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60 Jahre 60 Werke Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland ...

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<strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>60</strong> <strong>Werke</strong><br />

<strong>Kunst</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Bundesrepublik</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

1949–2009<br />

Her<strong>aus</strong>gegeben von Walter Smerling<br />

Stiftung für <strong>Kunst</strong> und Kultur e.V. Bonn<br />

mit Beiträgen von Bazon Brock, Nicol<strong>aus</strong> Fest, Robert Fleck,<br />

Siegfried Gohr, Peter Iden, Dieter Ronte, Matthias Winzen<br />

Wienand


Keine Demokratie<br />

ohne <strong>Kunst</strong> und Kultur<br />

Wolfgang Schäuble 8<br />

<strong>Kunst</strong> für alle?<br />

Kai Diekmann 10<br />

1949–1959<br />

<strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

<strong>Deutschland</strong> – die 1950er <strong>Jahre</strong><br />

Siegfried Gohr 26<br />

Werner Heldt 34<br />

Willi Baumeister 38<br />

Wols 42<br />

Karl Hofer 46<br />

Bruno Goller 50<br />

K.O. Götz 54<br />

Ernst Wilhelm Nay 58<br />

Hans Hartung 62<br />

Emil Schumacher 66<br />

Hans Uhlmann 70<br />

Otto Piene 74<br />

Zur rechten Zeit ...<br />

Jürgen Großmann 11<br />

Das Gestern kann uns<br />

nur ermutigen<br />

Walter Smerling 14<br />

19<strong>60</strong>–1969<br />

„Geh, Joe, mach die Musik<br />

von damals nach!“<br />

Überschwang und Ohnmacht<br />

als Signaturen <strong>der</strong> 19<strong>60</strong>er <strong>Jahre</strong><br />

Peter Iden 78<br />

Gerhard Hoehme 88<br />

Norbert Kricke 92<br />

Günther Uecker 96<br />

Rupprecht Geiger 100<br />

Palermo 104<br />

Gerhard Richter 108<br />

Georg Baselitz 112<br />

Sigmar Polke 116<br />

Imi Knoebel 120<br />

Markus Lüpertz 124<br />

Interview mit Experten<br />

Nicol<strong>aus</strong> Fest 16<br />

1970–1979<br />

Werk ist abgelegtes Werk-<br />

zeug und Frieden ist<br />

Zwischenkrieg und Zukunft<br />

ist, überhaupt eine zu haben<br />

Bazon Brock 128<br />

Bernard Schultze 138<br />

Reiner Ruthenbeck 142<br />

Horst Antes 146<br />

Jörg Immendorff 150<br />

Anselm Kiefer 154<br />

Konrad Klapheck 158<br />

Joseph Beuys 162<br />

Bernd und Hilla Becher 166<br />

Franz Erhard Walther 170<br />

A.R. Penck 174<br />

1980–1989<br />

Mit Ironie, ohne Unschuld<br />

Dieter Ronte 178<br />

Thomas Struth 188<br />

Walter Dahn, Jirˇí Georg Dokoupil 192<br />

Gotthard Graubner 196<br />

Hanne Darboven 200<br />

Anna und Bernhard Blume 204<br />

Georg Herold 208<br />

Günther Förg 212<br />

Thomas Ruff 216<br />

Rosemarie Trockel 220<br />

Martin Kippenberger 224<br />

Verzeichnis <strong>der</strong><br />

<strong>aus</strong>gestellten <strong>Werke</strong> 330<br />

Leihgeber 379<br />

1990–1999<br />

Viele Künstler,<br />

viele Ausstellungen,<br />

viele neue Museen<br />

Robert Fleck 228<br />

Isa Genzken 236<br />

Albert Oehlen 240<br />

Carsten Nicolai 244<br />

Wolfgang Mattheuer 248<br />

Kai Althoff 252<br />

Rebecca Horn 256<br />

Thomas Schütte 2<strong>60</strong><br />

Stephan Balkenhol 264<br />

Andreas Gursky 268<br />

Eberhard Havekost 272<br />

Künstlerbiografien 358<br />

Autoren 381<br />

2000–2009<br />

Die letzten neun <strong>Jahre</strong><br />

Matthias Winzen 276<br />

Wolfgang Tillmans 290<br />

Marcel Odenbach 294<br />

Daniel Richter 298<br />

Neo Rauch 302<br />

Candida Höfer 306<br />

Corinne Wasmuht 310<br />

Olaf Metzel 314<br />

Jonathan Meese 318<br />

Christiane Baumgartner 322<br />

Tobias Rehberger 326<br />

Bild-/Fotonachweis 384


8<br />

Keine Demokratie<br />

ohne <strong>Kunst</strong> und Kultur<br />

Die Ausstellung <strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>60</strong> <strong>Werke</strong> unternimmt den gelungenen<br />

Versuch, bundesdeutsche <strong>Kunst</strong>- und Zeitgeschichte<br />

miteinan<strong>der</strong> zu verbinden. Ein Gedanke, <strong>der</strong> auf den ersten Blick<br />

durch<strong>aus</strong> nicht nahe liegt, zumal die gezeigten Exponate nicht<br />

vorrangig <strong>der</strong> explizit „politischen“ o<strong>der</strong> „engagierten“ <strong>Kunst</strong><br />

zuzuordnen sind.<br />

<strong>Kunst</strong> und Politik, die Sphären von Geist und Macht, des<br />

Ästhetischen einerseits, des pragmatischen, nicht immer „schönen“<br />

Interessen<strong>aus</strong>gleichs an<strong>der</strong>erseits, werden in <strong>Deutschland</strong><br />

auch heute noch überwiegend als gegensätzlich o<strong>der</strong> zumindest<br />

voneinan<strong>der</strong> getrennt empfunden. Sieht man genauer hin, zeigen<br />

sich wichtige Gemeinsamkeiten und Verbindungen.<br />

Schon die Gründung <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>Deutschland</strong> im<br />

Jahr 1949 geschah im Bewusstsein des hohen Stellenwerts von<br />

<strong>Kunst</strong> und Geistesleben für eine freiheitliche Demokratie. Unter<br />

den Mitglie<strong>der</strong>n des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee<br />

und des Parlamentarischen Rates bestand Einigkeit, dass es<br />

nie wie<strong>der</strong> zu einer Vereinnahmung des Einzelnen durch einen<br />

totalitären Staat kommen dürfe. Ihren Ausdruck fand diese<br />

Haltung vor allem im Grundrechtskatalog <strong>der</strong> neuen Verfassung,<br />

<strong>der</strong> entgegen <strong>der</strong> herkömmlichen Verfassungstradition<br />

dem Staatsorganisationsrecht vorangestellt wurde. Er enthielt<br />

als wesentliches Freiheitsrecht auch die Freiheit <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>. Sie<br />

kann als „schrankenloses“ Grundrecht nur im Konfliktfall und<br />

in Abwägung mit an<strong>der</strong>en, gleich- o<strong>der</strong> höherrangigen Verfassungsgütern<br />

begrenzt werden.<br />

Diese Festlegung <strong>der</strong> Väter und Mütter des Grundgesetzes –<br />

und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die<br />

das Wesentliche <strong>der</strong> künstlerischen Betätigung als freie, selbstschöpferische<br />

Gestaltung definierte – tragen <strong>der</strong> Tatsache Rech-<br />

nung, dass künstlerische Betätigung immer ein Auseinan<strong>der</strong>setzen<br />

ist mit <strong>der</strong> Welt und Wirklichkeit, in <strong>der</strong> wir leben. Schon<br />

deshalb ist sie von <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong> um Ausgleich wi<strong>der</strong>streiten<strong>der</strong><br />

