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IM SCHATTENDER ZITADELLEDER EINFLUSS DES EUROPÄISCHENMIGRATIONSREGIMES AUF „DRITTSTAATEN“1


INHALTSVERZEICHNIS04VORWORT06ZUSAMMENFASSUNG12FORDERUNGEN14TÜRKEI:HOFFNUNGSLAND ODER ENDSTATION FÜR FLÜCHTLINGE?19REPUBLIK MOLDAU:FLUCHT AUS DEM ARMENHAUS24TUNESIEN:WOHLSTANDSGRENZE MITTELMEER30MAURETANIEN:EUROPAS ERSTE AUSSENGRENZE36SENEGAL:IMMOBILITÄT STATT ENTWICKLUNG3


VorwortLIEBE LESERINNEN UND LESER,4Wenn Flüchtlinge und Migrant_innen an den äußereneuropäischen Grenzen stehen, werden die humanistischenWerte, auf die sich das gemeinsameEuropa beruft, schnell zu Makulatur. Obwohl dieMenschenrechte in Europa gleichsam unantastbarund universell gültig sind, werden sie an Grenzenjener Staaten, die zur Europäischen Union gehörenoder eng mit ihr assoziiert sind, systematisch missachtetund insbesondere Schutzsuchenden vielfachverweigert.Nicht erst seit dem tragischen Tod von 360Menschen vor der Küste Lampedusas am 3. Oktober2013 wirkt die europäische Außengrenze wie eingrausamer Sperrwall: Seit 1988 haben über 19.000Menschen an Europas Außengrenzen ihr Lebenverloren, davon allein 14.500 im Atlantik, im Mittelmeerund in den Küstengewässern der französischenInsel Mayotte im Indischen Ozean. ZahlloseMenschen verdursten zudem auf dem Weg nachEuropa in den vorgelagerten Wüsten, ertrinken inFlüssen oder werden Gewaltopfer von verbrecherischenund korrupten Netzwerken.Die Regierungen des europäischen Rechtsraumsverweigern Schutzsuchenden die Aufnahme undschicken die Unglücklichen zurück. Flüchtlinge werdenkriminalisiert und in Haft genommen, der Zugangzum Arbeitsmarkt und zu garantierten Gesundheitsleistungenwird ihnen versperrt. Auchdiejenigen, die Europa nur einen kurzen Besuchabstatten wollen, sind vielfach unerwünscht. Einerigide Handhabung der Visa-Politik erschwert esvor allem Menschen aus ärmeren Zonen der Welt,zu uns zu kommen. Das alles ist dramatischer Ausdruckder europäischen Migrations- und Flüchtlingspolitik.Die europäische Kontrolle der Flucht- und Migrationsbewegungenbeginnt jedoch nicht erst anden europäischen Außengrenzen, sondern reichtweit darüber hinaus. Indem die Europäische Uniondie Ein- und Auswanderungspolitik in den Anrainerstaatenzu regeln und zu steuern versucht, hatsie gleichsam eine exterritoriale Zone zur Isolierungund Eindämmung von Flucht und Migration jenseitsihrer Grenzen abgesteckt.Die hier dokumentierten exemplarischen Studienaus dem Senegal, aus Mauretanien, Tunesien, derTürkei und der Republik Moldau bezeugen, was imSchatten der europäischen Zitadelle vor sich geht.Sie führen vor Augen, wie die Vorgaben und exterritorialenEingriffe der europäischen Migrationsabwehrbislang offene Räume des Transits und desVerweilens schließen, wie sich diese Räume fürFlüchtlinge und Migrant_innen in gefängnisähnlicheOrte verwandeln, und wie die betroffenen Gesellschaftensozialen Zusammenhalt und nachhaltigeEntwicklungspotentiale verlieren.Migration ist ein Bestandteil der menschlichenEntwicklung. Mobilität und Bewegungsfreiheit sindgerade im Zeitalter der Globalisierung universelleErrungenschaften, für die es einzutreten gilt. Inder ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandertenca. 500.000 Menschen aus Deutschland nach Amerika,in die „Neue Welt“ aus. Viele von ihnen suchtennicht nur ein besseres Leben ohne Armut und Entbehrungen,sondern flüchteten auch aufgrund religiöserund politischer Unfreiheit oder infolge dergescheiterten Revolution von 1848 aus Deutschland.Wir sollten diese historische Erfahrung nicht vergessen,wenn wir heute jene Schutzbedürftigensehen, die über das Meer zu uns fliehen. Der Suchenach einem sicheren Leben geht meist die Erfahrungvon Gewalt, Entmündigung oder Entbehrung voraus.


VORWORTEuropa muss in der Migrations- und Flüchtlingspolitikbeginnen, seine Verpflichtung für dieMenschenrechte tatsächlich und effektiv einzulösen.Das Sterben an den europäischen Außengrenzenmuss aufhören und das gezielte Zurückdrängen indie sogenannten „Drittstaaten“ beendet werden.Ein erster Schritt, um einen menschenrechtlichenStandard zu ermöglichen, wäre das gleichberechtigteAushandeln tatsächlich fairer Migrationsbedingungenund -möglichkeiten. Dazu bedarf es aber nicht nureiner anderen Politik, sondern auch einer streitbarenund engagierten Zivilgesellschaft die ihrerseitsbereit ist, die europäische Grenze durchlässiger zumachen. Es ist dies ein Gebot der Solidarität, dasim Besonderen auch für uns als MenschenrechtsoderHilfsorganisationen gilt, die sich in ihrer Arbeitfür die gerechte Teilhabe der Ausgegrenzten einsetzen.Flüchtlinge und Migrant_innen vor unserenToren sind nicht nur häufig Opfer von Ungerechtigkeitenund Gewaltverhältnissen. Sie sind zugleichauch Akteure weltweiter Forderungen nach Teilhabe.Sie folgen dem Traum, als Fremde überall auf derWelt zuhause sein zu können. Folgen wir ihnen,begleiten wir sie, lernen wir von ihnen.Brot für die Welt medico international Stiftung PRO ASYLPfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel Thomas Gebauer Günter BurkhardtPräsidentin Geschäftsführer Vorstand5Die hier zusammengestellten Beiträge sind Ergebnis des langjährigen Engagements der herausgebenden Organisationenin den untersuchten Ländern. Die Studien wären nicht möglich gewesen ohne die lokalen Partnerorganisationenund transnationalen Netzwerke der Solidarität, die sich vor Ort engagiert für die Rechte von Migrant_innen und Flüchtlingeneinsetzen und ihnen vielfach mit praktischer Hilfe und Unterstützung zur Seite stehen. All ihnen gilt hier unserbesonderer Dank.Die Texte sind Auszüge aus wesentlich detaillierteren und umfangreicheren Berichten über die Auswirkungen europäischerAbwehrpolitik. Unser Blick auf die Auswirkungen europäischer Politik ist notwendig eurozentrisch, allerdingsin dem Wissen, dass eine Perspektive des Südens sich nicht ausschließlich auf Europa konzentriert. Die Berichte könnenabgerufen werden über die Internetseiten der herausgebenden Organisationen.


ZusammenfassungDIE EUROPÄISCHE UNION UND IHRE MITGLIEDSTAATEN HABENIN DEN VERGANGENEN 14 JAHREN GROSSE ANSTRENGUNGENUNTERNOMMEN, DIE BEFESTIGUNG DER AUSSENGRENZEN DERUNION AUSZUBAUEN. DAZU ZÄHLT NICHT NUR DIE TECHNISCHEAUFRÜSTUNG UND SICHERUNG DER GRENZRÄUME DURCHFRONTEX UND EUROSUR, SONDERN ZUNEHMEND EINE VERLA-GERUNG DER SICHERUNGSMASSNAHMEN IN DIE ANRAINER-STAATEN, TRANSIT- UND HERKUNFTSLÄNDER. DIESE EINBE-ZIEHUNG VON DRITTSTAATEN IN EUROPÄISCHES MIGRATIONS-MANAGEMENT FÜHRTE DAZU, DASS DIE BEZIEHUNGEN ZU DIE-SEN STAATEN UM EIN WICHTIGES ELEMENT ERWEITERTWURDEN. IN MANCHEN FÄLLEN DOMINIERTE SOGAR ZUMINDESTTEMPORÄR DAS THEMA MIGRATIONSBEKÄMPFUNG DIE BEZIE-HUNGEN.6


ZUSAMMENFASSUNGDie Mitwirkung von Drittstaaten bei der Ausweitung europäischer Migrationssteuerunggibt es nicht umsonst. Sie wurde eingehandelt gegen Zugeständnissein einer Reihe anderer Felder, so zum Beispiel in der Entwicklungs -zusammenarbeit, durch Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen, bei derinternationalen Anerkennung autoritärer Herrschaft, und über die weitgehendeFinanzierung von Sicherheitsmaßnahmen durch die Europäische Unionoder einzelne Staaten. Schließlich haben Maßnahmen zur Externalisierungeuropäischer Migrationssteuerung in Anrainer- und Transitstaaten gesellschaftlicheVeränderungen bewirkt, die sich negativ auf die Situation von Migrant_innenund Flüchtlingen, aber auch auf die Gesellschaften dieser Länderselbst auswirken. Die folgenden Ergebnisse unserer Studien verweisen auf solcheEffekte des Europäischen Grenz- und Migrationsregimes in Drittstaaten.VISAREGIMEMit Schengen begann eine breit angelegte Systematisierung der Kontrolleder europäischen Außengrenzen. Die zunehmende Homogenisierung vonKontrollpraktiken, Visavergabe und Einreisebestimmungen, verbunden miteiner Tendenz zur Erhöhung der Auflagen und der Überwachung, führtinsgesamt zu einer Immobilisierung der nicht ganz so Vermögenden, dernicht ganz so hoch Qualifizierten, derjenigen, die nicht in die statistischerstellten Wunschprofile Europas passen und nicht „dazugehören“ sollen. Die„Schwarze Liste“ der Union für visumpflichtige Staaten umfasst vor allemAfrika und Asien. Diese Blockierung von Migration und Flucht findet inzwischennicht mehr nur in Europa und an seinen Grenzen statt, sondern wird weitnach Afrika und Osteuropa hinein getragen. Europa versucht, seine SchwarzeListe auch den Transitstaaten zu oktroyieren. Lediglich die Türkei fühlt sichstark genug, europäischen Interessen eine eigene Visapolitik entgegenzusetzen.Das europäische Grenz- und Visaregime unterbindet mit den hohen Hürdenfür die Einreise eine transnationale Mobilität, und hemmt damit die soziale,politische und auch wirtschaftliche Dynamik und Innovationskraft in denHerkunfts- und Transitstaaten, aber auch in der EU. Flüchtlinge und Schutzsuchendehaben selbst unter hohen Risiken kaum mehr die Chance, europäischesTerritorium zu erreichen. Vielfach bleiben gerade die Schwächsten unter denSchutzsuchenden wortwörtlich auf der Strecke, weil sie nicht die Kraft unddas Kapital haben, die europäischen Grenzen zu erreichen.VASALLENSTAATENIn den Papieren und Vereinbarungen, die Ergebnisse einer ganzen Kettevon Konferenzen zwischen der Europäischen Union und ihren Nachbarstaatenfesthalten, ist vom „Diskurs auf Augenhöhe“ und „geteilter Verantwortung“die Rede. Tatsächlich lassen sich Zugeständnisse in der gemeinsamen „Bekämpfung“von Migration nicht verordnen, sondern müssen ausgehandeltwerden. Floskeln wie „Diskurs auf Augenhöhe“ dienen faktisch nur dazu, bestehendeMachtgefälle zu verschleiern. Schwache Staaten wie Moldau, derenRegierungen vom Wunsch getrieben werden, möglichst engen Anschluss andie Europäische Union zu bekommen, oder Tunesien, das sich in großer wirtschaftlicherAbhängigkeit von Europa sieht, werden in diesen Verhandlungen1986 Schengen: DerWegfall der innerenGrenzkontrollen für Personenverkehrist der Beginnverstärkter europäischerKooperation anden Außengrenzen.1999 In Tampere beschließtder Rat der EuropäischenUnion einenFünf-Jahres-Plan zuAsyl, Grenzkontrollenund Integration.2002 Sevilla: Der Rat derEuropäischen Union beschließtdie Konditionalisierungvon Ent wicklungsgelderndurch Kooperationim Kampfgegen irreguläre Migration.2004 Im Haager Programmbeschließt derRat einen Raum der Freiheit,der Sicherheit unddes Rechts gestützt aufeine gemeinsame externeDimension der Migrations-und Asylpolitik.2004 Gründung der europäischenAgentur Frontex7


