im Horizont dieser Diskurse stehen die verschiedenen<br />

Menschenrechtserklärungen in der Folgezeit.<br />

Stellvertretendes Handeln – das Konzept für die<br />

Pfl ege In den philosophischen Zeugnissen werden<br />

Würde und Gleichheit aufeinander bezogen oder<br />

eine autonome Gesetzgebung und die freie Entscheidung<br />

mit der personalen Würde identifi ziert. Da die<br />

Würde unteilbar und unaufhebbar ist und von keiner<br />

menschlichen Autorität verliehen oder entzogen<br />

werden kann, bedeutet dies bei Einschränkungen<br />

der Entscheidungsmöglichkeiten wie bei Demenz,<br />

dass die persönliche Begleitung dafür zu sorgen hat,<br />

dass stellvertretend für die betreffende Person, in ihrem<br />

Sinne, gehandelt werden muss. Gespräche, Biografi<br />

e- und Angehörigenarbeit oder Patientenverfügungen<br />

sind einige der Informationsquellen. Dabei<br />

müssen elementare Bedürfnisse garantiert erfüllt<br />

werden: ein angemessenes Mass einer ressourcenorientierten<br />

Grundversorgung, die Wahrung der Intimsphäre,<br />

ein Verbot jeder Instrumentalisierung,<br />

Schutz und Sicherheit für den Patienten. Daraus ergibt<br />

sich die ethische Fundierung der Pfl ege.<br />

Die Wahrung der Intimsphäre, diese im engeren<br />

wie im weiteren Sinne verstanden, bedeutet, vor allem<br />

das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz<br />

zu fi nden, dabei Schamgrenzen und Tabus zu beachten,<br />

die nicht nur alters-, sondern auch kulturabhängig<br />

sind. Dies ist ein wichtiges Thema, bereits in der<br />

Ausbildung der Pfl egenden. Gerade dort, wo Ältere<br />

und Jüngere miteinander umgehen müssen, sind<br />

Stilfragen, Höfl ichkeit, Respekt oder die richtige Ansprache<br />

ein erster Prüfstein für das pfl egende Handeln.<br />

Die Mitwirkung der Angehörigen ist unverzichtbar<br />

und für diese eine grosse Herausforderung und<br />

Anstrengung. Aber dabei geht es nicht um ihre personale<br />

Würde, sondern mehr um eine Entlastung,<br />

damit sie ihren Alltag und die Pfl ege eines Angehörigen<br />

vereinbaren können. Diese Herausforderungen<br />

betreffen insbesondere Frauen, ob Ehefrau, Partnerin<br />

oder Tochter, denn der grösste Teil der Pfl ege erfolgt<br />

in familialen Netzwerken.<br />

Der Sozialethiker Hans Ruh plädierte bereits vor<br />

einigen Jahren (vgl. NZZ, 22.3.2005) mit Blick auf<br />

das Alter für eine «Würde der Abhängigkeit», denn<br />

unsere Gesellschaft sei nicht nur eine Arbeits- und<br />

Lebensgemeinschaft, sondern auch eine Abhängigkeits-<br />

und Gebrechlichkeitsgesellschaft. Daran zu er-<br />

innern ist verdienstvoll, denn oft wird Würde nur<br />

mit Autonomie und freien Entscheidungsmöglichkeiten<br />

in Beziehung gesetzt. Die Anerkennung der<br />

Begrenztheit des Menschen und damit seiner Abhängigkeit<br />

sind jedoch der eigentliche Inhalt der<br />

Humanitätsidee.<br />

Unteilbar, unaufhebbar Die Würde, die mit der<br />

menschlichen Existenz gleichursprünglich und unveräusserlich<br />

gegeben ist und über den Tod hinaus<br />

wirkt, ist keineswegs etwas, das ein Mensch verlieren<br />

kann, schon gar nicht aus bloss empirischen Bedingungen<br />

wie Krankheit oder Alter. Auch Menschen<br />

mit einer Demenz-Erkrankung können noch<br />

im Rahmen ihrer Möglichkeiten handeln und damit<br />

etwas zum Ausdruck bringen. Wird ihnen dies abgesprochen<br />

oder in Frage gestellt, dann verlieren sie<br />

ihre Menschheit. Es gibt also keine graduellen Unterschiede<br />

von mehr oder weniger würdig, sondern<br />

nur die eine innere Würde.<br />

Heinz Rüegger (NOVA 11/2004) stellte dazu in<br />

kluger Voraussicht fest: «Die Frage, ob und wie Demenzkranke<br />

in ihrer bleibenden Würde geachtet<br />

werden, könnte in den kommenden Jahrzehnten<br />

zum Testfall für die Humanität unserer Gesellschaft<br />

werden.» Dies ist plausibel angesichts von gegenwärtig<br />

ca. 100 000 Menschen in der Schweiz, die an Alzheimer<br />

oder einer anderen Form einer Demenz leiden.<br />

Der Demenzpatient verkörpert eigentlich – so<br />

Rüegger – gerade das Gegenteil des heute favorisierten<br />

Menschenbildes, bei dem das Gewicht auf Rationalität,<br />

Autonomie und Produktivität liegt. Abhängigkeit,<br />

kognitive Einschränkungen, mangelnde<br />

Selbstgestaltung des Lebens gehörten jedoch auch<br />

zum Menschsein.<br />

Menschenwürde und Rechtsgleichheit in der Verfassung<br />

Die Eidgenössische Bundesverfassung regelt<br />

in Art. 7: «Die Würde des Menschen ist zu achten<br />

und zu schützen.» Und in Art. 8 wird die Rechtsgleichheit<br />

festgeschrieben: «(1) Alle Menschen sind<br />

vor dem Gesetz gleich. (2) Niemand darf diskriminiert<br />

werden, namentlich nicht wegen der Herkunft,<br />

der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache,<br />

der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen,<br />

weltanschaulichen oder politischen Überzeugung<br />

oder wegen einer körperlichen, geistigen oder<br />

psychischen Behinderung.» Mit diesen kategorischen<br />

Feststellungen wird der Unteilbarkeit und Unaufhebbarkeit<br />

der Würde das entsprechende verfassungsmässige<br />

Fundament gegeben.<br />

Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie<br />

steht unter verfassungsmässigem Schutz. Zur Würde<br />

gehört, dass jeder in seiner Freiheit und in seinen<br />

Lebensentwürfen geachtet wird, dass Unversehrtheit<br />

garantiert werden muss. Würde und Achtung sind<br />

im Alter dann besonders hohe Güter, wenn Einschränkungen<br />

und Gebrechen dem Menschen die<br />

Selbstgestaltung seines Lebens kaum mehr möglich<br />

machen. Jeder Hilfl ose hat Anspruch auf Würde<br />

und Achtung. Dies ist mehr als blosser Respekt, nämlich<br />

jemanden in seinem So-Sein anzuerkennen.<br />

Diese Anerkennung garantiert dem anderen die<br />

Würde. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Menschenrechtserklärungen<br />

Erklärung der Rechte von<br />

Virginia, 12.6.1776<br />

Artikel 1: Alle Menschen<br />

sind von Natur aus gleichermassen<br />

frei und unabhängig<br />

und besitzen gewisse<br />

angeborene Rechte,<br />

deren sie, wenn sie den<br />

Status einer Gesellschaft<br />

annehmen, durch keine Abmachung<br />

ihre Nachkommenschaft<br />

beraubt oder<br />

entkleidet werden können,<br />

und zwar den Genuss des<br />

Lebens und der Freiheit und<br />

dazu die Möglichkeit, Eigentum<br />

zu erwerben und<br />

zu besitzen und Glück und<br />

Sicherheit zu erstreben und<br />

zu erlangen.<br />

Erklärung der Menschenund<br />

Bürgerrechte,<br />

26.8.1789<br />

Artikel 1: Die Menschen<br />

werden frei und gleich an<br />

Rechten geboren und bleiben<br />

es.<br />

Allgemeine Erklärung<br />

der Menschenrechte<br />

der Vereinten Nationen,<br />

10.12.1948<br />

Artikel 1: Alle Menschen<br />

werden frei und gleich an<br />

Würde und Rechten geboren.<br />

Sie sind mit Vernunft<br />

und Gewissen begabt und<br />

sollen sich zueinander im<br />

Geist der Brüderlichkeit<br />

verhalten.<br />

27


Herausfordendes Verhalten<br />

Eine Aufforderung an Institutionen und Pfl egende<br />

Verhaltensauffälligkeiten, die sich im Laufe einer demenziellen Erkrankung zeigen können,<br />

stellen eine grosse Herausforderung für die Einrichtungen und das Pfl ege- und Betreuungspersonal<br />

dar. Institutionen und Pfl egende haben aber durchaus Möglichkeiten,<br />

um damit in der Praxis konstruktiv und positiv umzugehen. Die Zahl der Personen im<br />

Altersheim, die an einer Demenz erkranken, steigt, da sich das Risiko, neu an einer<br />

Demenz zu erkranken, mit zunehmendem Alter erhöht. Wie sich die Situation in den<br />

Altersheimen der Stadt Zürich darstellt und wie sie mit dieser Herausforderung umgehen,<br />

wurde im Rahmen einer Masterarbeit erfasst. Jasmin Kleiner<br />

Jasmin Kleiner, Pfl egewirtin<br />

FH,M.Sc. Gerontologie,<br />

ist Leiterin Betreuung<br />

und Pfl ege im Altersheim<br />

Mittelleimbach in<br />

Zürich.<br />

jasmin.kleiner@zuerich.ch<br />

Verhaltensauffälligkeit und herausforderndes<br />

Verhalten beinhalten folgende Veränderungen<br />

und Probleme zusammengefasst: Persönlichkeitsveränderungen,<br />

Schlafstörungen, Wahnsymptome,<br />

Halluzinationen, Psychomotorische<br />

Unruhe und Weglauftendenz, aggressives Verhalten<br />

und Enthemmungssymptome. Der Begriff «herausfordernd»<br />

kennzeichnet, dass das Verhalten nicht alleine<br />

die Demenzbetroffenen betrifft, sondern dass<br />

auch bestimmte Anforderungen an das Verhalten<br />

der Pfl egenden und die Umgebung gestellt wird. Das<br />

gezeigte Verhalten von demenzerkrankten Bewohnenden<br />

zeigt auch häufi g die Grenze an, was andere<br />

Menschen privat oder berufl ich dauerhaft zu ertragen<br />

vermögen.<br />

28 NOVAcura 10|09<br />

Häufi gkeit des herausfordernden Verhaltens In<br />

den befragten Altersheimen wird der gestörte Tag-/<br />

Nachtrhythmus der Bewohner/innen von insgesamt<br />

17 Einrichtungen am häufi gsten als herausfordernde<br />

Verhaltensweise benannt. Am zweithäufi gsten<br />

kommt die Teilnahmslosigkeit/Apathie vor. Das ziellose<br />

Herumwandern und die Unruhe von Bewohner/innen<br />

wurde von 16 Einrichtungen angegeben<br />

und steht somit an dritter Stelle, gefolgt von den<br />

Wahnvorstellungen mit 14 Nennungen (Abb. 1).<br />

Betreuungs- und Wohnformen In fünf der befragten<br />

Altersheime werden die Bewohner/innen mit<br />

herausforderndem Verhalten, wie alle anderen Bewohner/innen<br />

auch, räumlich im Altersheim be-<br />

Foto: © irisblende.de


treut (integrativ). In neun Altersheimen sind diese<br />

Bewohner/innen räumlich im Altersheim integriert,<br />

sie werden jedoch tagsüber für eine bestimmte Zeitspanne<br />

in einer speziellen Gruppe betreut (teil-separativ).<br />

In vier Altersheimen liegt die separative<br />

Wohnform vor, in der diese Bewohner/innen in getrennten<br />

Räumlichkeiten leben (Abb. 2).<br />

Die Vor- und Nachteile der teil-separativen Wohnform<br />

für die Bewohner/innen wurden von den befragten<br />

Leitungen Betreuung und Pfl ege wie folgt<br />

eingeschätzt.<br />

Vorteile der teil-separativen Wohnform<br />

Kleine Gruppengrösse<br />

Durch spezifi sche Betreuung werden die Bewohner/innen<br />

aktiviert<br />

Keine öffentliche Stigmatisierung<br />

Überforderungssituationen für die Bewohner/innen<br />

werden minimiert<br />

Konstante Betreuung durch permanente Präsenz<br />

einer Bezugsperson<br />

Kreative Aufgabe für Betreuungs- und Pfl egepersonal<br />

Verkürzte Arbeitswege<br />

Mitarbeiter können ihre Stärken und Ausbildungen<br />

einsetzen (z.B. FaBe)<br />

Weniger Konfl ikte mit Mitbewohnenden<br />

Nachteile der teil-separativen Wohnform<br />

Bewohner/innen werden aus dem Gemeinschaftsleben<br />

ausgeschlossen<br />

Keine Durchmischung der Bewohner/innen<br />

Intensive Betreuung auf engem Raum<br />

Personal mit entsprechender Ausbildung und<br />

Fähigkeiten fehlt<br />

Angebotsvielfalt für alle Bewohnergruppen im<br />

Altersheim<br />

Kotschmieren/-essen, Urinieren, Einkoten in die Wohnräume<br />

(nicht als Folge der Inkontinenz)<br />

Zeigt aggressives Verhalten an sich selber<br />

(z.B. selbstverletzendes Verhalten)<br />

Anhaltendes Schreien<br />

Unangemessenes und unpassendes An- und Ausziehen<br />

Eindringen in fremde Räume<br />

Zeigt aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen<br />

(z.B. Schlagen, Beschimpfen)<br />

Gestörtes Essverhalten<br />

(z.B. unkontrollierte übermässige Nahrungsaufnahme)<br />

Bestehlungs-, Verfolgungs-, Vergiftungswahn<br />

Zielloses Herumwandern, Unruhe<br />

Teilnahmslosigkeit/Gleichgültigkeit gegenüber der Umgebung<br />

(apathisches Verhalten)<br />

Gestörter Tag-/Nacht-Rhytmus<br />

Anzahl der Altersheime<br />

10<br />

9<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

Die Vor- und Nachteile der integrativen Wohnform<br />

wurden wie folgt benannt:<br />

Vorteile der integrativen Wohnform<br />

Alle Bewohner/innen sind in der Hausgemeinschaft<br />

integriert<br />

Gegenseitige Akzeptanz wird gefördert<br />

Abwechslungsreiche Arbeit<br />

Keine Verlegung von Bewohner/innen<br />

Breites Altersspektrum<br />

Sparpotenzial vorhanden<br />

Infrastruktur muss nicht angepasst werden<br />

Nachteile der integrativen Wohnform<br />

Es entstehen Konfl ikte zwischen den Bewohnenden,<br />

Angehörigen und Besucher/innen<br />

Den Bedürfnissen und dem Zustand der Bewohner/innen<br />

kann man nicht immer vollständig gerecht<br />

werden<br />

Ein Grossteil der Aufmerksamkeit richtet sich auf<br />

die auffälligen Bewohner/innen<br />

Bewohner/innen verirren sich im Haus<br />

5<br />

8<br />

9<br />

9<br />

10<br />

12<br />

13<br />

14<br />

14<br />

15<br />

Betreuungsform Gesamt<br />

Integrative Betreuung Teilsegregative Betreuung Segregative Betreuung<br />

17<br />

0 2 4 6 8 10 12 14 16 18<br />

Anzahl der Altersheime<br />

Kommt bei weniger als einem ¼ der Bewohner/innen vor Kommt bei ca. ¼ bis ½ der Bewohner/innen vor<br />

5<br />

1<br />

9<br />

1<br />

1<br />

3<br />

4<br />

NOVAcura 10|09<br />

Abb. 2: Betreuungsform<br />

Gesamt (N = 18 Altersheime)<br />

Abb. 1: Antworthäufi gkeit<br />

für «Gesamtdarstellung<br />

der herausfordernden<br />

Verhaltensweisen – über<br />

alle befragten Altersheime»<br />

(N = 18 Altersheime)<br />

29


Dieser Artikel basiert auf<br />

der Masterarbeit der Autorin<br />

Jasmin Kleiner am Institut<br />

für Psychogerontologie<br />

der Universität in Erlangen-<br />

Nürnberg, Studiengang M.<br />

Sc. Gerontologie, zum<br />

Thema: Betreuungs- und<br />

Wohnformen für Bewohnerinnen<br />

und Bewohner mit<br />

herausforderndem Verhalten<br />

in den Altersheimen der<br />

Stadt Zürich.<br />

Anhand einer schriftlichen<br />

teilstandardisierten<br />

Befragung von 19 Altersheimen<br />

der Stadt Zürich<br />

wurde untersucht, in welchen<br />

Versorgungsformen<br />

Bewohnerinnen und Bewohner<br />

betreut werden, die<br />

herausforderndes Verhalten<br />

zeigen. Es wurden Erfahrungswerte<br />

abgefragt, welche<br />

die Leitungen Betreuungen<br />

und Pfl ege in ihren Altersheimen<br />

machen.<br />

Weitere Informationen:<br />

jasmin.kleiner@zuerich.ch<br />

Altersheime der Stadt Zürich<br />

– 27 Altersheime und ein Gästehaus<br />

– ca. 2000 Bewohner/innen/durchschn.<br />

Eintrittsalter 85 Jahre<br />

– ca. 1200 Mitarbeitende<br />

Zur Ausrichtung der Altersheime gehören Wahlfreiheit für die<br />

verschiedenen Dienstleistungen wie z.B. die der Mahlzeiten,<br />

der Wäscheversorgung oder die Reinigung des Zimmers. Die<br />

Bewohnerinnen und Bewohner können, wenn immer möglich,<br />

bis zu ihrem Tode im Altersheim wohnen bleiben, auch wenn<br />

sie an einer Demenz erkranken.<br />

Es entstehen Situationen für das Personal, welches<br />

Stress auslösen kann<br />

Integration als eine grosse Herausforderung<br />

Konzentration der Betreuung auf wenige<br />

Negatives Aussenbild, wenn in öffentlichen Räumen<br />

das Schreien und Rufen gehört wird<br />

Die Schlussfolgerungen Die Frage, welches die geeignete<br />

Wohnform für die Betreuung von Bewohner/innen<br />

mit herausforderndem Verhalten in den<br />

Altersheimen der Stadt Zürich ist, konnte diese Arbeit<br />

nicht abschliessend klären. Es ist jedoch eine<br />

starke Tendenz zur teil-separativen Betreuung festzustellen,<br />

die mehr Vorteile als Nachteile in der täglichen<br />

Praxis aufweist.<br />

In den Altersheimen der Stadt Zürich zeigen 17%<br />

der Bewohnerinnen und Bewohner herausforderndes<br />

Verhalten. Diese Zahl hat weit reichende Konsequenzen,<br />

denn diese Personengruppe braucht eine<br />

entsprechende medizinische Betreuung und gerontopsychiatrisches<br />

Fachwissen, ein milieutherapeutisches<br />

Umfeld, das die Verhaltensweisen nicht<br />

verstärkt, verstehendes Personal und informierte Angehörige.<br />

Aus den Befragungsergebnissen geht hervor, dass<br />

es für die Bewohnenden von Vorteil ist, dass sie in<br />

einer Gruppe leben können, in der sie aufgehoben<br />

sind, die Sicherheit vermittelt und einen ständigen<br />

Ansprechpartner haben. Es zeigt sich, dass die inte-<br />

30 NOVAcura 10|09<br />

grative Betreuungsform sowohl bewohnerbezogen,<br />

personell wie organisatorisch immer wieder an<br />

Grenzen stösst. Um dieser Bewohnergruppe gerecht<br />

zu werden, hat sich ein Grossteil der Altersheime für<br />

eine teil-separative Betreuungsform entschieden.<br />

Eine Spezialisierung der Betreuungsform bedeutet<br />

auch eine Spezialisierung der Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeiter. Wie eine Leitungskraft der Altersheime<br />

