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Skriptum - LSF Graz

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Peter Trummer, Religiöse Wunderheilungen<br />

Dass Krankheit und Heilung einen religiösen Konnex haben, versteht sich eigentlich von<br />

selbst. Doch ist es durchaus nicht selbstverständlich, dass dieser in einem solchen Rahmen<br />

auch zur Sprache kommen kann. Nur: Krankheit und Heilung, oder besser: das Leben in<br />

seiner Ausgesetztheit und Vergänglichkeit, kann unmöglich nur Spezialist/inn/en oder<br />

pauschalen Ratgebern überlassen bleiben, sondern stellt alle Menschen, ob gläubig oder<br />

nicht, vor die Grundfragen ihrer Existenz, in denen wir alle uns, unabhängig von den<br />

kulturellen, persönlichen oder fachlichen Zugängen, wiederfinden können.<br />

Auch die Theologie kann keine allein selig machenden Antworten geben, aber sie hat<br />

einen unverzichtbaren Beitrag und sogar so etwas wie Abbitte und Wiedergutmachung zu<br />

leisten, denn sie hat diesen wichtigen Aspekt lange Zeit stark vernachlässigt. Es ist<br />

erstaunlich und beschämend, wie bereitwillig die christlichen Kirchen sich von ihrem<br />

umfassenden Heils- und Heilungsauftrag im Sinne Jesu auf eine bloße Seelsorge und rein<br />

jenseitiges Seelenheil zurückziehen konnten und die Sorge für den Leib und den konkreten<br />

Menschen weitgehend ausklammerten, bzw. sich erst dort wieder einklinkten, wo die<br />

Medizin mit ihrem Latein am Ende war und das Feld nur zu bereitwillig wieder anderen<br />

überließ.<br />

Doch war auch eine fachmedizinische Versorgung durchaus nicht allen Bedürftigen<br />

jederzeit verfügbar und zudem war und ist sie nicht immer nur optimal. Die Menschen<br />

hatten immer schon Nischen der Selbsthilfe zu suchen. In der alten Welt boten sich dafür<br />

die vielen Asklepiosheiligtümer an, in denen mit Musik, Tempelschlaf und Traumdeutung<br />

kuriert wurde 1 . Weise Frauen, Naturheiler/innen und Bauerndoktoren spielen auch in<br />

unserer Kultur eine wichtige Rolle, und nicht zu vergessen die Religion mit ihrem<br />

flächendeckenden Pfarrsystem und den Wallfahrtsorten im Besonderen.<br />

Lourdes, das bekannteste Phänomen unserer Tage, sei eingangs näher vorgestellt: Es fußt<br />

auf den 18 Marienvisionen der Bernadette Soubirous 2 , welche 1858 abseits der bekannten<br />

pyrenäischen Wasserkurorte im Rahmen einer Vision eine Quelle freilegte. Ein sonst<br />

vergessener Ort zog plötzlich großes Interesse auf sich, nur die Kirche blieb zurückhaltend<br />

1 Vgl. z.B. die Inschriften von Epidauros bei Lynn R. LiDonnici, The Epidaurian miracle inscriptions. Text,<br />

translation and commentary (Society of Biblical Literature 36: Graeco-Roman religion series 11), Atlanta 1995<br />

oder die zahlreichen anatomischen Votivgaben (spätes 5./4. Jh. v. Chr.) im Museum von Korinth.<br />

2 Ihre Geschichte wurde zuletzt vom Luzerner Liturgiewissenschafter Patrick Dondelinger, Die Visionen der<br />

Bernadette Soubirous und der Beginn der Wunderheilungen in Lourdes, Regensburg 2003, umfassend<br />

gewürdigt.


und schwenkte erst ein, als Bernadette das „weiße Etwas“, das sie sah, sich als „Unbefleckte<br />

Empfängnis“ (und nicht als die unbefleckt Empfangene) vorstellen hörte. Dies war genau<br />

die Formulierung des vier Jahre zuvor verkündeten Dogmas, wodurch Bernadettes Visionen<br />

sozusagen ihre himmlische Bestätigung fanden, wenn die Gottesmutter selbst diesen<br />

kirchlichen Begriff absegnete.<br />

Zur Wirkungsgeschichte 3 : Jährlich besuchen an die fünf Millionen Menschen aus etwa<br />

140 Ländern den Wallfahrtsort, darunter ca. 70.000 Schwerkranke 4 . Insgesamt wurden an<br />

die 7000 Heilungen dokumentiert 5 – bisweilen werden sogar bis zu 30.000 kolportiert –, im<br />

Vergleich dazu sind die kirchlichen Bestätigungen rar, nämlich 67 6 . Anfangs waren es<br />

mehr, während es in den letzten Jahrzehnten trotz gestiegener Besucher/innen/zahlen eher<br />

still um Anerkennungen wurde. Zum großen Bekanntheitsgrad von Lourdes hat übrigens<br />

auch Franz Werfel beigetragen. Der jüdische Schriftsteller hatte auf seiner Flucht vor den<br />

Nazis mit seiner Frau Alma Mahler einige Wochen in Lourdes zugebracht und den Roman<br />

„Das Lied von Bernadette“ für seine Rettung gelobt. Es wurde sein größter Erfolg.<br />

Die Kirche verehrt Bernadette seit 1933 als Heilige, aber mit den von ihr initiierten<br />

Heilungen tut sie sich keineswegs leicht. So wurden in Lourdes nur somatische<br />

(körperliche) Heilungen dokumentiert, weil bei neurotischen und psychotischen Leiden eine<br />

Bewertung zu schwierig erschien. Bei den anerkannten Heilungen steht die Tuberkulose an<br />

erster Stelle, gefolgt von Nervenerkrankungen, Krankheiten des Skeletts und der<br />

Muskulatur, auch fünf maligne Erkrankungen sind darunter 7 . Seit 1883 prüft ein eigenes<br />

medizinisches Büro die Heilungsberichte, seit 1954 ist das Komitee international angelegt.<br />

Nach gründlicher ärztlicher Expertise leitet der Bischof von Lourdes den Akt an den<br />

Diözesanbischof weiter, der für den oder die Geheilte(n) zuständig ist und dann auch über<br />

3<br />

Vgl. Andreas Resch, Die Wunder von Lourdes, 67 anerkannte Heilungen (Reihe R 5), Innsbruck 2009. Der<br />

Redemptorist und Innsbrucker Grenzwissenschafter hat seine Dokumentation zugänglich gemacht unter:<br />

http://www.igw-resch-verlag.at/resch/index.html?http://www.igw-resch-verlag.at/resch/artikel/lourdes.html;<br />

(15.12.10). – Die statistischen Angaben folgen vor allem Thilo H. Buchmüller, Wunderheilungen als Zeugnis für<br />

die Marienerscheinungen in Lourdes, in: Forum Katholische Theologie 25 (2009) 218-223.<br />