Interessen bemühten Gestaltung unserer Lebenswelt, zu unterscheiden,<br />

aber nicht zu trennen.<br />

<strong>Kunst</strong> ist als unmittelbarer Ausdruck <strong>der</strong> individuellen<br />

Persönlichkeit eines Künstlers geschützt. Die Bedeutung <strong>der</strong><br />

<strong>Kunst</strong>freiheit reicht jedoch weit über die Persönlichkeit des einzelnen<br />

Künstlers, seine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Lebenswelt<br />

und ihren kreativen Ausdruck hin<strong>aus</strong>. <strong>Kunst</strong> lebt von <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Präsentation. Sie wird geschaffen, um sie mit an<strong>der</strong>en zu<br />

teilen, um sie Aufmerksamkeit, Bewun<strong>der</strong>ung, Kritik o<strong>der</strong> auch<br />

Ablehnung <strong>aus</strong>zusetzen. Indem wir uns mit <strong>Kunst</strong> beschäftigen,<br />

vollziehen wir die Auseinan<strong>der</strong>setzung des Künstlers mit seiner<br />

Umwelt gewissermaßen nach. Wir fühlen uns angezogen o<strong>der</strong><br />

abgestoßen, machen uns Gedanken und nehmen so am <strong>Kunst</strong>werk<br />

teil.<br />

Ein demokratisches Gemeinwesen ist ohne <strong>Kunst</strong> und Kultur<br />

nicht denkbar. Freie <strong>Kunst</strong> und Kultur garantieren die Individualität<br />

<strong>der</strong> Bürgerinnen und Bürger und schaffen zugleich gesellschaftliche<br />

Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl. Und so<br />

gehören sie zu den Vor<strong>aus</strong>setzungen, auf die <strong>der</strong> freiheitliche<br />

Rechtsstaat angewiesen ist, ohne sie selbst schaffen zu können.<br />

Deshalb umfasst die <strong>Kunst</strong>freiheit des Grundgesetzes auch eine<br />

objektiv-institutionelle Seite: Der Staat begreift sich als Kulturstaat<br />

und übernimmt die Verpflichtung, künstlerische Vielfalt zu<br />

erhalten und zu för<strong>der</strong>n.<br />

Nun gab und gibt es das Grundrecht <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>freiheit auch in<br />

Staaten, die mit Demokratie und Menschenrechten auf keinem<br />

guten Fuß stehen. Die DDR-Verfassung von 1968/74 fasste es<br />

Grundgesetz <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>Deutschland</strong> Artikel 5.3<br />

(3) <strong>Kunst</strong> und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit <strong>der</strong> Lehre entbindet nicht<br />

von <strong>der</strong> Treue zur Verfassung.<br />

als Obliegenheit zur „För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Künste, <strong>der</strong> künstlerischen<br />

Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen“ sowie als „Recht<br />

auf Teilnahme am kulturellen Leben“. Wie <strong>der</strong> sprachliche<br />

Duktus andeutet, galten selbst in <strong>der</strong> Theorie bereits zahlreiche<br />

Einschränkungen. Wie alle „sozialistischen Grundrechte“ wurde<br />

auch die <strong>Kunst</strong>freiheit allein als Freiheit zur Mitwirkung an <strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> SED in allen Lebensbereichen vorgegebenen Gesellschaftsgestaltung<br />

begriffen. Mit einer Freiheit von staatlicher<br />

Einflussnahme und Beschränkung hatte sie nichts zu tun.<br />

Heute, fast 20 <strong>Jahre</strong> nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung, sind wir<br />

auf dem Weg zur inneren Einheit entscheidend vorangekommen.<br />

Die Möglichkeiten, die gerade jungen Menschen heute in ganz<br />

<strong>Deutschland</strong> offen stehen, zeigen beson<strong>der</strong>s deutlich, wie weit<br />

sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angeglichen haben.<br />

Auch die Selbstverständlichkeit, mit <strong>der</strong> die Ausstellung <strong>Werke</strong><br />

von Künstlern wie Wolfgang Mattheuer o<strong>der</strong> Eberhard Havekost<br />

in den Kanon <strong>der</strong> bundesdeutschen <strong>Kunst</strong> nach 1990 einreiht,<br />

fügt sich in dieses Bild. Mit Neo Rauch präsentiert sie einen<br />

exponierten Vertreter <strong>der</strong> sogenannten Neuen Leipziger Schule,<br />

die heute zu den innovativsten und international erfolgreichsten<br />

Strömungen deutscher Gegenwartskunst zählt.<br />

Auch dafür sind <strong>Kunst</strong> und Kultur <strong>Deutschland</strong>s ein lebendiges<br />

Zeichen: die Öffnung <strong>Deutschland</strong>s und <strong>der</strong> Deutschen<br />

zur Welt, in <strong>der</strong> wir uns nach <strong>der</strong> nationalen Katastrophe <strong>der</strong><br />

NS-Herrschaft als starke Wirtschaftsnation und als geschätztes<br />

Mitglied <strong>der</strong> Völkerfamilie etablieren konnten. Das bedeutet aber<br />

nicht, dass wir uns auf dem Erreichten <strong>aus</strong>ruhen könnten. Die<br />

zunehmend globalisierte Welt mit ihren gegenseitigen Abhängigkeiten<br />

stellt uns vor immer neue Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ungen: in<br />

<strong>der</strong> Wirtschaft und auf den Finanzmärkten ebenso wie bei <strong>der</strong><br />

Gewährleistung <strong>der</strong> Sicherheit und <strong>der</strong> Integration von Zuwan<strong>der</strong>ern.<br />

Um diese Aufgaben zu meistern, brauchen wir Ausdauer,<br />

Zuversicht und vor allem ein hohes Maß an gesellschaftlichem<br />

Zusammenhalt.<br />

Diese kulturellen und sozialen Vor<strong>aus</strong>setzungen politischer<br />

Gestaltungskraft – ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler<br />

sprach von „soft power“ – sind nicht denkbar ohne ein lebendiges<br />

geistiges und kulturelles Leben. Es hat in <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

unsere freiheitliche Demokratie gefestigt und die Einheit<br />

unseres Volkes in Freiheit möglich werden lassen. Nicht zuletzt<br />

deshalb feiern wir die Gründung <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>Deutschland</strong><br />

und das Glück <strong>der</strong> Deutschen Einheit als Doppeljubiläum<br />

„Freiheit und Einheit“. Es lässt uns darauf besinnen, was wir in<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit gemeinsam erreicht haben auf <strong>der</strong> Grundlage<br />

eines guten Miteinan<strong>der</strong>s in <strong>Deutschland</strong> und <strong>der</strong> Welt, und gibt<br />

so Anlass für Vertrauen in die Zukunft.<br />

Die Ausstellung <strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>60</strong> <strong>Werke</strong> macht eindrucksvoll deutlich,<br />

welch bedeutenden Beitrag die bildende <strong>Kunst</strong> auf diesem<br />

Weg geleistet hat und weiter leisten kann.<br />

Dr. Wolfgang Schäuble MdB<br />

Bundesminister des Innern


26<br />

Siegfried Gohr<br />

<strong>60</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> <strong>Deutschland</strong> –<br />

die 1950er <strong>Jahre</strong><br />

Das Jahr 1945 wird oft als die Stunde null bezeichnet, was<br />

angesichts <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage und <strong>der</strong> Zerstörung, die am Ende des<br />

Zweiten Weltkrieges erkennbar wurden, eine gewisse Berechtigung<br />

hat. Allerdings – gen<strong>aus</strong>o wenig wie in <strong>der</strong> Politik o<strong>der</strong> den<br />

Verwaltungen gab es diese fiktive Stunde null in den Künsten.<br />

Einige <strong>der</strong> Protagonisten <strong>der</strong> Vorkriegsmo<strong>der</strong>ne kehrten zurück,<br />

an<strong>der</strong>e waren im Lande geblieben und traten von Neuem an die<br />