betont, ist hierbei die Bezugspfl ege mit einer konstanten<br />

Bezugsperson nach wie vor von grosser Bedeutung.<br />

Dieses Betreuungskonzept wird in der Praxis<br />

weiter gefördert und kontinuierlich angepasst.<br />

Um herausforderndes Verhalten zu verstehen und<br />

diesem angemessen begegnen zu können, muss die<br />

Biografi e bekannt sein. Auch müssen aktuelle soziale,<br />

psychische, biologische und umgebungsbezogene<br />

Aspekte betrachtet werden. Es gibt aber auch<br />

Situationen, in denen trotz grosser Bemühungen<br />

und Anwendung strukturierter Methoden die Ursache<br />

für das Verhalten nicht erkennbar ist. Das Wissen<br />

um Rituale, Abneigungen oder Vorlieben von<br />

Menschen mit Demenz ist keine Garantie zur Vorbeugung<br />

von unerwartetem und auch aggressivem<br />

Verhalten.<br />

Innovatives und engagiertes Personal ist einer der<br />

wichtigsten Grundpfeiler, um die Herausforderung,<br />

die demenziell erkrankte Menschen an uns stellen,<br />

aufzunehmen. Eine absolvierte Qualifi zierung in Bezug<br />

auf Demenz und Verhalten ist sicherlich von<br />

Vorteil, jedoch ist die innere Einstellung des pfl egenden<br />

und betreuenden Menschen das Allerwichtigste.<br />

Es ist Personal vonnöten, welches sich intensiv mit<br />

dem Krankheitsbild auseinandersetzt und selbständige<br />

Überlegungen anstellt, wie man etwas besser<br />

machen kann, um die problematischen Situationen<br />

zu meistern. Hierzu braucht es auf Leitungsebene<br />

Führungskräfte, die dieses kreative Denken fördern<br />

und unterstützen. Die Literatur stellt zudem einige<br />

wissenschaftliche Ansätze zum Umgang mit demenziell<br />

erkrankten Menschen mit herausforderndem<br />

Verhalten zur Verfügung. Um diese in der Praxis zu<br />

implementierten, braucht es motiviertes Personal<br />

auf allen Ebenen, das bereit ist, Veränderungen mitzutragen.<br />


Die Psyche wurde im Altgriechischen in einem<br />

sehr umfassenden Sinn verstanden und sogar<br />

zur Umschreibung der ganzen Person<br />

verwendet. In der naheliegenden und deswegen<br />

wohl ursprünglichen Auffassung von Atmen und<br />

Atem stand sie als Zeichen für Belebtheit. Insofern<br />

konnte sie auch als Lebensprinzip aufgefasst und sogar<br />

mit Leben gleichgesetzt werden. Damit sind das<br />

Gemüt und das Herz, der Mut und die Herzhaftigkeit<br />

gemeint, der Sitz der Leidenschaften, die Begehrlichkeit,<br />

die Lust und sogar der Appetit und<br />

über die Sinne betrachtet auch das Denkvermögen,<br />

der Verstand, die Klugheit sowie ganz allgemein das<br />

Geistige. Motorik ist die Fähigkeit des Körpers eines<br />

Menschen, sich zu bewegen. Mit dem Begriff wird<br />

auch das Bewegungsverhalten beschrieben. Motorik<br />

umfasst alle Steuerungs- und Funktionsprozesse von<br />

Haltung und Bewegung. Damit ist Motorik mehr als<br />

ein objektiver Vorgang der Veränderung menschlicher<br />

Körpermassen in Raum und Zeit.<br />

Zusammenspiel von Psyche und Motorik Psychische<br />

Vorgänge wie zum Beispiel Emotionalität oder<br />

Konzentration, aber auch die individuelle Persönlichkeitsanlage<br />

beeinfl ussen das spontane Bewegungsspiel.<br />

Diese ursächliche Verknüpfung wird Psychomotorik<br />

genannt. Sie ist ein ganzheitliches und<br />

Die psychomotorische Entwicklung ist von<br />

entscheidender Bedeutung für das Mass<br />

an Autonomie, die ein Mensch erreichen<br />

kann. Die Frage ist, welche Faktoren diese<br />

Entwicklung beeinfl ussen und welche Interventionen<br />

es bei Störungen gibt.<br />

Christopher Kahl<br />

entwicklungsorientiertes Konzept, das sowohl die<br />

Wahrnehmung als auch die Bewegung gleichermassen<br />

fördert. Es geht um das Zusammenspiel des<br />

psychischen Erlebens eines Menschen bzw. seiner<br />

psychisch-seelisch-emotionalen Entwicklung und<br />

der Entwicklung von Motorik und Wahrnehmung.<br />

Dabei werden die Einfl üsse der sozialen und materiellen<br />

Umwelt auf das Gefüge von Psyche und Motorik<br />

mitberücksichtigt. Im Wortsinn «be-greift»<br />

der Mensch seine Umwelt im Reiz-Reaktions-Muster.<br />

Basierend auf den frühen Erfahrungen, welche<br />

der Ausbildung der persönlichen Integrität dienen,<br />

entwickelt sich der Mensch zur Reife im Alter. Wird<br />

die Grundsicherheit resp. das Grundvertrauen durch<br />

fehlende oder reduzierte Anreize während der Entwicklung<br />

enttäuscht, kann es schon im Präsenium<br />

zu Phänomenen sozialer Isolierung und zur mentalen<br />

Stagnation kommen. Erik H. Erikson nennt treffend<br />

als etwas vom Wesentlichsten die Phase der<br />

Ich-Erkenntnis, in welcher der Mensch in der letzten<br />

Stufe, dem Senium, «ist, was er sich angeeignet<br />

hat».<br />

Die Physiologie der Bewegung Die Gesamtheit<br />

der vom Zentralnervensystem kontrollierten bewussten<br />

Bewegungen des Körpers wird als Willkür-<br />

NOVAcura 10|09<br />

Motorik ist mehr als ein<br />

Vorgang der Veränderung<br />

menschlicher Körpermassen<br />

in Raum und Zeit.<br />

Illustration: Elias Frei<br />

Christopher Kahl ist Lehrer,<br />

Autor und Rezensent.<br />

Er arbeitet am Berufsbildungszentrum<br />

des Kantons<br />

Schaffhausen.<br />

kahl@bbz-sh.ch<br />

31


Literatur<br />

Pritzel, M. et al. (2003):<br />

Gehirn und Verhalten.<br />

Heidelberg: Spektrum<br />

Akademischer Verlag.<br />

Erikson, E. H. (1966):<br />

Identität und Lebenszyklus.<br />

Drei Aufsätze.<br />

Frankfurt: Suhrkamp.<br />

Schädler, S. et al.<br />

(2006): Assessments in<br />

der Neurorehabilitation.<br />

Bern: Huber.<br />

Motorische Tests<br />

(Auswahl):<br />

Gehgeschwindigkeit/<br />

Gehtests mit Zeitnahme:<br />

gemessen wird je nach<br />

Test die Zeit, die benötigt<br />

wird, eine defi nierte<br />

Strecke zu gehen (10m-<br />

Gehtest) oder die Strecke,<br />

die während einer<br />

bestimmten Zeit zurückgelegt<br />

wird (6min-Gehtest).<br />

Mobilität: Arm-Hand-<br />

Funktion (Wolf Motor<br />

Function Test (WMFT):<br />

dieser Test bewertet die<br />

Fähigkeit, die obere Extremität<br />

in einfachen oder<br />

komplexen Bewegungen<br />

bzw. funktionellen Tätigkeiten<br />

einzusetzen.<br />

motorik bezeichnet. Im Gegensatz dazu stehen einerseits<br />

unwillkürliche Refl exe des Körpers, physiologische<br />

Mitbewegungen wie die Pendelbewegungen<br />

der Arme beim Gehen und andererseits die Mimik,<br />

die im Wesentlichen auf der Tätigkeit der<br />

mimischen Muskulatur beruht und zum grössten<br />

Teil unbewusst gesteuert wird.<br />

Es wird unterschieden zwischen Grobmotorik (zum<br />

Beispiel Reaktionsschnelligkeit und allgemeines Reaktionsvermögen<br />

sowie der allgemeinen Körper-<br />

und Gliederstärke und Bewegungskoordination)<br />

und Feinmotorik (zum Beispiel Mimik, Fingergeschicklichkeit).<br />

Eine weitere Einteilung basiert auf der Art der Bewegung:<br />

Lokomotorik: Fortbewegungen des Körpers wie<br />

Klettern, Laufen, Gehen und Springen<br />

Mimik: Veränderungen des Gesichtsausdrucks<br />

Vasomotorik: Veränderungen des Lumens der<br />

Blutgefässe<br />

Sudomotorik: Verhalten der Schweissdrüsen.<br />

Zur Steuerung der Motorik bedarf es grundlegender<br />

Prozesse in den Bereichen<br />

Neuromotorik (neurophysiologisch)<br />

Sensomotorik (sensomotorisch)<br />

Psychomotorik (psychisch, kognitiv, motivational)<br />

Soziomotorik (sozial, kulturell)<br />

Zur sogenannten Statomotorik zählen Halte- und<br />

Stützrefl exe mit Blick auf die Körperhaltung. Weitere<br />

Unterscheidungsbereiche sind Gestik (Körperbewegungen)<br />

und Pantomimik (Körperhaltung). Unter<br />

Taxis versteht man unter anderem die Axialorientierung<br />

von Kopf und Rumpf sowie Blick- und<br />

Körperkontakt (Taktilkontakt) wie beispielsweise<br />

Schulterklopfen oder Händeschütteln. Die Bewegungskompetenz<br />

ist die Fähigkeit, die eigene Bewegung<br />

zu nutzen, um Herausforderungen motorischer,<br />

kognitiver oder sozialer Natur über Bewegung<br />

zu lösen und Situationen optimal zu gestalten.<br />

Konzepte mit unterschiedlichem Schwerpunkt<br />

Der Schweizer Entwicklungspsychologe und Epistemologe<br />

J. Piaget (1896–1980) unterscheidet vier<br />

gros se Entwicklungsabschnitte (Phasen), die als optimale<br />

Vorbereitung auf spätere Lebensalter durchlaufen<br />

werden sollten. Wichtig ist: In jeder Phase<br />

müssen Reize und Stimuli geboten werden.<br />

Die Konzepte der Psychomotorik fi nden sich mit<br />

unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, unter den<br />

Begriffen Bewegungspädagogik, Bewegungstherapie,<br />

Motopädagogik, Motopädie, Mototherapie, psychomotorischer<br />

Therapie etc. wieder. Die Psychomotorik<br />

ist sowohl ein pädagogisches als auch ein therapeutisches<br />

Konzept. Im Wortsinn bedeutet dies, die<br />

Menschen «be-g<strong>reifen</strong>».<br />

Die Motodiagnostik bietet Verfahren zur Messung<br />

des motorischen Status unter standardisierten Bedingungen.<br />

Hier können u.a. motorische Defi zite<br />

resp. Hinweise auf Hirnschädigungen erkannt<br />

werden. Unterschieden werden motometrische, motoskopische<br />

und motografi sche Verfahren zur Testung.<br />

32 NOVAcura 10|09<br />

Pathophysiologie der Wahrnehmungs- und Integrationsstörungen<br />

Die Wahrnehmungsfähigkeit<br />

(Perzeption) eines Menschen ist von der Funktionsfähigkeit<br />

der Sinnesorgane abhängig. Von einer<br />

Wahrnehmungs- und damit Integrationsstörung<br />

wird jedoch auch dann gesprochen, wenn fehlerhafte<br />

Abläufe trotz der Intaktheit der Sinnesorgane<br />

im Wahrnehmungsprozess entstehen, wie die folgenden<br />

zwei wesentlichen Beispiele zeigen.<br />

Störung der propriozeptiven Wahrnehmung<br />

Ungenaue und undifferenzierte Informationen über<br />

die Spannung und Lageveränderung der Muskulatur<br />

und Gelenke haben eine unzureichende Eigenwahrnehmung<br />

zur Folge. Bei einer Störung der Tiefenwahrnehmung<br />

haben die betroffenen Personen kein<br />

differenziertes Körpergefühl. Einzelne Körperteile<br />

können im Körperschema fehlen. Bei komplexen Tätigkeiten<br />

werden die einzelnen Körperteile nicht<br />

oder nur nach Aufforderung benutzt. Gerade beim<br />

alten Menschen ist das Erlernen komplexer Bewegungsabläufe<br />

oft verzögert, die Automatisierung von<br />

Bewegungen ist erschwert. Ein gezielt gesteuerter Bewegungsablauf<br />

und das Dosieren des Krafteinsatzes<br />

können beeinträchtigt sein. Häufi g treten Probleme<br />

in der fi gurellen Wahrnehmung auf, da die Differenzierung<br />

einzelner Reize und ihre unterschiedliche<br />

Bedeutsamkeit gestört sind. Die mehr oder minder<br />

zu beobachtende ausdrucksarme Mimik könnte soziodynamische<br />

Konsequenzen haben. Leben die Betroffenen<br />

doch entweder in der häuslichen Umgebung<br />

oder in Altersinstitutionen, so ist in beiden<br />

Lebenssituationen davon auszugehen, dass soziale<br />

Netze vorhanden sind, die stützend wirken.<br />

Störung der vestibulären Wahrnehmung<br />

Bei einer vestibulären Überempfi ndlichkeit ist zu beobachten,<br />

dass die Menschen bei nahezu jeder Beanspruchung<br />

ihres Gleichgewichtssystems verunsichert<br />

sind. Je älter der Mensch wird, umso deutlicher<br />

nehmen physiologische Prozesse qualitativ ab.<br />

Das Innenohr dient dem Menschen als Gleichgewichts-<br />

und Hörorgan. Der Gleichgewichtsnerv<br />

(N. vestibularis) vereinigt sich mit dem Hörnerv<br />

(N. cochlearis) zum VIII. Hirnnerv (N. vestibulocochlearis).<br />

Und genau hier kann das entsprechende<br />

Problem zu fi nden sein: Sich verschlechterndes<br />

Hören korreliert eng mit einem alternsbedingt reduzierten<br />

Gleichgewichtssinn. Die Folgen sind offensichtlich:<br />

erhöhte Sturzgefahr, verminderte Orientierungsfähigkeit<br />

im Alter, sozialer Rückzug etc.<br />

Phänomene und therapeutische Interventionen<br />

Bei alten Menschen geht man davon aus, dass sie<br />

während ihres Lebens ausreichende perzeptive Erfahrungen<br />

machen konnten. Ist das nicht der Fall,<br />

spricht man von angeborenen resp. erworbenen Störungen.<br />

Im Bereich der Psyche bedeutet das: Misstrauen,<br />

Selbstbildstörungen, Mutlosigkeit, Schuldgefühle,<br />

Gefühle der Minderwertigkeit, Stagnation, Verzweiflung,<br />

Deprivation.<br />

Im Bereich des Körpers bedeutet das: eingeschränkte<br />

Mobilität durch motorische Schädigun-


gen des zentralen oder peripheren Nervensystems,<br />

Körperbildstörungen, Suchterkrankungen<br />

Konkrete Massnahmen<br />

Psychotherapie: Stärkung des Selbstvertrauens<br />

und des Selbstwertgefühls<br />

Psychomotorik: Analyse der Wechselwirkung zwischen<br />

Denken, Fühlen und Bewegen und deren<br />

Bedeutung für die Entwicklung des Menschen in<br />

seinem Umfeld, Schulung des Gleichgewichts, Tonusregulation,<br />

Behandlung von Verhaltensstörungen<br />

und Kommunikationsschwierigkeiten<br />

Sozialtherapie: Verhindern, Lindern oder Lösen<br />

sozialer Probleme von Individuen in sozialen Systemen:<br />

sozialpathologische Expertise biopsychischer<br />

und biopsychosomatischer Störungsbilder<br />

und einer sozialarbeitswissenschaftsgestützten Intervention<br />

im Rahmen von Beratung, Behandlung<br />

und Prävention.<br />

Gefordert: ganzheitliche Sichtweise Autonom alt<br />

werden – wer wünscht sich das nicht? In unserer individualisierten<br />

Gesellschaft ist Autonomie längst<br />

zu einem zentralen Wert avanciert, der auch von alten<br />

Menschen allen anderen Werten gegenüber vorgezogen<br />

wird. Es geht darum, möglichst lange von<br />

der Hilfe anderer unabhängig zu sein. Aber wie defi<br />

nieren die alten Menschen ihre Autonomie? Ralf<br />

Schwarzer von der Fachuniversität Berlin benannte<br />

die folgenden Kriterien zur Charakterisierung der<br />

Autonomie älterer Menschen (aus: Wahrgenommene<br />

Autonomie im Alter, WAA, 2008):<br />

Ich komme im Alter gut allein zurecht.<br />

Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und<br />

lasse mich nicht von anderen Menschen bevormunden.<br />

Ich gestalte mein Leben nach meinen eigenen<br />

Vorstellungen.<br />

Ich bewältige meinen Alltag ohne fremde Hilfe.<br />

Auch wenn ich gesundheitlich eingeschränkt bin,<br />

lasse ich es mir nicht nehmen, über mich selbst<br />

zu bestimmen.<br />

Auch beim Älterwerden beherrsche ich meine Gedanken<br />

und Gefühle, ohne mich von anderen<br />

lenken zu lassen.<br />

Das Gedankengut der Psychomotorik, die Möglichkeiten<br />

von zielgerichteten Interventionen und Unterstützungsangeboten<br />

kann einen wesentlichen<br />

Teil beitragen, damit Menschen ihren Alltag so leben<br />

und gestalten können, wie es ihren Bedürfnissen<br />

entspricht. Ein Arbeitsziel im Pfl ege- und Betreuungsalltag<br />

kann sein, den Menschen die Angebote<br />

bzgl. der Aufnahme und Verarbeitung bestimmter<br />

Reize zu schaffen. Wesentlich ist der ganzheitliche<br />

Aspekt. Dabei ist nicht nur die Betrachtung einzelner<br />

Wahrnehmungsbereiche von Bedeutung; es sind<br />

die allgemeinen sensorischen und motorischen<br />

Möglichkeiten, Motivation, Emotionen und Erfahrungen,<br />

die das «Be-g<strong>reifen</strong>» ermöglichen und fördern.<br />

■<br />

Vorankündigung<br />

11. März 2010<br />

Fachkongress curahumanis<br />

in Luzern<br />

Angehörige im Spannungsfeld<br />

von Kümmern und Kummer<br />

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NOVAcura 10|09<br />

33


Praxisentwicklung<br />

Ein Prozess mit dem Ziel einer effektiven und gäste orientierten Pfl ege<br />

Ein zentrales Anliegen der Praxisentwicklung ist, Pfl egende in der Weiterentwicklung einer evidenzbasierten<br />

Praxis zu unterstützen. Dabei sind die Erfahrung und die Expertise der Pfl egenden als Evidenz<br />

genauso wichtig wie Ergebnisse aus der Forschung. In der Tages- und Nachtklinik des Pfl egezentrums<br />

Kloten überarbeiteten die Pfl egenden im Rahmen eines Praxisentwicklungsprojektes das Eintrittsassessment<br />

für ihre Gäste. Erkenntnisse aus dem Projekt kommen dem ganzen Betrieb zugute.<br />

