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WILLIAM WAUER UND DER BERLINER KUBISMUS

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Plakat zur<br />

Ankündigung des<br />

Vortrags „Der Geist<br />

des Kubismus“<br />

von Rudolf Blümner<br />

in der Galerie Stenzel<br />

in Breslau, 1921<br />

<strong>WILLIAM</strong> <strong>WAUER</strong> <strong>UND</strong> <strong>DER</strong><br />

<strong>BERLINER</strong> <strong>KUBISMUS</strong><br />

DIE PLASTISCHEN<br />

KÜNSTE UM 1920<br />

Herausgegeben von Marc Wellmann<br />

im Auftrag des Georg-Kolbe-Museums<br />

Mit Beiträgen von<br />

Anita Beloubek-Hammer<br />

Ursel Berger<br />

Anna Lent<br />

Jan Maruhn<br />

Marc Wellmann<br />

Georg-Kolbe-Museum Berlin<br />

Edwin Scharff Museum Neu-Ulm<br />

W I E N A N D


Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung<br />

<strong>WILLIAM</strong> <strong>WAUER</strong> <strong>UND</strong> <strong>DER</strong> <strong>BERLINER</strong> <strong>KUBISMUS</strong><br />

DIE PLASTISCHEN KÜNSTE UM 1920<br />

Georg-Kolbe-Museum Berlin | 10. April 2011 – 19. Juni 2011<br />

Edwin Scharff Museum Neu-Ulm | 3. September 2011 – 15. Januar 2012<br />

LEIHGEBER<br />

Berlinische Galerie – Landesmuseum für moderne Kunst, Fotografie und Architektur<br />

Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie<br />

Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz<br />

Sammlung Karl H. Knauf, Berlin<br />

Galerie Poll, Berlin<br />

Kunsthandel Wolfgang Werner KG, Bremen/Berlin<br />

Wilhelm Lehmbruck Museum, Duisburg<br />

Museum Folkwang, Essen<br />

Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle<br />

Klassik Stiftung Weimar<br />

The George Economou Collection<br />

sowie Privatsammler, die nicht genannt werden wollen<br />

Mit freundlicher Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung<br />

IMPRESSUM<br />

Konzeption der Ausstellung und des Katalogs:<br />

Marc Wellmann und Ursel Berger<br />

Redaktion:<br />

Anna Lent unter Mitarbeit von Juliane Kobelius<br />

Autoren des Katalogteils:<br />

Ursel Berger (UB)<br />

Juliane Kobelius (JK)<br />

Anna Lent (AL)<br />

Thomas Pavel (TP)<br />

Marc Wellmann (MW)<br />

Kataloggestaltung und Satz:<br />

Christian Mathis, stickfish productions, Berlin<br />

Lektorat:<br />

Juliane Kobelius, Anna Lent und Thomas Pavel<br />

Druck:<br />

Druckerei Conrad GmbH<br />

Umschlagabbildung: William Wauer, Porträt<br />

Herwarth Walden, Bronze, 1917, Höhe: 52 cm,<br />

Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie<br />

ISBN 978-3-86832-056-5<br />

Wienand Verlag, Köln<br />

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany<br />

© Georg-Kolbe-Museum, Berlin,<br />

Wienand Verlag, Köln und Autoren<br />

INHALT<br />

Vorwort und Dank<br />

Ursel Berger, Helga Gutbrod .................................................................................................................. 6<br />

Einführung<br />

Marc Wellmann ............................................................................................................................................ 7<br />

„Es waren die Tage des revolutionären Aufstandes auf geistig kulturellem<br />

Gebiete“ – William Wauers „Erlebtes Leben“ von 1866 bis 1962<br />

Anna Lent ....................................................................................................................................................... 11<br />

Bildteil William Wauer ......................................................................................................................... 23<br />

Kubismus im Expressionismus<br />

Marc Wellmann ......................................................................................................................................... 49<br />

„Warum ich ‚viereckig‘ modelliere“ – William Wauer und die zeitgenössische<br />

Berliner Bildhauer-Avantgarde im Zeichen des Vitalismus<br />

Anita Beloubek-Hammer ....................................................................................................................... 71<br />

„Monumentale Bestimmung“<br />

Kubistische Denkmäler für den öffentlichen Raum<br />

Ursel Berger ................................................................................................................................................ 85<br />