Öffentlichkeit. Es gab erwünschte und unerwünschte personelle<br />

Kontinuitäten in den Akademien und Verbänden. Es gab den Rück-<br />

blick auf die „Entarteten“, denen man in Ausstellungen und schließlich<br />

auch in den Museumsankäufen Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>fahren<br />

lassen wollte. Es wurde nicht nur in die Zukunft geblickt, von <strong>der</strong><br />

damals niemand wissen konnte, wie sie sich gestalten würde.<br />

Das Abendland wurde als gemeinsamer Ursprung Europas beschworen,<br />

und es wurde heftig über das Menschenbild diskutiert,<br />

das von Faschismus und Krieg zerstört worden war.<br />

Emblematisch erscheint die Auseinan<strong>der</strong>setzung um die<br />

zukünftige Richtung <strong>der</strong> bildenden <strong>Kunst</strong>, die von zwei Vertretern<br />

<strong>aus</strong> den 1920er <strong>Jahre</strong>n geführt wurde: Karl Hofer und<br />

Willi Baumeister. Der Erstere stand für eine gemäßigt figürlichrealistische<br />

Malerei, die auch in <strong>der</strong> DDR Anerkennung fand, <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e, Willi Baumeister, stand für eine Fortsetzung <strong>der</strong> Ab-<br />

straktion, die er nach einer Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Figurenwelt<br />

Fernand Légers seit den 1930er <strong>Jahre</strong>n entwickelt hatte.<br />

Beide Positionen wie<strong>der</strong>holten eigentlich Ideen <strong>der</strong> 1920er <strong>Jahre</strong><br />

und konnten nicht als tragfähig für eine zukünftige <strong>Kunst</strong> gelten.<br />

Baumeister wurde vom Informel, das neben an<strong>der</strong>en vor allem<br />

von Wols (Abb.1), Henri Michaux, Jean Fautrier inspiriert war,<br />

überholt, und Hofer fand gar keine unmittelbare Nachfolge, denn<br />

1 Wols<br />

Das blaue Phantom, 1951<br />

2 Gerhard Marcks<br />

Heiliger Sebastian, 1956<br />

<strong>der</strong> Realismus in <strong>der</strong> DDR, <strong>der</strong> <strong>aus</strong> parteipolitischer Überzeugung<br />

propagiert wurde, knüpfte eher bei den italienischen<br />

Realisten an o<strong>der</strong> bei Max Beckmann, Otto Dix o<strong>der</strong> Picasso.<br />

Von heute <strong>aus</strong> betrachtet, erscheint <strong>der</strong> Streit zwischen Hofer<br />

und Baumeister als typisch für die Zeit, aber irrelevant für die<br />

künstlerische Entwicklung. Gen<strong>aus</strong>o wenig hatte das Darmstädter<br />

Streitgespräch zwischen Hans Sedlmayr, dem Konservativen,<br />

und Theodor W. Adorno, dem Progressiven, eine erkennbare Wirkung<br />

auf die <strong>Kunst</strong>entwicklung. Offensichtlich existierten zwei<br />

Kulturen, nämlich diejenige des Versuchs einer Neuorientierung<br />

<strong>der</strong> „intellektuellen“ <strong>Bundesrepublik</strong> und <strong>der</strong>jenigen <strong>der</strong> Künste.<br />

Es gab Künstler wie Hofer und Baumeister, die mit den eingeübten<br />

Stilmodellen versuchten, die Situation zu beantworten,<br />

aber auch solche, die weniger festgelegt nach angemessenen<br />

Formulierungen suchten: Werner Heldt, Werner Gilles, Bruno<br />

Goller, Hermann Bachmann, Hermann Teuber, Paul Strecker;<br />

ihre Position ließe sich durch Maler wie Richard Seewald, Xaver<br />

Fuhr, durch Bildhauer wie Toni Stadler, Gerhard Marcks (Abb.2),<br />

Ewald Mataré, Edwin Scharff o<strong>der</strong> Rolf Szymanski (Abb.3) verstärken.<br />

Auch das noch figürliche Werk von Ernst Wilhelm Nay<br />

wäre zu bedenken, wenn es darum geht, eine nachdenkliche,<br />

melancholische o<strong>der</strong> rekonstruierende Figuration zu benennen,<br />

die vor und neben <strong>der</strong> endgültigen Dominanz <strong>der</strong> abstrakt-informellen<br />

Tendenzen vorhanden war.<br />

Der zunehmende Ost-West-Gegensatz prallte in den beiden<br />

deutschen Staaten beson<strong>der</strong>s heftig aufeinan<strong>der</strong>. Deshalb<br />

wurden die Stilmodelle politisch aufgeladen und vereinnahmt,<br />

sodass <strong>der</strong> künstlerische Gehalt und die Innovationskraft von<br />

Motiv- und Formerfindungen nicht als entscheidendes Kriterium<br />

3 Rolf Szymanski<br />

Stehende weibliche Figur, 1959<br />

4 Willi Sitte<br />

Stilleben mit Pilzen, 1951<br />

diskutiert wurden. Es lässt sich beobachten, dass „Realismus“<br />

dort und „Abstraktion“ hier zu Stilhülsen wurden, die sich von<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit abgelöst hatten. In <strong>der</strong> gemäßigten Version, die<br />

in <strong>Deutschland</strong> gepflegt wurde, verloren sich die existenzielle<br />

Radikalität eines Wols o<strong>der</strong> die Fortsetzung einer exilartigen<br />

Situation im eigenen Land, die bei Heldt o<strong>der</strong> Gilles festzustellen<br />

ist. Das endgültige Scheitern einer gesamtdeutschen <strong>Kunst</strong>entwicklung<br />

lässt sich auf die <strong>Jahre</strong> 1953/54 datieren, als vor allem<br />

im Osten <strong>der</strong> sozialistische Realismus immer stärker als Doktrin<br />

des Staates durchgesetzt wurde. Wenn man den Stil <strong>der</strong> dort<br />

entstehenden <strong>Kunst</strong> genauer bezeichnen will, kann man nicht<br />

im engeren Sinne vom Realismus des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, also in<br />

<strong>der</strong> Nachfolge Gustav Courbets o<strong>der</strong> Adolph von Menzels sprechen,<br />

son<strong>der</strong>n von einem allegorisch-realistischen Stil, <strong>der</strong> eine<br />

literarische o<strong>der</strong> ideologische Botschaft transportieren sollte.<br />

Diese Tendenz lässt sich nicht nur in den Beispielen <strong>der</strong> 1950er<br />

<strong>Jahre</strong> bei Willi Sitte (Abb.4), Harald Metzkes o<strong>der</strong> Max Lingner<br />

verfolgen, um nur einige zu nennen, son<strong>der</strong>n auch später in <strong>der</strong><br />

Malerei <strong>der</strong> Leipziger Schule, wo sich diese bildkonzeptuelle<br />

Tendenz als surreal-realistisch bezeichnen lässt. Dieser Stil<br />

wirkt übrigens auch noch in heutiger Zeit bei Neo Rauch nach.<br />

Der literarische Anteil dieser <strong>Kunst</strong>, <strong>der</strong> manchmal als typisch<br />

für die deutsche Tradition bezeichnet wurde, das heißt die<br />

Nähe zur Illustration als Bildgestaltung, verlieh <strong>der</strong> DDR-Malerei<br />

etwas Bildungsbürgerliches, das auch einflussreiche Menschen<br />

im Westen <strong>Deutschland</strong>s ansprach. Nicht nur die handwerklich<br />

überprüfbare Komponente dieser <strong>Kunst</strong>, son<strong>der</strong>n auch die<br />