Das pfl egerische Eintrittsassessment<br />

ist die<br />

Basis für den Beziehungsaufbau<br />

zum Gast<br />

und seinen Angehörigen<br />

und der erste Schritt im<br />

Pfl egeprozess.<br />

Foto: Martin Glauser<br />

Herr Z. pfl egt seine 70-jährige Partnerin seit zwei Jahren zu<br />

Hause. Sie hat eine vaskuläre Demenz und ist zunehmend<br />

desorientiert. Für Herrn Z. wird es immer schwieriger, aus<br />

dem Haus zu gehen und seine Frau alleine zu lassen. Er macht<br />

sich jeweils Sorgen, da Frau Z. manchmal vergisst, die Herdplatte<br />

abzustellen.<br />

Für pfl egebedürftige ältere Menschen ist es wichtig,<br />

so lange wie möglich zu Hause leben zu können. Einen<br />

grossen Teil der Unterstützung und Pfl ege zu<br />

Hause übernehmen Angehörige. Diese kommen dadurch<br />

oft an Belastungsgrenzen, und ihre psychische<br />

und körperliche Gesundheit leidet (Kesselring et al.,<br />

2001). Pfl egende Angehörige spielen eine zentrale<br />

Rolle bei der Bewältigung des zukünftigen Bedarfs<br />

in der Alterspfl ege (Höpfl inger & Hugentobler,<br />

2004). Tagesbetreuungen und Ferienbetten sind<br />

wichtige Entlastungsangebote (Höpfl inger & Stuckelberger,<br />

1999), deren Nutzung bei pfl egenden Angehörigen<br />

zu Stressreduktion und höherem Wohlbefi<br />

nden führt (Gaugler et al., 2003).<br />

Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden,<br />

hat das Pfl egezentrum Kloten (PZK) 2004 eine Tages-<br />

und Nachtklinik (TNK) mit acht Tages- und fünf<br />

Nachtplätzen eröffnet. Das Angebot richtet sich vor<br />

allem an Personen über 70 Jahre mit einer dementiellen<br />

Erkrankung und kann für einzelne Tage pro<br />

34 NOVAcura 10|09<br />

Franziska Zúñiga und Irena Anna Frei<br />

Woche oder wenige Wochen aneinander benutzt<br />

werden. Die TNK unterstützt die Gäste, ihre Selbstständigkeit<br />

sowie Sozialkontakte zu erhalten. Pfl egende<br />

Angehörige erleben dadurch Entlastung und<br />

Begleitung in ihrer Aufgabe.<br />

Pfl egerisches Eintrittsassessment<br />

Vom Hausarzt hat Herr Z. vernommen, dass es in der Nähe<br />

seines Wohnortes eine Tages- und Nachtklinik gibt. Er hat<br />

schon länger nach einer solchen Entlastungsmöglichkeit gesucht<br />

und ruft gleich an, um den Ort anschauen zu können.<br />

Die Pfl egefachperson vereinbart den Termin für ein Erstgespräch<br />

mit dem Ehepaar Z.<br />

Die Schweizerische Fachgesellschaft für Geriatrie<br />

formuliert als Ziel von Entlastungsaufenthalten und<br />

Tagespfl egeplätzen, dass die «physischen, psychischen<br />

und sozialen Kompetenzen und Ressourcen<br />

der pfl egebedürftigen Menschen unter geriatrischer<br />

Anleitung bzw. Beratung erhalten und gefördert werden»<br />

(2007). Dies erfordert eine sorgfältige pfl egerische<br />

Eintrittsabklärung. Die Gäste werden weiterhin<br />

von ihren Hausärzten betreut. Oft sind weitere<br />

Dienste wie Spitex oder Mahlzeitendienst involviert.<br />

Durch eine aufmerksame Zusammenarbeit mit den<br />

Angehörigen und den involvierten Diensten kann<br />

die TNK zur Kontinuität in der Betreuung beitragen.<br />

Das pfl egerische Eintrittsassessment ist die Basis<br />

für den Beziehungsaufbau zum Gast und seinen Angehörigen<br />

und der erste Schritt im Pfl egeprozess. Das<br />

Assessment ermöglicht den Pfl egenden, zusammen<br />

mit dem Gast und seinen Angehörigen klare Zielsetzungen<br />

zu formulieren und entsprechende Unterstützungsangebote<br />

einzuleiten (Brobst, 1996). Wenn<br />

Kenntnisse über die Gepfl egten mangeln, wird entweder<br />

zu viel oder zu wenig Pfl ege geleistet, was sich<br />

negativ auf die Erhaltung ihrer Selbständigkeit und<br />

auf ihr Wohlergehen auswirkt. Eine Strukturierung<br />

des pfl egerischen Eintrittsassessment gibt den Pfl egenden<br />

eine klare Richtung in der Betreuung (Vincenzi<br />

& Spirig, 2006).<br />

Während des Erstgesprächs ist Frau Z. spürbar nervös und<br />

äussert mehrmals, dass sie nun wieder nach Hause möchte.<br />

Die Pfl egende informiert Herr Z. über das Angebot der TNK<br />

und sucht Frau Z. in das Gespräch einzubeziehen, soweit ihre<br />

Aufmerksamkeitsspanne dies zulässt. Sie sammelt erste Informationen<br />

zum Unterstützungsbedarf von Frau Z., ihren


Lieblingsbeschäftigungen, kognitiven Fähigkeiten und zu der<br />

Belastungssituation von Herrn Z. und zeigt den beiden anschliessend<br />

die Räumlichkeiten.<br />

Die Pfl egenden der TNK im PZK sind geübt im Führen<br />

von Erstgesprächen mit Gästen und deren<br />

Angehörigen, doch sie wünschten, den Inhalt und<br />

Ablauf der Situationserfassung bei Eintritt zu optimieren.<br />

Dies wurde als Anlass für ein Praxisentwicklungsprojekt<br />

genommen mit der Zielsetzung, ein auf<br />

die Eintrittssituation in der TNK angepasstes Assessment<br />

zu entwickeln und einzuführen.<br />

Praxisentwicklung: das Projekt In diesem Praxisentwicklungsprojekt<br />

werden Methoden der Aktionsforschung,<br />

des Projektmanagements und der Evaluationsforschung<br />

eingesetzt (vgl. Abbildung). Diese<br />

werden anhand des Projektablaufs nachfolgend genauer<br />

erläutert.<br />

Das Projekt beinhaltet die Erarbeitung, Umsetzung<br />

und Evaluation des Eintrittsassessments, dauert<br />

zehn Monate und endet im November 2009. Der<br />

Leiter Pfl ege des PZK erteilte den Projektauftrag einer<br />

Mitarbeiterin des Qualitätsmanagements, welche<br />

das Praxisentwicklungsprojekt im Rahmen ihres<br />

Studiums am Institut für Pfl egewissenschaft an der<br />

Universität Basel durchführt. In der Projektgruppe<br />

arbeiten eine diplomierte Pfl egende und die Leitung<br />

der TNK mit.<br />

1. Phase des Projektes – Look<br />

In der ersten Phase des Aktionsforschungszyklus<br />

werden Informationen zusammengetragen, um eine<br />

klare Ausgangslage zu haben. Das Ziel der Look-<br />

Phase im Projekt war, Kriterien zu formulieren für<br />

den Inhalt und den Ablauf des neuen Eintrittsassessments.<br />

In einer gemeinsamen Analyse zeigten die<br />

Pfl egenden die Stärken und Schwächen des momentanen<br />

Vorgehens sowie Gefahren und Chancen eines<br />

neuen Eintrittsassessments auf. Eine Dokumentenanalyse<br />

der Gästedokumentation beleuchtete die<br />

wichtigsten Inhalte des Eintrittsassessments, die bisher<br />

erfragt wurden. Des Weiteren befragte die Projektgruppe<br />

den Leiter Pfl ege, den leitenden Arzt, die<br />

Leiterin Therapien, die Bettendisponentin und zwei<br />

Angehörige von Gästen zu ihren Erwartungen an Inhalt<br />

und Ablauf das Eintrittsassessment.<br />

Die Analyse ergab die Notwendigkeit von drei<br />

Schritten für das Eintrittsassessment: 1) ein Erstgespräch,<br />

welches Gästen und Angehörigen als Basis<br />

für die Entscheidung bezüglich der Nutzung der<br />

TNK dient und den Pfl egenden eine erste Situationseinschätzung<br />

ermöglicht; 2) Vertiefung der Einschätzung<br />

des Gastes während den ersten Aufenthaltstagen;<br />

3) Standortgespräch mit Gast und Angehörigen<br />

nach 5–8 Besuchstagen zur Evaluation des bisherigen<br />

Aufenthaltes, Klärung von Fragen, Vertiefung<br />

des Assessments und Besprechung der weiteren Betreuung.<br />

Die Pfl egenden wünschten sich für die Gespräche<br />

ein einfach anwendbares Instrument, das<br />

eine schnelle, passende Einschätzung erlaubt. In einer<br />

Literaturrecherche liessen sich kaum Angaben<br />

für ein spezifi sches pfl egerisches Eintrittsassessment<br />

im Bereich der Tageskliniken fi nden. Da die Gäste-<br />

Aktionsforschung:<br />

LOOK<br />

Forschungsplan und<br />

Datensammlung<br />

Projektmanagement:<br />

Projektstart<br />

(Genehmigter<br />

Projektauftrag)<br />

Evaluationsforschung:<br />

Vorevaluation<br />

(prospektiv,<br />

projektsteuernd)<br />

THINK<br />

Analyse und<br />

Kommunikation<br />

Projektumsetzung<br />

(Umsetzung der Projektziele)<br />

Formative Evaluation<br />

(Überwachung und<br />

Anpassung)<br />

dokumentation anhand des Strukturmodells der<br />

Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens<br />

(AEDL) nach Krohwinkel (2008) aufgebaut ist,<br />

lag es nahe, das Eintrittsassessment analog zu strukturieren.<br />

Nach dem Erstgespräch dokumentiert die Pfl egende alle Angaben.<br />

Herr. Z. ist froh, dass seine Frau freitags die TNK besuchen<br />

kann. An den Besuchstagen macht Frau Z. gerne Würfelspiele<br />

und hilft beim Backen. Die Pfl egenden lernen Frau<br />

Z. immer besser kennen. Es fällt ihnen auf, dass sie nach dem<br />

Mittag unruhig wird und herumzuwandern beginnt. Sie planen<br />

zu diesem Zeitpunkt jeweils einen Spaziergang ein. Am<br />

achten Besuchstag nach Eintritt machen sie mit dem Ehepaar<br />

Z. ein Standortgespräch, um in Ruhe den bisherigen Aufenthalt<br />

zu evaluieren. Die Pfl egende bespricht ihre Beobachtungen<br />

und klärt offene Fragen und Anliegen von Herrn Z. Dieser<br />

nutzt die Gelegenheit, um Tipps für das Herumwandern von<br />

Frau Z. zu Hause zu erhalten.<br />

2. Phase des Projektes – Think<br />

Das Ziel der Think-Phase war die Erstellung des<br />

neuen Eintrittsassessments auf Basis der vorher formulierten<br />

Kriterien. Die Pfl egenden erarbeiteten einen<br />

nach den AEDL strukturierten Erhebungsbogen<br />

für die beiden Gespräche mit den Inhalten, welche<br />

aufgrund der Analyse als wichtig erachtet wurden.<br />

Dies erlaubte, zentrale Themen einer Tages- und<br />

Nachtklinik, zum Beispiel die Alltagsgestaltung der<br />

Gäste, ihr soziales Netz und die Belastungssituation<br />

der Angehörigen, besonders zu gewichten. Bei der<br />

Informationssammlung und Beobachtung während<br />

der Aufenthaltstage hat das Assistenzpersonal in der<br />

TNK eine zentrale Rolle, da sie oft die Gäste in den<br />

Aktivitäten des täglichen Lebens unterstützen. Damit<br />

sie ihre Beobachtungen gezielter dokumentieren<br />

können, wurden an einer Teamsitzung zusammen<br />

mit ihnen die AEDL besprochen und mit für<br />

die TNK spezifi schen Inhalten gefüllt. In einem letzten<br />

Schritt klärten die Pfl egenden die Rahmenbedingungen<br />

für das Erst- und Standortgespräch und deren<br />

Organisation. Wichtig war ihnen, dass Gast und<br />

Angehörige dieselbe Pfl egende als Gesprächspartnerin<br />

in Erst- und Standortgespräch haben.<br />

3. Phase des Projektes – Act<br />

Zur Act-Phase gehören die Umsetzung und die Evaluation<br />

des angepassten Eintrittsassessments. Dieses<br />

NOVAcura 10|09<br />

ACT<br />

Umsetzung und Evaluation<br />

Abb. 1: Methoden der<br />

Praxisentwicklung (in<br />

Anlehnung an Ullmann-<br />

Bremi, Spirig, & Ullmann,<br />

2004)<br />

Franziska Zúñiga, BNS,<br />

Studentin am Institut für<br />

Pfl egewissenschaft,<br />

Universität Basel; Pfl egespezialistin,Krankenheimverband<br />

Zürcher<br />

Unterland<br />

franziska.zuniga@<br />

stud.unibas.ch<br />

In Zusammenarbeit mit:<br />

Dr. Irena Anna Frei, Pfl egeexpertin,<br />

Abteilung<br />

Klinische Pfl egewissenschaft,<br />

Universitätsspital<br />

Basel<br />

35<br />

Projektabschluss<br />

(Abschlussbericht und<br />

Refl exion)<br />

Summative Evaluation<br />

(Nutzen und<br />

Erkenntnisgewinn)


McCormack, B., Manley,<br />

K. & Garbett, R. (2009).<br />

Praxisentwicklung in der<br />

Pfl ege. Bern: Hans Huber.<br />

Weitere Literatur bei der<br />

Erstautorin<br />

wird seit Anfang Mai in der TNK umgesetzt, und die<br />

Pfl egenden sind mit den ersten Erfahrungen sehr<br />

zufrieden. Sie können gezielt die wesentlichen Informationen<br />

erfassen und erleben eine verbesserte<br />

Kontinuität in der Einschätzung der Gäste. Zum Abschluss<br />

des Projektes fi ndet im November eine summative<br />

Evaluation des Projektes statt, um das Erreichte<br />

zu überprüfen.<br />

Frau. Z. hat sich unterdessen gut in der TNK eingelebt. Herr<br />

Z. ruft zwischendurch an, um Fragen zu besprechen, und ist<br />

sehr froh um die Unterstützung und die Entlastung, die ihm<br />

ermöglichen, weiterhin zu Hause für Frau. Z. zu sorgen.<br />

Gewinn eines Praxisentwicklungsprojektes Ein<br />

Vorteil der Praxisentwicklung mit Aktionsforschung<br />

ist, dass pfl egerische Inhalte der Praxis von und mit<br />

den Praktizierenden selber entwickelt werden, um<br />

wirksame und nachhaltige Pfl ege anzubieten. Im<br />

besten Fall bringt das Praxisentwicklungsprojekt<br />

Antworten auf Fragen, welche die Pfl egenden in<br />

ihrem Alltag beschäftigen, und verknüpft diese mit<br />

aktuellen Erkenntnissen aus der Pfl egeforschung<br />

(Rycroft-Malone et al., 2004). Dabei müssen Forschungsergebnisse<br />

so weit mit der Praxis in Beziehung<br />

gesetzt werden, dass die Pfl egenden sie in den<br />

Pfl egealltag integrieren können. Während der Entwicklung<br />

des neuen Eintrittsassessments setzten die<br />

Pfl egenden der TNK sich mit der Literatur auseinander<br />

und verknüpften sie mit ihrer Erfahrung und ihrem<br />

Expertenwissen, um ein Resultat zu erreichen,<br />

36 NOVAcura 10|09<br />

das in der Praxis umsetzbar ist. Da die Pfl egenden<br />

die Entwicklung des neuen Instrumentes massgeblich<br />

steuerten, konnten sie sich auch in hohem Mass<br />

mit dem Ergebnis identifi zieren.<br />

B. Dyamant, dipl. Pfl egefachfrau HF und Projektgruppenmitglied,<br />

äussert rückblickend: «Für mich<br />

war die Mitwirkung am Praxisentwicklungsprojekt<br />

sehr interessant, lehrreich und wichtig, da wir als<br />

Betreuungspersonen das neu entwickelte Eintrittsassessment<br />

in der Praxis einsetzen und anwenden.<br />

So konnte ich meine Wünsche, Ideen und Vorstellungen<br />

einbringen. Mit dem Resultat bin ich<br />

sehr zufrieden. Das Instrument ist einfach anzuwenden,<br />

übersichtlich, und wir erhalten die für die<br />

Pfl ege relevanten Informationen. Die Zusammenarbeit<br />

in der Projektgruppe empfand ich als speditiv,<br />

konstruktiv und effi zient. Es gab mir Einblick in andere<br />

Sichtweisen, was für meinen Alltag sehr bereichernd<br />

ist.»<br />

Praxisentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess<br />

in Richtung einer effektiven und gästeorientierten<br />

Pfl ege, der einerseits auf der Ebene der Pfl egeteams<br />

abläuft, aber auch die Entwicklung der Organisation<br />

und Kultur eines Betriebes widerspiegelt (McCormack,<br />

Manley, & Garbett, 2009). Die Projektleitung<br />

kann die Erfahrungen aus dem Projekt in ein betriebsüberg<strong>reifen</strong>des<br />

Projekt einfl iessen lassen zur<br />

Ausarbeitung eines Eintrittsassessments für alle Stationen.<br />

Dieses Projekt wird wieder Auswirkungen<br />

haben auf die TNK, sodass die Entwicklung kontinuierlich<br />

weitergeht. ■


Verstehen, wer wir sind<br />

Buchrezension<br />

Die hier vorgestellte Publikation versteht sich als Versuch, Zusammenhänge zu schaffen,<br />

indem sie Lebensgeschichten von Menschen, die heute zur AHV-Generation gehören,<br />

in Verbindung zur Geschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts bringt. Das<br />

Buch ist sozusagen ein Muss für Menschen, die sich mit Biografi earbeit beschäftigen.<br />

Simone Anna Heitlinger<br />

Es ist ein umfangreiches Projekt, einen wie im<br />

Untertitel versprochenen «Streifzug durch die<br />

Schweizer Sozialgeschichte» auf allgemein ansprechendem<br />

Niveau in eine handliche Buchform<br />

zu bringen. Ohne Spagat zwischen dem Auswählen<br />

von relevanten Schwerpunkten und dem Differenzieren<br />

von interessanten Details kann das nicht<br />

bewältigt werden. Die Pro Senectute Schweiz als<br />

schweizerische Stiftung «Für das Alter» hat sich zu<br />

ihrem 90-Jahr-Jubiläum im Jahre 2007 dieser<br />

Herausforderung gestellt. Der ursprüngliche Gedanke<br />

des Buches war es, die Leistungen der älteren<br />

Generationen zugunsten der Gesellschaft durch eine<br />

Untersuchung transparent werden zu lassen. Einzelne<br />

Fakten hierzu sind mittlerweile bezifferbar. So<br />

ersetzen zum Beispiel Grosseltern pro Jahr rund<br />

100 000 Krippenplätze und vererben ca. 30 Milliarden<br />

Franken. Für ein Gesamtbild reichen solche<br />

Zahlen jedoch nicht aus. Es ist daraus die Idee entstanden,<br />

Porträts von Frauen und Männern zusammenzustellen,<br />

die den Alltag einzelner Menschen in<br />

die «grosse» Geschichte einbetten. Neben geschichtlichen<br />

Fakten sollte die Vielfalt der Biografi en der<br />

heutigen Generation 65+ Ausdruck fi nden.<br />

Die Schweiz – ein Entwurf Basierend auf der Idee<br />

von Max Frisch, dass die Schweiz aus nichts anderem<br />

als einem utopischen Gedanken – im positiven<br />

Sinne – entstanden ist, beleuchtet Kurt Seifert im ersten<br />

Teil des Buches auf ca. 50, sehr übersichtlich gestalteten<br />

Seiten die Schweizer Sozialgeschichte von<br />

1918 bis heute. In Form eines Abrisses greift der Autor,<br />

Verantwortlicher für den Bereich Politik und Gesellschaft<br />

bei Pro Senectute Schweiz, wichtige Etappen<br />

heraus, die das Land und die in ihm lebenden<br />

Menschen geprägt haben. Die vielfach gescheiterten<br />

und manchmal geglückten Versuche, aus der<br />

Schweiz den Entwurf eines freiheitlichen, demokratischen<br />

und solidarischen Staatswesens zu formen,<br />

sind leitend in der Auswahl der Schwerpunkte. Die<br />

Darstellungen reichen vom Landesstreik 1918 über<br />

die grosse Krise der Dreissigerjahre, den Zweiten<br />

Weltkrieg zu der danach folgenden Zeit des Kalten<br />

Krieges. Die Expo 1964 mit ihrem Anspruch, schöpferische<br />

Leistungen anzuspornen sowie zur Mitgestaltung<br />

geschichtlichen Daseins anzuregen, ist<br />

ebenso prägnant skizziert und untermauernd bebildert<br />

wie Themen rund um die alt-neuen Ängste vor<br />

Überfremdung, das Frauenstimmrecht bis hin zu<br />

den Auseinandersetzungen um die Rolle der Armee<br />

und die Bedeutung der Neutralität. Treffende Zitate<br />

verschiedenster Persönlichkeiten bringen komplexe<br />

Gegebenheiten immer wieder auf den Punkt und inspirieren<br />

zum Nachdenken.<br />

Menschen und ihre Geschichte Sie lesen sich<br />

leicht, die zehn sehr unterschiedlichen Lebensgeschichten<br />

auf den 50 Seiten im zweiten Teil, auch<br />

wenn sie viel Schweres berichten. Und sie sind voller<br />

Weisheiten, auch wenn jemand zusammenfasst:<br />

«nichts Aussergewöhnliches, einfach ein Leben voller<br />

Arbeit» (S. 73). So bemerkt z.B. Imelda Abbt: «Es<br />

wird vergessen, dass das Alter ein selbstverständlicher<br />

Teil der menschlichen Biografi e ist und ein erfülltes<br />

Leben von eigenen und nicht von fremden<br />

Wertmassstäben abhängt» (S. 57), oder alt Bundesrat<br />

Rudolf Friedrich, gefragt, wie man auf neue Entwicklungen<br />

reagiere, sagt: «Man muss offen bleiben<br />

gegenüber allem Neuen und der Gefahr ausweichen<br />

zu behaupten, früher sei alles besser und schöner gewesen.<br />

Das stimmt ja gar nicht. Und selbst wenn es<br />

stimmen würde, nützt rückwärtsgerichtetes Denken<br />

ohnehin niemandem» (S. 65). Sechs Frauen und vier<br />

Männer sind es, die von der Luzerner Journalistin<br />

Kathrin Spring und vom Basler Journalisten Heinz<br />

Eckert im Laufe des Jahres 2006 befragt worden sind.<br />

Einige haben sich auf einen Aufruf in der Zeitschrift<br />

«Zeitlupe» selbst gemeldet, andere sind angefragt<br />

worden. Der Zürcher Fotograf Dominic Ott hat einfühlsame<br />

Porträtaufnahmen beigesteuert. Die Fotos,<br />

die Geschichten, die Zitate sowie die vereinzelt eingestreuten<br />

Bemerkungen der Journalisten wirken auf<br />

verschiedenen Ebenen anregend und vernetzend.<br />

Empfehlenswert Es gibt viele Gründe, die dieses<br />

Buch lesenswert machen: ausgewählte geschichtliche<br />

Fakten, kurz und bündig beschrieben, ohne<br />

fl ach zu wirken, aussagekräftige Bilder, eine klare<br />

Struktur mit Querverweisen, hilfreiche Quellenangaben<br />

auf der jeweiligen Seite, ein ansprechendes<br />

Layout und ein Sprachstil, der fl üssig zu lesen ist,<br />

auch wenn drei Autoren beteiligt sind. Ich lege<br />

das gelungene Buchprojekt allen ans Herz, die im<br />

Kontakt mit alten Menschen in der Schweiz biografi<br />

sche Zusammenhänge entdecken möchten, sei es<br />

im privaten oder im berufl ichen Kontext, und dadurch<br />

ein Stückchen mehr verstehen lernen, wer sie<br />

sind. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Simone Anna Heitlinger<br />

ist Gerontologin MAS und<br />

Bildungsverantwortliche<br />

Langzeitpfl ege, Spital<br />

Affoltern.<br />

simone.heitlinger@<br />

spital affoltern.ch<br />

Kein Buchtitel könnte<br />

besser zum Schwerpunktthema«<strong>Entwickeln</strong><br />

– <strong>wachsen</strong> – <strong>reifen</strong>»<br />

dieser Novacura-<br />

Ausgabe passen als der<br />

«Streifzug durch die<br />

Schweizer Sozialgeschichte».<br />

Setzt doch<br />

wirkliche Entwicklung<br />

bzw. inneres Wachstum<br />

das Erkennen und Verstehen<br />

von Zusammenhängen<br />

voraus.<br />

Seifert, Kurt. (2007):<br />

Verstehen, wer wir sind.<br />

Streifzug durch die<br />

Schweizer Sozialgeschichte.<br />

Pro Senectute Schweiz.<br />

Zürich: Zeitlupe.<br />

37


Curahumanis<br />

Anlässlich der Generalversammlung im Mai 2008 besiegelten<br />

die Mitglieder von SBGRL und Vivica die Fusion zum<br />

neuen Fachverband für Pfl ege und Betreuung «curahumanis».<br />

Der Themenschwerpunkt «entwickeln – <strong>wachsen</strong> – <strong>reifen</strong>»<br />