Architektur und Kubismus<br />

Jan Maruhn ................................................................................................................................................. 97<br />

Berliner Kubismus ................................................................................................................................. 107<br />

Alexander Archipenko (108), Rudolf Belling (116), Otto Freundlich (122), Herbert<br />

Garbe (124), Walter Gropius (128), Katharina Heise (130), Oswald Herzog (132),<br />

Johannes Itten (138), Walter Kampmann (142), Georg Kolbe (144), Will Lammert<br />

(150), Georg Leschnitzer (152), Wassili Luckhardt (154), Marg Moll (156), Emy<br />

Roeder (160), Edwin Scharff (164), Richard Scheibe (172), Max Taut (174), Hans<br />

Uhlmann (176), Jenny Wiegmann-Mucchi (178), Karl Zalit (180)<br />

Liste der ausgestellten Werke ......................................................................................................... 184<br />

Literaturliste ............................................................................................................................................. 187<br />

Abbildungsnachweis ............................................................................................................................ 192


Fotoporträt<br />

William Wauer auf<br />

einer vom „Sturm“<br />

herausgegebenen<br />

Postkarte, um 1920<br />

„ES WAREN DIE TAGE DES<br />

REVOLUTIONÄREN AUFSTANDES AUF<br />

GEISTIG KULTURELLEM GEBIETE“<br />

William Wauers „Erlebtes Leben“ von 1866 bis 1962 1<br />

Anna Lent<br />

William Wauer war in seinem fast hundertjährigen Leben Zeuge nahezu aller<br />

Etappen der Klassischen Moderne. Bis ins hohe Alter versuchte er die<br />

seinem Empfinden nach avantgardistischen Kräfte voranzutreiben. Dabei<br />

beschränkte er sich keineswegs auf einen künstlerischen Bereich: Er arbeitete<br />

als Werbegrafiker, trat als revolutionärer Theaterregisseur und -theoretiker<br />

in Erscheinung und drehte in der Anfangszeit des deutschen Kinos<br />

zahlreiche Filme. Über Jahre gehörte er zu den tragenden Mitarbeitern der<br />

Kunstzeitschrift und Galerie „Der Sturm“ und schuf mit seinem plastischen<br />

Porträt von Herwarth Walden eines der bedeutendsten Bildnisse der Berliner<br />

Moderne (Abb. S. 23). Des Weiteren befasste er sich intensiv mit Religion<br />

und Mystizismus, widmete sich mit seiner dritten Frau Ursula Scherz<br />

der Kunstpädagogik, eröffnete nach dem Zweiten Weltkrieg eine Kunstschule<br />

und beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit der Malerei. William<br />

Wauer war ein „Tausendsassa“: Erstaunliche Flexibilität und Vielfältigkeit<br />

aber auch eine gewisse Unstetigkeit kennzeichnen sowohl sein Leben als<br />

auch sein künstlerisches Schaffen.<br />

Am 26. Oktober 1866 kommt Ernst Hermann William Wauer als erster<br />

Sohn von Johann Carl Ernst Wauer, Rektor und Hilfsprediger, und dessen<br />

Ehefrau Wilhelmine, geborene Knobloch, im sächsischen Ober wiesenthal<br />

zur Welt. 2 Nach dem Besuch des Gymnasiums studiert er Malerei an den<br />

Kunstakademien von Dresden, Berlin und später München. Im Jahr 1888<br />

verbringt er mehrere Monate in San Francisco als Gehilfe des Malers Kay. 3<br />

Zurückgekehrt nach Deutschland heiratet er, selbst erst Anfang Zwanzig,<br />

die um viele Jahre ältere Rittergutsbesitzerin Albine Moschner, die ihm<br />

seinen zweiten Aufenthalt in den Vereinigten Staaten finanziert. 4 Das Ziel<br />

ist diesmal New York. Da der ursprüngliche Plan einer Geschäftseröffnung<br />

platzt, sammelt Wauer notgedrungen erste, wenn auch finanziell wenig erfolgreiche<br />