Lesbarkeit dieser <strong>Werke</strong> im Sinne einer Botschaft, wenn diese<br />

auch noch so vage blieb, machte für manche diese <strong>Werke</strong> besser<br />

5 Emil Schumacher<br />

Räumliche Trennung, 1955<br />

1949–1959<br />

zugänglich. Einzelgängerische Positionen wie die von Gerhard<br />

Altenbourg o<strong>der</strong> Carlfriedrich Cl<strong>aus</strong> ebenso wie die eines<br />

Hermann Glöckner o<strong>der</strong> des Zeichners Josef Hegenbath dienten<br />

als Beweis für die Toleranz des <strong>Kunst</strong>systems, aber war es nicht<br />

bezeichnend, dass <strong>der</strong>en Werk sich vor allem im zurückhaltenden<br />

Medium von Zeichnung und Grafik realisierte? An<strong>der</strong>erseits<br />

galt vieles im Westen schon als progressiv, wenn es nur<br />

gestisch und ungegenständlich erschien. Theodor Werner und<br />

Fritz Winter, Georg Meistermann und Hann Trier, K.O. Götz, Emil<br />

Schuhmacher (Abb.5) o<strong>der</strong> Fred Thieler, natürlich E.W. Nay,<br />

Hubert Berke, Gerhard Hoehme, die Bildhauer Karl Hartung,<br />

Bernhard Heiliger, Norbert Kricke, Hans Uhlmann, Brigitte<br />

Meier-Denninghoff stehen für diese Tendenz – im unterschiedlichen<br />

Maße heute noch gültig. Als Maßstab von außen wirkte<br />

immer wie<strong>der</strong> Hans Hartung in die Szene hinein, <strong>der</strong> seiner Leipziger<br />

Herkunft auch nach dem Krieg verbunden blieb. Aber auch<br />

<strong>Werke</strong> von Richard Oelze o<strong>der</strong> Max Ernst (Abb.6) waren präsent,<br />

um Gegenmodelle zu bieten. Oft blieb die abstrakte Malerei in<br />

<strong>der</strong> Geste und in ihrer Dekoration stecken, wenn auch damals<br />

sicher viele Kommentatoren und Betrachter die Freiheit, welche<br />

sich im Informel manifestieren sollte, als von <strong>der</strong> ästhetischen<br />

Leistung <strong>der</strong> <strong>Werke</strong> gedeckt sahen. Diese – in <strong>der</strong> gestischen<br />

Abstraktion verheißene – Freiheit, verstanden die Stimmen als<br />

Reaktion auf die technisierte und verwaltete Welt.<br />

Stellvertretend für eine positivere Wertung dieser <strong>Kunst</strong>entwicklung<br />

kann das einflussreiche Buch des Kulturanthropologen<br />

Arnold Gehlen – Zeit-Bil<strong>der</strong> – genannt werden. „Die<br />

Kommentarbedürftigkeit“ von <strong>Kunst</strong> wurde hier festgestellt und<br />

die Sprengung <strong>der</strong> Bildgrenzen in jede Richtung als berechtigte<br />

6 Max Ernst<br />

Un tissu de mensonges, 1959


28<br />

1949–1959<br />

Konsequenz <strong>aus</strong> den Zuständen <strong>der</strong> Gesellschaft diagnostiziert.<br />

Neben den dominanten abstrakten Strömungen formierten<br />

sich Gruppen wie Quadriga in Frankfurt o<strong>der</strong> Spur in München,<br />

die sichtlich von einem an<strong>der</strong>en Einfluss <strong>aus</strong> dem Westen<br />

geprägt waren als dem Pariser Informel. Die Gruppe Cobra beschwor<br />

eine heftige, vor-zivilisatorische Bildwelt; manchmal lassen<br />

sich Parallelen zu Jean Dubuffets „Anti-<strong>Kunst</strong>“-Strategien<br />

erkennen. Aus Brüssel, Amsterdam und Kopenhagen stammten<br />

die Künstler wie zum Beispiel Asger Jorn (Abb.7), Karel Appel<br />

o<strong>der</strong> Pierre Alechinsky, die <strong>aus</strong> den Anfangsbuchstaben <strong>der</strong><br />

Städtenamen eine furchterregende Schlange entstehen ließen.<br />

Hier wie in <strong>der</strong> Münchener Gruppe Spur wurde das „Unbekannte<br />

in <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>“, über das Willi Baumeister gleichzeitig theoretisiert<br />

hatte, ganz wild und albtraumhaft inszeniert. Die <strong>Kunst</strong> von<br />

Bernhard Schultze o<strong>der</strong> Heinrich Prem mischte die Schrecken<br />

des Surrealismus mit einer wuchernden Abstraktion. Es entstanden<br />

expressive Gegenbil<strong>der</strong> zum Optimismus des Wirtschaftswun<strong>der</strong>s<br />

und dem sozialistischen Aufbau. Unter <strong>der</strong> Oberfläche<br />

<strong>der</strong> Abstraktion lauerten die nicht domestizierten Gespenster.<br />

Bald jedoch regten sich mitten im Fortschrittsglauben <strong>der</strong><br />

1950er <strong>Jahre</strong> noch weitere Gegenbewegungen, fast ohne bemerkt<br />

zu werden, zum Beispiel in dem zunächst christlich und<br />

mythologisch inspirierten Werk von Joseph Beuys (Abb.8). Weitere<br />

Künstlergruppen suchten den internationalen Anschluss;<br />

die Düsseldorfer Gruppe Zero mit ihrer intensiven Verbindung<br />

nach Paris und nach Italien bewirkte solche Öffnungstendenzen.<br />

Eine elegante, spielerische Version <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne fand hier einen<br />

Wi<strong>der</strong>hall – allerdings noch ohne die beißende Schärfe von Fluxus,<br />

das zu Beginn <strong>der</strong> 19<strong>60</strong>er <strong>Jahre</strong> eine weltumspannende Be-<br />

7 Asger Jorn<br />

Verlust <strong>der</strong> Mitte, 1958<br />

wegung werden sollte. Während Dada schon im Ersten Weltkrieg<br />

auf diese europäische Katastrophe reagierte, dauerte es nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, <strong>der</strong> nicht vor allem ein Krieg <strong>der</strong> Heere,<br />

son<strong>der</strong>n einer gegen Städte und ihre Bewohner gewesen war,<br />

lange, ehe ein dadaistischer Impuls sich im Fluxus unter geän<strong>der</strong>ten<br />

Bedingungen artikulieren konnte. Der Künstlertypus, <strong>der</strong><br />

diesen neuen Tendenzen entsprach, erschien wi<strong>der</strong>ständiger als<br />

<strong>der</strong>jenige des ästhetischen Kommunikators, wie ihn die 1950er<br />

<strong>Jahre</strong> hervorgebracht hatten – oft beschrieben in einer existenzial-hymnischen<br />

Wortwahl. Das Protestpotenzial von <strong>Kunst</strong> wurde<br />

von Neuem aktiviert, und <strong>der</strong> abstrakte Optimismus des ersten<br />

Jahrzehnts <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong> wich einem Klima des Fragens<br />

und Hinterfragens, denn die geschichtliche Dimension von <strong>Kunst</strong><br />

kehrte deutlich sichtbar in die <strong>Werke</strong> zurück. Diese war während<br />

<strong>der</strong> beginnenden 1950er <strong>Jahre</strong> nur selten sichtbar geworden.<br />