dieser Ausgabe ist ein guter Anlass, den Ereignissen<br />

nachzugehen, die diesem formalen Beschluss vorausgingen.<br />

Welche Erwartungen waren damit verbunden und wurden<br />

diese eingelöst? Was hat sich inzwischen verändert und<br />

entwickelt? Joachim Cerny<br />

Erfahrungsgemäss sind Firmenfusionen oder Verbandszusammenschlüssen<br />

mehrjährige Prozesse<br />

nachgelagert, welche verschiedene Bereiche<br />

wie Verbandskultur, Geschäftsabläufe, Teamkonstellationen<br />

und vieles mehr betreffen. Oftmals ist<br />

die Geschäftsleitung von der Bewältigung all dieser<br />

Vorgänge absorbiert und verliert den Kontakt zu den<br />

Kunden und Mitgliedern. Aus diesem Grund müssen<br />

die einzelnen Schritte klar priorisiert und die allzeitige<br />

Verfügbarkeit der Dienstleistungen sichergestellt<br />

werden. Wenn Sie als Mitglied den Verband in seinen<br />

Aktivitäten jetzt deutlicher wahrnehmen und<br />

sich die Qualität unserer Dienstleistungen erhöht, so<br />

ist es uns gelungen, die beschriebenen Stolpersteine<br />

einer Fusion erfolgreich aus dem Weg zu räumen.<br />

Motive für die Fusion Um die heutige Situation resp.<br />

die bereits vollzogenen und geplanten Veränderungen<br />

aufzuzeigen und zu analysieren, ist ein Blick in<br />

die Vergangenheit sinnvoll. Welche Beweggründe veranlassten<br />

zum Zusammenschluss von SBGRL und Vivica?<br />

Welche Erwartungen waren damit verbunden?<br />

38 NOVAcura 10|09<br />

Ein Zusammenschluss<br />

setzt Prozesse in Gang.<br />

Foto: Martin Glauser<br />

nutzt Entwicklungspotenzial<br />

Fusion fordert Veränderungen und Neurorientierung<br />

Silvia Indermaur, eine Vertreterin des vormaligen<br />

Verbandes Vivica und heutigen Vize-Präsidentin von<br />

curahumanis, erläutert die Beweggründe für ein Zusammengehen<br />

mit dem damaligen SBGRL:<br />

«Vivica war bereits ein Zusammenschluss des SVH<br />

Schweizerischer Verband der Hauspfl egerinnen sowie<br />

eines Hauspfl egerinnen-Verbandes in der Westschweiz<br />

und im Tessin. Mit der Erkenntnis, dass ein<br />

Berufsverband nur auf schweizerischer Ebene Sinn<br />

macht, wurde ein Zusammenschluss dieser drei<br />

Gruppen angestrebt und unter dem Namen Vivica<br />

realisiert. Der neue Verband Vivica beheimatete nun<br />

nicht mehr ausschliesslich Hauspfl egerinnen, sondern<br />

öffnete sich für alle weiteren Berufsangehörigen<br />

in der Spitex.<br />

Mit dem neuen schweizerischen Berufsbildungsgesetz<br />

wurden die Berufsbereiche Gesundheit, Soziales<br />

und Kunst in die BBT-Systematik integriert. Die<br />

Hauspfl egerin wurde in der Bildungsverordnung bei<br />

der Fachangestellten Gesundheit mit eingeschlossen.<br />

Damit wurde die Ausbildung zur Hauspfl egerin eingestellt<br />

und dem Verband die ‹Grundlage› entzogen.<br />

Es musste der Tatsache ins Auge gesehen werden,<br />

dass unter diesen neuen Umständen Vivica früher<br />

oder später in seiner Existenz bedroht sein würde. Daher<br />

waren wir gezwungen, uns mit den Konsequenzen<br />

dieser Realität auseinanderzusetzen. Die Verbandsführung<br />

erarbeitete verschiedene Szenarien.<br />

Am Schluss blieb nur der Zusammenschluss mit dem<br />

SBGRL übrig, da dies der einzige Verband im Gesundheitswesen<br />

war, welcher Berufe mit Abschluss auf der<br />

Sekundarstufe II aufnahm.<br />

Es war eine Vernunftehe, und die Erwartungen für<br />

eine gemeinsame Entwicklung waren verhalten.<br />

Nach einem anfänglich etwas harzigen Start wurde


und wird die Zusammenarbeit innerhalb des neuen<br />

Verbandes immer besser.»<br />

Gabi Bortolotti, Präsidentin von curahumanis und<br />

langjähriges Vorstandsmitglied des SBGRL, zeigt die<br />

Motive auf, welche die Verantwortlichen des SBGRL<br />

zu einer Verbandsfusion veranlassten: «Für den SBGRL<br />

wurde es zunehmend klar, dass es für eine wirksame Vertretung<br />

der Anliegen seiner Mitglieder mehr Einfl uss in<br />

den entsprechenden Gremien benötigt, was nur durch einen<br />

höheren Mitgliederbestand machbar wäre. Alle Aktivitäten<br />

sind sehr fi nanz -und personal intensiv, weshalb<br />

es eine wirksame Grösse benötigt und zudem eine gesamtschweizerische<br />

Ausrichtung. Mit Vivica bestand zusätzlich<br />

die Möglichkeit, mit der Spitex einen Bereich zu integrieren,<br />

der beim SBGRL fast nicht vertreten war.<br />

Der SBGRL hatte sich in den vergangenen Jahren eine<br />

schlankere Struktur und damit mehr Professionalisierung<br />

geschaffen, aber mit diesen Veränderungen auch etwas<br />

an seiner Profi lierung und aktiven Einbindung von Mitgliedern<br />

in die Verbandsarbeit eingebüsst. Die Fusion<br />

wurde als Chance gesehen, auf den neuen Strukturen eine<br />

breitere Basis aufzubauen, sowie einen gesamtschweizerisch<br />

verwendbaren und markanten neuen Namen zu<br />

wählen. Zudem standen damit mehr Ressourcen für die<br />

Verbands- und Vorstandsarbeit zur Verfügung und die<br />

Erhöhung der Mitgliederzahl verleiht dem neuen Verband<br />

mehr Gewicht und Einfl uss in den regionalen wie auch<br />

nationalen Gremien.»<br />

Was ist seit dem Zusammenschluss passiert? An<br />

der Generalversammlung von curahumanis im Mai<br />

2009 präsentierte der Vorstand seine neue Ausrichtung<br />

und Prioritäten für die Aktivitäten von Vorstand<br />

und Geschäftsleitung. Die thematisch klare Ausrichtung<br />

auf die Pfl ege und Betreuung zu Hause und in<br />

Institutionen im Zusammenhang mit Alter und<br />

Chronizität ermöglicht eine eigenständige Profi lierung<br />

und Abgrenzung zu anderen Berufsverbänden<br />

der Pfl ege. Im Bildungsbereich wird die Zuständigkeit<br />

für Bildungsabschlüsse und Qualifi zierung der Pfl ege<br />

und Betreuung in der Ausrichtung Sekundarstufe II<br />

klar von curahumanis in Anspruch genommen.<br />

Um auf nationaler Ebene diese Ansprüche umsetzen<br />

zu können, ist curahumanis dem Schweizerischen<br />

Verband der Berufe im Gesundheitswesen<br />

SVBG beigetreten. Damit wird der Zugang zur OdA-<br />

Santé sichergestellt, welche eine entscheidende Rolle<br />

bei der Neu- und Umgestaltung der Berufe im Gesundheitswesen<br />

spielt. Zudem wird curahumanis in<br />

der Geschäftsleitung des SVBG Einsitz nehmen.<br />

Die Zusammenarbeit mit anderen Verbänden und<br />

Organisationen im Gesundheitswesen konnte auf der<br />

Führungsebene bereits entscheidend verbessert werden.<br />

Mehr Zeit wird für das gegenseitige Verständnis<br />

in den regionalen Strukturen notwendig sein.<br />

In weiteren nationalen Gremien fand bereits eine<br />

Mitarbeit statt oder wurde angebahnt, so beispielsweise<br />

in der IG Pfl egefi nanzierung, welche die Arbeiten<br />

zum gleichnamigen Gesetz kritisch begleitete.<br />

Das Thema DRG wurde im Rahmen der immer noch<br />

laufenden Petition aufgegriffen, da die Einführung<br />

der DRGs ohne entsprechende Begleitmassnahmen<br />

negative Auswirkungen auf den Arbeitsplatz der Pfl egenden<br />

in Heim und Spitex haben wird. Weitgehend<br />

unbeachtet laufen seit einigen Jahren Projekte im Bereich<br />

eHealth (Informatik im Gesundheitswesen).<br />

Daraus resultiert zum Beispiel die neue Krankenversicherungskarte,<br />

mit deren Hilfe Daten von Patient<br />

und Arzt abrufbar sind. Weitere Projekte werden grossen<br />

Einfl uss auf die zukünftige Arbeitsweise der Pfl egenden<br />

haben, weshalb sich curahumanis bei den<br />

entsprechenden Gremien des BAG eingeklinkt hat.<br />

Ziel: optimale Mitglieder- und Kursteilnehmerbetreuung<br />

Ein dynamischer Verband benötigt eine<br />

professionelle Führung und Unterstützung!<br />

Die bisherige Organisationsstruktur auf der Geschäftsstelle<br />

war für eine optimale Mitgliederbetreuung<br />

nicht dienlich. Durch Überschneidungen der Zuständigkeit<br />

ereigneten sich Missverständnisse und<br />

Fehler mit teilweise unangenehmen Auswirkungen<br />

auf die Mitglieder. Der Mehrsprachigkeit wurde in<br />

den Publikationen teilweise nicht die Bedeutung beigemessen,<br />

welche ihr eigentlich zugestanden hätte.<br />

Erste Veränderungen auf der Geschäftsstelle wurden<br />

in die Wege geleitet und sind fassbar, andere Umgestaltungen<br />

werden erst im Verlauf des nächsten<br />

Jahres spürbar werden. Neu sind die Zuständigkeiten<br />

in sogenannte «Competence Center» unterteilt mit<br />

dem Ziel, eine bestmögliche Mitglieder- und Kursteilnehmerbetreuung<br />

umzusetzen. Ebenso möchten wir<br />

damit die fi nanziellen Auswirkungen der einzelnen<br />

Aktivitäten den Mitgliedern transparent machen<br />

können.<br />

Die infrastrukturelle Ausstattung der Geschäftsstelle<br />

in Luzern ist für einen Bildungsbetrieb we niger<br />

geeignet und führt im Alltag zu unbefriedigenden Situationen.<br />

Darum streben wir eine Verbesserung der<br />

räumlichen Situation für die Bildungsveranstaltungen<br />

an. Es soll den Bedürfnissen der Kursteilnehmenden<br />

bezüglich Gruppenräumlichkeiten, Erholung<br />

und Verpfl egung Rechnung getragen werden können.<br />

Unsere intensive Suche war erfolgreich, weshalb<br />

diese Anforderung jetzt in der Realität umgesetzt werden<br />

kann.<br />

Es ist unser oberstes Ziel, dass Sie wirklich davon<br />

überzeugt sind, für Ihren Mitgliederbeitrag das Bestmögliche<br />

angeboten zu bekommen, was ein Verband<br />

für seine Mitglieder realisieren kann. Ob es sich dabei<br />

um Weiterentwicklungen unseres Dienstleistungs-<br />

und Bildungsangebotes oder die aktive Einfl<br />

ussnahme auf die Gestaltung Ihrer Arbeitsumstände<br />

und -bedingungen handelt, oder ob es darum geht,<br />

eine Mitsprache bei der zukünftigen Anerkennung<br />

Ihrer Berufsabschlüsse oder den Stellenwert Ihrer täglichen<br />

Arbeit in der Pfl ege und Betreuung der breiten<br />

Öffentlichkeit deutlich zu machen: Wir sind hoch<br />

motiviert Sie täglich vom hohen Stellenwert Ihrer<br />

Mitgliedschaft bei curahumanis zu überzeugen.<br />

Dabei können Sie uns selbstverständlich unterstützen.<br />

Sagen Sie uns Ihre Meinung, teilen Sie uns<br />

mit, was wir verbessern können, machen Sie uns darauf<br />

aufmerksam, was Sie vermissen. Und nicht zuletzt,<br />

reden Sie mit Ihren Kolleginnen über die Vorteile<br />

einer Mitgliedschaft bei curahumanis. Wenn Sie<br />

dieses Gespräch voller Überzeugung führen können,<br />

dann wissen wir, dass wir uns gut weiterentwickelt<br />

haben! ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Joachim Cerny<br />

Geschäftsführer<br />

curahumanis<br />

joachim.cerny@<br />

curahumanis.ch<br />

39


Margrit Freivogel<br />

Kayser<br />

Redaktorin NOVAcura<br />

margrit.freivogel@<br />

cura humanis.ch<br />

Zwischen Führungs-<br />

und Pfl ege aufgabe<br />

Die Übernahme einer Stationsleitung ist ein anspruchsvoller Karriereschritt. Eine<br />

Sandwichposition zwischen führen, pfl egen und geführt werden zu bekleiden, bedeutet<br />

nicht allein, Druck von allen Seiten zu bekommen. Druck lässt sich ventilieren,<br />

Know-how kann gezielt aufgebaut werden. Worauf in dieser Führungsrolle geachtet<br />

werden sollte und wie die gewonnenen Erkenntnisse in die Führungsarbeit einfl iessen<br />

können, ist Thema der 15. Fachtagung für Stationsleiterinnen und Stationsleiter am<br />

5. November 2009. Margrit Freivogel Kayser<br />

Viele Stationsleitende stehen immer mehr vor<br />

dem Dilemma, wie sie den Spagat schaffen<br />

sollen zwischen ihrer Führungsaufgabe und<br />

den Anforderungen, die als Pfl egefachpersonen an<br />

sie gestellt werden. Über Führung reden ist das eine,<br />

führend handeln das andere. In der Praxis führen<br />

sie dann oft, ohne sich die Zeit für Selbstbeobachtung<br />

und Refl exion zu nehmen. Die Konsequenz<br />

sind häufi g Rollenkonfl ikte, die nicht leicht zu lösen<br />

sind.<br />

Rollenwechsel als Knackpunkt Die Anforderungen,<br />

die der Rollenwechsel von der Pfl egefachperson<br />

zur Stationsleitung mit sich bringt, werden vielfach<br />

unterschätzt. Wird man befördert, ist man nicht<br />

mehr Arbeitskollegin, sondern vorgesetzte Person<br />

mit Sanktionsmacht. Reine Intuition und Erfahrungswissen<br />

reichen nicht aus, um diese Führungs-<br />

Die Referenten/innen<br />

40 NOVAcura 10|09<br />

Gabriele Hasler, Pfl egefachfrau und<br />

Er<strong>wachsen</strong>enbildnerin, Geschäftsführerin<br />

der SPIELBAR Hasler & Herzberg<br />

Dr. phil. Esther Rüegger, Psychologin,<br />

Supervisorin OE BSO<br />

Daniel Hinder, dipl. Psychologe FH und<br />

dipl. Betriebsökonom FH, Laufbahnberater<br />

Joachim Cerny, Betriebsökonom,<br />

Geschäftsführer curahumanis<br />

Sibylle Schröder, Sozialarbeiterin FH,<br />

Geschäftsführerin Arsana AG<br />

Ralf Höller, Chefredakteur eines Rhetorik-<br />

Newsletters, Fachautor für Zeitschriften<br />

im Pfl ege- und Medizinbereich, Autor<br />

verschiedener Sachbücher<br />

funktion erfolgreich auszuüben. Ein fundiertes Wissen<br />

bezüglich Führungsinstrumente und -techniken,<br />

das ständig aktualisiert und vervollständigt wird, ist<br />

unabdingbar. Ausserdem ist es zwingend, die eigene<br />

Führungsarbeit regelmässig kritisch zu hinterfragen<br />

und zu refl ektieren, um die Führungskompetenzen<br />

nachhaltig weiter verbessern zu können.<br />

Ein Muss: Delegation und Kommunikation Die<br />

Kompetenzen in der Menschenführung, die Stationsleiter/innen<br />

mitbringen, steigern deren Leistungsfähigkeit<br />

in der Führungsrolle am stärksten.<br />

Wer sich nicht getraut, Aufgaben zu delegieren, riskiert<br />

Überlastung und Leistungseinbussen. Ein konsequentes<br />

Unterscheiden zwischen Führungs- und<br />

Handlungsverantwortung ist deshalb erforderlich.<br />

Führung bedeutet auch mehrheitlich Kommunikation.<br />

Insbesondere mit den unterstellten Mitarbeitenden<br />

sollte eine Führungsperson regelmässig das<br />

Gespräch suchen.<br />

Als Berufsperson durch refl ektierte Erfahrung Experte/Expertin<br />

sein Die STL-Tagung will neben<br />

Fachreferaten auch eine Plattform bieten, wo Stationsleitende<br />

aus verschiedenen Regionen und Institutionen<br />

mit unterschiedlichen Führungsmodellen<br />

über ihre Erfahrungen diskutieren. Was brennt<br />

unter den Nägeln, welche Knackpunkte erleben sie,<br />

wie lösen sie diese, welche Empfehlungen, Wege aus<br />

dem Dilemma und Lösungsvorschläge können sie<br />

aufzeigen? Unter der Leitung von Gabriele Hasler<br />

diskutieren Bernadette Gabathuler, Ilir Hoxha, Daniela<br />

Keller und Christine Stutz. Sie werden den<br />

Finger auf wunde Punkte legen und die Fachreferentinnen<br />

und -referenten herausfordern.<br />

Zielpublikum Die Tagung richtet sich an Menschen,<br />

die ihre Führungserfahrungen vertiefen oder<br />

sich auf neue Führungsaufgaben vorbereiten wollen.<br />

Die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erhalten<br />

wichtige Impulse, worauf es in der Führungsrolle<br />

als Stationsleiter/in ankommt und wie sie die gewonnenen<br />

Erkenntnisse in ihre Führungsarbeit einfl<br />

iessen lassen können.<br />

Anmeldung mit nebenstehendem Anmeldetalon<br />

oder online unter www.curahumanis.ch ■


«Sandwich-Position Stationsleiterin»<br />

Nicht nur eingeklemmt!<br />

15. Fachtagung für Stationsleiterinnen und Stationsleiter<br />

THEMEN<br />

Zeitmanagement und Rollenwechsel zwischen Führungsund<br />

Pfl egeaufgabe<br />

Stationsleiterinnen und Stationsleiter im Gespräch – Podiumsdiskussion<br />

und Erfahrungsaustausch – Spielpädagogische Intervention<br />

Diskussionsleitung und Abschlussreferat: Gabriele Hasler, Er<strong>wachsen</strong>enbildnerin<br />

und Pfl egefachfrau, Coach und Spielpädagogin<br />

Handlungs- und Gestaltungsspielräume der Stationsleitenden<br />

Eigenverantwortung und -motivation stärken statt Opfer der Umstände<br />

werden<br />

Dr. phil. Esther Rüegger, Psychologin, Supervisorin OE BSO<br />

Führen und geführt werden<br />

Umgang mit Positions- und Rollenwechsel<br />

Daniel Hinder, Psychologe, Betriebsökonom, Laufbahnberater<br />

Wie gelingt die Arbeitsrückkehr von erkrankten Mitarbeitenden?<br />

Die Rolle der Vorgesetzten und des Case Managements<br />

Joachim Cerny, Betriebsökonom, Geschäftsführer curahumanis<br />

Sibylle Schröder, Sozialarbeiterin FH, Geschäftsführerin Arsana GmbH<br />

Lenker kann man lenken<br />

Chefs brauchen, um führen zu können, Orientierung, Input aus<br />

der Praxis und Rückmeldungen von Mitarbeitenden<br />

Ralf Höller, Journalist, Fachautor für Zeitschriften im Pfl ege-<br />

und Medizinbereich, Buchautor<br />

Anmeldetalon<br />

Bitte diesen Talon ausgefüllt und unterschrieben<br />

an die Geschäftsstelle von curahumanis,<br />

Fachverband für Pfl ege und Betreuung,<br />

Obergrundstrasse 44, 6003 Luzern,<br />

senden oder faxen an 041 249 00 89.<br />

Name:<br />

Vorname:<br />

Funktion:<br />

Strasse/Nr.:<br />

PLZ/Ort:<br />

Telefon:<br />

E-Mail:<br />

❏ Ich bin Mitglied von curahumanis.<br />

❏ Ich wünsche, dass die Rechnung auf den<br />

Namen meines Arbeitgebers ausgestellt wird.<br />

Name und Adresse des Arbeitgebers:<br />

Ort: Kongresszentrum Seedamm-Plaza,<br />

Pfäffi kon SZ<br />

Datum: Donnerstag, 5. November 2009<br />

Zielpublikum: Stationsleiter/innen, Pfl egedienstleiter/innen,<br />

Verantwortliche aus Heimen, weitere interessierte<br />

Personenkreise<br />

Kosten: Fr. 240.– für Mitglieder von curahumanis<br />

Fr. 290.– für Nichtmitglieder<br />

Organisation: curahumanis, Fachverband für Pfl ege und<br />

Betreuung gemeinsam mit Tertianum ZfP<br />

Auskunft und Geschäftsstelle curahumanis<br />

Anmeldung: Obergrundstrasse 44, 6003 Luzern<br />

Tel. 041 249 00 80; Fax 041 249 00 89<br />

online unter www.curahumanis.ch<br />

Abmeldebedingungen<br />

Eine kostenlose Abmeldung ist bis einschliesslich<br />

Montag, 5. Oktober 2009, möglich. Danach<br />

müssen die vollen Tagungskosten verrechnet<br />

werden, wenn für die abmeldende Person kein<br />

Ersatz gestellt werden kann.<br />

Ich akzeptiere die Abmeldebedingungen.<br />

Datum:<br />

Illustration: Elias Frei<br />

Unterschrift:<br />

www.zfp.tertianum.ch


Spitex<br />

Markus Kopp ist Berater<br />

und Projekt- und Schulungsleiter<br />

für Sozial-,<br />

Gesundheits- und Kulturorganisationen.<br />

markus.kopp@<strong>bops</strong>.ch<br />

Spitexorganisationen<br />

in Veränderung<br />

In hohem Tempo verändert sich die Spitexlandschaft der deutschen<br />

Schweiz. Viele Organisationen entwickeln sich und <strong>wachsen</strong> auf Druck<br />