ZUSAMMENFASSUNG8Dezember 2005 Treffendes Rats der EuropäischenUnion in HamptonCourt: die enge Einbindungvon Drittstaaten inden Kampf gegen irreguläreMigration wird vereinbart.Der erste GlobalApproach to Migrationwird beschlossen.2006 Euro-Afrika-Gipfelin Rabat, Rabat Aktionsplan.Einbindung afrikanischerStaaten in dieeuropäische Migrationsabwehr2006 Plan África: Spanienbeschließt stärkerespolitisches Engagementin Afrika zum Kampfgegen irreguläre Migration.2008 Pakt-Migration-Asyl beschließt verstärktesEngagement beimAbschluss von Rückübernahmeabkommen.2008 Erste Mobilitätspartnerschaftmit Kapverdenund RepublikMoldau2011 Die Kommissionveröffentlicht den zweitenGlobal Approach: Migrationspolitikwird eng mitAußen- und Entwicklungspolitikverzahnt.zu Vasallenstaaten degradiert, denen für Leistungen bei der Migrationsbekämpfungnur vage Möglichkeiten in Aussicht gestellt werden. In den meistenAnrainer-, Herkunfts- und Transitstaaten investieren die Europäische Unionund einige Mitgliedstaaten Geld vor allem in die Aufrüstung der Sicherheitsapparatedieser oft autokratischen Regierungen, um sich deren Mitwirkungzu erkaufen.KONDITIONALISIERUNG VON HILFEZentraler Hebel der europäischen Steuerung der Migration unter Einbeziehungvon Transit- und Herkunftsstaaten ist es, die Abhängigkeit der Drittstaatenvon der Entwicklungszusammenarbeit auszunutzen, indem Entwicklungszusammenarbeitmit migrationspolitischem Wohlverhalten der „Kooperationspartner“verknüpft wird. Nicht nur sind Rückübernahmeklauseln fester Bestandteilvieler Vereinbarungen mit Drittstaaten; Besorgnis erregt vor allem,in welchem Ausmaß die Kollaboration bei Grenzüberwachung und Kampfgegen unerwünschte Migration verlangt wird als Vorabbedingung für Entwicklungszusammenarbeit.Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit werdenso ihrer eigenen Legitimation beraubt und als Verhandlungsmasse der Migrations-und Sicherheitspolitik eingesetzt. Zweifelhaft ist zudem die Praxis, Migrationssteuerungdirekt aus Entwicklungsfonds zu bezahlen. Dies reduziertdie Leistungen, die Ländern zum Beispiel zur Bekämpfung der Armut zurVerfügung gestellt werden und erweckt Zweifel bezüglich der Wertmaßstäbeund Ausrichtung von Entwicklungszusammenarbeit.BLOCKADE DER MIGRATIONDas von der EU exportierte rigide Überwachungssystem führt dazu, dassMigrant_innen und Flüchtlinge, die in Transitländern blockiert sind, kaumihren Lebensunterhalt verdienen können, verzweifeln und krank werden.Viele Migrant_innen und Flüchtlinge sind ihrer letzten Mittel beraubt undfristen ein elendes Leben in der Fremde. Migrant_innen, die es nach Europageschafft haben, können wegen des Sperrklinkeneffekts nicht zurück, weil siedann wohl nie mehr in die EU hineinkämen. Die Folgen sind, in extremerWeise in Moldau, auseinandergerissene Familien und zahllose Kinder undJugendliche, die verwahrlosen, während ihre Eltern in Europa das Geld fürihr Überleben erarbeiten. Das Recht auf Bewegungsfreiheit wird ersetzt durchbiometrisierte Kontrolle. Die Interessen der Migrant_innen, ihre Bedürfnisseund der Wunsch nach einem besseren Leben werden nicht respektiert, sondernschon weit außerhalb der Europäischen Union abgewiesen.MENSCHENRECHTE OHNE PRIORITÄTDie Wahrung von Menschenrechten steht im Selbstverständnis der EuropäischenUnion ganz weit oben. In den Verhandlungen mit Drittstaaten aberwerden Menschenrechte zu einem Lippenbekenntnis, wenn sie überhauptTeil von Vereinbarungen werden. So wird in der Zusammenarbeit mitautoritären bis diktatorischen Regimen wie in Tunesien oder Mauretanienüber Menschenrechtsverletzungen hinweggesehen, um Maßnahmen zur Migrationsbekämpfungdurchsetzen zu können. Diktaturen werden für denGrenzschutz in Dienst genommen und europäisch finanziert; kommt es zu


ZUSAMMENFASSUNGVerletzungen von Menschenrechten von Migrant_innen oder Flüchtlingen,so wird auf die Verantwortung des Drittstaats verwiesen.Zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich in den betreffenden Ländernfür Menschenrechte und Flüchtlingsschutz einsetzen, werden von der EuropäischenUnion nur selten und geringfügig unterstützt. Betrachtet man dieSummen, die von Europa in die Sicherheitsapparate der Grenzanrainer-,Herkunfts- und Transitstaaten fließen und vergleicht sie mit der Unterstützung,die Organisationen zum Schutz vor Menschenhandel, für Menschen- oderFlüchtlingsrechte erhalten, so werden Prioritäten sichtbar. In Mauretanienfinanzierten die EU und Spanien zwischen 2005 und 2010 mit 20 MillionenEuro Projekte der Migrationssteuerung, davon gingen lediglich 160.000 Euroüber den UNHCR an zivilgesellschaftliche Organisationen im Flüchtlingsschutz.FLÜCHTLINGE UND ASYLFlüchtlinge sind die ersten Opfer der europäischen Migrationspolitik. DieAbwehrmaßnahmen gegen so genannte irreguläre Migration unterscheidennicht zwischen Migrant_innen und Flüchtlingen. Schutzbedürftige Personenwerden wie andere Migrant_innen in Transitstaaten blockiert, in denen siein der Regel keinen oder unzulänglichen Schutz vorfinden. In vielen Transitstaatenbestehen keine Regelungen für Asylsuchende und Flüchtlinge, derUNHCR ist in vielen dieser Länder nur schwach vertreten, und verfügt überunzureichende Handlungsfreiheit und Mittel.Das Flüchtlingskonzept der Europäischen Union setzt auf „RegionaleSchutzprogramme“. Die Erfahrungen mit den Flüchtlingen aus Libyen oderSyrien zeigen, dass Flüchtlinge die Krisenregion nicht verlassen sollen, dassdie Länder in der Region, nicht Europa, sich dieser Flüchtlinge annehmensollen. Nur wenige der in Folge des Libyenkrieges gestrandeten Migrant_innensind von europäischen Staaten aufgenommen worden. Auf das vom UNHCRangestrebte Resettlement, also die Umsiedlung der Flüchtlinge in sichereAufnahmeländer, wurde vor allem von den USA mit großzügiger Aufnahmegeantwortet. Europa finanziert hingegen die Internationale Organisationfür Migration zur Durchführung von Rückführungsprogrammen in die Herkunftsländer.Anhaltende Konflikte führen zu langjähriger Lagerunterbringungohne Perspektive. Das europäische Engagement bei Resettlement-Programmenist zu gering, um für mehr als einen Bruchteil der Flüchtlinge einen Auswegzu bieten. Europa verabschiedet sich weiter als je zuvor vom Flüchtlingsschutz.9


ZUSAMMENFASSUNG102002 spanisches SIVEÜberwachungssystembeginnt an der Meerengevon Gibraltar und wirdsukzessive auf die südlichenspanischen Küstenerweitert.Oktober 2005„Ceuta & Melilla“: AfrikanischeMigrant_innenversuchen die Zäune derEnklaven zu überwinden.Zahlreiche Menschenwerden erschossen,Hunderte werden in dieWüste oder die Herkunftsländerdeportiert.2006 „Crise dos Cayucos“:Mehr als 30.000 Migrant_innenerreichen inBooten die KanarischenInseln. Unzählige sterbenbeim Versuch der Überfahrtoder bei Abwehraktionen.2006 Frontex OperationHera I + II Kanarische Inseln2006 Beginn der SeahorseOperation zurÜberwachung der atlantischenKüsten Westafrikas,SpanischeKooperation mit westafrikanischenStaatenFÖRDERUNG VON AUSGRENZUNG, STIGMATISIERUNGUND RASSISTISCHEN STRÖMUNGENZentral für die gesellschaftlichen Auswirkungen der Verschiebung europäischerMigrationspolitik ist hierbei die von Europa exportierte Diffamierung vonMigration als „illegal“ oder „irregulär“, auch wenn Migration – wie in derTürkei oder in weiten Teilen Westafrikas – völlig rechtmäßig ist. Diese Irregularisierungvon Migration fördert eine Kriminalisierung von Migrant_innenund Flüchtlingen, die xenophobe und migrationsfeindliche Stimmungen gegenüberMigrant_innen nährt. Im gesamten Maghreb hat die europäische Indienstnahmeder autokratischen Regierungen dazu geführt, dass Stereotypegegenüber „schwarzen“ Migrant_innen aus dem subsaharischen Afrika verstärktwurden. Pauschal werden Migrant_innen in Mauretanien krimineller Machenschaftenverdächtigt: der Vorwurf der irregulären Migration führt dazu,dass Einwanderer und „schwarze“ Einwohner Mauretaniens ausgegrenztwerden und Übergriffe zu erleiden haben. Dies nährt Spannungen innerhalbdes labilen Bevölkerungsgefüges Mauretaniens und führt zur Abwanderungvon Migrant_innen, die nun als Arbeitskräfte fehlen.ZÄHLEN, KONTROLLIEREN, BLOCKIERENDie zentrale Metapher für den Umgang mit Migrant_innen und Flüchtlingenist der Fluss. Von „Zustrom“ zu „mixed flows“, werden Migrant_innen alseine amorphe, heranfließende Masse betrachtet. Die europäischen Instrumentezur Migrationssteuerung gleichen deshalb auch Maßnahmen gegen Flutkatastrophen.Aufwändig wird in die Entwicklung von Meßinstrumenten undFrühwarnsystemen investiert, in den Bau von Dämmen an den Grenzen undRückhaltebecken in den Transitstaaten. Dies wird nicht nur materiell-technischangegangen, sondern durch die gezielte Schulung der Behörden in HerkunftsundTransitstaaten, die Einführung geeigneter Gesetze und Aktionspläne; dieEtablierung von Begriffen wie irreguläre Migrationströme dienen dazu, einideologisches Fundament und eine Legitimationsfigur für die Schleusenwärteran den Außengrenzen der Europäischen Union zu schaffen.Die Fixierung auf Kontrolle und Blockade verhindern eine Sichtweise aufMigrant_innen, die in ihnen mehr als nur geldgesteuerte Automaten sieht,die mechanisch auf push und pull-Reize reagieren. Diese Einseitigkeitverhindert, die Dynamiken der Migration und migrantischer Netzwerke inden Blick zu nehmen. Die Sperrung der Grenzen verhindert eine Zirkulation,die den Migrant_innen und ihren Familien, aber auch den Herkunfts- undTransitländern zu Gute käme.Insbesondere die Internationale Organisation für Migration (IOM) unddas Internationale Zentrum für die Entwicklung von Migrationspolitik(ICPMD) sehen das Messen und Zählen der Migration als wesentlich an. Dievon der IOM erstellten Migrationsprofile beklagen durchweg die fehlendenZahlen und ihre mangelnde Belastbarkeit. ICMPD ist federführend in der Visualisierungvon Migrationsbewegungen in der sogenannten i-map, diewiederum die Grundlage für weitere Projekte darstellt. ICMPD und IOMbegleiten und kanalisieren die Umsetzung europäischer Interessen in der Migrationspolitikvon Transitstaaten: Hinter beinahe jedem moldauischen Bü-


ZUSAMMENFASSUNGrokraten steht ein europäischer Berater. Es wird beraten, koordiniert, zusammengeführt,die Ausarbeitung und die Umsetzung von Gesetzen und Verordnungengeschieht im Auftrag und unter den Augen der EU, die Interessen derDrittstaaten können sich so kaum entfalten.SCHMUTZIGE ZURÜCKWEISUNGENDie Folge der ausgehandelten Rückübernahmeabkommen sind Rückschiebungenund Zurückweisungen von Migrant_innen und Flüchtlingen, oft ohnedass Schutzbedürftigkeit geprüft wird, und ohne in Betracht zu ziehen, wasin den Anrainerstaaten mit diesen Flüchtlingen geschieht. Frontext koordiniertPush-back Operationen, in denen Flüchtlinge und Migrant_innen unterschiedslosan die Küsten von Drittstaaten zurückgetrieben werden. Das Verbot solcherPush-backs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wirdnicht nur vor türkischen Küsten ignoriert. Im Senegal und in Tunesienwurden Flüchtlinge nach Zurückweisungen inhaftiert, häufig werden sieweiter abgeschoben, im schlimmsten Fall bis in die Herkunfts- und Verfolgerstaaten.Das Interesse der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten istgering, das Schicksal und die Behandlung von Zurückgeschobenen in Transitstaatenzu untersuchen. Die Einhaltung von Menschenrechten ist hier nichtmehr Sache der Europäischen Union. Hilflos erscheinen dagegen die Mahnungendes Menschenrechtsrats der UN, Rückführungsabkommen mit Klauseln zumSchutz der Menschenrechte auszustatten, und diese Verträge nicht abzuschließen,solange eine menschenrechtlich unbedenkliche Behandlung von Flüchtlingenund Migrant_innen in den Transitstaaten nicht garantiert ist.2010 Erster Rabit-Einsatzdurch Frontex inGriechenland (Rapid BorderIntervention Team)2013 Das EuropäischeGrenzüberwachungssystemEurosur startet offiziellIMMOBILITÄTSPARTNERSCHAFTEN:EIGENNUTZ IST TRUMPFAuch bei den von der EU inzwischen mit mehreren Staaten geschlossenenMobilitätspartnerschaften spielen Menschen- und Flüchtlingsrechte nur eineuntergeordnete Rolle.Bezeichnend ist der nicht bindende Charakter der Partnerschaften. Grenzschutzund Migrationskontrolle wird verlangt als Vorbedingung für in Aussichtgestellte Erleichterungen der Einwanderung in die EU. Diese hängen jedochvom Willen einzelner Mitgliedstaaten ab, die frei nach ihren PartikularinteressenMigrationswege öffnen können. Dies führte bislang hauptsächlich dazu, dasskleine und kleinste Projekte in den Drittstaaten durchgeführt wurden, dieinsbesondere die Rückwanderung stärken sollen. Einwanderungsangebote,auch temporäre, gibt es hingegen nicht, ausgenommen wenige Nachfrage gesteuerteAngebote im Rahmen von Saisonarbeit und für Hochqualifizierte.Dieser Brain Drain, so sieht es durchaus auch die Europäische Kommission,hat ausgesprochen negative Effekte für die Herkunftsländer, die Fachkräftefür den europäischen Markt teuer ausbilden, die ihnen zu Hause fehlen. DasModell Mobilitätspartnerschaft erweist sich als eine Hülle für Projekte, dievor allem auf die Immobilisierung von Migrant_innen abzielen.11


Forderungen12n Europas Migrationspolitik darf nicht länger inKauf nehmen, dass jährlich Tausende Menschen anden Außengrenzen sterben. Der Schutz von Flüchtlingenund die Wahrung der Menschenwürde vonSchutzsuchenden und Migrant_innen müssen anerster Stelle stehen. Anstatt die Abwehr von Flüchtlingenund Migrant_innen weiter auszudehnen,müssen die Räume des Schutzes und die Rechte vonMigrant_innen erweitert werden. Europa darf dieVerantwortung für Flüchtlinge und Migrant_innennicht länger an andere Staaten abschieben.n Nur die Existenz legaler Fluchtwege kann dasMassensterben beenden. Europa muss gefahrenfreieWege für Migrant_innen und Flüchtlinge öffnen.Bei zunehmender Verringerung der Einreisemöglichkeitenfehlen Alternativen für Flüchtlingeund Schutzbedürftige. Der Schutz von Flüchtlingendarf nicht in Transiträume verschoben werden,sondern die Europäische Union und ihre Mitgliedsländermüssen verbindlich Verantwortung fürSchutzsuchende übernehmen.n Europa braucht dringend ein funktionierendesSeenotrettungssystem. Alle Möglichkeiten müssengenutzt werden, um Menschenleben zu retten. GeretteteSchutzsuchende müssen in einen europäischenHafen gebracht werden, in dem ein fairesAsylverfahren durchgeführt werden kann. Frontexund Eurosur haben das Mandat, so genannte „illegaleEinreisen“ zu verhindern, nicht die Seenotrettungund nicht, den Asylsuchenden die Chance aufein Verfahren zu ermöglichen. Die Seenotrettungdurch Fischerboote und andere private Seefahrendedarf nicht länger kriminalisiert werden.n Praktiken völkerrechtswidriger Zurückweisungen(Push Backs) und illegaler Abschiebungen vonFlüchtlingen und Schutzsuchenden müssen sofortbeendet werden. Sie verstoßen gegen fundamentaleFlüchtlings- und Menschenrechte.n Die Staaten Europas brauchen ein in die Zukunftgewandtes, menschenwürdiges Einwanderungsrecht.Dazu gehören auch die Möglichkeit der Verfestigungdes Aufenthalts sowie die Ermöglichungdes Nachzugs von Familienangehörigen.n Das Recht auf Bewegungsfreiheit muss gestärkt,nicht beschnitten werden. Migrationsabwehr förderteine Atmosphäre des Bedrohungsgefühls undfördert Ausschluss und Rassismus in und außerhalbEuropas. Migrant_innen unterstützen durch Rücküberweisungendie Bevölkerung und den Staatshaushaltin ihren Herkunftsländern und tragen inrelevantem Umfang zu unseren Sozialversicherungssystemenund zur Mehrung unseres Wohlstandesbei. Dennoch sollten sie nicht vorrangigunter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit betrachtetwerden, sondern als Bürger_innen mit Rechten, Interessen,Wünschen und Bedürfnissen.n Mit der derzeitigen Ausgestaltung von Instrumentenwie Mobilitätspartnerschaften oder derHochqualifizierten-Richtlinie orientiert sich die europäischeMigrationspolitik nicht ausreichend amWohl und den Bedürfnissen von Migrant_Innen.Die Programme müssten mit Inhalten und Angebotengefüllt werden, die den Interessen von Migrant_innenRechnung tragen. Eine grundlegendeÜberarbeitung dieser politischen Instrumente istunerlässlich. Flüchtlinge und Migrant_innen sindan der Gestaltung von Migrationspolitiken zu beteiligen.