Erfahrungen als Werbegrafiker. 5<br />

10 11


Herwarth Walden<br />

mit seiner<br />

Porträtbüste,<br />

Berlin, 1917<br />

So wird ‚Bewegung‘ durch die Linienführung zu einem inneren Bestandteil<br />

meiner Formung. Sie schafft rhythmisch gebändigte Dynamik.“ 20<br />

Im März 1918 stellt Wauer seine Plastiken erstmals in der „Sturm“-<br />

Galerie aus, zusammen mit den Malern Johannes Molzahn und Oskar<br />

Fischer. Eine weitere Ausstellung folgt noch im Sommer des gleichen Jahres<br />

zusammen mit Marc Chagall und Wassily Kandinsky. Im März 1919 widmet<br />

die Galerie Wauer eine Einzelschau, 1923 eine weitere. Bis 1925 beteiligt<br />

sich der Künstler regelmäßig an den zahlreichen Gesamtschauen des<br />

„Sturm“. Insgesamt ist er mit seinen Werken in mindestens 15 Ausstellungen<br />

der Galerie zu sehen. 21<br />

Wie in den frühen 1910er Jahren als Regisseur, so erarbeitet sich<br />

Wauer auch als Bildhauer recht schnell den Respekt von Herwarth Walden<br />

und seinen Mitarbeitern. Bald gehört er zum engsten Kreis des „Sturm“, zur<br />

sogenannten „Vierermannschaft“ bestehend aus Wauer, Walden, Rudolf<br />

Blümner und Lothar Schreyer. 22 In der 1918 herausgegebenen programmatischen<br />

Schrift „Expressionismus. Die Kunstwende“ schreibt der „Sturm“-<br />

Verleger euphorisch: „Die absolute Plastik schuf William Wauer. Durch<br />

seine Monumentalbüsten hat er außerdem das Problem gelöst, das Gegenständliche<br />

unmittelbar plastisch, also ohne Nachahmung der Natur zu<br />

gestalten.“ 23 Als Schöpfer der „absoluten Plastik“ liefert Wauer in der gleichen<br />

Publikation auch den Beitrag über Skulptur „Das Körperliche in der<br />

Plastik“. 24 In kurzer Zeit steigt William Wauer auf zu einem der wichtigsten<br />

Bildhauer des „Sturm“. Walden setzt ihn in eine Reihe mit den beiden anderen<br />

Plastikern seiner Galerie: dem seit 1913 auf zahlreichen Ausstellungen<br />

präsentierten, in Paris lebenden Alexander Archipenko und dem seit 1916<br />

zum „Sturm“-Kreis gehörenden Oswald Herzog. 25<br />

Porträt-Büsten von<br />

Herwarth und<br />

Nell Walden in der<br />

März-Ausstellung des<br />

„Sturm“, Berlin 1923<br />

Fotoporträt<br />

Rudolf Blümner auf<br />

einer vom „Sturm“<br />

herausgegebenen<br />

Postkarte, um 1920<br />

Ausdruck für die enge Beziehung zwischen Wauer und Walden ist die Porträt -<br />

büste, die 1917 entsteht. Das Bildnis des „Sturm“-Gründers ist das erste<br />

plastische Porträt des Bildhauers und stellt sein bekanntestes Werk dar. Es<br />

wird im September 1918 auf der 66. „Sturm“-Ausstellung präsentiert 26 und<br />

in der schon erwähnten Programmschrift „Expressionismus. Die Kunstwende“<br />

im gleichen Jahr abgebildet.<br />

In den folgenden Jahren porträtiert Wauer zudem die engsten Vertrauten<br />

Waldens. Von Nell Walden, der zweiten Frau Herwarth Waldens,<br />

entstehen zwei Büsten (Abb. S. 24 und S. 25) und auch der langjährige<br />

„Sturm“-Mitarbeiter und Schauspieler Rudolf Blümner (Abb. S. 26) wird<br />

in einem eindrucksvollen Bildnis verewigt. In den Porträtbüsten zeigt sich<br />

Wauers bildhauerische Begabung am stärksten. Auch wenn der strenge<br />

Aufbau aus zusammengesetzten konvexen und konkaven Flächen einer Abstraktion<br />

nahe kommt, weisen die Porträts eine unübersehbare Ähnlichkeit<br />

mit dem Modell auf. Das Typische des Dargestellten wird in den blockhaften<br />

Köpfen besonders hervorgehoben. Die energische Durchsetzungskraft<br />

von Waldens markantem Gesicht findet sich genauso wieder wie die etwas<br />

schläfrige Mädchenhaftigkeit Nell Waldens oder die intellektuelle Entrücktheit<br />