von äusseren Veränderungen. Es ist ein nicht mehr zu stoppender Prozess.<br />

Umso wichtiger wird der Prozess der Entwicklung, den Spitexorganisationen<br />

selber beschreiten. Fakt ist, die Zeiten der gemächlichen<br />

Entwicklung gehören der Vergangenheit an. Markus Kopp<br />

Wenn der Spitexalltag im herkömmlichen<br />

Sinn nicht mehr<br />

weiterzuführen ist, treten viele<br />

Organisationen die Flucht «nach<br />

nirgendwo» an. In der Hoffnung,<br />

möglichst vieles aus der alten Organisation<br />

zu retten, schliessen sie<br />

Zusammenarbeitsverträge oder<br />

entscheiden sich für einen Zusammenschluss.<br />

Dies nicht selten<br />

ohne klare und realistische Zielvorstellungen.<br />

Nicht wenige Organisationen<br />

landen nach vollzogenen Zusammenschlüssen<br />

erst einmal in einer<br />

veritablen Unternehmenskrise.<br />

Dafür ist nicht die Fusion verantwortlich<br />

zu machen. Es sind die<br />

hausgemachten Fehler, die Fusionen<br />

scheitern lassen oder sich<br />

nach dem Start zu einem Debakel<br />

für die neue Organisation entwickeln:<br />

Die Komplexität der Veränderung<br />

wird unterschätzt oder zu<br />

stark simplifi ziert.<br />

Das Vorgehen ist zu schnell,<br />

um sichtbare Erfolge kurzfristig<br />

zeitigen zu können.<br />

Es gbt Fehler bei der Analyse<br />

der beteiligten Spitexorganisationen.<br />

Veränderungsprozess wird als<br />

Gewinner-Verlierer-Spiel inszeniert.<br />

Die Konfl iktkultur erlaubt<br />

nicht, Konfl ikte als Chance anzusehen<br />

und anzusprechen.<br />

Die Beteiligung der Betroffenen<br />

erfolgt zu spät.<br />

Visionen für den Zustand nach<br />

dem Zusammenschluss fehlen.<br />

42 NOVAcura 10|09<br />

Konkrete Fehler sind:<br />

Fusionen können kostenneutral<br />

erfolgen.<br />

Fusionskosten können nicht<br />

berechnet werden.<br />

Die Mitarbeitenden sollen arbeiten,<br />

es reicht, wenn sie sich<br />

nach der Fusion mit der neuen<br />

Organisation beschäftigen.<br />

Die Betriebsprozesse können<br />

nach der Fusion bearbeitet werden.<br />

Budget, Finanzplanung, Liquiditätsplanung<br />

usw. kann die<br />

neue Leitung der Organisation<br />

vor deren Start erstellen, es<br />

reicht, die Budgets der Vereine<br />

zusammenzuführen.<br />

Der neue Vorstand muss nichts<br />

von Spitex verstehen, wichtig<br />

ist, dass alle Interessengruppen<br />

und die Auftraggeber im Vorstand<br />

als Aufpasser vertreten<br />

sind.<br />

« Nicht wenige Organisationen<br />

landen nach<br />

vollzogenen Zusammenschlüssen<br />

erst einmal<br />

in einer veritablen<br />

Unternehmenskrise.»<br />

Am schlimmsten ist die Situation,<br />

wenn die beteiligten Vertreter der<br />

Organisationen und die Auftraggeber<br />

hinter der Bühne nicht oder<br />

nur zum Teil sichtbare Abmachungen<br />

treffen, um die alten<br />

Verhältnisse möglichst zu erhal-<br />

ten. Die Flucht «nach nirgendwo»<br />

gleicht dann einer Pokerpartie mit<br />

gezinkten Karten. Die Folge: ein<br />

Finanzdebakel, fehlende Investitionen,<br />

unzufriedene Mitarbeitende,<br />

überforderter Vorstand<br />

und überfordetes Management.<br />

Sich gezielt als Organisation<br />

entwickeln, <strong>wachsen</strong> und <strong>reifen</strong><br />

Entwicklungs- und Wachstumsprozesse<br />

sind komplexe Prozesse,<br />

die es zu gestalten und zu<br />

steuern gilt. Damit die Prozesse erfolgreich<br />

ablaufen, braucht es drei<br />

Eckpfeiler:<br />

politischen Voraussetzungen<br />

unternehmerisches Denken<br />

und Handeln<br />

professionelle Gestaltung des<br />

Entwicklungsprozesses<br />

Die politischen Verantwortlichen<br />

in den Gemeinden und Kantonen<br />

haben sich zusammen mit den<br />

Spitexorganisationen an einen<br />

Tisch zu setzen, um die Rahmenbedingungen<br />

für die Entwicklungs-<br />

und Wachstumsprozesse<br />

der Spitex festzulegen. Dies hat<br />

vor dem eigentlichen Fusionsprozess<br />

zu geschehen. Zu komplex ist<br />

die Entwicklung des Gesundheitswesens,<br />

als dass sich die Kantone<br />

auf die Aufgabenteilung zwischen<br />

den Gemeinden und dem Kanton<br />

berufen könnten.<br />

Für die Spitexorganisationen<br />

selbst ist es von grosser Bedeutung,<br />

dass der Zusammenschluss<br />

professionell gestaltet wird. Sinnvollerweise<br />

unterteilen die Beteiligten<br />

den Zusammenschluss in<br />

drei Phasen:


1. Phase Vorprojekt: umfasst alle<br />

Rahmenbedingungen des Fusionsprojektes.<br />

2. Phase Hauptprojekt: umfasst<br />

alle Arbeiten, die notwendig<br />

sind, um die Fusion zu vollziehen.<br />

3. Phase Umsetzung: Sie umfasst<br />

alle konkreten Arbeiten kurz<br />

vor und im ersten Jahr nach<br />

dem Start.<br />

Ebenso entscheidend ist auch,<br />

dass jede beteiligte Organisation<br />

überzeugt ist, den vereinbarten<br />

Weg wirklich beschreiten zu wollen.<br />

Aus diesem Grund lohnt es<br />

sich, im Vorfeld zu klären, mit<br />

welchen Partnerorganisationen<br />

man den Weg des Zusammenschlusses<br />

gehen will.<br />

Prozess der Entwicklung und des<br />

Wachstums hört nicht auf Nach<br />

dem Zusammenschluss intensiviert<br />

sich der Entwicklungsprozess.<br />

Es ist aus diesem Grund<br />

wichtig, dass die neue Organisation<br />

weiss, welche Ziele sie in Zukunft<br />

erreichen will und welche<br />

Arbeiten zu erledigen sind. Nur so<br />

kann die Organisation die im Zusammenschluss<br />

begonnene Entwicklung<br />

und das angestrebte<br />

Wachstum erfolgreich steuern<br />

und gestalten. Vor dem Start<br />

sind folgende Arbeiten zu erledigen:<br />

Die strategischen und operativen<br />

Ziele sind aufeinander abgestimmt<br />

und für die ersten<br />

drei Jahre nach dem Start verbindlich<br />

festgelegt.<br />

Es besteht eine verbindliche<br />

Unternehmensplanung für die<br />

strategische und die operative<br />

Ebene in den ersten zwei Betriebsjahren.<br />

Die Ressourcen und Rahmenbedingungen<br />

sind für die ersten<br />

zwei Betriebsjahre gesichert,<br />

um die Ziele bzw. die<br />

Unternehmensplanung zu erreichen<br />

und umzusetzen.<br />

Mit der neuen Organisation entsteht<br />

eine neue Betriebskultur.<br />

Diese ist das Schmiermittel erfolgreicher<br />

Entwicklungen. Im Wesentlichen<br />

sind es fünf Punkte,<br />

die für die Mitarbeitenden entscheidend<br />

sind, um sich auf eine<br />

neue Kultur einzulassen:<br />

1. Transparente und glaubwür-<br />

dige Information bezüglich des<br />

Projektes<br />

2. Einbezug der Mitarbeitenden<br />

ins Projekt<br />

3. Umgang mit den Mitarbeitenden<br />

während des Projektes<br />

4. Feste, Apéro und Zusammenkünfte,<br />

um sich gegenseitig<br />

kennenzulernen<br />

5. Gute Kulturelemente aus dem<br />

Vorfeld des Zusammenschlusses<br />

werden gezielt in die neue<br />

Organisation übernommen.<br />

Das Entstehen einer neuen Betriebskultur<br />

braucht Zeit. Aus diesem<br />

Grund sind für den Aufbau<br />

der neuen Betriebskultur Ressourcen<br />

bereitzustellen.<br />

Die Quintessenz Bei so komplexen<br />

Projekten wie Zusammenschlüssen<br />

von verschiedenen Organisationen<br />

sind Konfl ikte nicht<br />

zu vermeiden. Entscheidend ist<br />

immer der Umgang damit. Sollen<br />

die Konfl ikte gelöst werden, dürfen<br />

sie nicht abgewertet und als<br />

Entschuldigung für Unzulänglichkeiten<br />

des Projektes benutzt werden.<br />

Eine professionelle Gestaltung<br />

des Zusammenschlusses unter<br />

fachkundiger Leitung kann<br />

hier eine grosse Hilfe sein. Dies<br />

vor allem dann, wenn die Beteiligten<br />

im Vorprojekt eine Vereinbarung<br />

abgeschlossen haben, wie<br />

mit Konfl ikten umzugehen ist.<br />

Die Zusammenschlüsse müssen<br />

von den Mitarbeitenden mitgetragen<br />

werden. Das bedeutet für<br />

viele, dass sie ihre Arbeitsweise<br />

und die Haltung zur Arbeit überprüfen<br />

und ändern müssen. Dies<br />

verläuft nie reibungslos. Es macht<br />

Sinn, diesem Punkt durch die ProjektverantwortlichenAufmerksamkeit<br />

zu schenken. Die tragenden<br />

und gut qualifi zierten Mitarbeitenden<br />

reagieren stark, wenn<br />

Veränderungen in der Arbeit unausweichlich<br />

sind. Die neue Organisation<br />

ist auf sie angewiesen,<br />

will sie für ihre Klienten die reibungslose<br />

Versorgung nach dem<br />

Zusammenschluss sicherstellen.<br />

Ist die Entwicklung positiv? Die<br />

Frage ist nicht einfach zu beantworten.<br />

Ob die Beteiligten in einem<br />

Zusammenschluss die Entwicklung<br />

positiv bewerten, hängt<br />

stark vom Projekt und dessen Voraussetzungen<br />

ab.<br />

Blickt man auf die Spitexentwicklung<br />

generell, kann man die<br />

Frage mit Ja beantworten. Die Zusammenschlüsse<br />

bringen einige<br />

Vorteile:<br />

Die Spitexorganisationen werden<br />

grösser und damit einfl ussreicher<br />

und gestärkt im Gesundheitswesen.<br />

Neue und komplexere Aufgaben<br />

in der Pfl ege können übernommen<br />

werden.<br />

Es entstehen interessante und<br />

gesicherte Arbeitsplätze in der<br />

Spitex.<br />

Die Spitexorganisationen können<br />

ihre Organisation, ihre Betriebsabläufe<br />

und Dienstleistungen<br />

professionalisieren.<br />

« Die Zusammenschlüsse<br />

müssen von den Mitarbeitenden<br />

mitgetragen<br />

werden.»<br />

Wie geht es weiter in der Zukunft?<br />

Eine «Wetterprognose»<br />

im Gesundheitswesen zu erstellen,<br />

ist zum heutigen Zeitpunkt<br />

nur begrenzt möglich. Weitere<br />

Spitexzusammenschlüsse werden<br />

unausweichlich sein. Das Tempo<br />

in diesem Bereich wird sich erhöhen,<br />

und zwar aufgrund des<br />

Druckes von aussen, der auf die<br />

kleinen und mittleren Spitexorganisationen<br />

ausgeübt wird. Auch<br />

Zusammenschlüsse zwischen Heimen,<br />

Spitex und Spitälern sind in<br />

den nächsten Jahren früher oder<br />

später zu erwarten, um die Versorgungskette<br />

im Gesundheitswesen<br />

zu optimieren.<br />

Die Spitex ist eine Wachstumsbranche<br />

aufgrund der Bevölkerungsentwicklung<br />

und der veränderten<br />

Behandlungsmethoden in<br />

der Medizin. Sie ist dadurch ein<br />

Arbeitsgebiet mit Zukunft. Wer<br />

gerne in einem sich stark verändernden<br />

Gesundheitsbereich arbeitet,<br />

Veränderungen in der Organisation<br />

und in den Spitexleistungen<br />

akzeptieren und schätzen<br />

kann, der fi ndet in der Spitex ein<br />

Arbeitsfeld mit vielen spannenden<br />

Herausforderungen. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Spitex<br />