FORDERUNGENn Die EU-Asylpolitik muss grundlegend geändertwerden. Die bisherige Dublin-Regelung schiebt dieVerantwortung für Flüchtlinge auf EU-Randstaatenab, die dieser nicht gerecht werden. VerweigerteSeenotrettung, illegale Push-Back-Operationen, dieInhaftierung von Asylsuchenden, unfaire Asylverfahrenund das bedrückende Flüchtlingselend invielen EU-Staaten zeigen, dass das bisherige Systemversagt hat und Menschenrechte verletzt. Europabraucht eine solidarische Aufnahmeregelung, diedie Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunktstellt und eine Migrationspolitik, die denRechten von Migrant_innen und den Verantwortlichkeitenund Realitäten in den Herkunfts- undTransitländern sowie der EU gerecht wird.n Die Verlagerung europäischer Migrationsabwehrin Regionen mit zumeist schwachen Ökonomienund einer nicht selten völlig fehlenden demokratischenKontrolle staatlicher Repressions- und Verfolgungsorganeerhöht zusätzlich die Gefahr derMisshandlung und willkürlichen Behandlung vonSchutzsuchenden und Migrant_innen an den Grenzenund im jeweiligen Transitland. Europa darf dendort stattfindenden Menschenrechtsverletzungendurch seine eigene Grenzpolitik nicht weiteren Vorschubleistet. Zivilgesellschaftliche Organisationen,die sich in Transit- und Herkunftsstaaten für Menschenrechteund Migrant_innen engagieren, gilt eszu unterstützen. Ihre Rolle des kritischen Monitoringsder Auswirkungen europäischer Migrationspolitikgilt es zu stärken.n Entwicklungshilfe darf nicht als Zahlungsmittelfür Hilfsdienste eines ausgelagerten Grenzschutzesmissbraucht und nicht konditioniert werden, um Kooperationsbereitschaftbei der Migrationskontrollezu erzwingen. Stattdessen gilt es einerseits, entwicklungsförderndeAspekte der Migration zu unterstützenund den Ursachen von erzwungener Migrationentgegenzutreten, sowie die Wirtschafts-, FinanzundHandelspolitik so zu gestalten, dass sie denSchutz der ökologischen und ökonomischen Lebensgrundlagenrespektiert und die Vernichtungder Lebensgrundlagen von Menschen nicht längerbilligend in Kauf nimmt. Handelsverzerrende undumweltschädliche Agrar- und Fischereisubventionender Europäischen Union müssen abgebaut werden.Zugleich müssen die europäischenHandelsbarrieren für die Länder des Südens fallenund ungerechte Schulden gestrichen werden.n Alle EU-Staaten, auch Deutschland, sollten dieInternationale Konvention zum Schutz der Rechtealler Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen,in der die Rechte aller Arbeitsmigrant_Innen, Saison- und Gelegenheitsarbeiter_innenund ihrer Familienangehörigen niedergelegt sind,ratifizieren und somit zum aktiven Schutz ihrerRechte beitragen.n Ein Europa, das sich der Demokratie und Humanitätverpflichtet fühlt, muss sich auch daran messenlassen, wie es mit Flüchtlingen und Migrant_innen umgeht. Alle Migrant_innen und Flüchtlingesind Bürger_innen dieser Welt. Ihnen sind damit alljene unveräußerlichen Rechte zuzubilligen, wie siein der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechteformuliert sind: „Jeder hat das Recht auf Leben,Freiheit und Sicherheit der Person.“ – überall, auchinnerhalb der Europäischen Union und an den europäischenAußengrenzen.13


TÜRKEI:Hoffnungsland oderEndstation für Flüchtlinge?WENN MIGRATIONSPOLITIK ZUM WERKZEUG WECHSELSEITIGERABHÄNGIGKEITEN WIRD. WÄHREND DIE EUROPÄISCHE UNIONAUF DER KONTROLLE DER TRANSMIGRATION NACH EUROPA BE-HARRT, NUTZT DIE TÜRKEI EINE OFFENE VISUMSPOLITIK FÜR EI-GENE REGIONALE HEGEMONIALPLÄNE.14Die Flucht- und Migrationsrouten in die EU habensich mit den Grenzkontrollen entlang der europäischenAußengrenze stetig verschoben. Während dieWege über Marokko, Libyen und die Ukraine in denletzten Jahren zeitweise völlig blockiert waren,wurde der Grenzabschnitt zwischen der Türkei undGriechenland zum wichtigsten Einreiseweg nachEuropa. Seit 2006 sind deshalb die griechischen Außengrenzender Europäischen Union eines der zentralenOperationsfelder von Frontex, dereuropäischen Grenzagentur. 2008 und 2009 war dieägäische Küste der wichtigste Ablegeort von Bootsflüchtlingen,die von der Türkei versuchten, auf diegriechischen Inseln zu gelangen. Frontex unterstütztgriechische Behörden und Sicherheitskräfteim Kampf gegen die unerwünschte Einwanderung.Erbittert sind die Maßnahmen gegen Migrant_innenund Flüchtlinge, die griechische Inseln undKüsten erreichen wollen; systematische Abwehrexzessekosteten viele Migrant_innen und Flüchtlingedas Leben. Mit Gewalt werden die Boote mit Flüchtlingengezwungen, kehrt zu machen zur türkischenKüste, oft werden Wasser und Benzin konfisziert,oder die Schlauchboote werden perforiert, so dassdie Besatzung kaum die Rückkehr zum türkischenUfer schafft. Push backs heißen diese Operationen,die nicht nur gegen Flüchtlingsrecht verstoßen,sondern auch gegen Migrant_innenrechte, und regelmäßigMenschenleben riskieren. Seit jedoch inder zweiten Hälfte des Jahres 2010 die türkischenBehörden die Kontrollen entlang der Ägäis intensivierten,verlagerten sich die Fluchtrouten in Richtungder nordwestlichen Landgrenze zwischen der Türkeiund Griechenland, der Evros-Region. Dort ist die206 Kilometer lange Grenze durch den Verlauf desFlusses Evros vorgegeben. Nur auf einem Abschnittvon 12,5 Kilometern weicht der Grenzverlauf vomFluss ab, sodass die Grenze zu Fuß überquertwerden kann. 2010 setzte Frontex auf WunschGriechenlands ein RABIT-Team, eine Art schnelleEingreiftruppe von Grenzschützern, am Evros ein.Griechenland hob einen Graben an der Grenze zurTürkei aus und befestigte die Grenze mit Zäunen


TÜRKEIund elektronischen Überwachungseinrichtungen.Heute hat sich die Hauptroute der Flüchtlinge undMigrant_innen wieder in die Ägäis verlagert, ohnedass jedoch die Zahl der Grenzübertritte mit derfrüherer Jahre vergleichbar wäre. Die Türkei kontrolliertihre Grenzen mit der Europäischen Union,und entsprechend kommen weniger Flüchtlingeund Migrant_innen durch. Wie konnte die Türkeifür dieses Vorhaben gewonnen werden? WelcheKonsequenzen hat die Schließung der EuropäischenGrenzen auf die Flüchtlinge aus Syrien und anderenStaaten? Ist Migrationskontrolle ein Faustpfandder türkischen Regierung, um Europa Zugeständnissein anderen Fragen, wie zum Beispiel dem EU-Beitritt, abzuringen?TEILHABE AMWIRTSCHAFTSBOOMDie Türkei ist – das ist kennzeichnend für vieleStaaten, die sich in einer Transitionsphase zu Modernisierungund wirtschaftlichem Aufschwung befinden– zugleich ein Auswanderungs-, Einwanderungs-und Transitland. In der Europäischen Unionwird die Türkei primär als Auswanderungsland gesehen.Eine Wahrnehmung, die mit dem „Gastarbeiter“-Zuzugund mit den Fluchtbewegungen ausder Türkei in den 1980er- und 1990er-Jahren zusammenhängt.Aktuell leben rund 2,5 MillionenPersonen mit türkischer Staatsangehörigkeit in derEuropäischen Union, hauptsächlich in Deutschland.Die Türkei war jedoch immer auch ein Einwanderungsland.Während sich die Auswanderung ausder Türkei auf einem historischen Tief der Nachkriegszeitbefindet – sehr geringe Fluchtbewegungenund hauptsächlich hochqualifizierte Arbeitsmigration–, nimmt das Land neben Arbeitsmigrant_innenhohe Zahlen an Flüchtlingen und Vertriebenen ausdem Iran, Afghanistan und Syrien auf.Einwanderungen in der Türkei reichen zurückbis in die Zeit des Osmanischen Reichs. Im 20.Jahrhundert kam es zu bedeutenden Einwanderungsbewegungenhauptsächlich aus dem Balkan.Zwischen 1923 und 1997 wanderten über 1,6 MillionenMenschen in die Türkei ein und ließen sichlangfristig nieder. Seit den späten 1970er-Jahrenerreichten große Flüchtlingsgruppen aus dem Irandie Türkei, heute umfasst diese Gruppe rund 100.000Menschen. 1992 fanden rund 20.000 bosnischeund andere Flüchtlinge aus dem Balkan Zufluchtin der Türkei, 1999 folgten 18.000 Schutzsuchendeaus dem Kosovo. Zwischen 2000 und 2010 hat sichdie Zahl der Einreisenden in die Türkei verdreifacht.Mittlerweile reisen über 30 Millionen Personen proJahr legal ein. Im Jahr 2013 beherbergt die Türkeietwa 1,3 Millionen registrierte ausländische Staatsbürger_innen.Zusätzlich wird die Zahl der undokumentiertenEinwanderer_innen auf etwa 500.000bis eine Millionen Personen geschätzt, damit istsie vergleichbar mit jener in den Staaten der EuropäischenUnion.TRANSIT FÜR SCHUTZSUCHENDESeit Langem ist die Türkei jedoch auch ein wichtigesTransitland für Migrant_innen und Flüchtlingeauf ihrem Weg nach Europa. Während der letzten15 Jahre sollen rund 800.000 undokumentierteMigrant_innen in der Türkei aufgegriffen wordensein, 2010 allein rund 55.000. Viele von ihnen sindauf legalem Weg in die Türkei eingereist. Die EuropäischeUnion betrachtet dieses Potenzial besorgt.Neue Berichte zeigen allerdings auch auf, dass zahlreicheGruppen von Flüchtlingen und Migrant_innen,die ursprünglich in die EU weiterreisen wollten,ihre Pläne aufgrund der wirtschaftlichen Krise inder EU geändert haben, und dass Migrant_innenund Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europagelangten, und in Griechenland festsaßen – mitArbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Hunger und rassistischerGewalt konfrontiert – sogar nach Istanbulzurückgekehrt sind, wo sie bessere Bedingungenvorfinden. Die boomende türkische Wirtschaft absorbiertviele Migrant_innen, die zunächst unterprekären Bedingungen leben, aber zum Teil einenzumindest begrenzten sozialen Aufstieg erreichenkönnen.REGIONALMACHT UNDEU-BEITRITTSINTERESSEMigration war immer ein wichtiges Thema inden Beziehungen zwischen der Türkei und der EuropäischenUnion. Schon frühzeitig wurde überFreizügigkeit für türkische Arbeitnehmer_innenverhandelt; nachdem ein Beitrittsgesuch der Türkeizur Europäischen Gemeinschaft in den 1980er-Jahren scheiterte, hat die Türkei seit rund 15 Jahrenden Status eines Beitrittskandidaten. In der Zwischenzeitsind zwölf andere Staaten, die nach derTürkei zu Beitrittskandidaten-Länder wurden, Mit-15


TÜRKEI„MANAGEMENT DER FLÜCHTLINGSKRISE“ VOR DEN TOREN EUROPAS:FLÜCHTLINGSLAGER IM DISTRIKT YAYLADAGI IN DER REGION HATAY16glieder der EU. Staatsbürger_innen aller anderenBeitrittskandidaten haben inzwischen visafreienZugang nach Europa erhalten, türkische Bürger_innenjedoch nicht, was in der Türkei als ungerecht,wenn nicht gar als Beleidigung empfunden wird.Immer neue Verhandlungskapitel werden eröffnet,doch der Beitrittsprozess kommt nur zäh voran.Innerhalb der EU gibt es Skepsis gegenüber einemneuen Mitgliedstaat Türkei. Das europäische Zaudernhat das Interesse der türkischen Bevölkerung aneinem Beitritt stark abflauen lassen. Dennoch hatdie türkische Regierung in zahlreichen Bereichenihren Gesetzesstand an europäische Standards angepasst.Allerdings bremsen mehrere Streitpunktein der Frage des Migrationsmanagements ein Vorankommenim Verhältnis zwischen EU und derTürkei.Zwar besteht seit 2001 ein griechisch-türkischesRückübernahmeabkommen, doch hapert es bei derUmsetzung und Griechenland kann nur einen Bruchteilder aufgegriffenen Flüchtlinge und Migrant_innenin die Türkei überstellen. Auch deshalb drängtdie EU auf den Abschluss eines EU-Rückübernahmeabkommensmit der Türkei. Seit 2003 laufendie Verhandlungen, 2013 wurde ein Abkommengeschlossen, das die Rückübernahme von Transitmigrant_inneneinschließt, aber von der Türkeinoch nicht ratifiziert ist. Der Türkei ist wichtig,dass die Europäische Union als Gegenleistung einedeutliche Visa-Liberalisierung für türkischeBürger_innen einführt. Im Sommer 2012 hat EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström eingelenktund auch Erleichterungen im Visumverfahren inAussicht gestellt. Die Verwirklichung dieser Ankündigungstellt für die Türkei nunmehr einenstarken Anreiz dar, dem Rückübernahmeabkommenzuzustimmen. Menschenrechtsorganisationen übenscharfe Kritik am Text des Abkommens: Nicht nurwürde dieses Abkommen der Türkei die Verantwortungfür alle irregulären Migrant_innen aufbürden,auch fehlt im Vertrag jeglicher Hinweis aufden Flüchtlingsschutz.Dass die Türkei zwar die Genfer Flüchtlingskonvention,nicht aber das Zusatzprotokoll, das die