des Rudolf Blümner.<br />

14 15<br />

Fotoporträt<br />

Nell Walden auf<br />

einer vom „Sturm“<br />

herausgegebenen<br />

Postkarte, um 1920<br />

Porträt-Büsten von<br />

Rudolf Blümner (links)<br />

und Albert Bassermann<br />

(rechts), in der<br />

März-Ausstellung des<br />

„Sturm“, Berlin 1923


William Wauer,<br />

Steinstoßer, 1920,<br />

Bronze, Höhe: 35,5 cm<br />

(Exponat Nr. 47)<br />

38 39<br />

William Wauer,<br />

Läufer, 1920,<br />

Bronze, Höhe: 23 cm<br />

(Exponat Nr. 48)


Alexander<br />

Archipenko,<br />

Kopf, 1913,<br />

Bronze, Höhe: 38 cm<br />

Guillaume Apollinaire, der ebenfalls im „La Ruche“ ein Zimmer gemietet<br />

hatte. Von den deutschen Künstlern hat Otto Freundlich die Entstehung des<br />

Kubismus vielleicht am unmittelbarsten erfahren. Freundlich kam 1908<br />

nach Paris und wohnte im Montmartre im „Bateau Lavoir“ unter einem<br />

Dach mit Picasso und Braque. Ein unmittelbarer Reflex ist in einem verschollenen<br />

Werk von 1916 dokumentiert (Abb. S. 123). Auch Edwin Scharff<br />

hat seine wesentlichen künstlerischen Einflüsse in Paris erfahren, wo er<br />

sich zwischen 1912 und 1913 ein Jahr lang aufhielt und sich im Anschluss<br />

von einem kubistischen Maler zu einem kubistischen Bildhauer wandelte. 24<br />

Archipenkos nur aus miteinander verschränkten Flächen gebildeter<br />

„Kopf“ von 1913 nahm die Prinzipien konstruktivistischer Skulptur vorweg,<br />

wie sie sich bei den ab 1916 entstandenen Werken von Naum Gabo<br />

oder später auch von dem Berliner Bildhauer Hans Uhlmann (Abb. S. 177)<br />

als unmittelbare Folge des Kubismus darstellt. Naum Gabo und sein älterer<br />

Bruder Antoine Pevsner hielten sich zwischen 1910 und 1914 mehrmals in<br />

Paris auf, bevor sie sich ab 1917 in Moskau unter anderem mit Wladimir<br />

Tatlin den Konstruktivismus auf die Fahnen schrieben und 1920 im „Realistischen<br />

Manifest“ verkündeten: „Wir lehnen in der Skulptur die Masse als<br />

plastisches Element ab. […] So nehmen wir vier Flächen und bauen aus ihnen<br />

das gleiche Volumen wie aus vier Tonnen Masse.“ 25 1922 wurden diese<br />

Künstler auf der „Ersten Russischen Kunstausstellung“ in der Berliner Galerie<br />

van Diemen erstmals in Deutschland gezeigt (unter anderem zusammen<br />

mit Werken Alexander Archipenkos). Naum Gabo lebte in deren Folge für<br />

zwei Jahre in der deutschen Hauptstadt und hielt 1937 hinsichtlich der Entstehung<br />

des Konstruktivismus fest: „Die konstruktive Idee stammt unmittelbar<br />

vom Kubismus ab […]. Man mag den Wert der einzelnen kubistischen<br />

56 57<br />

Naum Gabo,<br />

Konstruktiver Kopf<br />

Nr. 3, 1917/20,<br />

Zelluloid, Metall und<br />

Holz, Höhe: 62 cm<br />

(verschollen)


in der Nachfolge von Cézannes Forderung, die Kunst sei eine „Harmonie<br />

parallel zur Natur“ und wie diese aufgebaut auf den Elementarformen von<br />

Kubus, Kegel und Zylinder, die Kubisten, Futuristen, Expressionisten und<br />

ihnen verwandte andere Moderne eine antimimetische Darstellungsweise<br />

an, die „vom Vorbildlichen zum Urbildlichen“ 3 gelangen und als formalen<br />

Maßstab die Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks anerkennen sollte. Der<br />