4<br />

Vgl. Michel de Roton, Art. Lourdes, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl. Bd. 6, Freiburg 1997,<br />

1068.<br />

5<br />

Herbert Kappauf, Wunder sind möglich. Spontanheilung bei Krebs, Freiburg 2003, 125 u.a. sprechen von 4000.<br />

6<br />

Resch, Wunder III. Die letzten Anerkennungen erfolgten 1989, 1999 und 2005 (ebd. 119). NB: Zum Zeitpunkt<br />

des Erscheinens des in Anm. 4 genannten Lexikonbandes waren es noch 65!<br />

7<br />

Die näheren Daten: 80 Prozent der Heilungen betreffen Personen weiblichen Geschlechts, die bevorzugte<br />

Nation ist die französische, doch auch eine Deutsche, eine Österreicherin und ein Schweizer zählen zu den<br />

Begünstigten. Unter den Geheilten finden sich acht Nonnen, zwei Ordensleute, ein Priester. Die meisten<br />

Heilungen erfolgten im Alter zwischen 20 und 40, die jüngste mit zwei Jahren, die älteste mit 64. In 48 Fällen ist<br />

sie verbunden mit dem Gebrauch des Lourdeswassers, sei es durch Baden, Auftragen oder Trinken, jedoch<br />

werden auch sechs Heilungen allein durch Fürbitten berichtet (ohne dass die Geheilten in Lourdes gewesen<br />

wären). In acht Fällen wird der Segen mit dem Allerheiligsten als Wendepunkt genannt, der<br />

Kommunionempfang nur in drei.<br />

2


eine offizielle kirchliche Anerkennung entscheidet. Übrigens wertschätzen auch die<br />

Muslime die Jungfrau Maria sehr und besuchen deren Wallfahrtsorte 8 , aber wenn sie von<br />

Heilungen berichten, kann keine kirchliche Bestätigung erfolgen.<br />

Dennoch kann die Aktenlage wohl kaum das ganze Phänomen beschreiben. Wir wissen zu<br />

wenig, was Menschen trotz so geringer (zumindest offizieller) Chancen motiviert, dorthin<br />

zu pilgern, außer dass es kaum einen Ort gibt, der für Kranke und Behinderte so gut<br />

erreichbar wäre, was Lourdes zum zweitgrößten Wallfahrtsort der Welt macht, nur noch<br />

deutlich abgeschlagen vom mexikanischen Guadalupe. Die österreichische Regisseurin<br />

Jessica Hausner, eine Tochter des Malers Rudolf Hausner, hat sich in ihrem preisgekrönten<br />

Film „Lourdes“ (2009) dem Thema in beeindruckender Weise angenähert und auch eine<br />

Heilung präsentiert.<br />

Gewiss kehren viele Besucher/innen (über die Geschlechterstatistik wissen wir nicht<br />

Bescheid) enttäuscht zurück, weil sich ihr Leiden nicht verändert hat und sie sich auch nicht<br />

verlieben konnten wie Frau Christine aus dem Hausnerfilm, die es zumindest<br />

vorübergehend trotz multipler Sklerose aus dem Rollstuhl hebt. Doch ist ebenso damit zu<br />

rechnen, dass nicht alle Menschen eine etwaige Besserung oder sogar Heilung auch publik<br />

machen wollen. Sie sind an der Bewältigung ihres Problems interessiert, nicht am<br />

Hindernislauf einer formellen Anerkennung oder dem Neid, der ihnen entgegenschlägt, weil<br />

Wunder nicht nur erstrebenswert, sondern auch ungerecht erscheinen müssen.<br />

Zum Verständnis ist hier etwas weiter auszuholen: Die Kirche des 19. Jahrhunderts war<br />

ausgesprochen restaurativ bis reaktionär und verteidigte ein direktes – durch Glauben und<br />

Gebet herbeizurufendes – außergewöhnliches Eingreifen Gottes gegen den rein<br />

mechanischen Naturbegriff ihrer Zeit 9 . Doch so streng dieses Kriterium in Lourdes<br />

gehandhabt wurde, in den unverhältnismäßig vielen Selig- und Heiligsprechungen des<br />

letzten Papstes wurden die Gebetserhörungen geradezu inflationär gehandelt. Es ist noch<br />

nicht so lange her, dass die Medien höchst süffisant von den schon vor Jahrzehnten<br />

geheilten Krampfadern einer Nonne bei der Seligsprechung des letzten österreichischen<br />

Kaisers berichteten.<br />

8<br />

In Fatima kommt noch der Umstand hinzu, dass die jüngste Mohammedtochter gleichen Namens als „Mutter<br />

der Frauen der Welten“ verehrt wird.<br />

9<br />

Christoph Schönborn sprach zum Lourdesjubliäum von einem „der stärksten Beispiele für die Souveränität des<br />

Himmels“ und die „Freiheit Gottes“. Vgl.<br />

http://webcache.googleusercontent.com/search?q=cache:0BiJVsUWGzwJ:www.kbwn.de/html/lourdes_i.html+s<br />

ch%C3%B6nborn+lourdes+souver%C3%A4nit%C3%A4t+des+himmels&cd=1&hl=de&ct=clnk&gl=at; (14.<br />

12. 10).<br />

3


Auf der Suche nach dem Übernatürlichen galt es in Lourdes sogar als Vorteil, dass sein<br />

Wasser keinerlei therapeutischen Effekt aufzuweisen hatte, weil eine Heilung sich dann nur<br />

der direkten Fügung des Himmels verdanken könnte 10 . Dabei musste es sich auf jeden Fall<br />

um eine schwere Krankheit handeln; außerdem musste sichergestellt sein, dass keine<br />

wirksamen Medikamente zur Verfügung standen oder die verwendeten unwirksam waren,<br />

die Heilung hatte plötzlich zu erfolgen und dauerhaft zu sein 11 – das unterscheidet sie vom<br />

Begriff einer Spontanheilung 12 , für die eine signifikante, nicht auf Medikamente und<br />

Behandlung zurückzuführende Besserung der Befunde auf drei Monate ausreichen kann.<br />

Die kirchliche Sicht der Übernatur entstammt jedoch noch einer Zeit vor Quantenphysik,<br />

Molekularbiologie und dergleichen. Im aktuellen Weltbild hingegen haben sich die zuvor<br />

starren Grenzen der Zeit und des Raumes weitgehend entflochten, auch die Materie selbst<br />

scheint durchlässig zu sein für Information und Transzendenz usw. 13 , was selbstredend auch<br />

Konsequenzen für das Verständnis von Krankheit und Heilung mit sich bringt. Auch in<br />

Lourdes spricht man nicht mehr von „unerklärlichen“ Heilungen, sondern von<br />

„unerwarteten“, „bestätigten“ oder „außergewöhnlichen“ 14 .<br />

Um die Religion als Heilfaktor zu würdigen, müssen wir jedoch auch einen Blick dorthin<br />

riskieren, wo sie effektiv krank machen kann. Gemeint sind die dunklen Zusammenhänge<br />

von Schuld und Strafe, auf die unser christlich-abendländisches Denken so sehr fixiert ist.<br />