TÜRKEIVerpflichtung zum Flüchtlingsschutz auf alle Flüchtlingealler Staaten ausweitet, unterschrieben hat,wird von Seiten der EU kritisiert. Derzeit genießenso nur Flüchtlinge aus Europa einen Zugang zumAsylrecht in der Türkei. Allen übrigen bietet dieTürkei nur temporären und prekären Schutz. Außerdemist es enorm schwierig, überhaupt einenAntrag auf Flüchtlingsschutz in der Türkei zu stellen.Dazu kommt die Zuweisung von Flüchtlingen insogenannte Satelliten-Städte, wo überfüllte Flüchtlingslager,lange Wartezeiten und ungünstige Bedingungenfür die Arbeits- und Wohnraumsucheherrschen. Dies sind gute Gründe für Flüchtlinge,sich nicht in der Türkei niederzulassen, sondernweiterhin den Weg in die Europäische Union zu suchen.Die Visumpolitik der Türkei ist der dritte wesentlicheKritikpunkt der Europäischen Union ander türkischen Migrationspolitik. Zahlreiche Staaten,die auf der „Schwarzen Liste“ der EU für visumpflichtigeStaaten stehen, benötigen keine Visa fürdie Einreise in die Türkei oder können unkompliziertan der Grenze ein Visum bekommen. Nachdem dieTürkei dem Drängen der EU schrittweise nachgekommenwar und die Visumpflicht für eine Reihevon Staaten eingeführt hatte, vollzog sie ab 2005einen Schwenk und hob die Visumpflicht für einigeStaaten wieder auf, darunter Syrien, Jordanien, Libanon,Russland und Serbien. Dies kann als Indizfür das Interesse der türkischen Regierung gewertetwerden, die Beziehungen zu den Nachbarländernzu verbessern und die Türkei in ihrer Rolle als Regionalmachtzu stärken. Einen Beitritt zur EuropäischenUnion, so scheint es, will die Türkei nichtum jeden Preis.EUROPÄISCHESGRENZMANAGEMENTDie wachsende EU-Skepsis in der Türkei bedeutetnicht, dass die türkische Regierung nicht großeAnstrengungen unternommen hat, in verschiedenenBereichen europäischen Interessen entgegenzukommen.Dies ist insbesondere auch in der Migrationspolitikder Fall, wo ein erstaunlich liberalesMigrationsgesetz auf den Weg gebracht wurde. Danebenkonzentrieren sich die türkischen Bemühungenauf die Überwachung der Grenzen und denKampf gegen irreguläre Migrant_innen und Flüchtlinge.Hier hat die Türkei in den letzten Jahrenzahlreiche neue Verwaltungsstrukturen geschaffen,die Grenzsicherung ausgebaut und Schritte unternommen,um die Grenzkontrollen von militärischenin zivile Strukturen zu überführen. Noch jedochsind verschiedene Behörden und Sicherheitskräftein die Grenzkontrollen involviert. Das führt zueinem Wirrwarr an Kompetenzen und erschwertinsbesondere auch den Zugang zu Schutz für Migrant_innenund Flüchtlinge.In diesem Umbauprozess erhielt die Türkei substanzielleeuropäische Leistungen. Zur Unterstützungder Anpassungen der türkischen Migrations- undAsylpolitiken an europäische Anforderungen wurdenallein zwischen 2003 und 2004 acht „Twinning-Projekte“ durchgeführt: Zur Stärkung von Institutionenim Kampf gegen Menschenhandel, Visapolitikund -praxis, Asyl, Grenzkontrolle, Strafverfolgungund Migrationsfragen. Seit 2010 werden mindestenszwei Twinning-Projekte im Bereich Asyl und Migrationumgesetzt, eines zur „Unterstützung derKapazitäten der Türkei bei der Bekämpfung irregulärerMigration durch die Einrichtung von Abschiebezentren“.Mehrere Haftanstalten wurdensowohl an den türkischen Westgrenzen wie an derOstgrenze errichtet oder erweitert. Das zweiteProjekt sieht die Einrichtung eines Systems zurUnterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingenvor. An den Twinning-Projekten sind jeweils einoder mehrere EU-Staaten beteiligt. Neben der materiellenUnterstützung dienen Twinning-Projekteauch dem Austausch zwischen Behörden und derImplementierung von europäischen Standards. DieEU und beteiligte Mitgliedstaaten investierten überdiese Twinning-Projekte mehrere Hundert MillionenEuro. Auch Frontex kooperiert in verschiedenenBereichen, z.B. Risikoanalysen und Trainings, mittürkischen Sicherheitsbehörden.DER PUFFER VOR DER EU?Die geografischen Eigenheiten der türkischenGrenzen – ihre Länge, gebirgige Gebiete und unübersichtlicheSeegrenzen –, die ärmlichen, Schmuggelbegünstigenden Lebensbedingungen in denGrenzregionen, die sicherheitszentrierte, autoritäreRhetorik bezüglich Grenzkontrollen bei der gleichzeitigboomenden türkischen Wirtschaft und internationalenBeziehungen, die durch einen Ansatzder offenen Türen geprägt sind, führen zu einemerheblichen Politikdilemma.17


TÜRKEI18TÜRKEIDie Türkei entwickelte sich in den letztenJahrzehnten zu einem weitgehend urbangeprägten und industriell entwickeltenLand mit einer starken Mittelklasse.Einwohner_innen: 2012 betrug die Einwohnerzahlder Türkei 75.627.384.Auswanderung: 2010 belief sich die Zahlder Auswander_innen auf 4,2 Millionen.Einwanderung: nach Schätzungen vonUNDP 2013 rund 1,8 Millionen.Rücksendegelder: 2012 940 Millionen US-Dollar an Rücksendegeldern, davon allein607 Millionen aus Deutschland.BIP 2012: 817,298 Milliarden US-Dollar.Human Development Index: 2012 befandsich die Türkei auf dem 90. Platz desHuman Development Index.Regierung: Staatspräsident der Türkei istAbdullah Gül, Ministerpräsident seit 2003Recep Tayyip Erdoan von der konservativislamischenPartei für Gerechtigkeit undAufschwung (AKP).Einerseits hält die Türkei ihre Grenzen fürsyrische Flüchtlinge offen, eine Praxis, die wohlkein EU-Mitgliedstaat in Erwägung ziehen würde.Zudem hat die Türkei ein neues Migrationsgesetzeingeführt, das auf dem Papier einem humanerenGeist folgt als jedes Migrationsgesetz in der EU.Andererseits werden die Grenzen der Türkei durchausscharf kontrolliert, irreguläre Migrant_innen festgenommenund teilweise auch abgeschoben. Zudemwurden mit EU-Geldern sieben neue Aufnahmeunddrei Abschiebelager eröffnet und die Ausbildungder Polizei, einschließlich des Grenzschutzes, verbessert.Die Flucht- und Migrationsroute über das östlicheMittelmeer, die durch die Türkei führt, verlor 2012bedeutend an Relevanz. Verantwortlich dafür warenstriktere Grenzkontrollen in Griechenland, aberauch Maßnahmen der Türkei. Gleichzeitig erreichtedie Einreise von Reisenden, Migrant_innen undFlüchtlingen aus Syrien und anderen Ländern indie Türkei Höchststände. In der Türkei leben aktuellmehrere Hundertausend vor allem syrische Flüchtlinge.Während die Wirtschaft Einstiegsmöglichkeitenfür zahlreiche Migrant_innen und auch Flüchtlingebietet, sind autoritäre Behörden und Sicherheitskräfteverantwortlich für einen Umgang mit Flüchtlingen,der häufig ihre Rechte missachtet und ihre Schutzbedürftigkeitignoriert.Während die Türkei damit eine große Verantwortungträgt, sind die Beiträge der EU zu einerhumanen Lösung für syrische Flüchtlinge äußerstbegrenzt. Die EU konzentriert sich in ihrem aufdie Türkei gerichteten migrationspolitischen Ansatzauf Projekte zur Inhaftierung und Abschiebung vonMigrant_innen in der Türkei und eine stärkereÜberwachung der türkischen Grenzen. Maßnahmen,die auf Verantwortungsteilung zum Beispiel für diesyrische Flüchtlingskrise zielen, etwa die Erleichterungvon Resettlement oder die Verbesserungender Bedingungen für Flüchtlinge in der Türkei,fehlen weitgehend. Die europäisch-türkische Migrationspolitikschiebt die Verantwortung für Migrations-und Flüchtlingspolitik der Türkei zu.Die Türkei ist weit davon entfernt, ein migrationspolitischerVasall der Europäischen Union zusein, kommt europäischen Interessen aber durchausentgegen. Der Interessenzwiespalt einer Annäherungan die Europäische Union und der Stärkung derTürkei als Regionalmacht führt zu einer türkischenPolitik, die Transitmigration verhindert, aber Einwanderungermöglicht und Flüchtlingsschutz unterVorbehalt bietet.PRO ASYL unterstützt die Helsinki Citizens´ Assembly(HCA) in Istanbul. HCA stellt Schutzsuchenden eine kostenloseRechtsberatung zur Verfügung und bezieht politischStellung zu flüchtlingspolitischen Themen in derTürkei. Eine weitere Partnerorganisation ist Mülteci-Derin Izmir. Die 2008 gegründete Organisation setzt sich fürdie humanitären, sozialen und rechtlichen Belange vonFlüchtlingen ein und unterstützt Schutzsuchende vorallem in Izmir und der türkischen Ägäis-Region.


REPUBLIK MOLDAUREPUBLIK MOLDAUFlucht aus dem ArmenhausWIE EINE EUROPÄISCHE POLITIK, DIE VOR ALLEM AUF DAS MA-NAGEMENT DER MIGRATION SETZT, NICHT NUR DIE MENSCHEN-RECHTE DER BETROFFENEN VERNACHLÄSSIGT, SONDERN AUCHDEN ZERFALL EINER GESELLSCHAFT BE FÖRDERT.Patrascu Gheorghe, Bürgermeister des 6.000 SeelenStädtchens Radoaia, empfängt uns in seinem Rathaus,einer alten Villa, an deren Fassaden der Putzabblättert. Es ist kalt: Die Heizung wird erst in einpaar Tagen mit Gas versorgt werden, die Energieversorgungwird zentral gesteuert. Der Raum ist kahl,Computer gibt es keine. Der Bürgermeister sitzt inschwerer Lederjacke hinter dem Schreibtisch. Er verwaltetden Mangel und die Zurückgebliebenen. ImOrt gibt es noch viele Haushalte, die nicht an dasStrom- und Wassernetz angebunden sind, wo die Kanalisationfehlt und es auch keine Müllabfuhr gibt.Die Straßen sind in schlechtem Zustand, die letztenKilometer von der Autobahn mussten wir wegen derSchlaglöcher im Schritttempo fahren. Der Ort ist entvölkert:Mehr als zwei Drittel der Bewohner_innensind im Ausland, in Russland, in der Ukraine oder imWesten. Zurückgeblieben sind die Alten und die Kinder.Sophia Wirsching von Brot für die Welt undRoman Citac aus Chisinau, Mitarbeiter der NGO Beginningof Life, untersuchen in Moldau die Folgenvon Migration und europäischer Migrationspolitik.Gheorghe berichtet, dass das Ende der Sowjetunionzu einem kompletten Kollaps der moldauischenWirtschaft geführt hat. Die wenigen Industriebetriebewurden geschlossen, nur beißender Rauchvon schon Anfang der 1990er-Jahre aufgegebenenIndustriebrachen zieht noch immer über ganzeLandstriche. Die landwirtschaftlichen Staatsbetriebesind in kleine Parzellen aufgeteilt worden, die denEigenbedarf sichern können, aber kaum jemandkann davon leben. Aufgrund der hohen Energiekostenist die Bewirtschaftung sehr teuer, so dassviele Menschen fast mehr in ihr Land investierenals sie später wieder herausbekommen. Auch fehlenden Bauern marktwirtschaftliche Kenntnisse, esmangelt an Infrastruktur, beim Übergang vonStaats- zur Marktwirtschaft sind die meisten aufder Strecke geblieben. Importe aus den Nachbarländernsind oft billiger als lokale Produkte.Es gibt kaum Verdienstmöglichkeiten auf demLand, und so sind sie weggezogen, in die Stadtoder gleich ins Ausland. Bereits in den 1990er-Jahren kam es zu einer ersten großen Auswanderungin Richtung Russland. Zunehmend kamen weitereMigrationsziele hinzu, die Ukraine und die benachbartenBalkanstaaten, Italien, Spanien, Frankreichund auch Deutschland.19