Grundsatz, dass „das Kunstwerk ein abgeschlossenes, für sich und in sich<br />

beruhendes Wirkungsganzes [sei und] dieses als eine für sich bestehende<br />

Realität der Natur gegenüber“ 4 stelle, war den deutschen Bildhauern zwar<br />

bereits durch Adolf Hildebrands reformerische Schrift „Das Problem der<br />

Form in der bildenden Kunst“ vertraut, doch ging dieser immer noch vom<br />

Festhalten an den Naturformen aus.<br />

„Kunst ist Schöpfung […] Schöpfung ist immer ein Neues schaffen“,<br />

war dagegen die rigorosere Auffassung William Wauers, als er Mitte der<br />

1920er Jahre in einer ganzen Artikelserie einem eher konservativen Kunstpublikum<br />

die Unterschiede zwischen „Naturalismus und Kunst“ 5 zu erläutern<br />

versuchte. „Neues schaffen kann man nur durch Erfindung,“ 6 war seine<br />

Schlussfolgerung. Diese Überzeugung hatte sich Wauer auf dem Podium des<br />

„Sturm“ zu eigen gemacht, dessen Begründer und langjähriger Kampfgefährte<br />

Herwarth Walden immer wieder betonte: „Kunst ist Geburt und nicht<br />

Wiedergeburt.“ 7 Im Rahmen seiner Programmschrift „Expressio nismus.<br />

Die Kunstwende“ gab er Wauer Gelegenheit, den Standpunkt des „Sturm“ in<br />

Bezug auf die Plastik zu formulieren. Dieser griff mit seinem Aufsatzthema<br />

„Das Körperliche in der Plastik“ den bis dahin traditionellen Hauptgegenstand<br />

der Bildhauerkunst auf und stellte die neue Sicht klar: „Die Wiedergabe<br />

des menschlichen Körpers als solche ist nicht als Kunst, sondern als<br />

Kunstfertigkeit anzusprechen, wie jede Nachbildung und Wiedergabe der<br />

Natur. Kunst ist kein Natur-Ersatz. Kunst ist selbst lebendige Schöpfung. […]<br />

Wir aber wollen wieder von Kunst reden. Auch von einer plastischen Kunst,<br />

die befreit ist von dem Vorurteil des ‚Natürlichen‘, befreit vom Zwange des<br />

Körperlichen, befreit von der Unzulänglichkeit alles grob Realen.“ 8<br />

Dieses „grob Reale“ der umgebenden Wirklichkeit wurde von der<br />

gesamten künstlerischen Avantgarde als zutiefst materialistisch empfunden<br />

und abgelehnt – es waren die Jahre des Ersten Weltkrieges, der lange<br />

zuvor seine Schatten voraus geworfen hatte. Nunmehr richtete sich das<br />

Hoffen auf eine neue Transzendenz der Wirklichkeit, auf absolute und wesentliche<br />

Werte. Wassily Kandinsky, der Jahre zuvor schon mit seiner Kunst<br />

und seinen theoretischen Aufsätzen in der „Sturm“-Zeitschrift die Programmatik<br />

des „Sturm“-Kreises prägend beeinflusst hatte, sah den Anbruch<br />

einer „geistigen Wendung“ hin zum „nichtmateriellen Streben und Suchen<br />

der dürstenden Seele“, 9 und Herwarth Walden leitete daraus ebenso programmatisch<br />

die ihm schon gegenwärtig erscheinende „Kunstwende“ 10 ab.<br />

Neben der Ablehnung der naturalistischen bzw. generell naturnahen Kunst<br />

galt die heftigste Kritik dem Impressionismus, den man als den äußeren<br />

und ephemeren Erscheinungen verhaftet ansah. Dagegen hatte Kandinsky<br />

für die neue Kunst − die in Deutschland etwa ab 1913/1914 als „Expressionismus“<br />

firmierte − das Prinzip der „inneren Notwendigkeit“ als „das<br />

einzige unveränderliche Gesetz der Kunst“ 11 erklärt. Jetzt ging es um die<br />

Wiedergabe von „inneren Gesichten“ auf der Suche nach dem Wesentlichen.<br />

Auch William Wauer zog in diesem Sinne bei seiner Erklärung des<br />

„viereckigen“ Gestaltens den Unterschied zwischen dem „inneren“ und dem<br />

„äußeren“ Menschen heran und bekannte, dass sich sein Schaffen mehr „auf<br />

den inneren als den äußeren Menschen“ beziehe. Denn er strebe den „Idealmenschen“<br />

an, den er sich „wesensecht“ und „befreit von allem Menschlich-<br />

72 73<br />

Umberto Boccioni,<br />

Forme uniche della<br />

continuità nello spazio,<br />

1913,<br />

Gips, Höhe: ca. 130 cm<br />

(Aufnahme aus dem<br />

„Photoalbum Nell<br />

Walden“)