Ein her<strong>aus</strong>ragendes Beispiel sind die urbanen Berliner<br />

Landschaften von Werner Heldt: Menschenleere Räume, Brandmauern<br />

und Häuserlücken, manchmal ein Stillleben mit einem<br />

Totenkopf dienen als Resonanzraum für eine tiefe Trauer um den<br />

Verlust <strong>der</strong> Stadt. Eine ähnliche Reaktion, wenn auch mit völlig<br />

verschiedenen stilistischen Mitteln, gestaltete Werner Gilles.<br />

Nach Ischia geflohen <strong>aus</strong> einer Gesellschaft, die er voller Skepsis<br />

sich einrichten sah, verwandelte er vor allem den Orpheus-<br />

Mythos und die südlichen Landschaften zu Gleichnissen einer<br />

verlorenen Utopie, die sich ehemals an die mittelmeerische<br />

Antike geheftet hatte. Wie bei Nay sind auch bei Heldt und Gilles<br />

kubistische Stilspuren erkennbar, die wie ein Rückgang hinter<br />

die zerstörte Mo<strong>der</strong>ne zu ihrem Ursprung wirken. Aus diesem<br />

Bildmaterial entwickelten diese Künstler ihre neuen Strukturen,<br />

die eher als Rekonstruktionen denn als auftrumpfende Erfindungen<br />

zu verstehen sind.<br />

Diese Beiträge und auch die figürliche Bildhauerei mit ihren<br />

fragmentarischen Wie<strong>der</strong>herstellungen des menschlichen<br />

Körpers wurden von den abstrakten Tendenzen überblendet.<br />

Doch gehören auch sie zum Bild <strong>der</strong> 1950er <strong>Jahre</strong>, das sich von<br />

heute <strong>aus</strong> gesehen differenziert hat. Erinnerung an die Verluste<br />

und abstrakter Glaube an eine neue Weltsprache <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>,<br />

die Werner Haftmann voller Enthusiasmus propagierte, bilden<br />

die zwei Gesichter dieser <strong>Jahre</strong>. Merkwürdigerweise blieb das<br />

Absurde, Surreale o<strong>der</strong> Phantastische in diesem Jahrzehnt die<br />

Seltenheit. Der Surrealismus, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> deutschen Mo<strong>der</strong>ne<br />

lediglich eine Nebenrolle gespielt hatte, und auch die entsprechende<br />

Literatur hatten keinen Platz in dem rigiden Stildiktat<br />

zwischen Ost und West. In den Theatern wurden Goethes<br />

Iphigenie und Lessings Nathan <strong>der</strong> Weise als Beschwörung<br />

einer humanen Welt gespielt. Eugène Ionesco o<strong>der</strong> Samuel Beckett<br />

blieben erst einmal am Rande. In <strong>der</strong> Mehrheit suchte die<br />

bundesrepublikanische Gesellschaft eine unpolitische Ruhe und<br />

eine unverfängliche Schönheit.<br />

Die documenta II feierte 1959 noch einmal die Abstraktion<br />

als die neue Sprache, die sich – in einer versöhnlichen eleganten<br />

Gesellschaft – über die ganze westliche Welt verbreitet hatte.<br />

Aber schon hatte Jasper Johns in New York seine amerikanische<br />

Flagge gemalt, Richard Hamilton bereitete in London die Pop-<br />

Art vor, in Wien regten sich emotionale, radikale Umdeutungen<br />

<strong>der</strong> Abstraktion bei Arnulf Rainer. Auch im Rheinland formierten<br />

sich neue Kräfte, und stellvertretend für dieses Neue stehen die<br />

Namen von Georg Baselitz und Joseph Beuys.<br />

8 Joseph Beuys<br />

Ohne Titel, 1957<br />

1949–1959


1949 Der Volksrat erklärt sich zur<br />

provisorischen Volkskammer <strong>der</strong> DDR.<br />

Die deutsche Teilung ist besiegelt<br />

1951 Sieben Millionen sehen<br />

Hildegard Knef nackt in<br />

„Die Sün<strong>der</strong>in“. Die Kirche<br />

protestiert<br />

1954 K.O.Götz<br />

27.2.54<br />

1957 Die Eltern haben abgestimmt,<br />

die Kin<strong>der</strong> schwenken <strong>Deutschland</strong>-<br />

Fahnen: Das Saarland wird das<br />

zehnte Bundesland<br />

1949 Das Grundgesetz liegt auf<br />

dem Tisch – <strong>der</strong> Parlamentarische<br />

Rat feiert die Gründung <strong>der</strong><br />

<strong>Bundesrepublik</strong><br />

1952 Karl Hofer<br />

Die Flut<br />

1955 Die Sowjetunion lässt 10.000<br />

deutsche Kriegsgefangene frei.<br />

In Friedland treffen die Heimkehrer<br />

auf ihre Familien<br />

1957 Emil Schumacher<br />

Sodom<br />

1949 Werner Heldt<br />

Stilleben mit Häuserblick o<strong>der</strong><br />

Berlin am Meer<br />

1952 Das Fernsehen kommt nach<br />

<strong>Deutschland</strong>: Eine Familie wartet<br />

am ersten Weihnachtstag auf den<br />

Programmstart des NWDR<br />

1955 Das Wirtschaftswun<strong>der</strong> macht<br />

Ferienreisen wie<strong>der</strong> möglich – und<br />

deutsche Kin<strong>der</strong> lernen in Italien<br />

Spaghetti kennen<br />

1957 Freizeit im Wirtschaftswun<strong>der</strong>land:<br />

mit dem VW-Käfer beim<br />

Sonntags<strong>aus</strong>flug in <strong>der</strong> Eifel<br />

1949 Bundestagspräsident Köhler<br />

(2.v.l.) vereidigt Theodor Heuss zum<br />

ersten deutschen Bundespräsidenten<br />

1953 Volksaufstand am 17. Juni.<br />

Fahnenschwingende Arbeiter<br />

marschieren durch das Brandenburger<br />

Tor nach West-Berlin<br />

1955 Ernst Wilhelm Nay<br />

Stellar chromatisch<br />

1958 Ende <strong>der</strong> Erbfeindschaft –<br />

Bundeskanzler Adenauer empfängt<br />

Frankreichs Staatspräsidenten de<br />

Gaulle<br />

1949 Anfang einer Ära – Bundespräsident<br />

Heuss überreicht dem ersten<br />

Bundeskanzler Adenauer die Ernennungsurkunde<br />

1953 Bruno Goller<br />

Zwei Frauen<br />

1956 Nach dem deutsch-italienischen<br />

Anwerbeabkommen treffen die ersten<br />

50 Gastarbeiter auf dem Frankfurter<br />

Bahnhof ein<br />

1958 Nadja Tiller spielt „Das Mädchen<br />

Rosemarie“, eine Hure, die sich in <strong>der</strong><br />

High Society verirrt und ermordet wird<br />

1950 Willi Baumeister<br />

Chinesisch<br />

1953 Meilenstein: Das Karlsruher<br />

Bundesverfassungsgericht stellt fest,<br />

dass Männer und Frauen gleichberechtigt<br />

sind<br />

1956 Die Armee kehrt zurück: Die<br />

ersten 1.500 freiwilligen Soldaten <strong>der</strong><br />

Bundeswehr, angetreten zum Besuch<br />

von Kanzler Adenauer<br />

1958 Hans Uhlmann<br />

Kleines Karussell<br />

1950 52 Flüchtlinge <strong>aus</strong> <strong>der</strong> DDR marschieren<br />

