Klausur 2011 - StyrianARTfoundation

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Edith Temmel Seit einiger Zeit kommt in den künstlerischenArbeiten von Edith Temmel ein verstärkter Impuls zu graphisch-skripturaler Formgebung zum Ausdruck. Bereits ihre eher malerischen „Übersetzungen“ bzw. Transformationen musikalisch-synästhetischer Wahrnehmung wurden immer wieder durch graphisch-figurale Elemente ergänzt und der musikalischen Diktion entsprechend in „Figuren“ überführt. Die musikalische Sequenzialität „drängt“ im Grunde auf visueller Ebene zur Linie, während die malerische Fläche bzw. die sich flächig ausweitenden Farbvariationen eher den Eindruck bzw. die Qualität der Gleichzeitigkeit evozieren. Nicht zufällig wurde ja die Gestalttheorie anhand musikalischer Phänomene entwickelt, da sich die musikalische „Figur“ als „Gestalt“ (d.h. als einheitliches Gebilde) nur in temporaler Abfolge ergibt – und nur durch diesen Prozess „in der Zeit“ werden einzelne Töne auch wirklich zu Tönen. Für die Wahrnehmung akustischer Phänomene als Töne ist sowohl ein (imaginärer) Rückgriff als auch ein antizipativer Vorgriff auf mögliche folgende Töne notwendig, um ein musikalisches Muster erkennen zu können – und ohne dieses temporale „Muster“ existiert für das menschliche Gehör gleichsam kein einzelner Ton! Alles andere ist nur undefinierbares „Rauschen“! Daraus ergibt sich beinahe notwendig, dass auch jede malerisch-graphische Umsetzung musikalischer Formen, will sie die musikalischen Gestaltqualitäten wiedergeben, nicht auf graphisch-lineare Ausdruckselemente verzichten kann. Dieser fundamentale Dualismus von Tonhöhe bzw. „Tonfarbe“ gegenüber Tonfolge und umgelegt auf die optisch-visuellen Werte von Farbe (und deren „Raum“) bzw. „Farbton“ gegenüber der graphischen Figuration bestimmte ja bereits die malerischen „Kompositionen“ W. Kandinskys. Der Zusammenhang von musikalischer und malerisch-graphischer „Logik“ durch die Bedingungen von Linie und Figur (Linearität und Figuralität) wird in den vorliegenden Arbeiten von Edith Temmel auf das Phänomen der Schrift bzw. Skripturalität ausgeweitet. Dabei zeigt sich, dass auch Schriftformen – und seien sie noch so abstrahiert – im Grunde Figur und Gestalt sind. Jeder Buchstabe ist primär eine Figuration und Gestalt(ung) mit spezifischen ästhetischen Qualitäten. Verloren geht diese Wahrnehmung der ästhetischen Qualitäten der Schrift (in Kulturen mit einer alphabetischen Schrift) vor allem zugunsten einer schnellen Erschließung der von den Worten angezeigten Bedeutungen. Edith Temmel versucht nun den umgekehrten Weg der „Verschriftlichung“ – sie betont die ästhetischen Qualitäten gegenüber der inhaltlichen Bedeutungsebene. Dass skripturale Formen eigentlich figurale Formen sind und dass das Gemeinsame von Linie, Figur und Schrift in der Bedingung der „Bewegung“ liegt, erkannte Edith Temmel anhand der von Sklaven „gekritzelten“ Zeichen, mit denen sie ihre „Unterschrift“ leisteten. Das Phänomen der Schrift ist eben fundamental im Motiv der „Bewegung“ begründet – aus dieser heraus bilden sich musikalische wie auch visuelle, malerische wie schriftliche Figurationen. Dem entsprechend liegt den vorliegenden Arbeiten auch die Idee zu Grunde, aus dem „Bewegungs-Fluss“ von schriftartigen Lineaturen heraus Figurales zu gestalten. Ob als Ausgangsmotive photographische Impressionen (hier aus Italien) oder gar nur das Text-Bild einiger Seiten des Buches „Walden“ von Henry