freundet, der dem kleinen <strong>Jean</strong> zum Einschlafen Geschichtenvon einem als Priester getarnten Wolf erzählte.<strong>Rollin</strong> würde später Filme mit viel Eros und religiöserIkonographie drehen, die man auch als Märchenfür Erwachsene bezeichnen könnte. Wer diese in einenkulturgeschichtlichen Zusammenhang einordnen will,hat in Batailles Schriften einen guten Ausgangspunkt.<strong>Rollin</strong> verfügte nur über rudimentäre praktische Kenntnisse,als er mit 20 Jahren seinen ersten Kurzfilm inszenierte.Nachdem er mit einem selbst finanzierten,unvollendet gebliebenen Langfilm (mit Dialogen vonMarguerite Duras) seine Ersparnisse verloren hatte,entdeckte er eine Nische, die ihm einen Grad an künstlerischerFreiheit gewährte, von der renommiertere Kollegennur träumen konnten, solange er sich an zweisimple Regeln hielt: Er musste ein fast nicht existentesBudget einhalten, und seine Darstellerinnen mussten ingewissen Abständen die Hüllen fallen lassen, damit derProduzent Abnehmer fand.<strong>Rollin</strong>s erster Vampirfilm, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhenim Mai 1968 in Paris uraufgeführt, warein Skandalerfolg. Bei LE VIOL DU VAMPIRE deutensich schon einige der Elemente an, die dann zu seinenMarkenzeichen werden sollten: <strong>Die</strong> ungewöhnlich starkenFrauenfiguren. <strong>Die</strong> meditative Mischung <strong>des</strong> Melodramatischenmit dem Bizarren. Das Anzitieren vonAutoren wie Gaston Leroux und Gustave Gailhard sowieder surrealistischen, von Illustratoren wie Gino Staracegestalteten Umschläge ihrer Sensations- und Kriminalromane.Das Nebeneinander von Vergangenheit undGegenwart. Das Trügerische der Erinnerung. <strong>Die</strong> Liebezu alten, dem Untergang geweihten Bauten, vomSchloss über die Villa auf dem Lande bis zu von der Abrissbirnebedrohten Mietquartieren im Pariser ArbeiterundEinwandererviertel Belleville. <strong>Die</strong> hypnotisch langsameErzählweise. Und ein unheimlicher Strand, der in<strong>Rollin</strong>s Filmen immer wieder auftauchen und zu seinerSeelenlandschaft werden sollte wie das Monument Valleyfür John Ford. Kritiker sahen darin ein Sammel -surium von Idiosynkrasien und den fehlgeleiteten Ausdruckswilleneines Dilettanten. Das greift zu kurz.<strong>Rollin</strong> schrieb das »Szenario« für den 1967 erschienenenKult-Comic »Saga de Xam«, in dem eine Agentinvon einem fernen Planeten zur Erde und dort durch Zeitund Dimensionen reist. Das gibt die Richtung für seinefilmischen »Traumflüge« vor (wie er sie nennt), aufdenen er falsch und richtig Erinnertes, Träume undRealität, Vergangenes und soeben Erlebtes mischt,ohne die Übergänge immer kenntlich zu machen. ImIdealfall gelingen ihm atmosphärische, von einer morbidenMelancholie durchdrungene Bilder, die aus sichselbst heraus so stark sind, dass sie sich mit anderensolchen Bildern zu einer zusätzlichen, parallel zur Handlungverlaufenden oder diese kreuzenden Bedeutungsebeneverbinden. Statt mit den Mitteln <strong>des</strong> realistischenKinos phantastische Inhalte zu erzählen, versucht<strong>Rollin</strong> in seinen Filmen, eine dem Phantastischenadäquate Form zu finden, »eine Öffnung hin zu einer<strong>Jean</strong> <strong>Rollin</strong>7LE FRISSON DES VAMPIRES