nach Bonn. Bis 1989 begehen<br />

etwa drei Millionen Republikflucht<br />

1954 <strong>Deutschland</strong> ist Fußball-Weltmeister!<br />

In Bern tragen die Fans Fritz<br />

Walter (M.), er hält den Pokal<br />

1956 Hans Hartung<br />

T1956-26<br />

1959 US-Präsident Eisenhower (l.)<br />

fährt mit Kanzler Adenauer durch<br />

Bonn. Der frühere Feind wird als Friedensbringer<br />

gefeiert<br />

1951 Wols<br />

L’Inachevée<br />

1954 Mit <strong>der</strong> Unterzeichung <strong>der</strong><br />

Pariser Verträge wird <strong>Deutschland</strong><br />

zum Beitritt in die NATO eingeladen<br />

1957 Von <strong>der</strong> Streunerin zur Astronautin:<br />

Mischlingshündin Laika fliegt<br />

mit „Sputnik 2“ als erstes Lebewesen<br />

ins All<br />

1959 Otto Piene<br />

Lichtballett


32<br />

16. September 1949. Mit<br />

einem Verwaltungsakt kehrt<br />

<strong>Deutschland</strong> von den Schrecken<br />

<strong>der</strong> Nazi-Diktatur zurück<br />

zur Demokratie. In seinem<br />

schmucklosen Amtszimmer<br />

in Bad Godesberg überreicht<br />

Bundespräsident Theodor<br />

Heuss (r.) Konrad Adenauer<br />

die Ernennungsurkunde zum<br />

ersten Kanzler <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong>.<br />

Am Vortag hat <strong>der</strong><br />

Bundestag Adenauer mit nur<br />

einer Stimme Mehrheit zum<br />

Kanzler gewählt. Wie<strong>der</strong>aufbau,<br />

Westbindung und soziale<br />

Marktwirtschaft sind das<br />

politische Erbe, das <strong>der</strong> „Alte<br />

von Rhöndorf“ <strong>der</strong> <strong>Bundesrepublik</strong><br />

hinterlässt, als er im<br />

Oktober 1963 zurücktritt.<br />

/49


1949<br />

34<br />

Werner Heldt<br />

Werner Heldt ist <strong>der</strong> Maler <strong>der</strong> Großstadt Berlin, allerdings<br />

nicht als glamouröse, hektische Metropole von Wirtschaft,<br />

Politik, <strong>Kunst</strong> und Kultur, wie sie den meisten Menschen in den<br />

1920er <strong>Jahre</strong>n vorkommen musste, son<strong>der</strong>n in einer stillen,<br />

melancholischen Variante. Die Einsamkeit des Künstlers, den<br />

Homosexualität und sein Ringen um den Glauben in Schuldgefühle<br />

und Depressionen getrieben haben, spiegelt sich in den<br />

menschenleeren Straßen seiner Stadtansichten wi<strong>der</strong>, auf den<br />

Hinterhofmauern und den brüchigen Fassaden namenloser<br />

Häuserzeilen. Sein malerisches Frühwerk entsteht in den 1920er<br />

<strong>Jahre</strong>n unter dem Einfluss <strong>der</strong> traditionellen Milieu- und Genremalerei<br />

in <strong>der</strong> Art von Heinrich Zille, mit dem er befreundet<br />

war. Erst unter dem Einfluss von Maurice Utrillo, den er nach<br />

Abschluss seines Studiums 1930 in Paris aufsucht, verän<strong>der</strong>t<br />

sich sein Malstil. An die Stelle anekdotischer Erzähllust tritt die<br />

ereignislose Stille einsamer Straßenzüge und eine Art Raummagie,<br />

die das gesamte malerische Werk prägen wird. Das Bild<br />

<strong>der</strong> Stadt wird zu poetischen Formeln verdichtet. Die stilisierte<br />

Kulissenwelt wird <strong>aus</strong> verschiedenen Ansichten komponiert, um<br />

jeden Anflug einer topografischen Zuordnung zu vermeiden.<br />

Nach 1945, nach Phasen tiefer Depression, nach Kriegseinsatz<br />

und Gefangenschaft sucht Werner Heldt an die Arbeiten <strong>der</strong><br />

1930er <strong>Jahre</strong> anzuschließen. Die Stadtmotive werden in gebrochenen<br />

Perspektiven und trockener lehmiger Farbigkeit dargestellt.<br />

Davor werden stilisierte Stillleben gesetzt, die den Blick<br />

auf die Häuserfronten verbergen o<strong>der</strong> zumindest verkomplizieren.<br />

In Heldts späten Bil<strong>der</strong>n, wie auch in dem Stillleben mit<br />

Häuserblick von 1949, durchdringen sich das mo<strong>der</strong>ne (durch<br />

Kriegszerstörung entleerte) Stadtbild mit kubistisch anmutenden<br />

Stillleben zu einem neuen Genre des „abstrakten Stilllebens“,<br />

dem Heldts weitere künstlerische Entwicklung vielleicht gegolten<br />

hätte.<br />

Werner Heldt / Stilleben mit Häuserblick o<strong>der</strong> Berlin am Meer<br />

Öl auf Leinwand / 62 x 84 cm


324<br />

2009. Die Deutschen bekommen<br />

erst jetzt die Krise zu<br />

spüren, die bereits 2007 be-<br />

gann – als die US-Immobilienkrise<br />

das weltweite Finanzsystem<br />

erschütterte. Mit <strong>der</strong><br />

Pleite <strong>der</strong> Investmentbank<br />

Lehman Brothers im September<br />

2008 bröckelt das System<br />

weiter: Börsenkurse stürzen,<br />

weiteren Banken und Großfirmen<br />

droht <strong>der</strong> Bankrott.<br />

Mit Subventions-Milliarden<br />

stemmt sich <strong>Deutschland</strong> <strong>der</strong><br />

globalen Krise entgegen und<br />

schnürt gewaltige Konjunkturpakete,<br />

um eine Rezession<br />

zu verhin<strong>der</strong>n. Dennoch<br />

schicken viele Firmen ihre<br />

Arbeiter in die Kurzarbeit, die<br />

Arbeitslosenquote steigt.<br />

/09


2009<br />

326<br />

Tobias Rehberger<br />

Tobias Rehbergers Arbeiten oszillieren zwischen Objekt<br />

und Design, sie changieren zwischen autonomem <strong>Kunst</strong>werk<br />

einerseits und angewandter Gestaltung an<strong>der</strong>erseits. „High and<br />

Low“ stehen sich gleichberechtigt gegenüber und gehen oftmals<br />

ungewöhnliche Verbindungen ein. Im Mittelpunkt <strong>der</strong> Arbeiten<br />

von Rehberger stehen Fragen nach <strong>der</strong> Funktion von Dingen und<br />

<strong>der</strong> Autorschaft von <strong>Werke</strong>n. Dabei arbeitet er häufig mit Publikumsbefragungen<br />

o<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Dienstleistungsangeboten.<br />

Als Künstler tritt er so in den Hintergrund, um den Betrachter in<br />

das Zentrum seiner Arbeiten zu stellen. Rehberger initialisiert<br />

kommunikative Situationen, die von den jeweilig eingebundenen<br />

Personen eine gedankliche und kreative Leistung einfor<strong>der</strong>n.<br />

Diese dienen ihm als Ausgangspunkt für weiterführende konzeptionelle<br />

o<strong>der</strong> gestalterische Lösungen. Bekannte Elemente<br />

<strong>aus</strong> Architektur, Design und <strong>Kunst</strong>geschichte werden in neue<br />

ungewohnte Zusammenhänge gestellt und lenken den Blick auf<br />

das Beson<strong>der</strong>e im Alltäglichen.<br />

In letzter Zeit hat Rehberger viel mit künstlichem Licht<br />

gearbeitet. Für seine erste große Einzel<strong>aus</strong>stellung im ZKM<br />

Karlsruhe schuf Rehberger 2002 im zentralen Lichthof des<br />

Museums für Neue <strong>Kunst</strong> eine überwältigende Lichtinstallation<br />

<strong>aus</strong> 439 Lampen in verschiedenen Formen und Farben, die in<br />

einer an<strong>der</strong>en Version auch in Berlin gezeigt wird. Die Steuerung<br />