Da gibt es nicht nur die unbedarften Äußerungen kirchlicher Würdenträger, die Aids zu<br />

einer, ihre eigene Moral einpeitschenden Gottesgeißel erklären wollen. Auch Menschen, die<br />

mit Religion nichts mehr am Hut haben, können höchst selbstdestruktive Tendenzen<br />

aufweisen und man darf sich fragen, wofür sie denn – vielleicht völlig unbewusst – einen<br />

vorzeitigen Tod herbeizwingen wollen? Und nicht wenige reagieren beim Auftauchen eines<br />

neuen Leidens fast reflexartig mit: Was habe ich nur falsch gemacht? Wofür werde ich jetzt<br />

bestraft?<br />

Die praktische Frömmigkeit konnte mit dem strengen Gottesbild nie so richtig und hielt<br />

sich stattdessen an Maria als Fürsprecherin, Gnadenmittlerin oder Schutzmantelmadonna.<br />

Seit dem Barock und Rokoko findet sich auf Säulen oder an den ersten Stockwerken von<br />

10 Vgl. Dondelinger, Visionen 176f.<br />

11 So die Kriterien seit Prospero Lambertini, dem späteren Benedikt XIV. (bei Resch, Wunder 10f).<br />

12 Sie werden unter anderen von der amerikanischen Biochemikerin Caryle Hirshberg oder dem Herausgeber der<br />

Zeitschrift: Psychologie heute, Heiko Ernst, erforscht.<br />

13 Ronald Grossarth-Maticek (er arbeitet am Multidisziplinären Forschungszentrum Religion Gesundheit und<br />

Gesellschaft in Heidelberg), Formen der Religiosität und ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Kreativität, in:<br />

Wege zum Menschen 62 (2010) 313-331; 330f.<br />

14 Vgl. Michael Bönte: kirchensite http://kirchensite.de/index.php?myELEMENT=120718 (29.12.10).<br />

4


Häusern häufig das Bild der kosmischen Frau aus Offenbarung 12, umkleidet mit der Sonne<br />

und zwölf Sternen, den Mond zu ihren Füßen 15 . Das ist vom Bibeltext her sicher nicht oder<br />

nicht nur auf Maria gemünzt, aber die Kirche sah diese Verbindung gerne und die Menschen<br />

ebenso. Dabei symbolisiert die Gestalt aus der Apokalypse mit ihren Geburtswehen zum<br />

Messiaskind so etwas wie die mütterliche Barmherzigkeit Gottes. Und gerade eine solche<br />

wollten die Menschen möglichst oft vor Augen haben, um sich und ihr Leben daran<br />

aufzurichten.<br />

Allerdings hatte auch die Abspaltung der göttlichen Barmherzigkeit auf Maria ihre<br />

Problematik. Mit ihr wurde zwar eine Frau wenigstens nachträglich in fast göttlichen Rang<br />

erhoben (in dem Isis und andere längst waren), die Strenge des patriarchalen Gottesbildes<br />

mit zorniger Gerechtigkeit und Verdammung wurde damit jedoch mehr retuschiert als<br />

entschärft. Denn Barmherzigkeit ist nicht wirklich vermittelbar, sie kann nur aus dem<br />

innersten Wesen einer Person selbst erwachsen. Sinnigerweise beschreibt die hebräische<br />

Bibel das göttliche Erbarmen mit dem pluralen Ausdruck Mutterleib (réchem/ rachamím),<br />

an den auch die Einleitung jeder Koransure hörbar erinnert. Die griechische Bibel setzt<br />

dafür, vielleicht noch provokanter, die Eingeweide (splángchna). Solch emotionale<br />

Redeweise ist notwendig, wenn wir uns auch im Glauben an etwas, oder besser: an<br />

jemanden halten wollen, und das geht nun einmal nur über gefühlvolle Beziehungen, nicht<br />

über letzte Prinzipien oder abstrakte Ideen.<br />

Auch Maria musste für ihre Verehrung und Idealisierung einen (zumindest für uns)<br />

schmerzlichen Preis bezahlen. Denn als „Unbefleckte Empfängnis“ ist sie der menschlichen<br />

Erfahrungswelt gänzlich enthoben, womit sichergestellt sein sollte, dass der Erlöser von<br />

keiner Erb- oder sonstigen Sünde jemals berührt wurde. Und dazu musste er jungfräulich,<br />

und das heißt: ohne Zeugungslust und dafür strafenden Geburtsschmerz (vgl. Gen 3,16)<br />

Mensch werden – was jedoch auf die Sonnenfrau aus der Apokalypse überhaupt nicht<br />

zutrifft (vgl. Offb 12,2). In die Niederungen des Alltags hinabtransponiert bedeutete die<br />

hohe Marienminne: Die zahlreichen marianischen Kongregationen zur Zeit Bernadettes<br />

dienten, wie auch der Sakramentenempfang, vor allem der vorehelichen Keuschheit junger<br />

Mädchen (wenn nicht eifrige Priester gleich auch eine „Josefsehe“ ohne Sex propagierten).<br />

Nur: dass solch systematische Lustverdrängung nicht gerade lebensfreundlich war bzw. erst<br />

recht den Missbrauch und eine Doppelmoral beförderte, dringt erst heute ins Bewusstsein.<br />

Das also konnte die Heilkraft der Religion noch nicht wirklich gewesen sein.<br />

15 In <strong>Graz</strong> gibt es über 50 Beispiele dafür.<br />

5


An die 1200 unabhängige Studien der letzten zwanzig Jahre belegen 16 , dass religiöse<br />

Menschen im Vergleich zu atheistisch eingestellten Personen ca. fünf bis sieben Jahre<br />

länger leben, weniger im Krankenhaus sind, normalen Blutdruck haben, sich mehr bewegen,<br />

weniger trinken oder rauchen, besser mit Stress umgehen und Lebenskrisen erfolgreicher<br />

bewältigen. All diese Wohltaten setzen ein vertrauensvolles Gottesbild voraus, während ein<br />

fordernder, auf Wirkung kalkulierter Glaube keine positiven Gesundheitseffekte hat. Also<br />

Vorsicht: Religion ist weder als Medikament zu verordnen noch einzunehmen – sie will<br />

zweckfrei ausgeübt werden! Dabei sind nicht die persönliche Frömmigkeit oder das private<br />

Gebet daheim oder in der Natur ausschlaggebend, sondern die mit dem Gottesdienst<br />

verbundenen Sozialkontakte.<br />

Wenn wir diese späten Einsichten auf das Phänomen Lourdes umlegen, dann handelt es<br />

sich dabei nicht nur um einen respektablen Wirtschaftszweig, der sich nicht mehr<br />