<strong>Jean</strong> <strong>Rollin</strong>8Poesie <strong>des</strong> Anderswo«, wie er es im Spätwerk LA NUITDES HORLOGES formuliert, mit dem er ein Resümeeseines Schaffens zieht.<strong>Rollin</strong> war ein echter auteur: also einer, der einem Film,obwohl Produkt der Anstrengung von vielen Leuten,seinen ganz persönlichen Stempel aufdrückt. Das bestreitennicht einmal seine Gegner. Im Nachhinein fragtman sich, warum es ihm nicht glückte, als Teil der nouvellevague zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Mit Truffaut,Chabrol und Godard, die alle ein paar Jahre älterals er waren, verband ihn die Lust an der Dekonstruktionüberkommener Genremuster. Doch das Trennendeüberwog (am ehesten lässt er sich noch mit JacquesRivette vergleichen). <strong>Rollin</strong> bewunderte den poetischenRealismus der Filme von Marcel Carné und JacquesPrévert, gegen den sich die Kritiker der Cahiers du cinémaum Truffaut polemisch abgrenzten, mischte ihnmit Horror-, Comic- und Pop-Art-Elementen, gab Surrealismus,Fetischkostüme, nackte Busen, alte Gemäuer,Geheimgesellschaften sowie Verweise auf Malereiund Literatur mit dazu, inszenierte lyrische Dialogpassagenim deklamatorischen Stil von Prévert und ironisiertediesen durch von den Darstellern improvisierteUnsinnssätze, ersetzte die psychologisch-realistischeErzählweise durch assoziative Bilderfolgen, favorisiertedie episodisch offene Handlung der ciné-romans vonLouis Feuillade (LES VAMPIRES) und der US-Serials der1930er und 1940er Jahre. Für Zuschauer, die gern dieeigene Phantasie walten lassen und die sich nicht amGängelband durch eine vorgegebene Geschichte führenlassen wollen, hat diese wilde, auf Kinokonventionenkeine Rücksicht nehmende Melange etwas ungemeinBefreien<strong>des</strong>. Aber sie war auch so originell, dasssie zu keiner Gruppierung passte.<strong>Rollin</strong>s Filme fragen, ob die Lebenden von den Totenoder die Toten von den Lebenden träumen, ob dieToten tot sind oder die Lebenden noch nicht lebendig.Es wird nicht überraschen, dass er, selbst mehrfacherAußenseiter, den Außenseitern seine Sympathienschenkte. Aus dem gängigen Horrorpersonal suchte ersich die Vampire aus, weil sie den Menschen amnächsten sind. Oft sind <strong>Rollin</strong>s Monster sogar humanerals die Menschen. Seine Vampirfrauen sind oft blindoder stumm, werden das Opfer von männlichen Übergriffen,von Umweltsünden oder von die Normabweichungnicht tolerierenden Familien, müssen sich einenPlatz am Rande einer Gesellschaft erstreiten, die sienicht haben will. Er mag Frauen, die in einer männlichenWelt wie Schwestern sind und ein auch sexuellesVerhältnis zueinander haben. Das Ungekünstelte undLaienhafte der Darstellerinnen verleiht seinen Sexszeneneine mit Unschuld gepaarte Erotik, die sie vondenen anderer Regisseure unterscheidet. Dabei sindseine Frauen beileibe nicht nur Opfer und Lustobjekte.Das Rachemotiv nimmt in seinem Werk eine zentraleStelle ein. Vermutlich war es all das, was <strong>Rollin</strong> so interessantfür Ovidie machte, Frankreichs prominentesteVertreterin <strong>des</strong> »sex-positiven Feminismus«.»Wir müssen uns der Idee hinter der offiziellen Filmgeschichtewidersetzen, dieser würdevollen Prozessionvon ›wichtigen Werken‹, die einige der aufregendstenFilme und Filmemacher im Schatten versteckt hält«,schreibt Martin Scorsese in einem seiner Texte zu denabseits der großen Studios und der institutionalisiertenFinanzstrukturen operierenden Helden der No-Budget-Produktion. »Je anrüchiger das Genre und je niedrigerdas Budget, <strong>des</strong>to weniger hat man zu verlieren und<strong>des</strong>to mehr Freiheit hat man, zu experimentieren undneue Bereiche auszuloten.« Kaum einer machte davonmehr Gebrauch als <strong>Jean</strong> <strong>Rollin</strong>. Holen wir ihn also ausdem Schatten.Hans SchmidLES PAYS LOINS (DAS WEITE LAND) – Frankreich1965 – R+B: <strong>Jean</strong> <strong>Rollin</strong> – K: Gérard de Battista – D:Pascal Fardoulis, Nadine Ninio, Bernard Papineau, BenZimet – 17 min, OmeU – Ein Mann und eine Frau geratenin eine Parallelwelt mit babylonischem Sprachgewirr;auf der Suche nach einem Ausweg begegnen sieSchwarzafrikanern, Arabern und dem Sänger Ben