Der Autor hat zahlreiche<br />

Spitexzusammenschlüsse<br />

als Berater begleitet und<br />

als Projektleiter durchgeführt.<br />

Für Vorstände und<br />

Kader von Spitexorganisationen<br />

bietet er den<br />

Workshop «Alleingang,<br />

Kooperation, Fusion» an<br />

zur Klärung der eigenen<br />

Position, bevor sich Institutionen<br />

für einen Weg<br />

entscheiden.<br />

Weitere Informationen:<br />

www.<strong>bops</strong>.ch<br />

43


Spitex<br />

Elisabeth Conte arbeitet<br />

als Pfl egeexpertin<br />

HöFA 2 bei der Interkantonalen<br />

Spitex-Stiftung<br />

in Wilen/Sarnen. In dieser<br />

Funktion bietet sie<br />

Beratung und Weiterbildung<br />

für den Bereich<br />

der Hilfe und Pfl ege in<br />

der Spitex an.<br />

e.conte@prospitex.ch<br />

In den Ruhestand<br />

«Nach einem langen, engagierten und arbeitsreichen Berufsleben tritt<br />

nun unsere liebe Kollegin in den wohlverdienten Ruhestand» – so etwa<br />

könnte es bei der Verabschiedung einer Mitarbeitenden auch aus dem<br />

Pfl egeberuf tönen. Dann gäbe es sicher noch einen schönen Apéro und<br />

ein nettes Geschenk von den Kolleginnen. Und dann? Wars das?<br />

Der Ausstieg aus dem Erwerbsleben<br />

ist immer eine äusserst emotionale<br />

Angelegenheit. Manchmal<br />

ist er sehnlichst herbeigewünscht,<br />

um endlich selbstbestimmt leben<br />

zu können, und manchmal fällt<br />

das Abschiednehmen von der Arbeitswelt<br />

enorm schwer und kann<br />

beinahe nicht bewältigt werden.<br />

Ein paar Angaben zum beruflichen<br />

Werdegang von Frieda<br />

Winis törfer: 1972 schloss sie in<br />

Solothurn die Ausbildung in allgemeiner<br />

Krankenpfl ege (AKP) ab<br />

und machte, wie damals üblich,<br />

das sogenannte Pfl ichtjahr im Spital<br />

Solothurn. Anschliessend bildete<br />

sie sich zur «Operationsschwester»<br />

weiter und arbeitete<br />

während drei Jahren im Spital Solothurn<br />

im Operationssaal (OPS).<br />

Später zog sie von Solothurn nach<br />

Oberkirch und arbeitete in Sursee,<br />

später in Olten im OPS. Sie sei jedoch<br />

nie eine «begeisterte OPS-<br />

Schwester» gewesen, berichtet sie<br />

mir. Sie sei damals eher einer Idee<br />

als ihrem Herzen gefolgt.<br />

1977 heiratete sie, gebar später<br />

eine Tochter und einen Sohn.<br />

Trotz Familienpfl ichten blieb sie<br />

stets mit einem Fuss im Berufsleben<br />

und arbeitete in Olten auf Abruf<br />

auf der Notfallstation.<br />

Die Aussage «In die Spitex gehe<br />

ich erst arbeiten, wenn man mich<br />

nirgendwo sonst mehr brauchen<br />

kann» stammt tatsächlich von<br />

44 NOVAcura 10|09<br />

Gerade wegen dieser hohen<br />

Emotionalität ist eine sorgfältige<br />

und umfassende Vorbereitung auf<br />

die eigene Pensionierung oder die<br />

Pensionierung von Mitarbeitenden<br />

sehr wichtig. Es liegt auch in<br />

der Verantwortung eines Betriebs,<br />

seinen Mitarbeitenden diese Vorbereitung<br />

zu ermöglichen. Eine<br />

Elisabeth Conte und Walter Wyrsch<br />

gute Vorbereitung umfasst neben<br />

fi nanziellen auch psychologische<br />

und soziale Aspekte.<br />

Gespräche mit zwei langjährigen<br />

Spitex-Mitarbeitenden, die<br />

kurz vor dem Austritt aus dem Erwerbsleben<br />

stehen, geben einen<br />

Einblick in die Situation.<br />

«In die Spitex gehe ich erst arbeiten, wenn man<br />

mich nirgendwo sonst mehr brauchen kann ...»<br />

Elisabeth Conte sprach mit Frieda Winistörfer, Leiterin<br />

Pfl egedienst Spitex in Kriegstetten<br />

Frieda. Dieser Satz ist jedoch nicht<br />

gegen die Spitex gerichtet. Er<br />

folgte auf schlechte Erfahrungen<br />

im Spitex-Praktikum, als sie noch<br />

Lernende war.<br />

Als ihre Kinder einen gewissen<br />

Grad an Selbstständigkeit gewonnen<br />

hatten, entschloss sie sich zu<br />

Schnuppertagen bei der Spitex<br />

Kriegstetten. Nach diesem Einblick<br />

in die Spitex, der ihr ganz<br />

gut gefallen hatte, wurde sie für<br />

sechs Monate «Bademeisterin Spitex».<br />

Das heisst, sie kam vor allem<br />

dann zum Einsatz, wenn Klient/innen<br />

ein Vollbad brauchten.<br />

Gegen Ende 1986 erhielt sie dann<br />

einen Arbeitsvertrag auf Abruf<br />

und arbeitete, ganz nach Bedarf<br />

der Spitex, ein Wochenende pro<br />

Monat und ein bis zwei Halbtage<br />

pro Woche.<br />

Doch die Verantwortung liess<br />

nicht lange auf sich warten. 1991<br />

übernahm sie die stellvertretende<br />

Leitung Pfl ege zu 40 bis 60 Prozent<br />

und engagierte sich in der<br />

Ausbildungsbegleitung von Lernenden.<br />

Acht Jahre später über-<br />

nahm sie die Leitung ganz und<br />

arbeitet inzwischen gut 23 Jahre<br />

in der Spitex.<br />

Spitex vor 20 Jahren Die Dokumentation<br />

der Arbeit war damals<br />

minimal. Es gab eine Karteikarte,<br />

auf der für den Verlaufsbericht<br />

nicht üppig Platz war – aber so<br />

viele Verlaufskommentare waren<br />

ja auch nicht notwendig. Verordnungsblätter<br />

kannte sie ebenfalls<br />

nicht, und selbst die Pfl egemassnahmen<br />

waren nicht schriftlich<br />

festgelegt. Einmal stand Frieda<br />

Winistörfer vor einem Patienten,<br />

der Diabetiker war und Insulin<br />

brauchte. Sie hatte aber keine<br />

schriftlichen Unterlagen, aus denen<br />

ersichtlich gewesen wäre,<br />

wie viele Einheiten der Mann<br />

brauchte. Peinlich! Von da an begann<br />

sie aus eigener Initiative ein<br />

Heft zu führen, in dem sie die<br />

Pfl egemassnahmen festhielt und<br />

den Verlauf dokumentierte. Auch<br />

die Art, wie da Verbandwechsel<br />

gemacht wurden, blieb ihr lebhaft<br />

in Erinnerung. Der Patient wies<br />

sie an, das schmutzige Verbandsmaterial<br />

auf eine Zeitung am Boden<br />

zu legen. Dieses Päckli kam<br />

dann so in den Kehricht. Hand-


schuhe waren zu teuer. Immerhin<br />

gab es sterile Instrumente, aber<br />

das konnte ihr Hygienegewissen<br />

als ehemalige OP-Schwester nicht<br />

beruhigen.<br />

Die Krankenkasse musste Spitexleistungen<br />

nicht immer übernehmen,<br />

und das Personal bestand<br />

aus der Leitung und sogenannten<br />

«Stundenlöhner/innen».<br />

Darunter war auch eine Pfl egende,<br />

die keinen Abschluss gemacht<br />

hatte. Hauswirtschaft gab es innerhalb<br />

der Spitexorganisation<br />

nicht. Das übernahmen die<br />

Frauen- und Samaritervereine.<br />

Besser wurde die Situation, als<br />

sich die Gemeinden zusammenschlossen<br />

und eine Administratorin<br />

angestellt wurde. Dazu kam<br />

die externe Beratung. Nun ging es<br />

stetig aufwärts.<br />

Spitex heute Heute gibt es Hygienekonzepte,<br />

und die Spitex erreicht<br />

den Standard der Spitäler.<br />

Schriftliches, so meint Frieda Winistörfer,<br />

gebe es eher zu viel. Da<br />

müssen die ärztlichen Verordnungen<br />

ausgefüllt werden, die Krankenkasse<br />

verlangt Belege für Pfl egestunden<br />

und Material. Was soll<br />

dieses Misstrauen, fragt sie sich.<br />

Sie möchte ihre Zeit lieber für die<br />

Patienten einsetzen.<br />

Die Dokumentation hat heute<br />

einen ganz anderen Stellenwert.<br />

Die Spitex Kriegstetten arbeitet<br />

mit Pfl egediagnosen, erstellt Pfl egeplanungen,<br />

schreibt Verlaufsberichte.<br />

Jede Pfl egende weiss ganz<br />

genau, was ihr Auftrag ist, und<br />

kann diesen auch nachlesen.<br />

Meilensteine in der Spitexentwicklung<br />

sind für Frieda Winistörfer<br />

die Übernahme der Kosten<br />

durch die Krankenkassen und die<br />

Anerkennung, die die Spitex in<br />

der Öffentlichkeit inzwischen geniesst.<br />

Sie kann gut ausgebildetes<br />

Personal einsetzen, die Zusammenarbeit<br />

mit Ärzten und Spitälern<br />

ist selbstverständlich. Spitex<br />

ist eine anerkannte Partnerin im<br />

Gesundheitswesen. Es gäbe zwar<br />

Situationen mit älteren Ärzten, da<br />

müsse sie auch heute noch versichern:<br />

«... doch, doch, wir können<br />

das!»<br />

Persönliche Veränderungen durch<br />

die Arbeit in der Spitex Sie habe<br />

Selbstsicherheit gewonnen im<br />

Umgang mit den verschiedenen<br />

«Herren» – seien es Ärzte, Politiker<br />

oder Personen aus dem Vorstand.<br />

Inzwischen könne sie auch kompetenter<br />

argumentieren und auftreten.<br />

Da hätten der Management-Grundkurs<br />

dazu beigetragen,<br />

Erfahrungen in der Ausbildungsbegleitung<br />

von Lernenden<br />

und die regelmässigen Tagungen<br />

für Ausbildungsbegleiter/innen,<br />

welche die Schule in Sarnen anbot.<br />

Sie selber sei aber auch immer<br />

aktiv gewesen und nie Gefahr gelaufen,<br />

auf erworbenen Lorbeeren<br />

auszuruhen.<br />

Älter werden im Beruf Auf dieses<br />

Thema angesprochen, beginnt<br />

Frieda Winistörfer nicht etwa Beschwerden<br />

aufzuzählen, die die<br />

Schwerarbeit Pfl ege doch mit sich<br />

bringen könnte. Sie spricht davon,<br />

dass sie seitens der Klienten<br />

und Mitarbeiterinnen viel Offenheit<br />

und Vertrauen erfährt. Sie<br />

fühlt sich physisch und psychisch<br />

aktiv und munter. Höchstens kurz<br />

vor den Ferien kann es zu einem<br />

kurzen Energietief kommen.<br />

Überdruss in der Spitexarbeit<br />

kennt sie nicht. Das war in jener<br />

Zeit, als sie als Operationsfachfrau<br />

arbeitete, öfters der Fall. Natürlich<br />

gab es auch Krisen, mit Mitarbeiter/innen<br />

zum Beispiel. Aber die<br />

Pfl ege macht ihr viel Freude. Vielleicht<br />

brauche sie etwas mehr Zeit<br />

als jüngere Kolleginnen. Doch<br />

diese Zeit sei gut investiert in Gespräche<br />

und präventive Aktionen,<br />

fi ndet sie. Die Lebenserfahrung<br />

bringt es mit sich, dass sie die<br />

Komplexität gewisser Pfl egesituationen<br />

intuitiv wahrnimmt. Sie<br />

spürt, wenn da noch etwas im<br />

Hintergrund brodelt. Oder sie<br />

fragt nach, wenn etwas in der Luft<br />

NOVAcura 10|09<br />

Spitex<br />

Die Spitex Kriegstetten<br />

betreut insgesamt beinahe<br />

14 000 Einwohnerinnen<br />

und Einwohner in<br />

14 verschiedenen Gemeinden.<br />

Diese Umfassen<br />

die Agglomeration Solothurn<br />

und ganz ländliche<br />

Gebiete.<br />

Frieda Winistörfer im<br />

Heilkräuter-Garten der<br />

Spitex Kriegsstetten,<br />

von dem Spitex-Kunden<br />

profi tieren in Form von<br />

Wickeln und Aufl agen.<br />

Foto: zVg<br />

45


Spitex<br />

Die Spitex Reusstal hat<br />

ihren Sitz im luzernischen<br />

Root und versorgt 13 000<br />

Einwohnerinnen und Einwohner,<br />

verteilt über<br />

6 Gemeinden, mit Spitex-<br />

Leistungen. Sie ist im<br />

Grenzgebiet zu Zug und<br />

Aargau tätig. Eine Gemeinde<br />

liegt denn auch<br />

im Kanton Aargau, damit<br />

ist die Spitex Reusstal<br />

eine der wenigen interkantonalenSpitex-Organisationen.<br />

liegt. Und wenn dieses Etwas<br />

dann Platz braucht, nimmt sie<br />

sich auch Zeit dafür oder vereinbart<br />

einen Termin für ein späteres<br />

Gespräch.<br />

Gefühle in Bezug auf die Pensionierung<br />

Frieda Winistörfer freut<br />

sich auf ihre Pensionierung, die in<br />

Sichtweite kommt. Sie wird Zeit<br />

haben für ihre Hobbys, für Besuche,<br />

für Haus und Garten. Es<br />

gibt so vieles, was bisher immer<br />

hintenanstehen musste. Sicher,<br />

manchmal kommen ihr auch Fragen:<br />

Wird sie die Zeit gut ausfüllen<br />

können? Könnte Langeweile<br />

aufkommen?<br />

Doch gegen Langeweile sind<br />

die Grosskinder eine gute Therapie!<br />

Konkrete Aktionen plant sie<br />

nicht für die Zeit nach der Pensionierung.<br />

Sie lässt die Dinge auf<br />

sich zukommen. Doch, da fällt<br />

ihr plötzlich ein Traum ein:<br />

Sie könnte sich vorstellen, eine<br />

Gruppe von Sterbebegleiter/innen<br />

«Eigentlich wollte ich gar nicht<br />

in einen Pfl egeberuf»<br />

Walter Wyrsch sprach mit Cornelia Jeuch, Leiterin<br />

Kerndienste, Spitex Reusstal, Root<br />

Cornelia Jeuch arbeitet seit 20 Jahren<br />

als Pfl egefachfrau in der Spitex.<br />

Ihre Pfl egeausbildung hat sie<br />

erst mit 42 Jahren begonnen. Erst<br />

war sie als Pharmaassistentin,<br />

dann als gelernte Sozialpädagogin<br />

tätig.<br />

Seit dem Abschluss ihrer Pfl egeausbildung,<br />

die sie an der<br />

Schule für Gemeindekrankenpfl<br />

ege in Sarnen absolviert hatte,<br />

war sie ausschliesslich im Arbeitsfeld<br />

der Spitex aktiv. Heute leitet<br />

sie den Pfl egedienst einer Spitex<br />

in der Region der Stadt Luzern.<br />

«Eigentlich wollte ich gar nicht<br />

in den Pfl egeberuf wechseln, aber<br />

die Möglichkeit, Menschen zu<br />

Hause zu betreuen, das Arbeitsfeld<br />

Spitex, hat mich letztlich doch bewogen,<br />

noch eine Ausbildung<br />

anzupacken und in einen neuen<br />

Bereich zu wechseln.» Cornelia<br />

Jeuch zeigt im gesamten Gespräch<br />

46 NOVAcura 10|09<br />

ins Leben zu rufen, falls das gefragt<br />

ist. Damit Sterben zu Hause immer<br />

öfters möglich wird in der Spitex.<br />

Faszination Spitex Den Patienten<br />

in seiner Umgebung pfl egen<br />

können. Menschen nehmen, wie<br />

sie sind – da ist eine so enorme<br />

Vielfalt, und diese fasziniert Frieda<br />

stets neu. Zusammenarbeiten mit<br />

Angehörigen, mit anderen Diensten.<br />

Menschen sind das Faszinierende<br />

an der Spitex!<br />

Was Frieda gerne hinter sich<br />

lässt Bei diesem Punkt muss sie<br />

doch etwas länger überlegen. Unzufriedene<br />

Kunden lässt sie leichten<br />

Herzens zurück. Die vielen<br />

Papiere können ihr gestohlen<br />

bleiben, und der sogenannten<br />

«unverrechenbaren Arbeitszeit»<br />

wird sie keine Sekunde nachtrauern.<br />

«Unverrechenbare Arbeitszeit<br />

sollte eigentlich zum Unwort des<br />

Jahres erkoren werden! Gemeint<br />

ist jene Zeit, die nicht über die<br />

immer wieder auf, was sie mit diesem<br />

«Menschen zu Hause pfl egen»<br />

meint und welche Chancen<br />

und Möglichkeiten sie darin sieht.<br />

Dass die Pfl egebedürftigen und<br />

ihre Angehörigen den «Heimvorteil»<br />

haben, ist für sie Teil der professionellen<br />

Einstellung.<br />

Cornelia beschreibt grosse Veränderungen,<br />

die sie im Laufe der<br />

Zeit in der Spitex-Berufswelt erlebt<br />

hat. Dabei legt sie den Fokus<br />

zuerst auf den heute sehr professionellen<br />

Stand in der Spitex.<br />

Nicht nur der gesamte Betrieb,<br />

sondern auch die Trägerschaften<br />

seien heute, neben dem grossen<br />

Engagement, auch mit viel Fachwissen<br />

tätig. Die Organisationen<br />

mussten sich dauernd mit den gesundheitspolitischen<br />

und weiteren<br />

politischen Entwicklungen<br />

auseinandersetzen und sich diesen<br />

anpassen. Zu Beginn des Be-<br />

Versicherungen abgerechnet werden<br />

kann und die von den Vorständen<br />

nicht geschätzt wird, weil<br />

sie am Spitexbudget bzw. an den<br />

Finanzen der Gemeinden nagt.<br />

Für die Spitex-Zukunft wünscht<br />

sich Frieda, dass die administrativen<br />

Arbeiten nicht weiter zunehmen.<br />

Sie hofft darauf, dass auch<br />

künftig kompetentes und menschliches<br />

Personal eingestellt werden<br />

kann. Gerne möchte sie zum gegebenen<br />

Zeitpunkt von qualitativ<br />

hochstehenden Spitexdiensten<br />

profi tieren können. Sie wünscht,<br />

dass mit den Geldern für die Spitex<br />

nicht geknausert wird. Das erfordert<br />

ihrer Ansicht nach nicht<br />

zuletzt menschliche, offene Politiker;<br />

weitsichtige Personen im<br />

Gesundheitswesen, welche Verständnis<br />

aufbringen für alte und<br />

kranke Menschen sowie für die<br />

Situation der Spitex-Pfl egenden<br />

und die dieses Verständnis auch<br />

mit Kompetenz umsetzen. ■<br />

rufslebens hatte Cornelia Jeuch in<br />

diesem Bereich auch in einige<br />

Schwierigkeiten hineingesehen:<br />

hilfl ose Vorstände und wenig<br />

kaufmännische Kenntnisse mussten<br />

oft nebenbei noch von den<br />

Pfl egenden kompensiert werden.<br />

Selbstverständlich veränderten<br />

sich auch die Pfl egesituationen.<br />

«Heute bearbeiten wir Situationen,<br />

in denen wir medizinisch<br />

und sozial grösste Herausforderungen<br />

zu Hause bewältigen. Da<br />

ist das sogenannte Casemanagement<br />

nicht mehr ein blosses<br />

Schlagwort! Unsere Aufgabe ist in<br />

den 20 Jahren, die ich überblicke,<br />

viel komplexer geworden. Komplex<br />

in dem Sinne, als die Situationen<br />

vielschichtiger sind, deutlich<br />

mehr und vielfältigerer Zusammenarbeitsbedarf<br />

vorhanden<br />

ist und die sozialen Netzwerke der<br />

Menschen teilweise fehlen oder<br />

nicht mehr verfügbar sind. Auch<br />

medizinisch betreuen wir heute<br />

sehr anfordernde und teilweise<br />

hochtechnische Pfl egesituationen.»<br />

Als Leiterin der Spitex ist sie<br />

aber im Alltag auch besonders<br />

von der Kurzfristigkeit betroffen,<br />

mit der heute in der Spitex Lösungen<br />

gefunden werden müssen.


«Manchmal sind wir einfach die<br />

Letzen in einer Kette, und da<br />

fühle ich mich den Klienten gegenüber<br />

verpfl ichtet, manchmal<br />

schier Unmögliches möglich zu<br />

machen.»<br />

Dies verlangt von ihr selbst,<br />

aber auch von allen andern Mitarbeitenden<br />

eine stetige Entwicklung<br />

und laufende Weiterbildung.<br />

Diese Verantwortung hat sie für<br />

sich wahrgenommen und lebt sie<br />

auch im Betrieb: «Ohne laufende<br />

Persönlich<br />

Wenn ich an eine pensionierte Pfl egefachperson<br />

denke, dann taucht bei mir<br />

zuerst das Bild von «Schwester Martha»<br />

auf. Sie ist heute bald 90 Jahre alt und an<br />

vielen Anlässen der Gemeinde und der<br />

Pfarrei in meinem Wohnort anzutreffen.<br />

Für viele im Dorf ist sie «Schwester<br />

Martha» geblieben, obwohl sie schon<br />

über 20 Jahre pensioniert ist. Zuvor war<br />

sie allerdings doppelt so lange die «Gemeindekrankenschwester»<br />

im Ort. Ob<br />

das wohl heute pensionierten Berufsleuten<br />

immer noch so hängen bleibt?<br />

Wahrscheinlich kaum, unsere Arbeitswelt<br />

ist heute professioneller und<br />

strukturierter geworden, die Institution<br />

steht im Vordergrund, nicht die pfl egende<br />

Einzelperson. Heute besucht eben «die<br />

Spitex» und nicht mehr «Schwester<br />

Martha» die Menschen zu Hause.<br />

Walter Wyrsch<br />

Weiterbildung und die Auseinandersetzung<br />

mit Neuem könnte ich<br />

im Alltag nicht bestehen.»<br />

Den Veränderungen kann man<br />

sich nicht verschliessen, man<br />

muss diese aktiv bewältigen. Vor<br />

einiger Zeit hat der Betrieb eine<br />

elektronische Zeit- und Leistungsverrechnung<br />

eingeführt. Sie meint<br />

denn auch, dass mit den heutigen<br />

Bedarfsabklärungen, den modernen<br />

Hilfsmitteln und einem zeitgemässen<br />

Fachwissen, ganz besonders<br />

im Bereich der Pfl egediagnostik,<br />

die Problemstellungen in<br />

der Pfl ege und Betreuung viel rascher<br />

erkannt werden können.<br />

Zum Älterwerden im Beruf befragt,<br />

meint Cornelia Jeuch, dass<br />

die Bewältigung des Arbeitsalltags<br />

nicht leichter werde. «Sicher, die<br />

Erfahrungen sind vielfältig, und<br />

ich kann mein Wissen in einem<br />

hohen Mass vernetzen, aber ich<br />

bin nicht mehr immer so blitzschnell.»<br />

Die grosse Hektik ist<br />

denn auch ein Grund, weshalb<br />

sich Cornelia Jeuch für eine vorzeitige<br />

Pensionierung entschieden<br />

hat. Sie wird den Betrieb mit<br />

63 Jahren, im August 2010, verlassen.<br />

Die Planung dieses Ausstiegs<br />

hat sie schon mit 60 Jahren begonnen,<br />

da galt es natürlich zuerst,<br />

die fi nanziellen Aspekte zu<br />

berücksichtigen. Mit dem vorzeitigen<br />

Ruhestand geht in dieser Be-<br />

rufssparte eine fi nanzielle Einbusse<br />

einher. Für Cornelia Jeuch war<br />

es aber auch wichtig, diese Planung<br />

dem Arbeitgeber und ihrem<br />

Team transparent zu machen.<br />

Dies geschah bereits im Sommer<br />

2008. Leicht fi el ihr das nicht.<br />

Schliesslich betont Cornelia Jeuch<br />

immer wieder das ausgezeichnete<br />

Verhältnis der Mitarbeitenden untereinander<br />

und ihren guten<br />

Draht zu den Verantwortlichen in<br />

der Trägerschaft und der Gesamtleitung.<br />

Hier drückt auch ein wenig<br />

Wehmut durch, etwas zurückzulassen,<br />

wofür sie sich stark engagiert<br />

hat und worin sie auch<br />

schöne Erfolge erreicht hat.<br />

Für die Zeit nach der Pensionierung<br />

hat Cornelia Jeuch schon<br />

viele Überlegungen angestellt und<br />

Pläne geschmiedet. Auf die Frage,<br />

ob sie denn nicht befürchte, nachher<br />

in ein Loch zu fallen, meint<br />

sie: «Nein, ganz sicher nicht. Ich<br />

werde aber auch nicht einfach einen<br />

Schnitt machen und mich<br />

nicht mehr engagieren, ich werde<br />

ganz sicher ehrenamtliche Engagements<br />

übernehmen.» Da wird<br />

sie bestimmt nicht lange auf vielfältigste<br />

Anfragen warten müssen,<br />

schliesslich sind «jung pensionierte»<br />

Leute mit vielfältigen Fähigkeiten<br />

und Kenntnissen in Zukunft<br />

enorm gesucht, fast noch<br />

mehr als Pfl egefachleute. ■<br />

NOVAcura 10|09<br />

Spitex<br />

Für die Zeit nach der<br />

Pensionierung hat<br />

Cornelia Jeuch bereits<br />

einige Pläne.<br />

Foto: zVg<br />

Walter Wyrsch ist Pfl egefachmann,Er<strong>wachsen</strong>enbildner<br />

und Executive<br />

Master in «Social<br />

Services an Healthcare<br />

Management».<br />

w.wyrsch@prospitex.ch<br />

47


Bildung Transfer-Coaching<br />

im Pfl egestudium<br />

Lucie Schmied-Fuchs,<br />

MAS NPM, Leitung Ressort<br />

Praxisausbildung,<br />

Studiengang Pfl ege,<br />

Berner Fachhochschule<br />

Gesundheit.<br />

lucie.schmied@bfh.ch<br />

Markus Berner, Pfl egeexperte<br />

HöFa II, Privatklinik<br />

Wyss AG in Münchenbuchsee.<br />

m.berner@privatklinik-wys<br />

Der Studiengang zum Bachelor of Science in Pfl ege an der Berner Fachhochschule<br />

(BFH) bereitet durch seine Praxisorientierung auf eine Tätigkeit vor, die eine hohe<br />

Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz sowie die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

in der Praxis erfordert. Bachelor-Pfl egende zu ihren Berufskompetenzen<br />

hinzuführen, wird als gemeinsame Aufgabe von Fachhochschule und Praxis verstanden<br />