<strong>der</strong> Lampen erfolgt nicht von den Besuchern selbst o<strong>der</strong><br />

dem Museumspersonal, son<strong>der</strong>n wird von Aktivitäten an (weit)<br />

entfernten Orten beeinflusst, wie zum Beispiel dem Lichtverlauf<br />

im kalifornischen Arroyo Grande, <strong>der</strong> über das Internet vermittelt<br />

wurde, o<strong>der</strong> – wie bei <strong>der</strong> Installation in Berlin – durch das<br />

zufällige An- und Ausschalten des Lichts in Rehbergers Atelier.<br />

Der Installationsraum als Realraum des Betrachters wird nun<br />

durch eine an<strong>der</strong>e Zeit, repräsentiert durch das hineinprojizierte<br />

Licht, rhythmisiert. Man kann sich natürlich auch an <strong>der</strong> Ästhetik<br />

des „schönen Scheins“ erfreuen, die die sonst so <strong>aus</strong>geklügelte<br />

Ausstellungsbeleuchtung ironisch unterläuft.<br />

Tobias Rehberger / An<strong>der</strong>er<br />

Mundgeblasene wasserblaue Glaslampen, Schaltersteuerung MNK<br />

Installationsansicht MNK Karlsruhe, 2002


358<br />

Künstlerbiografien<br />

Kai Althoff<br />

geboren 1966 in Köln<br />

lebt und arbeitet in Köln<br />

Kai Althoff schafft Skulpturen, Bil<strong>der</strong>, Fotografien<br />

und Installationen, nutzt Performances<br />

als Ausdrucksmittel und arbeitet<br />

mit Druckgrafik und Buchgestaltung. Er war<br />

Illustrator für die Werbung und produziert<br />

Schallplatten. Mittlerweile betreibt er neben<br />

seiner bildenden <strong>Kunst</strong> die drei Musikprojekte<br />

„Workshop“, „Subtle Tease“ und „Fanals“, in<br />

denen oft mit <strong>der</strong> Überlagerung von Harmonie<br />

durch Störgeräusche gearbeitet wird.<br />

Althoffs Arbeiten sind geprägt von narrativen<br />

Elementen, in <strong>der</strong> Alter Egos auftreten,<br />

was zum Teil auch an den Titeln ablesbar<br />

ist (Erwachsen werden, Fabio, 1992 o<strong>der</strong><br />

Uwe, auf guten Rat folgt Missetat, 1994).<br />

Für seine <strong>Werke</strong> verwandelt Althoff den Ausstellungsort<br />

durch Tücher, atmosphärische<br />

Farbgebung und Gerüche in eine erfundene<br />

Lebenswelt, in <strong>der</strong> umfassende Erfahrungen<br />

gemacht werden können. Die Installationen<br />

rufen Assoziationen an die esoterische und<br />

„progressive“ Seite <strong>der</strong> 1970er <strong>Jahre</strong> hervor.<br />

Dabei werden die Themen Kultur, Politik,<br />

Sexualität und Religion behandelt, die um<br />

die Beziehung zwischen Gesellschaft und<br />

Individuum kreisen. In zahlreichen Gruppen<strong>aus</strong>stellungen,<br />

so in <strong>der</strong> Schirn <strong>Kunst</strong>halle, in<br />

<strong>der</strong> Deutschen Guggenheim, Berlin, und im<br />

New Yorker P.S.1 werden Kai Althoffs <strong>Werke</strong><br />

präsentiert. 2003 wird er zur Biennale von<br />

Venedig eingeladen, 2006 zur Berlin Biennale.<br />

2007 zeigt die <strong>Kunst</strong>halle Zürich eine<br />

umfassende Einzelschau seiner Projekte.<br />

Kai Althoff. Kai kein Respekt, Ausst.­Kat.<br />

Institute of Contemporary Art, Boston, 2004<br />

Kai Althoff. Ich meine es auf jeden Fall<br />

schlecht mit Ihnen, Ausst.­Kat. <strong>Kunst</strong>halle<br />

Zürich, 2007<br />

Horst Antes<br />

1936 geboren in Heppenheim/Bergstraße<br />

lebt und arbeitet in Karlsruhe, Berlin<br />

und Sicellino bei Castellina/Italien<br />

Horst Antes studiert 1957–59 bei HAP Grieshaber<br />

an <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>akademie Karlsruhe.<br />

Nach dem Studium erhält er Stipendien und<br />

wird mit <strong>Kunst</strong>preisen <strong>aus</strong>gezeichnet. 1964<br />

nimmt er an <strong>der</strong> documenta III, 1968 an <strong>der</strong><br />

documenta IV und 1977 an <strong>der</strong> documenta 6<br />

teil. Antes gehört zu den ersten Künstlern<br />

in <strong>Deutschland</strong>, die nach <strong>der</strong> Krise des<br />

Informel zur Figuration zurückkehren. Nach<br />

einer Reihe von expressiven Bil<strong>der</strong>n in <strong>der</strong><br />

Nachfolge von Willem de Kooning entwirft<br />

er Anfang <strong>der</strong> 19<strong>60</strong>er <strong>Jahre</strong> den „Kopffüßler“,<br />

eine rumpflose Gnomengestalt, die bis<br />

heute sein Markenzeichen geblieben ist. Mit<br />

dieser <strong>Kunst</strong>figur, die nicht nur in <strong>der</strong> Malerei<br />

als Chiffre für den kopflastigen mo<strong>der</strong>nen<br />

Menschen auftaucht, son<strong>der</strong>n auch in Reliefs<br />

und Plastiken verarbeitet wird, erobert Antes<br />

den internationalen <strong>Kunst</strong>markt. Anfang <strong>der</strong><br />

1980er <strong>Jahre</strong> wird <strong>der</strong> „Kopffüßler“ von einer<br />

Schablonenfigur abgelöst, die ab 1987 von<br />

einfachen Motiven wie Fenstern, Häusern<br />

o<strong>der</strong> Türen begleitet wird. 1965–73 und ab<br />

1984 ist Antes Professor an <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>akademie<br />

Karlsruhe. Seit 1959 zeigt er sein Werk<br />

in zahlreichen Einzel­ und Gruppen<strong>aus</strong>stellungen.<br />

1989 nimmt er den Hans­Molfenter­<br />

Preis <strong>der</strong> Stadt Stuttgart entgegen, 1991<br />

den Kulturpreis des Landes Hessen und den<br />

Großen Preis <strong>der</strong> XXI. Biennale São Paolo.<br />

Antes. Bil<strong>der</strong> 1959–93, Ausst.­Kat.<br />

H<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>, München, 1993<br />

Horst Antes: Und morgen mal’ ich<br />

vielleicht ein Bild, Ausst.­Kat. <strong>Kunst</strong>halle<br />

Würth, Schwäbisch Hall, 2006<br />

Stephan Balkenhol<br />

1957 geboren in Fritzlar, lebt und arbeitet<br />

in Karlsruhe und Meisenthal/Frankreich<br />

Nach einer polyglotten Schul<strong>aus</strong>bildung, unter<br />

an<strong>der</strong>em an <strong>der</strong> Europaschule in Luxemburg,<br />

studiert Balkenhol 1976–82 an <strong>der</strong> Hochschule<br />

für bildende Künste in Hamburg bei Ulrich<br />

Rückriem. Ein Stipendium <strong>der</strong> Karl Schmidt­<br />

Rottluff Stiftung ermöglicht es ihm, den Weg<br />

des professionellen Bildhauers einzuschlagen.<br />

1989 erhält Balkenhol den För<strong>der</strong>preis<br />

zum Internationalen Preis des Landes Baden­<br />

Württemberg, 1990 den Bremer <strong>Kunst</strong>preis.<br />

Seit 1992 hat <strong>der</strong> Künstler eine Professur für<br />

Bildhauerei an <strong>der</strong> Staatlichen Akademie <strong>der</strong><br />