überflüssig machen möchte. Kranke entfliehen aus welch Gründen immer, zumindest<br />

kurzzeitig ihrer gewohnten Umgebung und Zwangslage, machen sich, einigermaßen<br />

kostengünstig und gut betreut, auf den Weg, finden sich in anderen Leidtragenden<br />

solidarisch wieder, versammeln sich zu gemeinsamem Gebet und Prozessionen und<br />

gewinnen in ihrer persönlichen Not vielleicht doch hilfreiche Ablenkungs- wenn nicht neue<br />

Orientierungspunkte. Und auch wenn spektakuläre Heilungen selten bzw. vielleicht gar<br />

nicht zu erwarten sind, für den Umgang gerade mit dem Unabänderlichen sind solche<br />

äußeren und inneren Aufbrüche offenbar doch hilfreich. Denn woher sollte eine geistige<br />

Unterstützung auch kommen, wenn nicht von der Religion oder zumindest von einer<br />

Sichtweise, in der Menschen sich nicht selbst genügen müssen, sondern sich noch auf etwas<br />

anderes beziehen können.<br />

Und hier liegt noch immer der springende bzw. wunde Punkt: Wir alle kommen<br />

irgendwann, aber unausweichlich dorthin, wo es keine Heilung mehr gibt und geben kann.<br />

Doch wir suchen nicht nur eine solche, wir suchen das Heil 17 , und das heißt die Lösung und<br />

Erlösung für unser Sein, was nur durch Sinnfindung möglich wird. Eine solche ist vielleicht<br />

sogar das größere Wunder als eine spontane, spektakuläre und dennoch immer nur<br />

vorübergehende Heilung, die nie und nimmer den Tod ersparen kann.<br />

Wir kommen zur Bibel:<br />

16 Vgl. zum Folgenden Grossarth-Maticek, Formen 328f.<br />

17 Vgl. auch Christoffer H. Grundmann, Heilung statt Erlösung?, in: Wege zum Menschen 62 (2010) 2-15.<br />

6


Bereits König Salomo wird der Satz zugeschrieben: Honigwaben sind freundliche Worte,<br />

Süßigkeit für die Seele und Heilung für den Körper (Spr 16,24). Der Spruch würdigt die<br />

Bedeutung freundlicher Worte (offensichtlich weiß man auch um das Gegenteil) und<br />

beschreibt ihre honiggleiche Wirkung, wohltuend für die Seele (néphesch), das heißt für das<br />

Lebewesen, seine Atmung, das Gemüt oder wie immer, und Heilung für das mehr Feste am<br />

Menschen, die Knochen, den Körper (ézem). Die parallele Stilfigur ist noch weit entfernt<br />

von unserer heutigen Trennung von Leib und Seele. Denn nach der Bibel hat der Mensch<br />

nicht nur eine Psyché, er ist eine Psyché, oder genauer: er wird zu einer lebenden Psyché<br />

dadurch, dass Gott ihm den Odem des Lebens ins Angesicht einhaucht (Gen 2,7). Diese<br />

Psyché ist nicht nur dem Menschen vorbehalten, sie gilt allen Lebewesen (Gen 1,21.24 u.a.).<br />

Was bedeutet: Wir können unser Wohlbefinden nicht allein auf uns selbst, unseren Leib<br />

bzw. unsere Seele (was immer wir darunter verstehen) konzentrieren, sondern wir<br />

bekommen das Leid, das wir anderen Lebewesen antun, in irgendeiner Weise doch selbst<br />

wieder zurück. Wir essen ja nicht nur pures Fleisch mit Fett, Eiweiß bzw. Medikamenten-<br />

oder Futtermittelrückständen, sondern auch die Todesangst der Tiere irgendwie mit.<br />

Ebenso müssten wir nach der Bibel sagen, der Mensch hat nicht einen Leib, er ist Leib.<br />

Unsere Organe, Glieder und vor allem die vielen Billionen Körperzellen korrespondieren<br />

vielfältig miteinander, ohne dass wir dies im Einzelnen oder umfassend durchschauen<br />

könnten. Es leidet jedoch nie ein isolierter Teil an uns, es leidet immer der ganze Mensch.<br />

Doch wir können uns auch nicht als ganz empfinden oder selbst erfahren, ohne<br />

leibseelischen Umgang miteinander zu haben. Für die Gesundheit ist dieser Umstand von<br />

größter Bedeutung, seine Einschränkung bzw. sein Fehlen mindern die Lebensqualität,<br />

machen unweigerlich krank.<br />

Wie ganzheitlich unser Thema unter biblischen Vorzeichen zu sehen ist zeigt der Begriff<br />

des Schalom, den die semitischen Sprachen bis heute im Gruß bemühen. Er bedeutet nicht<br />

nur Frieden als die Abwesenheit von Krieg, sondern das Wohlbefinden, die Unversehrtheit,<br />

Wohlfahrt, Vollständigkeit, Freundschaft, Heil, Gesundheit, Sicherheit 18 . Dieses glückliche,<br />

geglückte Menschsein war immer schon erstrebenswert, lange bevor es mit den<br />

Stadtkulturen und der Erfindung des Geldes zur Differenzierung der Berufe kam und es<br />

auch dann noch die längste Zeit unklar bleibt, welche Voraussetzungen etwa für den<br />

Arztberuf erforderlich sind 19 .<br />

18<br />

Ludwig Koehler/ Walter Baumgartner, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, 3. Aufl.<br />

Leiden 1990; Lf. IV, 1395.<br />

19<br />

Literatur bei Reinhard von Bendemann, Christus der Arzt – Krankheitskonzepte in den Therapieerzählungen<br />

des Markusevangeliums, in: Biblische Zeitschrift NF 54 (2010) 36-53, 162-178; 162f.<br />

7


Das hebräische Wort ‚Arzt‘ (rophé) ist das Partizip eines Verbs (raphá), das ursprünglich<br />

wohl ‚ausbessern, flicken, zusammennähen‘ (von Wunden und Brüchen) meint.<br />

Metaphorisch verweist übrigens der Name Raphael aus dem späten biblischen Buch Tobit<br />

auf Gott als den Heilenden/ (‚Arzt‘) schlechthin 20 . Diese personifizierte Seite Gottes in<br />

Gestalt eines christlichen Erzengels bietet sich als kundiger Weg- und Lebensbegleiter an,<br />

der heilsame Familienverbindungen stiftet.<br />

Auch meint das griechische Wort therapeúein nicht bloß unser heutiges, vielleicht<br />

fachtechnisches ‚Heilen‘, sondern ‚aufmerksam sein, dienen (auch den Göttern), sorgen<br />

bzw. Essen oder Kleidung vorbereiten, pflegen, trainieren, reparieren‘. All dies klingt im<br />

Fremdwort Therapie zwar noch an und nach, ohne dass wir uns seiner ursprünglichen<br />

Bedeutungsfülle immer bewusst wären. Gemeint ist jedoch: Aufmerksamkeit, Dienst am<br />