und widerspiegelt sich unter anderem im Konzept des Transfer-Coachings<br />

(TC). Lucie Schmied-Fuchs und Markus Berner<br />

Transfer Coaching (TC) Der Begriff<br />

Transfer wird als Übertragung<br />

einer Denk- oder Lernleistung abstrakter<br />

oder praktischer Art auf<br />

eine andere beschrieben: Der<br />

Transfer ist umso grösser, je mehr<br />

Elemente einer Situation mit denen<br />

einer anderen übereinstimmen<br />

(Holdener, 1999). Coaching<br />

versteht sich in diesem Konzept<br />

als professionelle individuelle<br />

Beratung im berufl ichen Kontext.<br />

Zielsetzungen des TC Im TC befassen<br />

sich die Studierenden mit<br />

der gezielten Umsetzung von bachelorspezifi<br />

schen Inhalten des<br />

Studienganges Pfl ege, der Evidence<br />

based Practice in ihrem Berufsfeld.<br />

Im Vordergrund stehen<br />

die Entwicklung der Fachkompetenzen<br />

und die Ausrichtung auf<br />

eine konsequente Wirkungsorientierung<br />

der Pfl ege. Wo immer<br />

möglich, werden im TC wissenschaftlich<br />

fundierte Erkenntnisse<br />

einbezogen, deren Wirksamkeit<br />

belegt ist. Daher ist die Unterstützung<br />

einer Praxismentorin mit<br />

wissenschaftlichem Know-how<br />

erforderlich.<br />

Die Inhalte der TC sind zudem<br />

fachbereichsspezifi sch ausgerichtet<br />

(Psychiatrie, Pädiatrie, Langzeitpfl<br />

ege usw.).<br />

Inhaltliche Beispiele:<br />

Kennenlernen von Instrumenten<br />

zur Schmerzerfassung oder<br />

Dekubituseinschätzung (Risikomanagement)<br />

Einschätzen der Patientensituation,<br />

Pfl egeprozess, Pfl egediagnostik<br />

Ethik, Besprechung von Pfl ege-<br />

48 NOVAcura 10|09<br />

situationen, fundierte Argumentation<br />

Einschätzung der Ernährungssituation<br />

bei Mangelernährung<br />

Rahmenbedingungen Die Studierenden<br />

habe pro Woche Anrecht<br />

auf drei Stunden TC mit der<br />

Praxismentorin. Die Praxismentorin<br />

ist eine wissenschaftlich<br />

ausgebildete Pfl egefachperson<br />

(Höfa II, FH). Eine Gruppe umfasst<br />

vier bis maximal fünf Studierende<br />

im TC. Betriebe können<br />

institutionsüberg<strong>reifen</strong>d zusammenarbeiten.<br />

Umsetzung in der Berufspraxis<br />

Das TC-Konzept wurde durch die<br />

Ausbildungsverantwortlichen in<br />

den Betrieben gutgeheissen und<br />

wird nun seit drei Jahren erfolgreich<br />

umgesetzt. Angepasst an die<br />

Grösse der Institution, die Ausbildungsstrukturen<br />

und die personelle<br />

Situation sind interessante<br />

Konzepte entstanden.<br />

Die Studierenden erleben das<br />

TC als äusserst lehrreich, fühlen<br />

sich von kompetenten Fachleuten<br />

unterstützt und erleben Modelle<br />

und Vorbilder für ihr Berufsleben.<br />

Nachfolgend wird das Konzept<br />

der Universitären Psychiatrischen<br />

Klinik Bern und der Psychiatrischen<br />

Privatklinik Wyss, Münchenbuchsee,<br />

vorgestellt.<br />

Üben und Refl ektieren Im Rahmen<br />

der Bachelorstudiengänge<br />

bieten die beiden Kliniken den<br />

Studierenden das TC als integralen,<br />

obligatorischen Bestanteil der<br />

Praxisausbildung an. Die Studierenden<br />

kommen aus den Kliniken<br />

Psychiatriezentrum Münsingen,<br />

Schlössli Biel, Universitäre Psychiatrische<br />

Dienste Bern und der Privatklinik<br />

Wyss, Münchenbuchsee.<br />

Im TC geht es um den persönlichen<br />

und fachlichen Umgang<br />

mit berufl ichen Aufgaben und<br />

Rollen. Das Lernziel besteht in der<br />

Klärung und Weiterentwicklung<br />

der berufl ichen Kompetenzen<br />

und Identität. Zentrale Aufgabe<br />

des Praxismentors ist es, die<br />

Studierenden in ihrem Lernprozess<br />

zu motivieren, zu beraten, die<br />

Lernziele festzulegen und die Integration<br />

von Theorie und Praxis<br />

zu unterstützen.<br />

Einerseits werden Handlungen<br />

geübt und in den Kontext gestellt,<br />

andererseits können Erfahrungen<br />

refl ektiert werden. Bei der Arbeit<br />

im Praxisfeld geht es für die Studierenden<br />

speziell darum, Methoden<br />

und Techniken der Pfl ege unter<br />

fachlicher Begleitung einzuüben<br />

und theoretische Ansätze<br />

auf ihre praktische Umsetzung<br />

hin kritisch zu refl ektieren.<br />

Selbststudium ist wichtiger Bestandteil<br />

Aus organisatorischen<br />

Gründen fi ndet das TC vierzehntäglich<br />

à je sechs Unterrichtsstunden<br />

statt. Zwischen zwei TCs steht<br />

den Studierenden ein Selbststudiumstag<br />

zur Verfügung. Sie erhalten<br />

zu Beginn des Praktikums<br />

einen Stundenplan. Darin sind, je<br />

nach Semester, Arbeitsaufträge für<br />

das Selbststudium formuliert. Die<br />

Ergebnisse aus dem Selbststudium<br />

werden jeweils im TC vorgestellt<br />

und durch die Lerngruppe kritisch<br />

betrachtet und refl ektiert. Zudem


erhalten die Studierenden von der<br />

Praxismentorin fachliche Inputs<br />

zu ausgewählten psychiatriespezifi<br />

schen Themen.<br />

Drei Praxiseinsätze Im ersten<br />

Praktikumseinsatz befassen sich<br />

die Studierenden mit ethischen<br />

Problemstellungen auf der Station.<br />

Sie refl ektieren die Situation<br />

mit einer ethischen Theorie. Das<br />

Thema Ethik wird mit einem<br />

Fachvortrag über Macht und<br />

Ohnmacht in der Psychiatrie abgerundet.<br />

Im Weiteren verfassen<br />

die Studierenden eine Fallbeschreibung<br />

ihres Bezugspatienten,<br />

vertiefen ihre Kenntnisse über die<br />

Bezugsquellen<br />

Bestattung<br />

Rudolf Egli AG<br />

Industriestrasse 4<br />

6215 Beromünster<br />

Tel. 041 930 17 15<br />

office@eglisarg.ch<br />

Bestattungswäsche<br />

Heimverwaltung<br />

Simultan HEIM<br />

Heimverwaltung<br />

Pflegedokumentation<br />

Sage Simultan AG, 6246 Altishofen<br />

Tel. 062 748 90 00, Fax 062 748 90 10<br />

www.sagesimultan.ch<br />

auf der Station gebräuchlichen<br />

Assessment-Instrumente, die Pfl egeplanung<br />

und die Pfl egeevaluation.<br />

Im zweiten Praxiseinsatz widmen<br />

sich die Studierenden einer<br />

praxisrelevanten Fragestellung<br />

mit weiterführender Literaturrecherche,<br />

vertiefen sich in einem<br />

psychiatrischen Krankheitsbild,<br />

erarbeiten ein Beratungskonzept<br />

für Patienten, die mit Psychopharmaka<br />

behandelt werden.<br />

Fachinputs erhalten die Studierenden<br />

zu Themen wie<br />

Beziehungsgestaltung<br />

Stigmatisierung<br />

Psychopharmaka<br />

Pflegehilfsmittel<br />

Therapiehilfen<br />

Pfl egeprozess und Pfl egediagnosen<br />

spezifi sche Pfl egekonzepte<br />

Im dritten Praktikum stehen die<br />

Themen Bezugspfl ege, Psycho-<br />

Edukation, Pfl egeplanung und<br />

psychische Krankheitsbilder im<br />

Zentrum. Im Weiteren üben die<br />

Studierenden das Leiten einer<br />

Fallbesprechung und die kollegiale<br />

Beratung ein.<br />

Die Studierenden arbeiten sehr<br />

engagiert und motiviert im TC<br />

mit. Bei der Evaluation des TC geben<br />

die Studierenden durchwegs<br />

positive Rückmeldungen über ihren<br />

Lernprozess. ■<br />

Fehlt Ihr Bezugsquellen-<br />

Eintrag auf dieser Seite?<br />

Frau Aldijana Selimovic und<br />

Herr Hans Balmer beraten Sie gerne.<br />

Telefon 062 212 25 55<br />

E-Mail: nova-inserate@<br />

balmerwerbung.com<br />

Ab Fr. 690.– pro Jahr sind<br />

Sie dabei!<br />

NOVAcura 10|09<br />

Bildung<br />

Im TC befassen sich die<br />

Studierenden mit der<br />

gezielten Umsetzung<br />

von bachelorspezifi -<br />

schen Inhalten des Studienganges<br />

Pfl ege, der<br />

Evidence based Practice<br />

in ihrem Berufsfeld.<br />

Foto: BFH<br />

49


Bildung Käse, Papageien<br />

und alte<br />

Hasen<br />

Jürgen Georg ist Pfl egefachmann,<br />

-lehrer, und<br />

-wissenschaftler<br />

(MScN). Sein «Käse»<br />

sind Pfl egediagnosen,<br />

seine «Papageien» heissen<br />

ChronoPfl ege und<br />

Pfl egebücher machen.<br />

juergen.georg@hanshuber.<br />

com<br />

Foto: Jürgen Georg<br />

Liebe Leserin, lieber Leser, Sie haben sich durch fast 50 Seiten NOVAcura hindurchgeschafft,<br />

Respekt! Sie haben über 20 Bilder betrachtet, möglicherweise etwa<br />

187 000 Zeichen gelesen und vermutlich die Hälfte davon wieder vergessen … Macht<br />

nichts, geht mir auch so. – Kommt Ihnen bei all der Lektüre zwischendurch nicht auch<br />

die ketzerische «Onkel-Wayne-Frage»? – «Wayn interessierts, was hat all das Gewachse<br />