REPUBLIK MOLDAU20REPUBLIK MOLDAUEinwohner_innen: 2013 ca. 3,6 MillionenStaatsbürger_innen.Auswanderung: Nach Schätzung der InternationaleOrganisation für Migration leben2013 rund 600.000 moldauische Staatsbürger_innenim Ausland. Hauptzielländer sindRussland, Ukraine und die EuropäischeUnion, hier vor allem Italien.Einwanderung: Moldau ist in geringemMaße auch Zielland für Migrant_innen ausden Nachbarstaaten, vor allem aus derUkraine.Rücksendegelder: Der Weltbank zufolgesendeten moldauische Migrant_innen imJahr 2012 rund 1.770 Millionen US-Dollarnach Moldau, was rund einem Viertel desBIPs entspricht.BIP 2012: Mit einem BIP von rund 7,5 MilliardenUS-Dollar gilt Moldau als das ärmsteLand Europas. Die hauptsächlich agrarischenProdukte (Wein, Gemüse, Obst,Tabak) und die Energieversorgung machendas Land stark abhängig insbesondere vonrussischer Politik.Human Development Index 2012:0,66 (113. Platz).Regierung: Staatspräsident ist Nicolae Timofti(parteilos), Regierungschef MinisterpräsidentIurie Leanca (PLDM - PartidulLiberal Democrat din Moldova).Der Zusammenbruch der Wirtschaft, aber auchdie Migration haben Spuren hinterlassen. Jugendlicheund Kinder geraten vermehrt in Alkoholabhängigkeit,Diebstähle und Randale nehmen zu. Alte und Krankekönnen sich nicht mehr versorgen. Der Bürgermeisterkann die Not seiner Bürger nicht lindern. Die Gemeindehat sechs Sozialarbeiter, die hoffnungslosüberfordert sind. Eine österreichische Hilfsorganisationbietet eine tägliche Armenspeisung für alteMenschen an, die keine Fürsorge durch Familienangehörigeerhalten. Bürgermeister Gheorghe siehtaus wie ein Mann, der zupacken kann, aber angesichtsdieser Lage zuckt er nur hilflos mit den Schultern.Kaum gibt es Familien, in denen nicht ein odermehrere Mitglieder im Ausland sind. Was und obsie Geld schicken, hängt von der Tragfähigkeitsozialer Bindungen ab und vom Verdienst. VieleMütter haben kein Geld für ihre Kinder, weil dieVäter aus dem Ausland nichts schicken, viele Kinderwachsen bei den Großeltern auf, landen auf derStraße oder im Kinderheim. Während der Herrschaftdes sowjetischen Regimes, so der Bürgermeister,gab es kaum gesellschaftliche Unterschiede zwischenden Dorfbewohnern. Mit der Migration und denRücküberweisungen bildeten sich schnell starkeUnterschiede und Milieus heraus. Während einigeMenschen in schwere Armut abdrifteten, gab esauch jene, die mit der Unterstützung aus dem Auslandin Konsum investieren konnten. Rücküberweisungenwerden meist direkt von Familienmitgliedernoder über ein Boten- und Fahrersystemüberbracht. Obwohl ein guter Teil der Geldtransfersnicht über Banken läuft, machen Rücküberweisungendennoch etwa ein Viertel der gesamten Wirtschaftsleistungdes Landes aus und sind der größte Devisenbringer.Der Staat erhöhte die Mehrwertsteuer,um am Geldfluss mitzuverdienen. In der klammenGemeindekasse kommt davon aber nichts an. Preisefür Kleidung, Nahrung und Baumaterial sind aufeuropäischem Niveau, aber die lokalen Löhne bleibenweiterhin viel zu niedrig. Das monatliche Salär desBürgermeisters beträgt etwa 200 Euro; auch erselbst ist auf das Geld seiner Söhne aus dem Auslandangewiesen. Beide arbeiten auf europäischen Baustellen,in Portugal und Frankreich.Die Situation in Radoaia spiegelt die Lage in derRepublik Moldau. Das kleine Land, etwa so großwie Nordrhein-Westfalen, hat vom Fall des EisernenVorhangs wirtschaftlich nicht profitiert. Zudem istes in einen westlichen, Rumänien zugeneigten Teil,und einen kleinen östlichen Streifen geteilt, Transnistrien,dessen Bevölkerung sich mehrheitlich anRussland orientiert. Nachdem Transnistrien sich1990 für unabhängig erklärte, kam es zu einem bewaffnetenKonflikt. Moldau will dem Gebiet nureinen Autonomiestatus zubilligen. Mit dem Endedes Ost-West-Konflikts brachen die alten Strukturenin Wirtschaft und Politik zusammen und die Bevölkerungreagierte mit einer Abstimmung „mitden Füßen“. Während die Situation im Land nurwenig Fortschritte macht, ist die Bevölkerung inzwischengeteilt in diejenigen, die geblieben sind,und diejenigen, die im Ausland leben und arbeiten.


REPUBLIK MOLDAUZURÜCKGELASSEN VON DEN ELTERN: VOR ALLEM KINDER UND ALTE LEUTEBEVÖLKERN DIE KLEINSTADT RADOAIAAUSVERKAUF EINERGESELLSCHAFTMoldau ist arm. Es belegt Rang 113 des HumanDevelopment Index 2012. Fast ein Drittel der moldauischenBevölkerung, die auf etwa 3,8 MillionenMenschen geschätzt wird, lebt von weniger als 2US-Dollar täglich und etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerungmuss als arm bezeichnet werden. Seitdem Ende der Sowjetunion ist die Wirtschaft Moldausum 60 Prozent geschrumpft. Mindestens ein Drittelder erwerbstätigen Bevölkerung ist im landwirtschaftlichenSektor tätig. Der Durchschnittslohnliegt bei etwa 150 Euro. Diese Zahl bezieht aber nurdiejenigen ein, die tatsächlich eine bezahlte Arbeithaben. Gerade auf dem Land fristen viele ihr Lebenmit Gemüseanbau und kleinen Nebenjobs. Viele Kinderaußerhalb der Städte gehen nicht zur Schule,weil die Wege weit sind und Eltern das Geld für denBus und Schulmaterialien nicht aufbringen können.Armut und Unsicherheit in Moldau hinterlassenihre Spuren. Nicht nur die hohen Auswanderungsratensprechen für die verbreitete Hoffnungslosigkeit; auchdie Geburtenrate ist eine der niedrigsten in Europa.Selbst ohne die Auswanderung schrumpft die BevölkerungMoldaus, die Sterberate übertrifft dieZahl der Neugeborenen. Die Gesellschaft zerfällt:Der Prozess der Desintegration wirkt bis in die primärenBindungen hinein. Eheleute verlassen einander,Heiraten nehmen ab, Kinder verlassen ihre Elternund Eltern lassen ihre Kinder im Stich. Rund 38.000Mädchen und Jungen sind in der Republik Moldauals Sozialwaisen erfasst, weil Vater oder Mutter imAusland arbeiten und die Kinder im Heim landen.Manchmal werden Kinder ins Ausland verkauft.Freundinnen werben Freundinnen als Prostituiertean, mit fadenscheinigen Argumenten. Zwangsprostitutionumfasst laut der Internationalen Organisationfür Migration zwar vielleicht nur ein Prozent der gesamtenMigration, bleibt aber bedrückende Realität.Im Ausland – Russland, der Westen, die Türkei,Dubai – müssen sich Frauen unter Zwang prostituieren,bevor sie, manchmal mit einem Handgeld, zurückgeschicktwerden. Die Intervalle sind kürzer geworden:Inzwischen werden die Frauen oft nacheinem halben Jahr zurückgeschickt, vorher warenes ein bis zwei Jahre. Einmal zurück, können dieFrauen nicht berichten, was sie taten und was ihnenangetan wurde. Ihre Familie, ihre Freunde würdensie verlassen. Das Ausland ist so Verheißung undSchrecken zugleich. In geringerem Umfang sind auchMänner und Kinder Opfer von Menschenhandelund Zwangsarbeit.21


REPUBLIK MOLDAU22Die Überhöhung des Auslandes ist nur der Spiegeleiner Gesellschaft, die nicht an eine eigene Entwicklungglaubt. Auch zwanzig Jahre nach demFall des Eisernen Vorhangs ist Moldau arm, rückständig,ohne Perspektive. Das Land bräuchte dringendInvestitionen, doch Bürokratie und Korruptionlähmen das Geschäft und wirken abschreckend.Grundsätzlich wollen die Migrantinnen und Migrantenihr Land und ihre Familien zwar nicht verlassen.Die wenigen Arbeitsmöglichkeiten und niedrigenLöhne zwingen aber zur Migration. Auf demLand gehört es zum klassischen Verständnis einerFamilie, ein Haus zu haben und den Kindern einegute Ausbildung zu finanzieren. Weit verbreitetunter der ländlichen Bevölkerung ist daher die Annahme,dass junge Menschen bleiben würden, gäbees ordentlich bezahlte Arbeit im Land. Wo diesnicht geht, da gehen die Eltern, und wenn sie insLand zurückkehren, gehen die Kinder. Immer häufigerjedoch kommen die Eltern nicht zurück. Sieholen ihre Kinder nach, und Moldau bleibt nurmehr eine Erinnerung.ROUTEN ZWISCHEN OST UND WESTMigration aus Moldau hat verschiedene Phasenund Formen, die abhängen von den Möglichkeitendes Auslandes und denen, die sich in Moldau bieten.Die Bestimmungen der Zielländer geben hier oftden Rhythmus vor. Russland und die Ukraine sindattraktiv, weil für drei Monate kein Visum benötigtwird und die Reisekosten verhältnismäßig geringsind. Dies bietet auch die Möglichkeit, nach dreiMonaten Aufenthalt kurz wieder nach Moldau zurückzukehren,und danach wieder aufzubrechen. InRussland liegen die Verdienstmöglichkeiten immerhinbeim 2 ½-fachen Lohn in Moldau.Die Reise in Länder der Europäischen Union istanders. Hier ist das Lohnniveau meist höher, unddie Ausreise ist längerfristig angelegt. Die hohenReisekosten, insbesondere im Fall irregulärer Migration,und das Risiko bei Grenzübertritten aufgegriffenzu werden, sprechen gegen eine häufige EinundAusreise. Oft wagen die Migrant_innen die Ausreiseauch erst dann, wenn ihnen bereits zuvor einekonkrete Arbeit bzw. Verdienstmöglichkeit in Aussichtgestellt wurde. Bei den legal in der EU tätigen Arbeitsmigrant_innenaus der Republik Moldau handeltes sich mehrheitlich um Frauen. In Italien stellensie etwa 70 Prozent der rund 200.000 Migrant_innenaus Moldau. Nur in einigen Mitgliedstaaten überwiegtder Anteil der Männer, vor allem in Polen undPortugal. Moldauische Frauen arbeiten oft im häuslichenBereich oder in der Pflege, Männer hingegenim Baugewerbe und in der Landwirtschaft. Nur eingeringer Prozentsatz geht einer hochqualifiziertenTätigkeit nach. Insgesamt sind die moldauischenMigrant_innen jung, im Alter zwischen 20 und 49Jahren. Der Anteil der Migranten mit Hochschulbildungbetrug 2010 mindestens 10 Prozent und wächsttendenziell. Auch sie arbeiten jedoch zum großenTeil auf Baustellen oder in Pflegeberufen. Migrationist brain waste, eine Verschwendung von Kompetenzen.Zu den irregulär in der EU lebenden und arbeitendenMoldauer_innen gibt es keine Angaben.Viele der im Ausland Lebenden würden gerne zurückkehren,sind aber Opfer des sogenannten Sperrklinkeneffekts:Wer die EU einmal wieder verlässt,kommt so leicht nicht wieder hinein, also geht kaumjemand zurück. Die Folgen der Irregularität verhinderneine zirkuläre Migration. So können die Potenzialeder Diaspora für Moldau nicht positiv genutztwerden.GRENZKONTROLLE ALSFOLGE DER EU-POLITIKDie Politik der Europäischen Union in Moldauzielt darauf ab, die Grenzen zu sichern. So einfachlassen sich die Maßnahmen auf den Punkt bringen,welche die Europäische Union über verschiedene Instrumente,die „östliche Partnerschaft“, die „EuropäischeNachbarschaftspolitik“ und die „Mobilitätspartnerschaft“in der Republik Moldau implementiert.Anders als z.B. die Ukraine hat sich Moldau –ohne Transnistrien – eindeutig zur EuropäischenUnion hin orientiert. Zu den zentralen BedingungenEuropas für eine engere Anbindung Moldaus an dieStaaten der Europäischen Union zählt die Kontrolleund Sicherung der Grenzen. So hat Moldau zahlreicheinternationale Vereinbarungen ratifiziert, ist in allenregionalen Foren zu Migration vertreten und bemühtsich nach Kräften, den Wünschen der EU nachzukommen.Eine erweiterte Freihandelszone, gute Regierungsführungund Verbesserung der Rahmenbedingungenfür die Wirtschaft sind wichtige Bereichein der Kooperation zwischen der EU und der RepublikMoldau; wesentliche Aspekte der Vereinbarungen


REPUBLIK MOLDAUzwischen der EU und Moldau sind jedoch Rückübernahmeabkommen,mit denen Abschiebungen nachMoldau garantiert werden, die Einführung biometrischerPässe zur Identifizierung moldauer Staatsbürger_innen,die Kontrollen an den Außengrenzendurch Zoll und Grenzschutz und der Kampf gegenillegale Migration, Schlepper und Menschenhandel.So ist Moldau 2010 in 9 von 11 regionalen EU gefördertenProgrammen zu Migration vertreten. Seit2005 unterstützt EUBAM, die EU Border AssistanceMission in Ukraine und Moldau, mit 100 internationalenund mehr als 100 lokalen Mitarbeiter_innendie heimischen Behörden bei der Verbesserung derGrenzkontrollen. Hinzu kommen Frontex Missionenund Aktivitäten der Internationalen Organisationfür Migration (IOM), die im Auftrag europäischerStaaten Opfer von Menschenhandel undRückkehrer_innen betreut. Die IOM ist auch beteiligtan der Koordination der zahlreichen moldauischenÄmter und Behörden, die mit Migration befasstsind, und hat gerade ein erweitertes Migrationsprofilerstellt, in dem migrationsrelevante Daten und Entwicklungenzusammengefasst werden.Eine Mobilitätspartnerschaft zwischen der EuropäischenUnion und Moldau soll Möglichkeitenschaffen und die Bedingungen für Migration verbessern.Tatsächlich scheint es bislang so, als obMoldau vor allem erst einmal die Bedingungen derEU erfüllen muss. Ob dann Wege der legalen Migrationin die EU eröffnet werden, ist nicht vertraglich vereinbart,sondern hängt vom Willen und Interesseder EU-Mitgliedstaaten ab. Angesichts der Wirtschaftskriseist dieses Interesse gerade gering.DIE KOSTEN DER MOBILITÄTMigration, auch irreguläre, kennt Gewinner undVerlierer. Je höher die Hürden für Migration gelegtwerden, desto höher steigen die Kosten für die Migrant_innen,und desto höher ist auch der Grad derVerletzlichkeit, Unterdrückung und Ausbeutung imAusland. Europas Marktwirtschaft profitiert von derVerfügbarkeit billiger und billigster Arbeitskräfte inder Altenpflege, der Prostitution, auf Baustellen undin der Landwirtschaft. Die Republik Moldau profitiertvom Rückfluss der Devisen und Investitionen derMigrant_innen in ein unterentwickeltes Land. DieMigrant_innen zahlen die Zeche. Viele verschuldensich beim Versuch, in Länder der Europäischen Unioneinzureisen, viele scheitern dabei, ein würdiges Lebenzu führen und eine ordentlich bezahlte Arbeit zufinden. Viele Beziehungen und Familien zerbrechendaran. Doch gibt es immer auch diejenigen, die esschaffen, es ihren Verwandten ermöglichen, ein Auskommenzu finden, eine Ausbildung zu machen undbegehrte Statussymbole herumzuzeigen, und so dieVorstellung nähren, die Migration würde sich lohnen.Die europäische Politik gegenüber Moldau zieltvor allem auf die Installation einer Politik der Kontrolle.Die Republik Moldau soll ihre Bevölkerungund ihre Grenzen kontrollieren. Für die Formulierungund Umsetzung von Gesetzen und Regeln zum Managementder Migration gibt die Europäische Unionviel Geld. Der Schutz der Menschenrechte von Migrant_innenwird vernachlässigt. Ansätze, die Migrationsowohl für das Land als auch für dieMigrant_innen sicherer und gewinnbringender machenwürden, sind spärlich, nur dünn finanziert,und ohne Engagement. Die Mobilitätspartnerschafterweist sich bisher als eine Immobilitätspartnerschaft.Während Moldau europäische Wünsche der Grenzkontrolleoder der Rückübernahme vonStaatsbürger_innen erfüllt, gibt es kaum nennenswerteVorteile und Möglichkeiten für Migrant_innen.Diese werden von der Europäischen Union und ihremeigenen Land allein gelassen. Irreguläre Migrationsoll die Migrant_innen teuer zu stehen kommen,reguläre Migration ist nicht im Angebot. So wird esabsehbar wohl kaum weniger Gründe geben, der RepublikMoldau den Rücken zu kehren, weil eine Migrationsprogrammatikfehlt, die auch die Interessenund Bedürfnisse der Migrant_innen in den Blicknimmt und die Dynamik der Migration aufgreiftstatt blockiert.Brot für die Welt unterstützt in Moldau die AssociationMoldavian Christian Aid (MCA) in dem Bemühen bessereLebensbedingungen für ältere und pflegebedürftigeMenschen im ländlichen Raum zu schaffen.23