David Thoreau 1 dienen (vgl. die mit Japantusche „geschriebene“ Serie graphischer Blätter), Edith Temmel „übersetzt“ sie im wahrsten Sinne des Wortes in ein Bild der Schrift, das eben die Bewegung der Verschriftlichung zum Bild und zu Figuren-Skizzen werden lässt. Als Hilfestellung zur Entschlüsselung der thematischen Verbindung zwischen den photographischen Motiven und den Zitaten aus Thoreaus „Walden“, leitet die Künstlerin ihre graphisch-skripturale „Übersetzung“ durch kurze, auch für den Betrachter „lesbare“ Sätze aus „Walden“ ein, um sie in weiterer Folge immer stärker in eine rein figurative Schrift-Bewegung zu transkribieren. Während vor allem diese graphischen Übersetzungen die Schrift in ihrer Bildqualität bewusst machen (insbesondere weil diese „Buchstaben“ und „Wortfolgen“ aufgrund ihrer gegebenen „Unlesbarkeit“ von jeder Orientierung an der inhaltlichen Bedeutungszuschreibung gleichsam „befreien“), müsste man im Sinne der Lesbarkeit des ursprünglichen Textes gerade wieder den „Bildcharakter“ ausblenden und auf das konventionelle „Schriftbild“ der lateinischen Buchstaben zurückgreifen, um die Gedankenwelt von „Walden“ erschließen zu können. 42 43 1 Henry David Thoreau (1817–1862) war mit dem amerikanischen Dichter Ralph Waldo Emerson befreundet und gehörte dem Umkreis der unitarischen Bewegung des amerikanischen Transzendentalismus an. Er kämpfte gewaltfrei gegen die Sklaverei und wurde zum Namensgeber des „zivilen Ungehorsams“. Sowohl Mahatma Gandhi als auch Martin Luther King beriefen sich auf seine Schrift: „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849). In einer selbst gebauten Blockhütte verbrachte er zwei Jahre am See „Walden Pond“, die dabei entstandenen tagebuchartigen Aufzeichnungen und Überlegungen zu den verschiedensten Themen (z. B. Ökonomie, Laute, Nachbar Tier etc.), erschienen unter dem Titel „Walden oder Leben in den Wäldern“. Neben minutiösen Beobachtungen und Reflexionen über die Natur (Tiere) gibt es auch gesellschaftskritische, aber auch selbstreflexive Ausführungen, die ihn teilweise sowohl für die vormarxistische Arbeiterbewegung, für den Naturschutz wie eben auch für Bewegungen des zivilen Widerstands zur „Berufungsinstanz“ werden ließen. ÜBERSETZUNGEN ZU HENRY DAVID THOREAU, 2011 Japantusche/Pinsel auf Japanpapier (Serie) je 70 x 50 cm
„ALS OB MAN DIE ZEIT...“, 2011 Acryl/Fotoleinen 90 x 120 cm „IN MEINEM HAUS...“, 2011 Acryl/Fotoleinen 90 x 120 cm Übersetzung: „Als ob man die Zeit totschlagen könnte, ohne die Ewigkeit zu verletzen…“ (Zitat: H. D. Thoreau, Walden) Übersetzung: „In meinem Haus waren wir einander so nah, dass wir nicht anfangen konnten zu hören – wir konnten nicht leise genug reden um gehört zu werden…“ (Zitat: H. D. Thoreau, Walden) Übersetzung: „Im Erwerben von Ruhm sind wir sterblich, aber im Forschen nach Wahrheit sind wir unsterblich…“ (Zitat: H. D. Thoreau, Walden) „IM ERWERBEN VON RUHM...“, 2011 Acryl auf Fotoleinen 90 x 120 cm Übersetzung: „Warum sollten sich die Völker immer nur durch ihre Architektur und nicht auch durch große, abstrakte Gedanken ein Denkmal setzen?… Es gab hier einmal einen verrückten Kerl, der plante, sich bis China durchzugraben. Nach seinen eigenen Worten kam er so weit, dass er schon das Klappern der chinesischen Töpfe und Kessel hörte…“ (Zitat: H. D. Thoreau, Walden) „WARUM SOLLTEN SICH DIE VÖLKER...“, 2011 Acryl auf Fotoleinen 90 x 120 cm 44 45
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