Bildenden Künste Karlsruhe inne. Der Mensch<br />

steht im Mittelpunkt seiner Holz­ und Bronzeskulpturen,<br />

die <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> expressionistischen<br />

Skulptur folgen. Im Unterschied<br />

zum Expressionismus vermeidet Balkenhol<br />

aber <strong>aus</strong>drucksstarke Gesten o<strong>der</strong> verzerrte<br />

Mimik. Die zeitgenössisch wirkenden Figuren<br />

sind in ihrem Habitus distanziert, anonym<br />

und rätselhaft. Der Werkstoff Holz bleibt in<br />

den Skulpturen auch unter <strong>der</strong> Farbfassung<br />

deutlich sichtbar. Balkenhol hat bereits viele<br />

Skulpturen für den öffentlichen Raum geschaffen,<br />

unter an<strong>der</strong>em die Große Säulenfigur<br />

auf dem Senser­Platz in Lörrach, den<br />

Eisernen Mann in den barocken Gartenanlagen<br />

von Kleve, den Arm vor dem Deutschen<br />

Schifffahrtsmuseum Bremerhaven, Sphaera<br />

(ein Mann auf einer großen Goldkugel) auf<br />

dem Kapitelplatz in Salzburg o<strong>der</strong> die Bronzeskulpturen<br />

Mann + Frau vor <strong>der</strong> Hamburger<br />

Zentralbibliothek. Seit 1982 ist Balkenhol in<br />

nationalen und internationalen Ausstellungen<br />

vertreten. Eine Retrospektive seiner Arbeiten<br />

zeigen die Deichtorhallen Hamburg 2008/09.<br />

Matthias Winzen (Hg.), Stephan Balkenhol,<br />

Ausst.­Kat. Staatliche <strong>Kunst</strong>halle Baden­<br />

Baden, Köln, 2006<br />

Stephan Balkenhol. Retrospektive <strong>der</strong> <strong>Werke</strong>,<br />

Ausst.­Kat. Deichtorhallen Hamburg,<br />

Köln, 2008<br />

Georg Baselitz<br />

1938 geboren als Hans Georg Kern<br />

in Deutschbaselitz/Sachsen<br />

lebt und arbeitet in Inning/Ammersee<br />

Nachdem Baselitz sein Studium an <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>­<br />

hochschule Berlin­Weißensee wegen „gesellschaftspolitischer<br />

Unreife“ abbrechen muss,<br />

zieht er 1957 nach West­Berlin und studiert<br />

an <strong>der</strong> Hochschule für bildende Künste. Auf<br />

<strong>der</strong> Suche nach einem Weg zwischen Informel<br />

und doktrinärem Realismus setzt sich Baselitz<br />

– wie er sich seit 1961 nennt – mit <strong>der</strong> Anamorphose<br />

und <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong> von psychisch erkrankten<br />

Menschen <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>. Seine erste Einzel<strong>aus</strong>stellung<br />

1963 in <strong>der</strong> Galerie Werner & Katz in<br />

Berlin rührt so stark an sexuelle Tabus, dass<br />

zwei Bil<strong>der</strong> wegen Verdachts auf Pornografie<br />

beschlagnahmt werden (Die große Nacht im Eimer,<br />

1963). In zwei Manifesten (Pandämonium<br />

I und II, 1961 und 1962) sucht er seine Position<br />

innerhalb einer „vaterlosen Generation“ zu bestimmen.<br />

Der heroische Expressionismus ist<br />

dazu gen<strong>aus</strong>o wenig geeignet wie die spirituell<br />

verbrämte Abstraktion. Ab 1965 segmentiert<br />

er harmlose „deutsche“ Motive (Waldarbeiter,<br />

Jäger, jagende Hunde), zerstückelt sie und<br />

verstreut sie im Bildraum, ab 1969 schafft er<br />

durch das Auf­den­Kopf­Stellen <strong>der</strong> Motive<br />

eine eigenwillige Bildautonomie. „Aggressive<br />

Disharmonie“ soll <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>gabe einer<br />

fragwürdig gewordenen Realität entsprechen.<br />

Neben einem umfangreichen druckgrafischen<br />

Werk beginnt Baselitz um 1979/80 auch mit<br />

bildhauerischen Arbeiten. In jüngster Zeit dominieren<br />

abstrahierende Tendenzen und Repliken<br />

früherer Bil<strong>der</strong>. Einer Lehrtätigkeit an <strong>der</strong><br />

<strong>Kunst</strong>akademie Karlsruhe 1978–83 folgt bis<br />

1988 eine Professur an <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong>hochschule in<br />

Berlin, die er 1992 bis 2003 wie<strong>der</strong> aufnimmt.<br />

Peter­Kl<strong>aus</strong> Schuster (Hg.), Georg Baselitz.<br />

Top, Ausst.­Kat. <strong>Kunst</strong>halle Würth,<br />

Schwäbisch­Hall, 2008<br />

Toni Stooss, Georg Baselitz. Gemälde und<br />

Skulpturen 19<strong>60</strong>–2008, Köln, 2009<br />

Willi Baumeister<br />

1889 geboren in Stuttgart<br />

1955 gestorben in Stuttgart<br />

Mit Unterbrechungen besucht Willi Baumeister<br />

1905–22 die Stuttgarter <strong>Kunst</strong>akademie,<br />

wo er bei Adolf Hölzel studiert und Oskar<br />

Schlemmer kennenlernt. Nach Aufenthalten<br />

1911 in Paris und 1913 in Amden (Schweiz)<br />

nimmt Baumeister am Ersten Deutschen<br />

Herbstsalon <strong>der</strong> Berliner Galerie Der Sturm<br />

teil, einer Versammlung <strong>der</strong> gesamten<br />

damaligen Mo<strong>der</strong>ne. Nach dem Kriegsdienst<br />

kehrt Baumeister 1919 nach Stuttgart zurück<br />

und gründet die Üecht­Gruppe. Zwischen<br />

1919 und 1923 entstehen die Mauerbil<strong>der</strong><br />

und Ideogramme, <strong>der</strong>en Grund durch Beimischung<br />

von Sand und Kitt ein mauerartiges<br />

Relief erhält. 1924 lernt er in Paris die<br />

Künstler Fernand Léger, Amédée Ozenfant<br />

und Le Corbusier kennen. 1928 wird er an die<br />

Städelschule berufen und siedelt daraufhin<br />

nach Frankfurt am Main über. 1937 als „entarteter<br />

Künstler“ diffamiert, nimmt Baumeister<br />

dennoch an internationalen Ausstellungen<br />

in Paris und Basel teil und zeigt 1938 Bil<strong>der</strong> in<br />

<strong>der</strong> Londoner Exil<strong>aus</strong>stellung. Während des<br />

Krieges beginnt er mit <strong>der</strong> Arbeit an seiner<br />

bedeutenden Künstlerschrift Das Unbekannte<br />

in <strong>der</strong> <strong>Kunst</strong> (1947). Baumeister wird zum<br />

Fürsprecher <strong>der</strong> Abstraktion und verteidigt<br />

diese gegenüber konservativen Haltungen.<br />

1949 tritt er <strong>der</strong> Gruppe ZEN 49 bei und wird<br />

zur Leitfigur <strong>der</strong> neuen abstrakten Malerei<br />

in <strong>Deutschland</strong>. Von 1946 bis zu seinem<br />

Tod 1955 hat Baumeister eine Professur<br />

an <strong>der</strong> Stuttgarter <strong>Kunst</strong>akademie inne.<br />

Willi Baumeister, Ausst.­Kat. Neue<br />

Nationalgalerie Berlin, Berlin, 1989<br />

Gottfried Boehm, Willi Baumeister,<br />

Stuttgart, 1995

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