TUNESIENTUNESIENWohlstandsgrenze MittelmeerEINE EUROPÄISCHE SICHERHEITSPOLITIK AN DEN AUSSEN-GRENZEN, DIE ALLEIN AUF EINE AUTORITÄRE STABILITÄT UNDEFFEKTIVE KOOPERATION IN DER KONTROLLE FIXIERT IST, RIS-KIERT NICHT NUR DAS LEBEN VON FLÜCHTLINGEN, SONDERNBLOCKIERT AUCH DEMOKRATISCHE AUFBRÜCHE.24In einem Café im Zentrum von Tunis treffen wiruns mit einer Vereinigung von Angehörigen vermissterMigrant_innen. Es sind hauptsächlich Mütter,die von ihren Kindern nichts mehr gehörthaben. Wir begleiten Vertreterinnen des italienischenFrauenkollektivs Il Venticinque Undici. DasKollektiv hatte die Vereinigung der Angehörigendabei unterstützt, bei italienischen Behörden Informationenüber verschollene Migrant_innen zu bekommen.Vergeblich. Nun wollen die italienischenFrauen weitere Schritte planen. Die rund 20 Angehörigen,hauptsächlich Mütter, sind aufgeregt. Sietragen neue oder bereits bekannte Details zu denBootsüberfahrten vor und neue Beweise über denmöglichen Verbleib ihrer Söhne. Die Frauen sindsehr aufgebracht, ihre Berichte verzweifelt. Einigeweinen. Die Diskussion gestaltet sich zunehmendangespannt. Nach knapp zwei Stunden löst sich dasTreffen etwas chaotisch auf, und mit der Abmachung,uns am nächsten Tag für eine erste Demonstrationzu treffen, brechen wir auf.Begegnungen wie diese sind häufig in den letztenJahren. Europäische Aktivist_innen wollen die europäischeAbschottungspolitik nicht hinnehmen,Netzwerke wie Boats4People und Watch the Medwollen sich mit den neu entstandenen sozialen Bewegungenin Tunesien verbünden. Migration istdabei ein Schlüsselthema. Die aufgebrachte Verzweiflungder Mütter lässt die Erinnerung aufkommenan die Mütter von Verschwundenen der lateinamerikanischenTerrorregime. Hier jedoch istnicht die Geheimpolizei am Werk, sondern diegrenzüberschreitende Bekämpfung sogenannter ‚irregulärerMigration‘ verursacht das Verschwinden.Die europäische Zusammenarbeit mit Tunesiengegen Migration aus und über Tunesien hat einelange Geschichte. Judith Kopp von PRO ASYLbekam Einblick in die Situation vor Ort durch Begegnungenmit unterschiedlichen Akteuren der Zivilbevölkerungin Tunesien und Vertreter_innendes europäischen Grenzregimes im Land.


TUNESIENSCHMUTZIGE DEALS GEGENDIE DEMOKRATIESowohl die Europäische Union als auch vor allemItalien als der nächstliegende Mitgliedstaat habenin den vergangenen 20 Jahren intensiv mit demrepressiven Regime Ben Alis zusammengearbeitet.Die EU schloss 1998 ein Assoziierungsabkommenmit Tunesien, in dessen Rahmen vor allem wirtschaftlicheKooperation stattfand. Tunesien warbeteiligt am Barcelona Prozess zur Förderung derZusammenarbeit der Mittelmeerländer. Bedingungfür wirtschaftliche Kooperation war schon frühzeitigdie Teilnahme an der Bekämpfung irregulärer Migrationnach Europa. Seit 2004 ist Tunesien in dieEuropäische Nachbarschaftspolitik ENP eingebunden.Im Aktionsplan 2005 bis 2010 für Tunesien wurdenVerhandlungen zu einem Rückübernahmeabkommenmit der EU sowie Ausbildung, Materialausstattungund Stärkung der Grenzpolizei an Land- und Seegrenzenfestgeschrieben. Im Wissen darum, dassim Asyl und Flüchtlingsschutz Tunesiens keinerleiRechtsinstrumente zur Schutzgewährung existierten,und der Dialog mit dem UNHCR auf Eis lag, lobtdie EU in einem Strategiepapier die AnstrengungenTunesiens, durch eine restriktive Gesetzgebungund rigide Grenzkontrollen irreguläre Migrationzu verhindern, sowie die gute Kooperation Ben Alisim Bereich Migrationsbekämpfung mit Italien undFrankreich.Besonders Italien war es ein Anliegen, Tunesienin die Abwehr von Migrant_innen einzubinden.Bereits 1998 schlossen die beiden Staaten ein Abkommenzur Rückübernahme nicht nur tunesischerStaatsangehöriger, sondern ebenso von Migrant_innenund Flüchtlingen, die über Tunesien nachEuropa gelangt waren. Gemeinsame Patrouillenfahrtenentlang der tunesischen Küste führten zwischen1998 und 2003 zu Festnahmen von mehr als37.000 Personen durch die tunesischen Behörden,gut die Hälfte davon tunesische Staatsbürger. Dieitalienische Polizei trainierte tunesische Grenzpolizistenund erbot sich, die tunesische Grenzpolizeimit polizeilicher Ausrüstung im Wert von 20,7 MillionenEuro auszustatten.Auch legale Einwanderungsmöglichkeiten wurdenvon Italien als Anreize gesetzt, um Tunesien zurUnterzeichnung von Rückübernahmeabkommenzu bewegen: 1990 wurde eine jährliche Visaquotein Italien eingeführt, aus Tunesien 1.500 Migrant_innenpro Jahr. Noch im selben Jahr unterzeichneteTunesien das erste Rückübernahmeabkommen mitItalien. Die Quote wurde im Jahr 2000 auf 3.000Visa erhöht. Doch nur in den ersten beiden Jahrendurften tatsächlich rund 3.000 Tunesierinnen undTunesier legal nach Italien einreisen, danach fieldie Zahl tatsächlich verteilter Visa drastisch. Übriggeblieben ist die Komponente zur Bekämpfung irregulärerMigration. Ein neues RückübernahmeundPolizei-Kooperationsabkommen wurde 2003geschlossen. Es beinhaltet die Finanzierung vontechnischer Ausrüstung in Höhe von 7 MillionenEuro pro Jahr. Bilaterale Zusammenarbeit zwischenitalienischen und tunesischen Grenzschützern äußertesich in mehreren Zurückweisungsoperationenin internationalen Gewässern. Ein Verstoß gegendas Non-Refoulement-Verbot ist nicht auszuschließen.Tunesien verfügte unter Ben Ali über die ambesten gesicherte Seegrenze im Maghreb.Doch nicht allein Visaquoten, Kooperation mitund Ausrüstung der Grenzpolizei wurden von Italieneingesetzt, um sich der Mithilfe Ben Alis in der Abwehrvon Migrant_innen zu versichern. Bereitswährend der Verhandlungen um das Rückübernahmeabkommenvon 1998 kündigte Italien ein neuesEntwickungshilfeprogramm an, worin Tunesien 80Millionen Euro für die Jahre 1999 bis 2001 zurVerfügung gestellt werden sollten. Kurz darauf wurdenweitere 61 Millionen bewilligt. Pünktlich zurUnterzeichnung des zweiten Rückübernahmeabkommensvon 2003 wurde ein Entwicklungshilfe-Betrag von 182 Millionen Euro für 2005 bis 2007vereinbart.Zur gleichen Zeit trat Tunesien der InternationalenOrganisation für Migration (IOM) bei, dieseither Projekte in Tunesien durchführt, meistenskofinanziert durch die italienische Regierung. Sonutzte Italien nicht nur Entwicklungshilfe als Anreizzur Kooperation in Migrationsfragen, sondern setzteeinen Teil seiner Entwicklungshilfe direkt im BereichGrenzkontrollen und Migrationsmanagement ein.Das Prinzip konditionalisierter Entwicklungshilfeist im Juli 2002 in Italien sogar gesetzlich festgeschriebenworden (Gesetz 189/2002). Danach solldie italienische Regierung beim Abschluss von Entwicklungsprogrammendie „Kooperationsbereitschaftzur Bekämpfung illegaler Migration und Schlepperorganisationen“prüfen. Der autoritäre Umgang25


TUNESIEN26Ben Alis mit eigenen Bürger_innen und Migrant_innengalt Europa oder Italien nie als Hindernis, Geschäftezu machen.Die tunesischen Verhältnisse sind seither in Bewegunggeraten. Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bou‘azizi am 17. Dezember2010 in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im ärmlichenLandesinneren Tunesiens, löste schnell um sichgreifende Proteste aus. Anfang Januar 2011 erreichtendie Aufstände Tunis. Die Bilder von Hunderttausendenvon Demonstrant_innen auf derAvenue Habib Bourgiba und der gewaltsamen Polizeirepressiongegen die Proteste gingen um dieWelt. Am 14. Januar 2011 flüchtet Diktator ZineEl-Abadine Ben Ali nach 23 Jahren Herrschaft nachSaudi Arabien. Der Umbruch in Tunesien hattenach Angaben der Vereinten Nationen 215 Totegefordert.Mit der Flucht Ben Alis am 14. Januar 2011 warder revolutionäre Prozess in Tunesien jedoch nochnicht an sein Ende gelangt. Die folgenden Wochenund Monate waren von Protesten, mehrfachen Regierungswechselnund einer bleibenden Frustrationinsbesondere innerhalb der jungen Generation geprägt.Am 23. Oktober 2011 fanden die erstenfreien Wahlen in der Geschichte Tunesiens statt,doch die politische Situation im Land bleibt labil.Noch 2011 sind die Proteste auf andere Staatendes Maghreb, auf Libyen und Ägypten übergegangen.Ein scheinbar kleiner Anlass hatte Proteste entfacht,die alte Autokratien am Mittelmeer ins Wankenbrachten. Europa begrüßte den Sturz der altenHerrscher, unterstützte in Libyen auch die Rebellen.Doch einen Wandel der europäischen Migrationspolitikzogen die Regimewechsel im Maghreb nichtnach sich.ANGST VOR DER FREIHEITIM MAGHREBDie europäische Migrationspolitik gegenüberTunesien ist beispielhaft für eine interessensgeleiteteRealpolitik, die wenig Unterschied macht zwischenalten Diktatoren und jungen Demokratien. Von bezeichnenderDoppeldeutigkeit in Anbetracht dertatsächlichen Praxis ist daher die Aussage vonStefan Füle, dem EU-Kommissar für Erweiterungund Europäische Nachbarschaftspolitik, Ende Februar2011:„Die Massen in den Straßen von Tunis, Kairound anderswo haben im Geiste unserer gemeinsamenWerte gekämpft. Mit ihnen müssen wir heute zusammenarbeiten und nicht mit Diktatoren, dieunter der Missachtung von Menschenleben dasBlut ihrer eigenen Leute vergießen.“Als etwa zur gleichen Zeit einige Tausend jungeTunesier_innen in Süditalien ankommen, löst dieseine hektische europäische Krise aus: Italien redetvon nationalem Notstand und stattet einen Teilder Migrant_innen mit Transitvisa aus, damit sieschnell das Land verlassen. Frankreich beginnt empört,die Tunesier_innen an der Grenze nach Italienzurückzuweisen. In Dänemark wird angesichts derAnkunft einer Handvoll Migrant_innen aus Tunesiendie Aussetzung des Schengener Abkommens unddie Wiedereinführung innereuropäischer Grenzkontrollengefordert. Zugleich wird die EuropäischeGrenzschutzagentur Frontex mobilisiert, um ineiner Eilaktion tunesische Boote aufzubringen undnach Tunesien zurückzuweisen. Die Kommissionwill die Frontex-Mittel um 30 Millionen Euro aufstocken.Bereits im April 2011 kündigt Frontexeine Vereinbarung mit den tunesischen Grenzbehördenzur Durchführung gemeinsamer Patrouillengegen irreguläre Migrant_innen an.Im Jahr 2011 gehörte das zentrale Mittelmeerzu der am dichtesten überwachten Region weltweit.Nicht nur Frontex war vor den Küsten des Maghrebpräsent, sondern auch die Schiffe der NATO vorden libyschen Küsten. Dennoch verloren im Jahr2011 mehr als 2.000 Flüchtlinge ihr Leben im Mittelmeer.Im April 2012 stellte der Europarat inseinem Bericht die Mitverantwortung der europäischenStaaten für das Massensterben auf See festund sprach von „kollektivem Versagen“ der NATO,der Vereinten Nationen und einzelner europäischerMitgliedstaaten.Ganz offenkundig erstreckt sich der Geist gemeinsamerWerte nicht auf die Solidarität mitFlüchtlingen und Migrant_innen. Diese wolltendurch die Fahrt nach Europa sich und ihren Familiennach den Wirren des Umsturzes ein Auskommensichern. Die Wirtschaft strauchelte, Investoren undTouristen blieben aus, für viele sah es nicht so aus,als könne der Lebensunterhalt allein in Tunesienverdient werden. Auch die Grenzkontrollen ließenzunächst nach, die Organisation der Sicherheitskräftewar durcheinander geraten. Dies nutzten die Flücht-