Rudolf Belling,<br />

Symbol der drei<br />

Künste (Brunnenentwurf),<br />

1919, Gips,<br />

Höhe: 200 cm;<br />

„Wofür?“ (Denkmalsentwurf<br />

für<br />

die Gefallenen der<br />

Berliner Universität),<br />

1919, Gips, Kugel<br />

mit Mosaik, Maße<br />

unbekannt, Gips (bei­<br />

de nicht erhalten).<br />

Aufnahme: Große<br />

Berliner Kunstaus­<br />

stellung, Abteilung<br />

„Novembergruppe“<br />

1920<br />

blutrot getönt. Die Schräge mündet in ein mit Mosaik ausgelegtes Becken.<br />

Schräge und Becken in Rot. Aufschrift: >Wofür?


WALTER GROPIUS (1883–1969)<br />

Nach dem Architekturstudium an den Technischen Hochschulen von München<br />

und Berlin-Charlottenburg 1908–1910 Assistent von Peter Behrens.<br />

1910–1914 freier Architekt, 1911–1914 Entwurf und Ausführung der<br />

„Fagus-Werke“ in Alfeld. 1914 Musterfabrik mit Verwaltungsgebäude auf<br />

der Werkbund-Ausstellung in Köln. 1918 Mitglied der „Novembergruppe“<br />

und Gründungsmitglied des „Arbeitsrats für Kunst“, dessen Vorsitzender er<br />

1919 als Nachfolger von Bruno Taut wird. 1919 arrangiert Gropius mit Max<br />

Taut und Otto Rudolf Salvisberg die „Ausstellung für Unbekannte Architekten“,<br />

die auch Amateure und Maler beteiligt. Ideen des „Arbeitsrats“ (z. B.<br />

eine die Künste in sich vereinende Architektur) fließen ein in das zeitgleich<br />

veröffentlichte Gründungsprogramm des Bauhauses in Weimar. 1919/20<br />

ist er an der „Gläsernen Kette“ beteiligt (Deckname „Maß“), ohne einen<br />

aktiven Beitrag zu leisten. Als erstes ausgeführtes Projekt des Bauhauses<br />

entsteht 1921/22 als Holzblockhaus das „Haus Sommerfeld“. Im symmetrischen<br />

Außenbau den Prairie-Houses Frank Lloyd Wrights verpflichtet, zeigt<br />

es in Baudetails und Innenausstattung (Reliefs von Joost Schmidt, Glasfenster<br />

von Josef Albers) kubische und dreieckig-gezackte Formung. Wie<br />

seine Abstraktion wirkt das in der Grundform sehr ähnliche „Haus Otte“<br />

(1921/22, Abb. S. 101). Ohne plastische Details, wird sein Volumen auf Kuben<br />

und Prismen reduziert. Die hell verputzten, scharfkantig begrenzten<br />

Wandflächen hingegen weisen schon voraus auf die „Weiße Moderne“.<br />

1920 beteiligt sich Gropius an einem Wettbewerb für ein „Denkmal<br />

für die Märzgefallenen“ in Weimar zur Erinnerung an die während<br />

des Kapp-Putsches dort erschossenen Arbeiter. Er entwirft eine abstrakte<br />

Architekturplastik, die er selbst als „Blitz-strahl“ bezeichnet – eine metaphorische<br />

Deutung, die von Gewerkschaftsseite übernommen wird. Fred<br />

Forbat übersetzt seine flüchtige Skizze in ein plastisches Modell, das mit<br />

seinem gezackten Umriss und den scharfkantigen Keilformen den abschließenden<br />

dynamischen Akzent einer mit prismatischen Formen umgrenzten<br />

Anlage bildet. 1921 wird es in Beton ausgeführt.<br />

Bis 1928 ist Gropius Direktor des Bauhauses, dessen Gebäude in<br />

Dessau er 1925/26 errichtet, und unterhält dann ein eigenes Büro in Berlin.<br />