Menschen, wenn nicht sogar so etwas wie Gottesdienst.<br />

Die Bibel kennt unseren Wunderbegriff und seine Engpässe nicht. Für sie ist so ziemlich<br />

alles wunderbar, worüber wir uns noch wundern und dankbar sein können, auch wenn es<br />

scheinbar das Natürlichste der Welt ist wie ein Sonnenaufgang, das Wachstum oder<br />

persönliche Schicksalsfügungen, die glücklich ausgehen. Wunderheilungen gibt es nicht erst<br />

im Neuen Testament, sie finden sich bereits im so genannten Alten, nicht nur in den<br />

einschlägigen Erzählungen, sondern vielleicht noch mehr in der verhaltenen Gebetssprache<br />

der Psalmen 21 . Auch das Umfeld der Bibel kennt unterschiedlichste Heilungswunder. All<br />

diese Geschichten (inklusive der Bibel) sind jedoch nicht pauschal als Schwindel,<br />

Aberglaube oder Demagogie zu denunzieren, sondern bekunden je in ihrer Art ein Stück<br />

Protest bzw. Hoffnung oder sogar die Erfahrung, dass die augenscheinlichen Zustände nicht<br />

immer schon alles gewesen sein können, sondern noch irgendwelche Veränderungen aus-<br />

und anstehen, und bisweilen auch tatsächlich irgendwie möglich werden.<br />

Im Markusevangelium begegnen solche Heilungserzählungen ausnehmend verdichtet 22 .<br />

Sie firmieren dort aber nicht als Wunder, sondern als dynámeis 23 , was soviel heißt wie<br />

‚dynamische’, also kräftige, wirksame Taten bzw. Ereignisse. Das Johannesevangelium<br />

sieht in ihnen Zeichen (sēmeía) und erzählt insgesamt (nur) symbolträchtige sieben davon,<br />

20 So ausdrücklich bereits in Ex 15,26.<br />

21 Vgl. dazu Johannes Schiller, Heilung im Gebet? Der Weg von der Klage zum Lob in den Psalmen, in: Josef<br />

Pichler/ Christoph Heil (Hg.) Heilungen und Wunder. Theologische, historische und medizinische Zugänge,<br />

Darmstadt 2007, 53-59.<br />

22 Nach von Bendemann 38 (s. Anm. 18) ist es innerhalb der gesamten Literatur des 1. Jahrhunderts „ein<br />

extravaganter Text“.<br />

23 Mk 5,30; 6,2.5.14; 9,39.<br />

8


um Jesus als das Licht der Welt (Joh 8,12) bzw. als die Auferstehung und das Leben (Joh<br />

11,25) vorzustellen.<br />

Moderne klinische Diagnosen liefern diese Geschichten allerdings nicht. Vielmehr<br />

beschreiben sie sehr allgemein leidvolle Erfahrungen und menschliche<br />

Grundbefindlichkeiten 24 . Auch sind ‚Schwäche‘ und ‚Krankheit‘ im Hebräischen und<br />

Griechischen kaum zu differenzieren (holí 25 bzw. asthēneia). Nur dreimal erfahren wir<br />

ausdrücklich, dass Fieber mit im Spiel war 26 . Was insofern bemerkenswert ist, als dieses<br />

unter anderem als Strafe für die Nichtbeachtung der göttlichen Weisung gilt (Lev 26,16; Dtn<br />

28,22), ein Zusammenhang, der in einer Jesusheilung nicht nur überwunden, sondern<br />

grundsätzlich negiert wird. Ein Seitenblick: Auch heute werden außergewöhnliche<br />

Heilungen öfters in Verbindung mit Fieber beobachtet 27 .<br />

Dass Jesus Heilung anzubieten hat, hat weniger mit schamanischen oder exorzistischen<br />

Fähigkeiten zu tun, auch nicht mit einer erklärten Konkurrenz zu den Ärzten, als mit seinem<br />

Gottesbild, in dessen Namen er sich jenen zuwendet, die es schlecht haben (Mk 1,34). Seine<br />

erste Seligpreisung gilt den Armen (Mt 5,3; Lk 6,20). Sie sind meist auch die Schwachen/<br />

Kranken, die vom Leben Benachteiligten und Bedrückten, darunter insbesondere die<br />

Sünder/innen, die nach Meinung der Frommen von Gott ohnehin nur Krankheiten zu<br />

erwarten hätten, wogegen schon das Buch Hiob protestiert. Doch geht Jesus einen<br />

entscheidenden Schritt weiter: Er hat keine Scheu, Kranke und Unreine zu berühren bzw.<br />

sich berühren zu lassen oder sich mit den Ausgegrenzten an einen Tisch zu setzen, was ihm<br />

– und dort stehen wir historisch auf gewachsenem Fels –, den Ruf als Esser und Weintrinker<br />

und Freund von Zöllnern und Sündigen einbringt (Mt 11,19/ Lk 7,34).<br />

Eine der ersten Heilungen, die Jesus nach Markus wirkt, ist die Heilung eines Gelähmten,<br />

im Griechischen eines ‚Paralysierten‘, der von Vieren getragen werden muss und wegen der<br />

Menschenmenge durch das Dach vor Jesus hinabgelassen wird. Drastischer lässt sich die<br />

Dringlichkeit einer Jesusintervention nicht beschreiben. Doch zuerst vergibt Jesus dem<br />

Gelähmten seine Sünden; erst danach fordert er ihn auf, sein Bett aufzuheben und nach<br />

Hause zu gehen (Mk 2,1-12). Ob diese Szene wirklich so passiert ist, oder erst nachträglich<br />

24<br />

In Griechischen (und im Neuen Testament) sind es vor allem verneinende (mit a-privativum anlautende)<br />

Begriffe der Nicht-Stärke (asthēneia), des kraftlos-Seins (árrōstos) bzw. allgemeine Beschreibungen wie<br />

daniederliegen (kámnein: Jak 5,15), Weichheit/ weich (malakía/ málakos), Erleiden von Folterqualen<br />

(basanízomai). Nur nósos ist eindeutig ‚Krankheit, Not‘ oder so ähnlich.<br />

25<br />

Die Wurzel bedeutet ‚schwach/ krank sein, Schmerz empfinden‘, oder seltener auch dewáj in der<br />

Grundbedeutung ‚unrein sein, menstruieren, traurig/ elend sein‘.<br />

26<br />

Bei der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,30f), beim Sohn/ Diener des königlichen Beamten (Joh 4,52) und<br />

der letzten Heilung des Paulus (Apg 28,8).<br />

27<br />

Wie von Uwe Hobohm in Gießen beforscht. Vgl. http://idw-online.de/pages/de/news243770. (12. 12. 10).<br />

9


„verdeutlicht“ wurde, ist sekundär. Dass jedoch Schuld, sei es echte Schuld oder auch nur<br />

Schuldgefühle, eine lähmende Wirkung hat, ist unbestreitbar. Schuld kann auf vielerlei<br />