TUNESIENPROTESTE VON MÜTTERN UND ANGEHÖRIGEN VERMISSTER BOOTSFLÜCHTLINGEWÄHREND DES WELTSOZIALFORUMS IN TUNISlinge und Migrant_innen um in die Boote zu steigen;die neue Befreiung vom Joch des Regimes wurdewie beim Fall der Berliner Mauer von vielen auchals Bewegungsfreiheit begriffen. Europa beeilte sichdeshalb, die neue Regierung Tunesiens wieder einzugliedernin die Kontrolle von Migrant_innen.Tunesien wird eine „Mobilitätspartnerschaft“ inAussicht gestellt, wenn europäische Bedingungenim Kampf gegen irreguläre Migration erfüllt werden.Über die Mobilitätspartnerschaft können je nachBedarf selektiv Arbeitskräfte dem europäischen Arbeitsmarktzugeführt werden. Voraussetzung istallerdings, dass ein europäischer Mitgliedstaat entsprechendeKonzessionen erteilt.Die Hoffnung, dass die neue tunesische Regierungsich weniger auf Geschäfte mit Migrationskontrolleeinlassen würde als das alte Regime, zerschellterasch an der Wirklichkeit. Tunesien ist in hohemMaße wirtschaftlich abhängig von der EU. 80 Prozentder tunesischen Exporte gehen nach Europa, einGroßteil der ausländischen Investitionen in Tunesienkommt aus Frankreich und Italien. Auch der Beitragder Migrant_innen zur Wirtschaft ist erheblich.Ende 2011 lebten insgesamt rund 1,2 MillionenTunesier_innen, 11 Prozent der Bevölkerung, im27


TUNESIEN28Ausland. Die registrierten Rücksendegelder vonTunesier_innen im Ausland machten rund 5 Prozentdes Bruttoinlandproduktes aus. 2009 betrugen sie2.653 Millionen Tunesische Dinar (= rund 1,4 MilliardenEuro). Etwa die gleiche Summe, so wird geschätzt,kommt über andere Kanäle ins Land. Soist es der tunesischen Regierung ein Anliegen, Migrationzu ermöglichen und die Kontakte zur tunesischenDiaspora zu stärken. Aber Europa stellteGelder, Wirtschaftsverträge und Visaerleichterungenin Aussicht, und so wurde nach nur wenigen Monatendas Migrationsfenster wieder geschlossen, die tunesischeGrenzkontrolle kam ihren Aufgaben wiedernach; Tunesien akzeptierte, dass zahlreiche geradein Lampedusa gelandete Migrant_innen direkt nachTunesien zurückgeflogen wurden.TUNESIENTunesien gehört zu den Mittelmeeranrainerstaaten.Mit 164.000 QuadratkilometernFläche grenzt es im Westen an Algerienund im Osten an Libyen. Das Land ist durchein starkes soziales und wirtschaftlichesGefälle zwischen der Küste und dem Landesinnerengekennzeichnet.Einwohner_innen: Die Einwohnerzahl Tunesiens2013 wird auf ca. 10.835.000 geschätzt.Auswanderung: 2008 waren insgesamt1.058.700 Tunesier_innen (10.2%) in tunesischenKonsulaten im Ausland gemeldet.Einwanderung: 2013 lebten UNDP zufolgerund 36.500 ausländischeStaatsbürger_innen in Tunesien.Rücksendegelder: Für 2012 kamen 2.198Millionen US-Dollar an Rücksendegeldernins Land, davon 412 Millionen US-Dollar ausItalien und über eine Milliarde US-Dollaraus Frankreich. Migrant_innen in Tunesienschickten rund 67 Millionen US-Dollar inihre Herkunftsländer.BIP 2012: 46,146 Milliarden US-Dollar.Human Development Index 2012:0,712 (94. Platz).Regierung: Der langjährige Diktator ZineEl-Abidine Ben Ali wurde am 14. Januar 2011gestürzt. Aktuelles Staatsoberhaupt ist InterimspräsidentMoncef Marzouki (CPR –Congrès pour la République), PremierministerAli Larajedh (Ennahda Partei).Doch nicht alle erreichen Europa, nicht alle kommenzurück. Mehrere Tausend Menschen sind ertrunkenoder verunglückt zwischen Tunesien undItalien, von vielen fehlt jede Spur.Die Angehörigen von etwa 300 vermissten Migrant_innenhaben sich zusammengeschlossen, umvon den tunesischen und italienischen BehördenRechenschaft zu verlangen. Sie gehören zu denGruppen in Tunesien, die sich vehement für Aufklärungder Schicksale der Verschwundenen einsetzen.Seit dem Frühjahr 2011 haben sie mit Protestenbis hin zu Hungerstreiks auf ihre Anliegenaufmerksam gemacht, und so die Einzelschicksaleaus dem Privaten in die Öffentlichkeit getragen.Sie werden unterstützt vom Tunesischen Forumfür Ökonomische und Soziale Rechte (FTDES), einerOrganisation, die sich stark im Bereich Migrationund für die Rechte von Migrant_innen engagiert.Unter den weiteren Gruppen, die das Thema Migrationverfolgen, sind das Zentrum für Migrationund Asyl Tunis (CeTuMA), das sich wissenschaftlichund politisch für die Rechte von Migrant_innenund Flüchtlingen einsetzt, und und die Aktivist_innender Gruppe Artikel 13, die die Forderung nachBewegungsfreiheit zu ihrem Hauptanliegen gemachthaben. Auch wenn andere drängende Themen oftim Vordergrund gesellschaftlicher Debatten stehen,so ist eine kritische Diskussion der Migrationspolitikund ihrer Folgen doch immer präsent.Dies betrifft nicht allein tunesische Migrant_innen,sondern auch die subsaharischen Flüchtlinge,die im Maghreb arbeiten oder ebenfalls ihr Glückin Europa suchen.FLÜCHTLINGSDRAMENIM LIBYSCHEN SCHATTENDie Ereignisse im kleinen Tunesien wurden baldvom aufflammenden Bürgerkrieg in Libyen in denSchatten gestellt. Während Europa 2011 seine Grenzenverschloss, hatten die Nachbarländer Libyensim Zuge des libyschen Bürgerkriegs HunderttausendenFlüchtlingen Schutz geboten. Allein in Tunesienfanden rund 800.000 Schutzsuchende Aufnahme.Die meisten Flüchtlinge waren libyscherStaatsangehörigkeit, rund 200.000 hatten jedochzuvor, meist als Arbeitsmigrant_innen, in Libyengelebt. Insbesondere die Stadt Ben Guerdane ander libyschen Grenze wurde zu einem Ort der Aufnahmevon Flüchtlingen. Ende Februar 2011 wurden


TUNESIENvier große Lager unter der Leitung von UNHCRentlang der tunesisch-libyschen Grenze errichtet.Ein Großteil der Flüchtlinge kam kurz nach Ausbruchdes Krieges im Lager Choucha unter. Von anfangsknapp 20.000 Flüchtlingen in Choucha bliebennach Rückführungen vieler Flüchtlinge durch dieIOM in Länder wie Mali, Kamerun oder Gambiarund 4.000 zurück, von denen viele bis zu zweiJahre in dem unwirtlichen Lager in der tunesischenWüste ausharren mussten.Die meisten von ihnen wurden von UNHCR alsFlüchtlinge anerkannt. Rund 2.000 wurden im Rahmeneines sogenannten Resettlementverfahrensvon sicheren Staaten aufgenommen, insbesonderevon den USA. Europäische Länder zögerten mitAufnahmeregelungen. Erst durch Proteste der Flüchtlingein Choucha und solidarische Aktionen in Tunesienund in Deutschland konnte 2012 erreichtwerden, dass 201 Menschen aus dem Lager einAufnahmeplatz in Deutschland gewährt wurde.Etwa 400 von UNHCR anerkannte Flüchtlinge erhieltenaus formalen Gründen – sie waren zu spätin das Flüchtlingslager gelangt – keinen Zugangzum Resettlementverfahren. Sie sollen über ein lokalesIntegrationsprogramm in Tunesien bleiben,wo sie Anfeindungen erlebt haben und wo nachwie vor kein Asylgesetz besteht, das den FlüchtlingenSchutz garantieren würde. Europa hält sich herausund setzt auf „regionale Schutzprogramme“ zurVersorgung von Flüchtlingen am Rande der Krisengebiete.Das erinnert an die Gedankenspielevon Otto Schily und Tony Blair aus dem Jahr 2004,die den Flüchtlingsschutz nach Nordafrika auslagernwollten. Rückblickend legt das Handeln Italiensund der Europäischen Union in Tunesien den Schlussnahe, dass dies langsam Wirklichkeit wird. UNHCRhat das Flüchtlingslager Choucha inzwischen geschlossen.Es werden keine Essensrationen mehrausgeteilt, Wassertanks und Toiletten wurden abgerissen.Auch wenn das Wasser knapp wird, harrennoch einige Hundert Flüchtlinge dort aus. Chouchaist ein Symbol für das Scheitern des Flüchtlingsschutzesaußerhalb Europas.EUROPA ZÄUNT SICH EINIn Tunesien hat die Europäische Union nichtnur die Chance verpasst, sich beizeiten gegen denDiktator und für das Volk auf der Straße zu entscheiden.Indem sie den Schutz vor Flüchtlingenvor den Flüchtlingsschutz stellte und Migrant_innenaus Tunesien möglichst umgehend zurücktransportierte,vergab die Europäische Union auch dieGelegenheit, sich solidarisch zu zeigen mit einerjungen Regierung und einer in Bedrängnis geratenenBevölkerung. Statt Tunesien die Hand zu reichen,dominieren Abwehrreflexe. Von Tunesien wird diehandfeste Sicherung der Grenzen erwartet, als Gegenleistungwinken vage Versprechen einer erleichtertenMobilität. Schon in der Vergangenheit hatItalien gezeigt, dass solche Versprechen nicht eingehaltenwerden. Die Abhängigkeit Tunesiens vonEuropa erlaubt es, dass die Europäische Union unverblümtihr hegemoniales Gesicht zeigt.PRO ASYL und medico international unterstützen dasProjekt Watch the Med, das auf ein Monitoring von Todesfällenvon Bootsflüchtlingen und Menschenrechtsverletzungenim Mittelmeerraum zielt, um dieStraflosigkeit an Europas Seegrenzen zu beenden. Mittlerweileumfasst das Projekt ein weites Netzwerk an Organisationenund Aktivist_innen.29


MAURETANIENEuropas erste AußengrenzeAM STRAND VON AFRIKA ZEIGT SICH, WIE EIN DURCH EUROPAVERORDNETES KONTROLLREGIME NICHT NUR INDIVIDUELLE LE-BENSTRÄUME UNGEZÄHLTER ZERSTÖRT, SONDERN OFFENERÄUME DER ANKUNFT DAUERHAFT IN EINE ZONE DER VERBAN-NUNG VERWANDELT.30Die mauretanische Hafenstadt Nouadhibou, zwischenWestafrika und dem Maghreb gelegen, galtfür kurze Zeit als günstiger Ausgangspunkt für alljene afrikanischen Boat-People, die ihre Rettung inder Flucht nach Europa suchten. Nachdem MarokkoEnde 2005 seine Grenzen und die der besetztenWestsahara auf Druck Spaniens und der EUgeschlossen hatte, verlagerte sich die Auswanderungweiter nach Süden. Von Nouadhibou aus setztenjede Nacht die pirogues der Migrant_innen ab,oft mit unerfahrenen Kapitänen und unzureichendausgerüstet, um auf die Kanarischen Inseln zu gelangen.Schon 2006 versuchten Spanien und die europäischeGrenzschutzagentur Frontex, dem Einhaltzu gebieten. Spanische Abfangboote und Helikopterpatrouillierten zwischen den KanarischenInseln und Nouadhibou. Alle, die auch nur mutmaßlichüber mauretanischen Boden versucht hatten,„illegal“ auf die Kanaren zu gelangen, wurdennach Mauretanien zurück deportiert. Mit Erfolg.Heute legen keine Boote mehr von Nouadhibou ab.Stephan Dünnwald besuchte für medico internationaldie Stadt der Blockierten.Kebba lacht: „Wir Afrikaner beten, dass Europaexplodiert! Es ist dieses Europa, das den Afrikanernalle Probleme beschert.“ Wir sitzen in einem dämmrigenkleinen Zimmer in einem Hinterhof derAltstadt von Nouadhibou. Früher standen in diesenInnenhöfen die Wohnzelte der Mauren. Mit derZunahme der Einwanderung nach Nouadhibou bautendie Besitzer ihre Innenhöfe zu, vermieteten dieZimmer teuer an Migrant_innen und bauten fürsich selbst stattliche Anwesen außerhalb des Zentrums.Heute ist Nouadhibous Zentrum mehrheitlichvon Migrant_innen bewohnt; sie arbeiten in der