Er realisiert zahlreiche, die Architektur des Funktionalismus prägende<br />

Projekte. 1934 emigriert er nach England und wird 1937 an die Harvard<br />

University berufen, deren Architekturabteilung er bis 1952 leitet. Seitdem<br />

wiederum freischaffend tätig. TP<br />

Lit.: Nerdinger 1985; Winkler/Bergeijk 2004<br />

128 129<br />

Walter Gropius,<br />

Denkmal für die<br />

Märzgefallenen,<br />

Weimar, 1920<br />

(1936 zu großen<br />

Teilen zerstört, 1946<br />

in leicht veränderter<br />

Fassung rekonstruiert)<br />

Walter Gropius<br />

Modell des Denkmals<br />

der Märzgefallenen<br />

(M 1:10), 1921<br />

Holz, Gips, farbig<br />

gefasst, Länge: 78 cm<br />

(Exponat Nr. 9)


EMY ROE<strong>DER</strong> (1890–1971)<br />

In München sieht Emy Roeder zum ersten Mal Arbeiten von Bernhard<br />

Hoetger, bevor sie von 1912 bis 1914 seine Schülerin in der Darmstädter<br />

Künstlerkolonie wird. 1915 siedelt sie nach Berlin über, wo sie bis 1933 lebt.<br />

Hier zählt Roeder neben Renée Sintenis und Milly Steger zu den bekanntesten<br />

Bildhauerinnen. 1916 beteiligt sie sich zum ersten Mal mit einer Gipsplastik<br />

an der „Freien Secession“, 1918 ist sie auf der Herbstausstellung der „Berliner<br />

Secession“ neben Herbert Garbe und Bernhard Hoetger vertreten. Ein Jahr<br />

später heiratet sie den Bildhauer Garbe. Sie schließen sich der „Novembergruppe“<br />

an, Roeder bleibt bis 1929 Mitglied. Zwischen 1920 und 1925 ist sie<br />

Meisterschülerin von Hugo Lederer an der Preußischen Akademie der Künste.<br />

Diese prämiert 1920 die Terrakottafigur „Schwangere“, ein Jahr später<br />

wird die Skulptur von der Kunsthalle Karlsruhe erworben. In diesen Jahren<br />

pflegt das Bildhauer-Ehepaar Freundschaften mit Rudolf Belling, Max Kaus,<br />

Willi Robert Huth, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff. 1927 wird Roeder<br />

Mitglied im „Verein der Berliner Künstlerinnen“ und beteiligt sich bis 1930<br />

regelmäßig an deren Ausstellungen. Nach einem Paris-Aufenthalt 1931 begleitet<br />

Roeder 1933 ihren Mann nach Rom in die Villa Massimo. 1934 kehrt<br />

Herbert Garbe allein aus Italien zurück, ein Jahr später trennen sie sich. 1936<br />

wird Roeder Stipendiatin der Villa Romana in Florenz, wo sie sich bis 1944<br />

aufhält. 1937 werden Skulpturen von ihr beschlagnahmt.<br />

Neben Bildnissen bestimmen zahlreiche Kinder- und Frauenfiguren<br />

Roeders Werk wie die eindrucksvoll stilisierten Skulpturen „Schwangere“<br />

und „Empfangende“ von 1918. In der aufsteigenden Plastik „Die drei traurigen<br />

Frauen“ (1920) treffen die großen Flächen in scharfen Kanten aufeinander.<br />

Die harten Grate und übergroßen mandelförmigen Augen der Figuren<br />

verstärken ihren Ausdruck von schicksalhafter, tiefer Trauer. In ihren kleinformatigen<br />

Tierdarstellungen, wie der kantig modellierten Pferdegruppe<br />

„Stute und Fohlen“ (1919), werden kubistische Einflüsse spürbar. Roeder gelingt<br />

es hier, innige Nähe trotz scharfgratiger Formensprache auszudrücken.<br />

JK<br />

Lit.: Gerke 1963; Berlin 1994; Reese 2004<br />

160 161<br />

Emy Roeder,<br />

Die Blinde, 1917,<br />

Bronze, Höhe: 28 cm<br />

(Exponat Nr. 25)

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