Weise bewegungs- und handlungsunfähig machen. Auch die bei Markus folgende Heilung<br />

einer völlig vertrockneten Hand (Mk 3,1.3) weist in dieselbe Richtung, ohne dass dieser<br />

Zusammenhang noch eigens thematisiert wird.<br />

Die von Jesus zugesagte Vergebung wird jedoch nicht automatisch wirksam. Erstens<br />

müssen wir darum beten und zweitens sie auch selber üben, wann und wo immer uns<br />

gegenüber etwas „daneben geht“ (Mt 6,12.14f). Ohne diese aktive „Entsorgung“ 28 unserer<br />

eigenen Verletzungen kann nicht einmal die göttliche Vergebung ihre heilsame Wirkung in<br />

uns entfalten. Diese Konsequenz kommt zwar in den Heilungsgeschichten nicht direkt vor,<br />

wird aber in den Gleichnissen höchst schockierend überzeichnet 29 , und ihre Verweigerung<br />

wäre in der Tat ein verhängnisvoller Irrtum. Wenn wir nämlich immer nur andere für unser<br />

Leben verantwortlich machen, dann schieben wir nicht nur die ganze oder halbe Schuld auf<br />

sie, wir werden gleichzeitig an uns selber schuldig, weil wir – um im Bild zu bleiben – nur<br />

damit beschäftigt sind, anderen eine lange Schleppe „nach-zu-tragen“ und folglich nicht zu<br />

dem kommen, was allein unserem Leben Sinn und Kraft geben kann. Also noch mehr Frust!<br />

Und dazu stelle man sich nur die Biochemie eines Menschen vor, der ständig sauer auf<br />

andere ist, aber auch mit Angst, Trauer oder Einsamkeit lebt es sich erfahrungsgemäß nicht<br />

sonderlich gut.<br />

Bereits Kinder können es extrem schlecht haben: Die Tochter des Synagogenvorstehers<br />

Jairus z.B. liegt dermaßen danieder (Mk 5,23), dass sie nicht zum eigenen Leben kommt,<br />

obwohl sie mit Zwölf und der kurzen Lebenserwartung in der alten Welt fast schon das<br />

heiratsfähige Alter erreicht hat. Kinder können unter der offiziellen Funktion oder den<br />

Berufen ihrer Eltern ungemein leiden und total erdrückt oder ausgehungert werden,<br />

weswegen Jesus sogleich Nahrung für das erweckte Mädchen verlangt. Oder ein anderes<br />

Einzelkind: der Knabe mit dem Plagegeist, der ihn (bildlich gesprochen) ins Feuer und ins<br />

Wasser wirft, aber nicht von den Jünger/inne/n, sondern nur von Jesus selbst therapiert,<br />

geheilt, oder auferweckt werden kann 30 , eine ziemlich selbstkritische Geschichte, mit der die<br />

frühe Kirche offen eingesteht, dass sie auch nicht alles kann. Zur Heilung ihrer Kinder<br />

müssen die Eltern sich auf den Weg zu Jesus machen. Mit ihrer Jesusbegegnung aber ist<br />

nicht einmal mehr seine leibhaftige Anwesenheit erforderlich, damit sich sogar auf die<br />

28 Der griechische Text spricht von ‚lassen, loslassen, entlassen, wegschicken‘ usw. (aphíēmi).<br />

29 Mt 18,22-35; Lk 7,41ff.<br />

30 Vgl. Mt 17,18; Lk 9,42; Mk 9,27.<br />

10


Stunde genau eine Besserung ergibt, wie beim Sohn oder Knecht des königlichen Beamten<br />

(Joh 4,52f).<br />

Wenn die Bibel, oder präziser: eigentlich nur das Neue Testament in der Sprache seiner<br />

Zeit von „bösen“ oder „unreinen Geistern“ redet, dann bestätigt dies nicht deren reale<br />

Existenz, sondern fungiert als Bild für Geisteskrankheiten, wie sie im Gefolge von<br />

Unterdrückung gehäuft auftreten, weil Menschen sich offensichtlich nicht mehr anders<br />

Ausdruck und Luft verschaffen können. Nicht umsonst verweist der Name eines solchen<br />

Quälgeistes mit ‚Legion‘ (Mk 5,9) subversiv auf die römische Gewaltherrschaft, die sich<br />

symbolisch selbst ertränkt. Und vielleicht dürfen auch wir die biblischen Ungeister als<br />

Chiffren dafür lesen, dass uns der herrschende „Zeitgeist“ in tausenderlei Facetten das<br />

Leben schwer macht und um jeden Handlungsspielraum bringt.<br />

Im Weltbild des alten Orients sind die Toten nicht wirklich tot, sondern leben als „die<br />

Schwachen“ schlechthin 31 in einer Art Schattenexistenz in der Unterwelt weiter und können<br />

von dort auch wieder hervorgerufen werden, was für uns so nicht mehr zutrifft. Wir haben<br />

anhand der biblischen Totenerweckungen vor allem zu realisieren, dass viele Schwache und<br />

Kranke aus eigener Kraft kaum mehr hochkommen, sondern einer tatkräftigen Aufrichtung<br />

und Aufweckung von außen bedürfen bzw. dass es gar nicht so wenige Menschen gibt, die<br />

zwar noch irgendwie dahinvegetieren, aber innerlich längst tot und abgestorben sind.<br />

Nur einmal, und zwar bei der Heilung der blutenden Frau 32 , findet sich eine unverhohlene<br />

Kritik an den Ärzten, nicht nur an den ruinösen Kosten, sondern auch am Leid, das sie<br />

zusätzlich verursachen (Mk 5,26). Christliche Heilung jedoch ist grundsätzlich kostenlos<br />

(Mt 10,8), ihr Aufwand minimal. Ein Wort, eine Berührung reicht, das Äußerste ist das<br />

Allheilmittel Spucke (Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6). Und man muss in diesem Kontext auch<br />

kulturelle Eigenheiten bzw. die Vielgeschäftigkeit der Medizin als solche hinterfragen:<br />

Wieso z.B. greifen deutsche Frauenärzte im Vergleich zu französischen so viel rascher zum<br />

Messer? Oder etwas symbolischer, aber nicht weniger massiv: Warum dürfen sich Frauen in<br />

unserer Kirche nur verausgaben, ohne eigenverantwortlich mitzugestalten? Auch die<br />

Aufrichtung der achtzehn Jahre sich verkrümmenden Frau in der Synagoge (Lk 13,11-17)<br />

hat sich anscheinend noch nicht herumgesprochen, sonst würde die Gleichberechtigung<br />

anders ausschauen. Wieso dies ausdrücklich betont werden muss? Die Heilungswunder<br />

verstehen sich nicht als harmlose Anekdoten über glückliche Ausnahmefälle, sondern als<br />