und Gewerde mit mir zu tun?» – Recht haben Sie! Jürgen Georg<br />

Nähkästchen Eine Antwort auf<br />

Ihre berechtigte Frage kann in Ihrem<br />

Nähkästchen liegen. Holen<br />

Sie sich das bitte mal – ich erzähle<br />

derweil etwas aus meinem Nähkästchen<br />

und Kleintierzoo. – Haben<br />

Sie in Ihrem Nähkästchen ein<br />

Metermassband? Wunderbar, legen<br />

Sie den linken Daumen auf<br />

die Zahl, die Ihrem jetzigen Lebensalter<br />

entspricht. Vergleichen<br />

Sie diese Zahl mit der durchschnittlichen<br />

Lebenserwartung<br />

von Frauen (82,6 J.) und Männern<br />

(76,9 J.) in der Schweiz. Wie viel<br />

Zeit bleibt ihnen noch? – Schauen<br />

Sie auf Ihren linken Daumen, er<br />

liegt am ersten Lebensjahr und<br />

-tag Ihres restlichen Lebens. Nun<br />

gut, «der Rest Ihres Lebens» ist<br />

vielleicht etwas viel für einen<br />

zweiseitigen Artikel. Aber schauen<br />

Sie einmal genau hin, wo Ihr Daumen<br />

liegt. – Was haben Sie in den<br />

Jahren zuvor berufl ich gemacht?<br />

Welche Höhen und Tiefen gab es?<br />

Was haben Sie alles erfahren, gelernt<br />

und in Ihren «berufl ichen<br />

Proviantrucksack» gepackt, den<br />

Sie jetzt auf dem Rücken tragen?<br />

– Sicher eine ganze Menge, gut so!<br />

– Wagen Sie jetzt auf dem Metermassband<br />

einen Blick nach rechts,<br />

50 NOVAcura 10|09<br />

sagen wir fünf Ziffern weiter, das<br />

ist ein kleines Stück auf dem Massband,<br />

aber es können auch fünf<br />

Lebensjahre sein. Wie alt werden<br />

Sie dann sein, und wo sehen Sie<br />

sich dann berufl ich? Oh, Sie sehen<br />

noch gar nichts. Kein Problem,<br />

fünf Jahre ist ja auch kein<br />

Pappenstil. Aber schauen Sie noch<br />

einmal genauer hin. Was werden<br />

Sie tun? Welche berufl ichen Rollen<br />

werden Sie ausfüllen? Was<br />

werden Sie können? Für welche<br />

Ihrer Qualitäten wird man Sie<br />

schätzen?<br />

Käse Über Ihre berufl iche Zukunft<br />

nachzudenken ist anstrengend,<br />

nicht wahr? Machen Sie<br />

mal eine Pause. Schauen Sie mal,<br />

ob in Ihrem professionellen Proviantrucksack<br />

ein Stück Käse ist. –<br />

So ein Käse, werden Sie denken …<br />

genau! Sie haben es erkannt. Sie<br />

haben bisher einen guten Job gemacht,<br />

weil Sie immer geschaut<br />

haben, wo der «Käse» ist. Die alte<br />

Mäusestrategie geht immer, wie<br />

schon Spencer Johnson wusste.<br />

Wo immer Sie sich berufl ich positioniert<br />

haben, Sie haben sich immer<br />

gefragt, wo hier der «Käse»<br />

ist. Welche Probleme und Res-<br />

sourcen haben meine Bewohner<br />

und Bewohnerinnen häufi g, welches<br />

Handeln befriedigt am wirksamsten<br />

ihre Bedürfnisse, was<br />

muss ich wissen, um an diesem<br />

Ort für «meine» Bewohner oder<br />

Klienten hilfreich zu sein? Sicher<br />

haben Sie auf der Suche nach dem<br />

«Käse» zahlreiche Erfahrungen gemacht,<br />

viel gelernt, Fertigkeiten<br />

erworben und ihre Qualitäten verbessert.<br />

Gut so! Sie sind routiniert<br />

geworden, Sie wissen, wie es läuft.<br />

Papageien Aber den «Käse» suchen<br />

und fi nden letztlich alle. –<br />

Haben Sie in Ihrem Rucksack<br />

auch einen «Papagei»? So ein<br />

Blödsinn, werden Sie denken, natürlich<br />

nicht. Dieser Autor mag einen<br />

Vogel haben, aber ich keinen<br />

Papagei! – Schade, schauen Sie<br />

doch noch einmal genauer hin.<br />

«Papageien» sind in hiesigen Gefi<br />

lden relativ seltene Vögel. Haben<br />

Sie im Laufe Ihres Berufslebens<br />

nicht auch ein paar exotische Erfahrungen<br />

gemacht und Ungewöhnliches<br />

gelernt? Haben Sie<br />

sich Wissen erworben, über das<br />

viele ihrer Kolleg/innen nicht verfügen?<br />

Können Sie Dinge, zu denen<br />

keine/r Ihrer Kolleg/innen fä-


hig ist? Wenn ja, meinen Glückwunsch!<br />

Pfl egen Sie ihren «Papagei»<br />

gut, er unterscheidet Sie von<br />

allen anderen. Seien Sie selbstbewusst,<br />

manchmal kann es auch<br />

von Vorteil sein, einen Vogel zu<br />

haben. Vor allem, wenn es ein<br />

sehr schöner Vogel ist, den alle<br />

anderen auch gerne hätten. Ein<br />

solcher Papagei kann Ihnen in<br />

den nächsten fünf Jahren beruflich<br />

sehr weiterhelfen, insbesondere<br />

wenn Sie andere davon überzeugen<br />

können, dass es toll wäre,<br />

diesen Vogel zu besitzen. Ein<br />

Meister dieser Strategie war Tom<br />

Sawyer. Der hatte zwar keinen Vogel,<br />

aber einen tollen Gartenzaun,<br />

den nur er allein ganz toll streichen<br />

konnte. Aber er war so<br />

schlau, die anderen davon zu<br />

überzeugen, dass es etwas ganz<br />

Einzigartiges und Besonderes<br />

wäre, auf Tom Sawyers Gartenzaun<br />

herumzupinseln.<br />

Alte Hasen Neben dem «Käse»<br />

und Ihrem «Papagei» brauchen<br />

Sie noch ein paar «alte Hasen».<br />

«Alte Hasen» wissen, wo welcher<br />

«Käse» ist und haben mitunter<br />

mehrere «Papageien», und sie<br />

sind bereit, an andere weiterzugeben,<br />

wie der Hase läuft. «Alte Hasen»<br />

werden auf Neudeutsch auch<br />

gerne Mentoren genannt. Sie sind<br />

Menschen, die anderen gerne<br />

beim Wachsen zuschauen und ihnen<br />

dabei helfen. Pfl egen Sie den<br />

Kontakt zu «alten Hasen» gut, lernen<br />

Sie von ihnen, aber vergessen<br />

Sie dabei nicht das alte Spiel vom<br />

«Geben und Nehmen». Bringen<br />

sie ab und zu den alten Hasen<br />

Fragen zur Karriereentwicklung<br />

Wo komme ich her?<br />

– Wie ist mein Leben bisher verlaufen?<br />

– Was waren Höhe- und Tiefpunkte?<br />

– Wie lauten die Titel meiner Lebenskapitel?<br />

– Was ist mein Hintergrund, was sind<br />

meine Vorerfahrungen und was habe<br />

ich gelernt?<br />

Wo stehe ich jetzt?<br />

– Welche Erfolge konnte ich in meinem<br />

Beruf verbuchen?<br />

– Über welche Fähigkeiten und Qualitäten<br />

verfüge ich?<br />

Wohin möchte ich gelangen?<br />

– Was für ein Mensch möchte ich werden?<br />

– Was ist meine Vision, mein Traum für<br />

eine «Mohrrübe» mit. Selbst wenn<br />

es «nur» Ihre Begeisterung ist oder<br />

wenn Sie den alten Hasen das Gefühl<br />

vermitteln, dass das, was Ihnen<br />

weitergegeben wird, hilfreich<br />

und sinnvoll ist. Diese «generativen<br />

Mohrrüben» sind bei alten<br />

Hasen sehr beliebt.<br />

Wenn Sie nun meinen, ich<br />

hätte Ihnen mit den Papageien<br />

und alten Hasen nur Käse erzählt,<br />

dann stelle ich Ihnen ganz nüchtern<br />

die Fragen in einem Kasten<br />

zusammen, die Sie sich zur Entwicklung<br />

Ihrer Karriere stellen<br />

können. Damit können Sie für<br />

sich bestimmen, wo berufl ich Ihre<br />

Wurzeln sind, wo Sie berufl ich<br />

stehen, wohin Sie sich entwickeln<br />

möchten, wie Sie dorthin gelangen<br />

und wie Sie merken, dass Sie<br />

angekommen sind und ihre beruflichen<br />

Ziele erreicht haben.<br />

Käse, Papageien und Hummeln<br />

Möglicherweise sind Sie<br />

am Ende dieses seltsamen Beitrages<br />

noch unschlüssig, woraus genau<br />

Ihr «professioneller Käse» besteht,<br />

und auch Ihr «Papagei» hat<br />

noch nicht so recht Formen und<br />

Federn angenommen. Völlig offen<br />

ist noch, wie Sie andere dazu<br />

bringen, unbedingt Ihren Gartenzaun<br />

streichen zu wollen. Einige<br />

der Antworten halten Sie schon<br />

direkt in Ihren Händen. Die Zeitschrift<br />

NOVAcura ist ein hervorragendes<br />

Medium, um sich über<br />

den «Käse» klar zu werden, um<br />

den es in der Alten- und Langzeitpfl<br />

ege geht. Mitunter stellt auch<br />

einer der Autoren seinen «Papagei»<br />

vor. Sie können die NOVA-<br />

die Zukunft, wo sehe ich mich zukünftig?<br />

– persönlich?<br />

– familiär?<br />

– bezüglich meiner Mitmenschen (Gemeinde).<br />

– arbeitsbezogen?<br />

– Was möchte ich tun?<br />

– Welche Rolle(n) möchte ich einmal ausfüllen?<br />

– Welche Fähigkeiten, Fertigkeiten und<br />

Qualitäten muss ich erwerben?<br />

Wie gelange ich an mein Ziel?<br />

– Welche Erfahrungen muss ich machen,<br />

um das zu lernen, was ich lernen muss?<br />

– Welche Aus-, Fort-, Weiterbildungs- und<br />

Studienprogramme muss ich absolvieren?<br />

cura nutzen, um sich berufl ich<br />

weiterzuentwickeln und sich einen<br />

Namen als «Käse- oder Papageien-Experte»<br />

zu machen. Sie<br />

können hier Ihren «Käse» erzählen<br />

und von Ihren «Papageien»<br />

berichten. – Sie sind überzeugt,<br />

dass Sie einen guten Job machen?<br />

Dann tun Sie weiterhin Gutes, geben<br />

Sie es an ihre Kolleg/innen<br />

weiter, bilden Sie sich weiterhin<br />

fort, leiten Sie Bewohner dazu an<br />

und schreiben Sie darüber. Eine<br />

Doppelseite in einem NOVAcura-<br />

Heft kann im neuen Jahr Ihnen<br />

und Ihrem Papagei gehören.<br />

Schreiben Sie jetzt Ihre Ideen auf<br />

ein Blatt, kontaktieren Sie die Redaktion<br />

(siehe Impressum!), sammeln<br />

Sie danach weiter Informationen<br />

zu Ihrem Thema in der<br />

Praxis, machen Sie sich schlau in<br />

Fachbüchern und -zeitschriften<br />

und fangen Sie an. In sechs Monaten<br />

Ihren «Käse» oder «Papagei»<br />

mit beispielsweise 7900 Zeichen<br />

zu skizzieren und zu beschreiben<br />

… das schaffen Sie locker!<br />

– Oh, Sie packt angesichts<br />

dieser Vorstellung das Ängstchen,<br />

nicht genügend «Käse» und «Papageien»<br />

auf der Pfanne zu haben.<br />

Macht nichts, dagegen gibt es<br />

noch ein letztes hilfreiches Tierchen<br />

– «die Hummel». Schauen<br />

Sie ihr beim Arbeiten zu. Die<br />

Hummel hat 0,7 cm 2 Flügelfl äche<br />

bei 1,2 g Gewicht, nach bekannten<br />

Gesetzen der Aerodynamik ist<br />

es unmöglich, bei diesem Gewicht<br />

zu fl iegen und Papageien hinterherzujagen.<br />

Die Hummel weiss<br />

das aber nicht und fl iegt einfach!<br />

– Guten Flug! ■<br />

– Welche Experimente, Wagnisse und<br />

Unternehmungen muss ich wagen?<br />

– Welche Hilfen benötige ich und von<br />

wem?<br />

Wie erkenne ich, dass ich an meinem/n<br />

Ziel/en angekommen bin?<br />

– Wie werde ich meine Lernerfahrungen<br />

bewerten und evaluieren?<br />

– Mit welchen Mitteln und Instrumenten<br />

kann ich mich selbst einschätzen?<br />

– Welche Rückmeldungen und Feedbacks<br />

benötige ich und von wem?<br />

Quelle: Hennessey, D.; Gilligan, J. H.: Identifying<br />

and Developing Tomorrow’s Nursing<br />

Trust Directors. Journal of Nursing Management.<br />

2, Nr. 1 (1994): 37–45.<br />

NOVAcura 10|09<br />

Bildung<br />

Literatur<br />

Albom, M. (2002):<br />

Dienstags bei Morrie –<br />

Die Lehre eines Lebens.<br />

München: Goldmann.<br />

Covey, S. R. (1997):<br />

Der Weg zum Wesentlichen.<br />

Frankfurt:<br />

Campus.<br />

Johnson, S. (2000):<br />

Die Mäusestrategie für<br />

Manager. München:<br />

Hugendubel.<br />

Knoblauch, J. & Hüger,<br />

J., Mockler, M. (2003):<br />

Dem Leben Richtung<br />

geben. Frankfurt:<br />

Campus.<br />

Weitere Literatur beim<br />

Autor<br />

51


Palliative<br />

Care<br />

Im Mittelpunkt steht die<br />

Frage nach dem Wie.<br />

Foto:<br />

Cécile Wittensöldner ©<br />

Die Salutogenese geht von der Annahme aus, dass der<br />

Mensch sich stets auf einem Gesundheits-Krankheits-<br />

Kontinuum befi ndet. Welche Bedeutung hat die salutogenetische<br />

Orientierung für die palliative Behandlung,<br />

Pfl ege und Begleitung? Cornelia Knipping<br />

Die Salutogenese will darauf verweisen,<br />

dass der Mensch sich immer<br />

in einem Sowohl-als-auch befi<br />

ndet. Im Kontext der Palliative<br />

Care drängt sich unweigerlich<br />

eine Frage auf: Wie kann ein<br />

Mensch im Erleben einer schweren<br />

und fortschreitenden Erkrankung,<br />

in der Aus einandersetzung<br />

mit einer chronischen gesundheitlichen<br />

Störung oder mit einem<br />

mühsamen Alterungsprozess<br />

dennoch auf Fähigkeiten, Ressourcen<br />

und Bedingungen zurückg<strong>reifen</strong><br />

oder diese im verstehenden<br />

und sinnerschliessenden<br />

Umgang mit Krankheit, Alterung,<br />

Fragilität, Sterben und Tod entwickeln?<br />

Das Salutogenesekonzept<br />

wurde in den Siebzigerjahren vom<br />

jüdischen Medizinsoziologen Aaron<br />

Antonovsky entwickelt. Ausgangspunkt<br />

des Salutogenesekonzeptes<br />

war für ihn eine Erfahrung,<br />

die er sein Leben lang nicht mehr<br />

vergass! Es geschah 1970 im Rahmen<br />

seiner Forschungsarbeiten in<br />

Israel. Antonovsky war mitten in<br />

der Datenanalyse einer Untersuchung<br />

über die Adaptation von<br />

Frauen verschiedener ethnischer<br />

Gruppen in Israel an das Klimakterium.<br />

Dabei stiess er auf Frauen<br />

von Überlebenden des Konzentra-<br />

52 NOVAcura 10|09<br />

Krankengeschichte oder<br />

Geschichte des Menschen<br />

Von der Bedeutung der Salutogenese in der Palliative Care<br />

tionslagers mit einer sehr ausgeprägten,<br />

guten physischen und<br />

psychischen Gesundheit. Beschreibungen<br />

dazu lauteten: […]<br />

«Den absolut unvorstellbaren<br />

Horror des Lagers durchgestanden<br />

zu haben, anschliessend jahrelang<br />

eine deplatzierte Person gewesen<br />

zu sein und sich dann ein neues<br />

Leben in einem Land neu aufgebaut<br />

zu haben, das drei Kriege erlebte,<br />

und dennoch in einem angemessenen<br />

Gesundheitszustand<br />

zu sein» […]. Das war für Antonovsky<br />

damals eine derart dramatische<br />

Erfahrung, die ihn bewusst<br />

auf den Weg brachte, das zu formulieren,<br />

was er später als «Salutogenetisches<br />

Modell» bezeichnete<br />

(Antonovsky, 1997: 15). Antonovsky<br />

beschäftigte einerseits<br />

die Frage, welche Faktoren eine<br />

Rolle spielen können, dass ein<br />

Mensch mit schwierigen Herausforderungen,<br />

ja mit regelrechten<br />

Widerwärtigkeiten in seinem Leben<br />

gesundheitserhaltend resp.<br />

gesundheitsförderlich umzugehen<br />

vermag. Andererseits bewegte<br />

ihn stark, wie mit Menschen, welche<br />

bereits eine gesundheitliche<br />

Störung aufweisen, ein salutogenetischer<br />

Umgang gepfl egt werden<br />

kann, um die gesunden Anteile<br />

im Menschen und die Bedin-<br />

gungen um ihn herum zu fördern<br />

und zu stärken. Der salutogenetische<br />

Umgang beabsichtigt, den<br />

Menschen als ganzen Menschen<br />

wahrzunehmen, ihn im Gesundsein<br />

zu stärken, damit der Umgang<br />

mit dem Kranksein von der<br />

erkrankten Person überhaupt<br />

(mit-)gestaltet werden kann. Antonovsky<br />

überträgt dieses Gesundheits-Krankheits-Kontinuum<br />

sogar auf die Sterbesituation: «Wir<br />

alle sind sterblich. Ebenso sind<br />

wir alle, solange noch ein Hauch<br />

von Leben in uns ist, in einem gewissen<br />

Ausmass gesund» (Antonovsky,<br />

1997: 22–23). Dies im Unterschied<br />

zur traditionellen Schulmedizin,<br />

der Pathogenese, welche<br />

auf der Annahme einer fundamentalen<br />

Trennung zwischen<br />

dem entweder gesunden oder<br />

kranken Menschen begründet ist.<br />

Eine Dichotomie (Trennung) zwischen<br />

gesunden und kranken<br />

Menschen wird vorgenommen.<br />

Der salutogenetische Ansatz fragt<br />

weniger nach Ursachen oder Risikofaktoren<br />

einer Krankheit als<br />

vielmehr nach äusseren und inneren<br />

«Bedingungen» von Gesundheit.<br />

Er fragt nach den Ursprüngen<br />

und Voraussetzungen, welche<br />

Gesundheit und Gesundsein ermöglichen.<br />

Gesundheit wird hier<br />

nicht verstanden als Abwesenheit<br />

von Krankheit, sondern vielmehr<br />

als Fähigkeit, mit physischen, psychosozialen,<br />

geistigen, kulturellen<br />

und spirituellen Herausforderungen,<br />

Krisen und Stressoren des Lebens<br />

gesundheitsförderlich und<br />

sinnerschliessend umzugehen.


Gesundheit – Zustand oder Gabe<br />

und Aufgabe Die Weltgesundheitsorganisation<br />

defi niert Gesundheit<br />

als einen […] «Zustand<br />

vollkommenen körperlichen, geistigen<br />

und sozialen Wohlbefi ndens<br />

und nicht allein das Fehlen von<br />

Krankheit und Gebrechen» (WHO,<br />

1946). Es ist der Frage wert, ob ein<br />

Mensch je diesen Zustand des<br />

«vollkommenen» körperlichen,<br />

geistigen und sozialen Wohlbefi ndens<br />

zu erreichen vermag. Kann<br />

Gesundheit statisch als «Zustand»<br />

bezeichnet werden, den man hat<br />

oder eben nicht hat? Oder ist<br />

Gesundheit nicht vielmehr ein<br />

prozesshaftes Ereignis menschlicher<br />

Existenz, in welcher der<br />

Mensch immer wieder neu angefragt<br />

und eingeladen ist, sich mit<br />

seinen physischen, psychosozialen,<br />

geistigen, kulturellen und spirituellen<br />

Herausforderungen auseinanderzusetzen,<br />

sich ihnen<br />

nach seinen je eigenen Möglichkeiten<br />

zu stellen, um für sich ganz<br />

persönlich einen einvernehmlichen<br />

und authentischen Umgang<br />

damit zu erschliessen und zu gestalten?<br />

Pathogenetische Orientierung<br />

Das Kreisen um den Gesundheitsbegriff<br />

im traditionell schulmedizinischen<br />

System manifestiert<br />

sich u.a. auf der Annahme einer<br />

fundamentalen Dichotomie: hier<br />

die Gesunden – da die Kranken.<br />

Die pathogenetische Orientierung<br />

beinhaltet die Vorstellung, dass<br />

Krankheiten durch bestimmte Ursachen<br />

ausgelöst werden. Es wird<br />

von ursächlichen Faktoren, von<br />

schädlichen Einfl üssen, von Risiken,<br />

von Dispositionen etc. gesprochen.<br />

Es geht um die Frage<br />

der Kausalität. Davon wird abgeleitet,<br />

dass pathogene Faktoren<br />

möglichst vermieden, rechtzeitig<br />

erkannt, kontrolliert und eliminiert<br />

werden müssen. Daten, Befunde<br />

und Diagnosen, kausale<br />

Zusammenhänge, Analysen und<br />

Hypothesen zur Krankheitsentstehung<br />

und Prognosen der Krankheitsentwicklung<br />

stehen im Fokus<br />

der Aufmerksamkeit. Um wieder<br />

gesund zu werden, hat sich der<br />

Mensch im Falle pathologischer<br />

Befunde spezifi schen Behandlungsmethoden<br />

zu unterwerfen,<br />

damit diese bestmöglich eliminiert,<br />

kontrolliert, supprimiert<br />

oder wenigstens stagniert werden<br />

können. Es scheint, als käme der<br />

Mensch als Subjekt hier gar nicht<br />

vor. Er wird statisch und statistisch<br />

geeicht auf Klassifi kationssysteme,<br />

Referenzbereiche, Normwerte<br />

und Hypothesen, die ihm<br />

attestieren und voraussagen, entweder<br />

gesund oder krank zu sein<br />

resp. zu werden. Die pathogene<br />

Orientierung impliziert, dass die<br />

«Kranken- oder Organgeschichte»<br />

mehr zählt als die Geschichte des<br />

ganzen Menschen. Die Aufmerksamkeit<br />

wird auf die Pathologie<br />

gerichtet und nicht auf den Menschen<br />

selbst mit einem medizinischen<br />

Problem. Es geht vielmehr<br />

um die Krankheit und weniger<br />

um den erkrankten Menschen,<br />

das Kranksein der ganzen Person.<br />

Die pathogenetische Orientierung<br />

fragt nach den Ursachen einer Erkrankung,<br />

anstatt zu fragen, warum<br />

jemand Einbussen seiner Gesundheit<br />

erfahren hat (Antonovsky,<br />

1997: 15–24).<br />

Salutogenetische Orientierung<br />

Die salutogenetische Orientierung<br />

geht davon aus, dass der<br />

Mensch sich stets in einer mehr<br />

oder weniger stark ausgeprägten<br />

Auseinandersetzung mit körperlichen,<br />

psychosozialen, geistigen,<br />

kulturellen und spirituellen Herausforderungen,<br />

Krisen oder Stressoren<br />

befi ndet. Es geht weniger<br />

um Fragen, wie sich eine Krankheit<br />

entwickelt, als vielmehr darum,<br />

wie sich die Gesundheit von<br />

Menschen – auch und gerade unter<br />

höchsten Belastungen – entwickelt<br />

und konsolidiert. Das ist das<br />

Geheimnis, das die salutogenetische<br />

Orientierung zu beschreiben<br />

versucht (Antonovsky, a.a.O: 16).<br />

Krisen und existenzielle Herausforderungen<br />

sind omnipräsent im<br />

Leben eines Menschen. Sie entsprechen<br />

seiner Lebensrealität,<br />

und die salutogenetische Frage<br />

lautet hier nicht, wie die Herausforderungen<br />

und Krisen, die<br />

scheinbar schädigenden Noxen<br />

um alles in der Welt vermieden<br />

resp. eliminiert werden können,<br />

sondern vielmehr, wie der Mensch<br />

sich zu diesen Ereignissen und<br />

Gefahren stellt und verhält, was<br />

seine Sicht der Dinge dazu ist und<br />

wie er für sich damit einen gesundheitsförderlichen<br />

Umgang<br />

gestalten kann. Der Mensch wird<br />

zum aktiven Mitgestalter seiner<br />

Gesundheit. Aber nicht nur der<br />

Mensch selbst, sondern auch<br />

seine Bedingungsfelder, zum Beispiel<br />

sozialer, familialer, schulischer,<br />

berufl icher, politischer,<br />

ökonomischer oder ökologischer<br />

Natur, stehen in direkter Beziehung<br />

zu seiner Genese von Gesundheit<br />

oder Krankheit. Gesundheit<br />

geht somit alle etwas an. Gesundheit<br />

in diesem Sinne ist nicht<br />

ein statischer Organbefund, ein<br />

Zustand, ein Resultat. Gesundheit<br />

ist nicht ein Kapital, das jemand<br />

besitzt oder eben nicht (mehr) besitzt.<br />

Gesundheit gründet und<br />

entwickelt sich auf Erfahrungen<br />

von Vertrauen und Zuversicht,<br />

von Verstehen und Erkennen sowie<br />

der Möglichkeit, dem persönlichen<br />

Erleben eine je eigene Bedeutung<br />

zuzumessen. Antonovsky<br />

machte im Verlaufe seiner<br />

Studien diese für ihn einzigartige<br />

Entdeckung, dass er selbst bei<br />

Menschen mit schweren traumatischen<br />

Erfahrungen drei immer<br />

wiederkehrende, stark ausgeprägte<br />

Merkmale fand, die dazu<br />

beigetragen haben, dass diese<br />

Menschen an ihrem Schicksal<br />

nicht zerbrochen sind, oder anders<br />

ausgedrückt, die körperlich<br />

wie seelisch in einem relativ guten<br />

Gesundheitserleben standen.<br />

Diese drei Merkmale, waren in<br />

sich stimmig, schlüssig, also «kohärent»,<br />

und deshalb defi nierte<br />

Antonovsky sie als sogenanntes<br />

Kohärenzkonzept. Es waren die<br />

Merkmale der Verstehbarkeit,<br />

Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit,<br />

welche den Menschen geholfen<br />

haben, mit schwierigen Lebensumständengesundheitserhaltend<br />

umzugehen. Es zeigt sich,<br />

Gesundheit ist etwas tief Existenzielles,<br />

Spirituelles und Ursprüngliches.<br />

Sie ist Gabe und Aufgabe<br />

von ständiger Reifung, Auseinandersetzung<br />

und Entwicklung eines<br />

Menschen, unabhängig davon,<br />

wie krank, fragil, alt oder<br />

sterbend er ist. Gesundheit in diesem<br />

Sinne entwickelt sich stets<br />

neu. Der salutogenetische Ansatz<br />

fragt nach der ganzen Geschichte<br />

des Menschen, nach seinen Ressourcen<br />

und Möglichkeiten, spezifi<br />

sche Ereignisse im Leben zu<br />

verstehen, sie zu handhaben und<br />

ihnen eine je eigene Bedeutung zu<br />

geben. Antonovsky schreibt dazu<br />

NOVAcura 10|09<br />

Palliative<br />

Care<br />

Cornelia Knipping ist<br />

seit Juli 2009 freiberuflich<br />

im eigenen Pallium-<br />

Atelier tätig. Sie ist<br />

Konsulentin an der Alpen-Adria-Universität<br />

Klagenfurt, Fakultät für<br />

Interdisziplinäre Forschung<br />

und Fortbildung<br />

(IFF), Abteilung Palliative<br />

Care und Organisationsethik<br />

in Wien, und<br />

Co-Seminar-Leiterin des<br />

MAS Palliative Care sowie<br />

Herausgeberin des<br />

Lehrbuchs Palliative<br />

Care, das im Huber-<br />

Verlag erschienen ist.<br />

c.knipping@bluewin.ch<br />

www.pallium-atelier.com<br />

53


Palliative<br />

Care<br />

Literatur<br />

Antonovsky, A. (1997).<br />

Salutogenese. Zur Entmystifi<br />

zierung der Gesundheit.<br />

Tübingen:<br />

dgvt<br />

Kruse, A. (2007). Das<br />

letzte Lebensjahr. Zur<br />

körperlichen, psychischen<br />

und sozialen<br />

Situation des alten<br />

Menschen am Ende seines<br />

Lebens. Stuttgart:<br />

Kohlhammer.<br />

Lorenz, R. (2005). Salutogenese.<br />

Grundwissen<br />

für Psychologen, Mediziner,<br />

Gesundheits- und<br />

Pfl egewissenschaftler.<br />

München: Reinhardt.<br />

Schiffer, E. (2001). Wie<br />

Gesundheit entsteht.<br />

Salutogenese: Schatzsuche<br />

statt Fehlerfahndung.<br />

Weinheim/Basel:<br />

Beltz.<br />

eine kleine, aber tiefgründige Geschichte:<br />

«Das Konzept der Geschichte entstammt<br />

von Cassells profunder Analyse<br />

(1979) des medizinischen Begriffs<br />

der Kausalität. In dieser berichtet<br />

er von einem älteren Patienten,<br />

der wegen eines ernstzunehmenden<br />

fortgeschrittenen Knieleidens stationär<br />

behandelt wurde. Identifi kation<br />

der Symptome, diagnostische Hypothesen,<br />

deren Bestätigung und Einleitung<br />

angemessener Therapieverfahren<br />

erfolgten kurz hintereinander,<br />

was zur Entlassung führte – und<br />

kurz darauf zur Wiedereinweisung.<br />

Denn was nur zufällig durch einen<br />

Medizinstudenten in Erfahrung gebracht<br />

wurde, war, dass dieser ältere<br />

Herr ein Jahr zuvor Witwer geworden<br />

und in diese fremde Stadt gezogen<br />

war, in der er weder Freunde noch<br />

Verwandte hatte, nur über ein geringes<br />

Einkommen verfügte und im vierten<br />

Stock eines Hause ohne Fahrstuhl<br />

wohnte. Das Knieproblem war sehr<br />

real und sehr ernst. Es war der derzeitige<br />

Anlass zur Einweisung gewesen;<br />

das nächste Mal hätten es<br />

Unterernährung, Lungenentzündung<br />

oder Depression und Suizidversuch<br />

sein können. Der salutogenetische<br />

Ansatz gibt keine Gewähr für die<br />

Problemlösung der komplexen Kreisläufe<br />

im menschlichen Leben, aber<br />

selbst im schlechtesten Fall führt er<br />

zu einem tiefergehenden Verständnis<br />

und Wissen und damit zu einer Voraussetzung,<br />

sich dem gesunden Pol<br />

des Kontinuums nähern zu können“<br />

(Antonovsky, 1997: 24).<br />

Was Antonovsky damit sagen will,<br />

ist, dass es um das tiefere<br />

Verständnis und Wissen vom<br />

Menschsein, seine innersten Quellen<br />

und Reichtümer, um seine unmittelbaren<br />

Lebensbezüge geht.<br />

Im Zuge der radikal zunehmenden<br />

Spezialisierung und Ökonomisierung<br />

im Gesundheitswesen<br />

laufen wir Gefahr, nur noch organ-,<br />

befund-, symptom- oder<br />

problemspezifi sch resp. kommerziell<br />

den Menschen wahrzunehmen,<br />

zu skalieren, zu kontrollieren<br />

und nicht zuletzt zu<br />

managen. Das aktuelle Vokabular<br />

bestätigt es: Es werden Konzepte<br />

für das Schmerz- und Symptommanagement,<br />

Delir- und Demenzmanagement<br />

entwickelt. Pathways<br />

und Guidelines halten Ein-<br />

54 NOVAcura 10|09<br />

zug. Schlagwörter wie «Prozessoptimierung»<br />

beschäftigen inzwischen<br />

ganze Spitäler. Im letzten<br />

Beispiel der Prozessoptimierung<br />

geht es im Grunde genommen um<br />

monetär fokussierte Ablaufprozesse,<br />

und nicht mehr um den<br />

Menschen selbst, das heisst um<br />

ihn als Person. Es geht vielmehr<br />

nur noch um sein Knie, welches<br />

eintritt und unverzüglich wieder<br />

austritt, damit das nächste Knie<br />

kommen kann ...<br />

Die salutogenetische Orientierung<br />

in der Palliative Care Antonovsky<br />

vertritt die Einsicht, dass<br />

es nicht darum geht, Leid, Krankheit<br />

und Krisen «um alles in der<br />

Welt» zu bekämpfen und zu beseitigen.<br />

Vielmehr geht es darum,<br />

dem Menschen wieder menschenfreundliche<br />

Bedingungen und<br />

Unterstützung anzubieten, um<br />

Leid(en), Krankheit, Krisen, Abschied,<br />

Trauer, Sterben und Tod<br />

verstehend, umgänglich und<br />

sinn erschliessend gestalten zu<br />

können: «Ich gehe davon aus,<br />

dass Heterostase, Ungleichgewicht<br />

und Leid inhärente Bestandteile<br />

menschlicher Existenz<br />

sind, ebenso wie der Tod […] (Lorenz<br />

a.a.O., S. 23 in Antonovsky<br />

1993 S. 8 f). Dieses Zitat korrespondiert<br />

mit dem Konzeptelement<br />

der WHO-Defi nition zu Palliative<br />

Care (2002): «Palliative<br />

Care an erkennt das Leben, betrachtet<br />

Sterben und Tod als einen<br />

natürlichen Prozess.» Man könnte<br />

hineinlesen: Palliative Care anerkennt<br />

das Leben mit seinen Krisen<br />

und Krankheiten, Leiden und Abschieden.<br />

Die Herausforderung<br />

besteht wieder darin, anzuerkennen,<br />

dass es in unterschiedlicher<br />

Dichte und Intensität Herausforderungen<br />

und Krisen im Leben eines<br />

jeden Menschen gibt. Antonovsky<br />

möchte den Blick wieder<br />

weiten auf die Endlichkeit und<br />

Sterblichkeit menschlichen Lebens.<br />

Zugleich aber auch darauf,<br />

dass der Mensch als Träger des<br />

Lebens immer auch Träger von<br />

Gesundheit ist – auch und gerade,<br />

wenn er schwer erkrankt,<br />

schwach, alt oder sterbend ist. Die<br />

salutogenetische Orientierung in<br />

der Palliative Care eröffnet den<br />

Blick für den ganzen Menschen<br />

mit seinen physischen, psychosozialen,<br />

geistigen, kulturellen und<br />

spirituellen Möglichkeiten, Ressourcen<br />

und Leiden. Sie schaut<br />

nicht nur auf Symptome wie<br />

Schmerz, Übelkeit oder Atemnot,<br />

sondern nähert sich stets einem<br />

Menschen, welcher unter Schmerzen,<br />

Übelkeit oder Atemnot leidet.<br />

Sie salutogenetische Orientierung<br />

in der Palliative Care konzentriert<br />

sich nicht darauf, alle<br />

Probleme und Symptome zu<br />

«kontrollieren» resp. zu eliminieren,<br />

in der Annahme, damit Lebensqualität,<br />

Würde und ein Sterben<br />

in Frieden zu generieren. Es<br />

lohnt sich, der Bedeutung des Kohärenzkonzeptes<br />

in der Palliative<br />

Care weiter nachzugehen: Es eröffnet<br />

ungeahnte Möglichkeiten<br />

für die Pfl egenden und Betreuenden<br />

in der Pfl ege und Begleitung<br />

von schwer kranken, alten und<br />

sterbenden Menschen. Die salutogenetisch<br />

orientierte Pfl ege und<br />

Begleitung in der Palliative Care<br />

könnte zu einem Meilenstein werden,<br />

um dem Menschen und seinen<br />

Zu- und Angehörigen zu helfen,<br />

seine und ihre Situation ein<br />

wenig besser zu verstehen, sie hilfreicher<br />

zu handhaben und ihr<br />

eine einvernehmliche Bedeutung<br />

zuzusprechen. Dies erfordert, dass<br />

man sich den Menschen nochmals<br />

mit einer anderen Haltung<br />

und Kultur nähert. Die Begegnung,<br />

das Anamnese- oder Trauergespräch<br />

kann sich dann nicht<br />

mehr nur auf Probleme und belastende<br />

Symptome, auf Defi zite und<br />

die offensichtlichen Störungen<br />

konzentrieren. Das salutogenetisch<br />

orientierte Gespräch interessiert<br />

sich für die Geschichte des<br />

ganzen Menschen, um ihn physisch,<br />

psychosozial, geistig, kulturell<br />

und spirituell darin zu unterstützen,<br />

besser zu erkennen und<br />

zu verstehen, einen hilfreicheren<br />

Umgang zur Gestaltung des Ereignisses<br />

zu fi nden und für sich persönlich<br />

dem Erleben eine Bedeutung<br />

geben zu können. Die Salutogenese<br />

ist darum bemüht, den<br />

schwer kranken, alten und sterbenden<br />

Menschen darin zu unterstützen,<br />

aktiv und individuell mit<br />

zu gestalten und zu erschliessen,<br />

was für ihn wahrhaft am Ende seines<br />

Lebens zählt. Der Mensch<br />

wird wieder angesehen, und das<br />

schenkt ihm Ansehen und würdigt<br />

ihn im Menschsein bis zuletzt.<br />

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