31 Rephaím, das ist nicht nur der symbolträchtige Name für den (ausgestorbenen) Hauptstamm der<br />

Urbevölkerung Palästinas (Gen 14,5 u.a.), sondern auch eine sinnige Bezeichnung für die Verstorbenen<br />

überhaupt (Jes 14,9; Ps 88,11 u.a.).<br />

32 Vgl. P.T., Die blutende Frau. Wunderheilung im Neuen Testament, Freiburg 1991.<br />

11


Normerzählungen: Was in ihnen beschrieben wird muss immer wieder unter Beweis gestellt<br />

werden, ist konstitutiver Bestand der christlichen Botschaft.<br />

Bei der Reinigung der Aussätzigen kann infolge der biblischen Symptombeschreibungen<br />

(Lev 13/14) noch nicht der morbus Hansen gemeint sein 33 . Doch obwohl Hautkrankheiten<br />

als besonders schwierig gelten, sie reagieren dennoch auf seelische Befindlichkeiten und<br />

Veränderungen, angefangen von simplen Warzen bis hin zu Melanomen 34 . Auch die Lepra<br />

ist Spontanheilungen durchaus zugänglich, selbst ihre schlimmste Form ist medikamentös<br />

gut behandelbar. Doch Millionen Kranke fürchten immer noch die soziale Ächtung und oft<br />

haben sie auch keinen Zugang zu Medikamenten. Und ein weiteres: Aller Aufklärung und<br />

den Menschenrechten zum Trotz werden Menschen bis heute allein auf Grund ihrer<br />

Hautfarbe ausgegrenzt. Sie für „rein“ und gesellschaftlich voll integer zu erklären (und<br />

darum geht es in der Bibel vor allem), wäre eine dringende Aufgabe, ihre Durchführung ein<br />

echtes Wunder!<br />

Semitische Sprachen umschreiben körperliche Blindheit gerne mit „lichtreich, offenem<br />

Auge, sehend oder sogar scharfsichtig“ 35 . Das ist nicht nur orientalische Rhetorik bzw.<br />

Euphemismus, der sich scheut, Unangenehmes beim Namen zu nennen, sondern reflektiert<br />

die Tatsache, dass unsere Augen beunruhigend leicht an der Oberfläche hängen bleiben,<br />

während Blinde unter Umständen tiefer blicken als Normalsichtige. Was genau Thema der<br />

Bibel ist. Dementsprechend heißt auch das Ergebnis der Heilungen nicht unbedingt „wieder<br />

sehend werden“ (wie meist zu lesen), sondern ‚aufschauen‘ (anablépein) 36 , weil Menschen<br />

die perspektiven- und mutlos geworden sind, nicht so sehr neue Brillen brauchen, sondern<br />

Mitmenschen, die sie nicht noch tiefer demütigen, sondern ihnen aufrichtige und<br />

aufrichtende Perspektiven der Hoffnung vermitteln, was meist nur unter Einbindung bzw.<br />

Sanierung des sozialen Umfelds möglich wird 37 .<br />

Blindheit bzw. Taubheit haben biblisch gesehen vorwiegend mit einem verstockten,<br />

verfetteten (Jes 6,10) Herzen zu tun. Das Ergebnis solcher Herzenshärte (sklērokardía: Sir<br />

33 Vgl. meinen Beitrag: Leprose reinigt – Dämonen werft hinaus! (Mt 10,8). Krankheitsvorstellungen im Umfeld<br />

des Neuen Testaments: Fakten, Deutungen, Wirkungsgeschichte, in: Walter Schaupp/ Hans-Walter Ruckenbauer<br />

(Hg.), Macht Religion gesund? Christliches Heilsangebot und Wellness-Kultur (Theologie im kulturellen Dialog<br />

14), Innsbruck/ Wien 2010, 97-118; 105-109.<br />

34 Vgl. z.B. http://www.krebsinformationsdienst.de/themen/grundlagen/spontanheilung.php. (16. 12. 10).<br />

35 Literatur bei Gillis Gerleman, Bemerkungen zur Terminologie der „Blindheit“ im Alten Testament, in: Svensk<br />

exegetisk årsbok 41/42 (1967/77) 77-80; 78.<br />

36 Vgl. P.T., Daß meine Augen sich öffnen. Kleine biblische Erkenntnislehre am Beispiel der Blindenheilungen<br />

Jesu, 2. Aufl. Stuttgart 1999.<br />

37 Das hat die Befreiungstheologie richtig gesehen, auch wenn sie den Segen Roms nie dafür bekam. Doch ohne<br />

das Wirken z.B. von Landsleuten und Bekannten wie dem Bischof und Alternativen Nobelpreisträger Erwin<br />

Kräutler oder dem Menschenrechtsaktivsten und brasilianischen Gefängnisseelsorger Günther Zgubic wäre die<br />

Welt noch viel unheiler.<br />

12


16,10 u.a.) ist: Wir hören zwar etwas, aber verstehen die Botschaft nicht (Jes 6,10/ Mt<br />

13,15), weil wir auf andere Stichworte warten oder es auch uns die Rede völlig verschlagen<br />

hat (Mk 7,32; 9,17) bzw. die Mitwelt alles Mögliche von uns zu hören bekommt, nur nicht<br />

das erlösende Wort, das sie schon so lange ersehnt.<br />

In dieser Hinsicht werden wir alle uns nicht einfach als „völlig gesund“, sondern ebenso<br />

als leidend und bedürftig erkennen. Auch Jesus heilt nicht als unverletzlicher Held, sondern<br />

auf seinem Weg ins Leiden. Und obwohl sein Wirken durchaus Analogien zu dem eines<br />

Arztes aufweist (Mk 2, 17/ Mt 9,12; Lk 5,31), der christliche Heilungsauftrag (Mt 10,8)<br />

kann weder eine Medizin noch eine Psychotherapie ersetzen. Seine Perspektiven und<br />

Vorgaben sind – zum Glück – andere, denn er lebt und wirkt (fast müssten wir mit Luther<br />

sagen: allein) aus dem Glauben an einen gütigen Gott, der möchte, dass wir Leben in<br />

Überfülle haben, und zwar als spürbare Wirklichkeit schon jetzt, nicht erst im Jenseits (Joh<br />

10,10).<br />

Etliche Heilungen schließen mit dem Satz: Dein Glaube hat dich gerettet (Mt 9,22 u.a.),<br />

worin bereits das endgültige Heil durchleuchtet. Dabei nimmt auch der Helfer sich wieder<br />

zurück und deutet den Heilungsprozess als dialogischen Geschehen, mit Schwerpunkt auf<br />

dem Vertrauen des/ der Geheilten. Und wenn es zum Schluss heißt: er/ sie wurde gesund<br />

gemacht (iáthē: Mt 8,13 u.a.), dann beinhaltet dies nicht nur ein ärztlich vorzeigbares<br />

Ergebnis 38 , sondern wird in der passiven Verhüllung auch Gottes Wirken bedacht. Heilung<br />

wird ja nie allein von Menschen gemacht, sie ereignet sich am ehesten innerhalb eines<br />

therapeutischen Beziehungsgeschehens, das sich erst über seine triadische Struktur „nach<br />

oben“ für Überraschendes öffnet.<br />

Auch eine säkularisierte Medizin hat sich von diesem Urwissen nie ganz gelöst. So<br />

knüpfen z.B. die üblichen drei Medikamentengaben pro Tag eher an die alten Gebetszeiten<br />

an, als dass sie physiologisch in jedem Fall so indiziert wären bzw. zitiert das berühmt-<br />

berüchtigte Placebo wörtlich Psalm 114,9 nach der lateinischen Bibel, wo der Dank für die<br />

Errettung aus Todesgefahr mit der Zuversicht schließt: „Ich werde gefallen (placébo) dem<br />

Herrn in der Region der Lebenden“ 39 .<br />

38 Wie auch durch hygiēs (‚gesund‘) z.B. Mt 12,13 u.a.<br />

39 placebo Domino in regione vivorum. Das ist übrigens die einzige Stelle in der lateinischen Bibel, wo das Verb<br />

in dieser Form vorkommt. Die Übersetzung des Hieronymus folgt dabei der griechischen Septuaginta<br />

(euarestēsō) – im Psalterium iuxta Hebraeos hingegen übersetzt er mit deámbulo –, doch hat die Vulgata durch<br />

ihren allgemeinen Gebrauch einen ungleich höheren Bekanntheitsgrad. NB: Nach der deutschen Zählweise ist es<br />

Ps 116,9. Die Übersetzung folgt dem Hebräischen: Ich werde gehen vor dem Herrn in Ländern der Lebenden.<br />

13


Die Kirche hat um diese dritte Dimension der Heilung immer gewusst, sie aber mehr<br />

schlecht als recht beschrieben. Nicht nur, dass ihr Begriff der Übernatur deutlich der Zeit<br />

und dem Weltbild nachhinkt, auch das Fürbittmodell passt eher in den Kontext von<br />

Hofintrigen und Parteiprotektion als in ein würdiges Gottesbild. Wir sollten uns die Hilfe<br />

von oben, aus der Transzendenz oder der „Meta-Physik“ im aristotelischen Sinn ja nicht<br />

unbedingt so vorstellen, dass Gott auf unser Drängen hin in seiner Schöpfung<br />

„ausnahmsweise“ (oder nicht eher völlig willkürlich?) herumreparierte. Es liegen in ihr<br />

ohnehin genug virtuelle Räume, Evolutionsmöglichkeiten und Kräfte verborgen, auf die wir<br />

nur mehr zugreifen müssten. Auch können wir davon ausgehen, dass keine Information und<br />

Energie jemals verloren geht und wir auch über weite Räume und Zeiten hinweg von den<br />

Idealen und der Geisteskraft früherer Menschen profitieren können. Die so genannte<br />

„Gemeinschaft der Heiligen“ hat noch lange nicht abgemeldet, aber wir sollten unsere<br />

großen Vorbilder nicht zu Handlangern unserer kleinen Wünsche degradieren, vielmehr<br />

geht es darum, ob wir uns an ihren Lebenskonzepten wirklich ausrichten wollen. Zumindest<br />

hat sich bei den Spontanheilungen gezeigt, dass die veränderte Lebenseinstellung ganz<br />

entscheidend ist.<br />

Aus jesuanischer Perspektive lässt sich der Angelpunkt, um den alles dreht, sogar noch<br />

etwas genauer bestimmen: Es ist unsere Vergebungsbereitschaft. Denn wenn uns von einem<br />

überzeugend gütigen (also: nicht erst durch Fürbitte gemäßigten) Gottesbild her auch selbst<br />

immer wieder ganz warm ums Herz wird, dann werden wir nicht nur mehr Güte und<br />

Verzeihen unseren Mitmenschen entgegenbringen, sondern auch unsere eigene Entlastung<br />

und Seelenruhe verspüren, entsprechend der Verheißung: Lernt von mir… und ihr werdet<br />

Ruhe finden für eure Leben/ Seelen (Mt 11,29).<br />

Das bedeutet nicht, dass jeder unserer Wünsche in Erfüllung ginge oder wir Leiden und<br />

Tod gänzlich vermeiden könnten. Ganz im Gegenteil: Vielleicht braucht es sogar manchmal<br />

die Erfahrung von Schwäche und Krankheit, damit wir unsere wahren Stärken und das<br />

Wesentliche wieder mehr entdecken bzw. uns nicht nur auf uns selbst verlassen, sondern vor<br />

allem liebevolle Beziehungen suchen und solche auch selbst anbieten können.<br />

Es muss also nicht unbedingt ein formelles Gebet sein, doch kann es, um nur ein konkretes<br />

(und belegtes) Beispiel anzusprechen, nicht schaden, wenn Ärzte sich vor einer Operation<br />

bewusst bzw. auch gegenseitig ausdrücklich machen könnten, dass nicht sie die eigentlichen<br />

14


Macher der Gesundheit sind oder gar die sprichwörtlichen „Götter in Weiß“ 40 , sondern dass<br />

sie ihre Patient/inn/en und sich nach einem todesnahen Wort Dietrich Bonhoeffers „von<br />

guten Mächten wunderbar geborgen“ wissen 41 . Wo in diesem Sinne gehandelt und<br />

behandelt wird, steigen nicht nur die Heilungschancen und verkürzen sich die<br />

Krankenhausaufenthalte, es reduziert sich auch der Medikamentenverbrauch nachweislich.<br />

Wenn wir alles mehr mit den Augen des Herzens betrachten könnten, würden wir es<br />

wahrscheinlich öfters schon als kleines, aber „echtes“ Wunder einschätzen, dass wir in<br />

manchen Situationen nicht noch mehr krank geworden oder aus gefährlichen Situationen<br />

einigermaßen heil davon gekommen sind. Recht besehen ereignen sich solche Wunder<br />

ohnehin ständig. Deswegen sollten wir auch in großen Krisen die Hoffnung nie ganz<br />

aufgeben, dass sie sich entschärfen oder dennoch irgendwie zum Guten wenden. Die<br />

Chancen dafür stehen nicht schlecht, zumindest haben wir keine besseren.<br />

40 In der gesellschaftlichen Wertschätzung stehen sie jedenfalls ganz oben. Vgl. die aktuelle Berufsprestige-Skala<br />

(2008) http://www.ifd-allensbach.de/news/prd_0802.html. (15. 12. 10).<br />

41 So die 7. Strophe seines bekannten Liedtextes (Weihnachten 1944). Vgl. Brautbriefe Zelle 92. Dietrich<br />

Bonhoeffer/ Maria von Wedemeyer 1943-1945, hg. von Ruth-Alice von Bismarck und Ulrich Kabitz, München<br />

1992, 209. Die 1. Strophe lautet: „Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet<br />

wunderbar…“.<br />

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