MAURETANIENFischerei, für die Minengesellschaft oder auf demBau. „Viele wollten nach Europa. Viele wollen esimmer noch“, sagt Kebba und blickt mich provozierendan. Kebba ist seit 1992 in Nouadhibou, dawar er 18 oder 19 – und auf der Durchreise. VierMal hat er vergeblich versucht, nach Europa zukommen. Anfangs versteckte er sich in den Frachträumender Schiffe, seit dem Jahr 2000 versuchtendie ersten, mit Fischerbooten auf die Kanaren zufahren: „Wir fürchten uns nicht vor dem Meer. Wirwissen, dass es gefährlich ist“. Lange aber habe eskeinen mehr gegeben, der die Kontrollen überwindenkonnte. Auch wenn Europa für viele noch Anziehungskraftbesitzt, so ist es doch in weite Ferne gerückt.Früher, ohne die Europäische Union, meintKebba, sei es einfacher gewesen. „Aber das istvorbei. Von Nouadhibou kommt niemand mehrweg.“MIGRANT_INNEN UNTERGENERALVERDACHTKebba fasst damit das Ergebnis der spanischeuropäischenGrenzpolitik in Mauretanien präzisezusammen. 2006 war Nouadhibou ein Hotspot derTransitmigration auf die Kanarischen Inseln. Hunderteschifften sich Nacht für Nacht auf den pirogues,langen hölzernen Booten ein, mehr als 30.000 erreichtenallein 2006 die Inseln, ungezählte andereertranken oder verdursteten auf See. Spanien unddie europäische Grenzschutzagentur FRONTEXbrachten viele Boote auf, aber erst als die spanischeGendarmerie in Nouadhibou zusammen mit mauretanischenSpähern den Hafen und die Küste überwachte,wurden die Boote endgültig gestoppt. Weraufgegriffen wurde, kam nach „Guantanamito“,einer von der spanischen Armee zum Internierungslagerumgebauten Schule, und wurde umgehendnach Mali oder Senegal abgeschoben. Der internationaleKampf gegen die sogenannte „irreguläreMigration“ wurde zumindest in Nouadhibou gewonnen.An Land machte eine schwarz uniformierteSondereinheit der Gendarmerie in den dicht bevölkertenVierteln der Altstadt und des Hafens Jagdauf die Transit-Migrant_innen. Es wurde verhaftet,geschlagen und in die Wüste abgeschoben. Zunehmendtraf es auch jene Zugezogenen, die seit langemin Nouadhibou lebten und arbeiteten.Europa war am Ziel. Heute gibt es keine nennenswerteirreguläre Transitmigration von Mauretaniennach Europa mehr. Das spanische RoteKreuz, das, finanziert aus spanischer Entwicklungshilfe,der Internierung von Migrant_innen im Lagereine humanitäre Note gab, ist längst wieder abgezogen.Die sogenannte „Westroute“ existiert nichtmehr; wer heute den Transit nach Europa sucht,geht andere Wege. Ein Erfolg?Die Europäische Union und vor allem Spanienhaben den Kampf gegen Transit-Migrant_innen inMauretanien gewonnen, weil sie die mauretanischeRegierung für die Abwehr von Migrant_innen gewinnenkonnten. Schon 2006 schloss Spanien mehrereAbkommen mit Mauretanien, das gegen Geldund die Lieferung von Ausrüstung Mithilfe versprach.Das autokratische Regime in Mauretanien war aneuropäischen Geldern interessiert, nahm eifrig teilan den von Europa organisierten Konferenzen zurSteuerung von Migration, und erlaubte sogar derspanischen Guardia Civil, ihr Lager in Mauretanienaufzuschlagen und gemeinsam mit der mauretanischenKüstenwache die Häfen und Strände zu kontrollieren.Ein Offizier der mauretanischen Gardede Côtes zeigt mir stolz die von Spanien finanziertenBestände: wendige Allrad-Fahrzeuge für die Strandpatrouille,Boote und Barkassen, mit denen die Fischerbooteüberwacht werden, Ferngläser undNachtsichtgeräte. Auch ein Spähflugzeug geht inmauretanische Hände über, die Häfen sind videoüberwacht.Doch ist es vor allem Entwicklungshilfe,mit der die Abwehr von Migrant_innen erkauftwird. Die spanischen Entwicklungshilfezahlungenschnellten 2006 in die Höhe, um 2009, als kaummehr Boote von Mauretanien die Kanaren erreichten,wieder drastisch zu fallen. Die Europäische Unionist ausdauernder. Mit erheblichen Summen finanziertsie direkt oder über Spanien Maßnahmen, die eineStärkung der Regierungsführung, vor allem aberKontrolle und Überwachung der Bevölkerung undder Grenzen zum Ziel haben. Nicht nur an denSeegrenzen, sondern vor allem an den porösenGrenzen zum Senegal und nach Mali sollen durchzahlreiche Kontrollpunkte und moderne Elektronikschon die Einreisen von Migrant_innen registriertund verhindert werden. Ausländer müssen sichausweisen können, und ihre biometrischen Datenerfassen lassen. Mit erheblichem Druck solltendiese Methoden durchgesetzt werden. Erst aufgrundvon massiven Protesten und Drohungen der Nach-31


MAURETANIEN32MAURETANIENMauretanien liegt an der Westküste Afrikas.Der größte Teil der Landfläche vonmehr als 1 Million Quadratkilometer istWüste und Halbwüste. Weniger als 1 % derLandfläche ist für Landwirtschaft nutzbar.Die Besiedlung konzentriert sich auf denca. 750 km langen Küstenstreifen und denSüden entlang des Senegal-Flusses.Einwohner_innen: 2013 ca. 3,437,610 Menschen,davon leben mehr als 40 % in Städten.Auswanderung: Etwa 3-5 %der mauretanischenBevölkerung (nach einer Schätzungvon 2012 ca. 3,36 Millionen) leben im Ausland.Wirtschaft: Etwa die Hälfte der Bevölkerunglebt von Ackerbau und Viehzucht.Wachsende Bedeutung von Fischfang undFischverarbeitung. Eisenerz bringt ca. 40 %der Exporterlöse.Einwanderung: geschätzt zwischen 99.200(2010) und 79.400 (2007).Rücksendegelder: für 2012 geschätzte 145Millionen US-Dollar.BIP 2012: Die Schätzung beläuft sich auf7.824 Millionen US-Dollar, das Pro-Kopf-Einkommen beläuft sich auf ca. 2.200 US-Dollar.Human Development Index 2012:0,467 (115. Platz).Regierung: Präsident Mohamed OuldAbdel Aziz kam 2008 durch einen Militärputschan die Macht und konnte durch einePräsidentschaftswahl im Sommer 2009seine Macht legitimieren. Das Militär hatnach wie vor großen Einfluss auf die Politik.barländer setzte Mauretanien einen Teil der Auflagenaus. Das Land ist wirtschaftlich abhängig von mehrerenzehntausenden Migrant_innen, die in Mauretanienarbeiten. Inzwischen haben mehrMigrant_innen Mauretanien verlassen, als der Wirtschaftdes Landes gut tut. So suchen mauretanischeGeschäftsleute in Nouadhibou vergeblich Migrant_innenfür die Arbeit in neuen Fischverarbeitungsanlagen.LEBEN IN EINERKLASSENGESELLSCHAFTKebba hat schon viel gearbeitet in Nouadhibou,war Fischer, Händler, Bauarbeiter. Er erzählt, dassarbeiten in Mauretanien schwierig ist. Viele Jobssind inzwischen für Mauretanier reserviert, nichtnur Fischer, auch Taxifahrer oder Maurer werdenoft nur genommen, wenn sie Mauretanier sind.Kebba ist der Vorsitzende der kleinen lokalen gambischenCommunity, ein Amt, das nur Scherereienmacht, sagt er. Es gebe nicht mehr viele aus Gambiahier, vielleicht 200, früher seien es fast 2.000 gewesen.Doch seit Nouadhibou Endstation sei, seienviele weitergezogen. Kebba ist geblieben. Jetzt habeer ein Restaurant, erzählt er, später erfahre ich,dass er sogar zwei besitzt. Für Migrant_innen istes besser, Wohlstand nicht zu zeigen, um keinenNeid zu wecken. Das Verhältnis zwischen Maurenund subsaharischen Migrant_innen ist schwierig.Mauretanien hat seine Geschichte als Sklavenhaltergesellschaftnoch nicht überwunden. Mauretanienwar noch in den 1970er-Jahren ein Land von Nomaden.Arbeiter und Handwerker für den Bau vonStädten und Infrastruktur, für die Minengesellschaftenund Fischerei gab es kaum. Aus demSenegal, Mali und weiteren Ländern Westafrikaswurden schon während der französischen Kolonialzeitdringend benötigte Arbeitskräfte ins Landgeholt, aber als Arbeiter und Schwarze werden sieauch heute noch wenig geachtet.Die meisten Migrant_innen in Mauretanien sindregulär und legal eingereist. „Diese Einwanderungist durch den Staat weder formalisiert noch gesteuertnoch kontrolliert. Sie ist also weder eine Übertretungnoch illegal, sie ist ganz einfach dem Informellenüberlassen“, schreibt der mauretanische SoziologeBensâad. Alle westafrikanischen Staaten sind mehroder minder Nutznießer der Migration, sei es dieihrer eigenen Bevölkerung in die Nachbarstaaten,sei es durch die Einwanderung aus denselben. Mitdieser weitgefassten Freizügigkeit haben die StaatenWestafrikas einer durch Migration bestimmten gesellschaftlichenSelbstverständlichkeit Raum gegeben.Sie entspricht auch den Vereinbarungen im Rahmender westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft(ECOWAS) – deren Integration über viele Jahreauch von der EU aktiv gefördert wurde. Die Anwesenheitvon Migrant_innen in allen westafrikanischenStaaten ist eine Normalität, die schon allein deshalb


MAURETANIENDAS INTERNIERUNGSLAGER „GUANTANAMITO“ IN NOUADHIBOU,EIN HEUTE VERWAISTER ORT DER ABSCHIEBUNGnicht irregulär ist, weil sie kaum Regeln unterworfenist. Ihre Freizügigkeit ist auch deshalb ein Anliegenvon ECOWAS, weil Mobilität auch ein wirtschaftlicherMotor für alle westafrikanischen Staaten ist. Nichtnur Mauretanien profitiert enorm von senegalesischenFischern, malischen Minenarbeitern undBauarbeitern aus Guinea Bissau. Die Einflussnahmeder Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten


MAURETANIENDIE KÜSTENWACHE KONTROLLIERT ALLE EIN- UND AUSLAUFENDEN BOOTEUND ERHEBT „GEBÜHREN“34untergräbt diese Freizügigkeit durch die Einführungvon Kontrollen, Verwaltungsvorschriften und Straftatsbeständen,die einer willkürlichen „Irregularisierung“und Kriminalisierung von Migration undMigrant_innen Vorschub leisten.Inzwischen ist offene Xenophobie bei Sicherheitskräftenund in der Bevölkerung alltäglich geworden;sie wurde durch den Kampf gegen Transit-Migrant_innen so sehr angeheizt, dass die mauretanischeMenschenrechtsorganisation AssociationMauritanienne des Droits de l'Homme (AMDH)vor einem zunehmend rassistisch geprägten Verhältniszu Einwanderern warnt. Dennoch wurdeneinzelne Migrant_innen erfolgreiche Geschäftsleute– solange sie mauretanische Partner mit ins Geschäftnahmen und entsprechenden Tribut zahlten. Diegut situierten und lange ansässigen Händler avanciertenzu lokalen Gemeinde-Chefs. Sie verfügtenüber die notwendigen Beziehungen zu den Behördenund konnten im Bedarfsfall ihren Landsleutenhelfen. Dies geschah nicht immer so uneigennützig,wie Kebba es schildert. Gerade die Ankunft einergrößeren Zahl von Transit-Migrant_innen brachteviel Geld in die Stadt. Alle machten gute Geschäftemit den Durchreisenden, und gerade die Neuankömmlingemussten sich die Solidarität der Chefsihrer eigenen Community erkaufen.ZIVILGESELLSCHAFTLICHERBEISTANDDie einzige mauretanische Organisation, die sichin dieser Situation für die Rechte der Migrant_inneneinsetzt, ist die Menschenrechtsorganisation AMDH.Regelmäßig intervenieren die Rechtsanwälte desVereins bei Konflikten mit Behörden oder befreienwillkürlich Verhaftete aus dem Gefängnis. MaîtreNiang ist überzeugt von seiner Arbeit: „Die Behördenhaben keine Ahnung von den Rechten, dieMigrant_innen zustehen. Oft reicht es schon, wennich komme und mit der Polizei oder dem Richterspreche, damit Migrant_innen wieder auf freienFuß gesetzt werden.“Auch unter den Migrant_innen ist man nicht anUnterstützung von mauretanischer Seite gewohnt.Als ich mit einem jungen Mitarbeiter der AMDHzum Treffen der Migrant_innen aus Guinea-Bissaukomme, werde ich neugierig und er eher mit Misstrauenempfangen. Erst als wir erklären, was wir


MAURETANIENmachen, legt sich die Skepsis. Die Leute aus Guinea,die vor allem auf dem Bau arbeiten, berichtendavon, dass sie von Mauretaniern gern übervorteiltwerden, obwohl diese nichts vom Handwerk verstünden.Sie sind fast alle schon zehn Jahre undlänger in der Stadt. Sie berichten, dass sich dasKlima gegenüber Migrant_innen verschlechterthabe. Die Razzien und Kontrollen seien Schikane,der man auch mit Bestechungsgeldern nicht immerentkommen könne.Unterstützt durch Europäische Union und Spanien,aber auch den UNHCR, die InternationaleOrganisation für Migration und die InternationalLabour Organisation, entwarf Mauretanien seit2006 eine Migrationspolitik, die vor allem auf Überwachungbasiert. Visa und Aufenthaltspapiere wurdenobligatorisch, wer ohne angetroffen wird, riskiertdie Abschiebung. Mehrere von Migrant_innen bewohnteViertel Nouadhibous wurden niedergerissen,die Bewohner mussten sich anderswo einen Unterschlupfsuchen.Migrant_innen sind besonders von der vorgeschriebenenErfassung biometrischer Daten betroffen,von denen die Zuteilung von Aufenthaltspapierund Arbeitserlaubnis abhängt. Das bestätigt auchJustina. Als Oberhaupt der nigerianischen Communitywollte sie ein gutes Beispiel geben und hatsich frühzeitig um Papiere bemüht. Sie hat dafürdie 30.000 Oughiya, etwa 80 Euro, für jedes Mitgliedihrer Familie bezahlt, und war drei Mal in derHauptstadt Nouakchott.„Früher klopften sie bei Kontrollen an, heutetreten sie sofort die Türen ein“. Wir sitzen auf demHof der katholischen Mission, die der Ankerpunktist für die Christen, aber auch für andere Migrant_innenin Nouadhibou. Wiederholte Razzien verunsicherndie Migrant_innen, inzwischen gehen vielenur aus dem Haus, wenn es notwendig ist. Früherhabe man sich regelmäßig getroffen, sagt Justina,heute bröckelt der Zusammenhalt, viele haben nurnoch Angst und meiden die Straßen. Auch die nigerianischeCommunity ist stark geschrumpft. DieMission von Père Jérôme bietet allen Migrant_innensoziale Unterstützung und bei Bedarf eine medizinischeBehandlung an, die sonst oft nicht bezahlbarwäre. Hilfen zum Überleben in einer Stadt, die zurSackgasse für Migrant_innen wurde. Der Père warschon 2006 hier, hat sich um gestrandete undkranke Migrant_innen gekümmert, und hat vielevon denen, die tot am Strand angeschwemmtwurden, auf dem Friedhof der Mission begraben.Père Jérôme setzte sich auch für einen stärkerenZusammenhalt und Kooperation unter den verschiedenenMigrantencommunities ein, aber derKontrolldruck und die Eigensinnigkeit einiger Community-Chefsverhinderten die dringend notwendigeSolidarität.EUROPAS ZWEIFELHAFTERERFOLGDas Verhandlungsgeschick Spaniens und europäischeGelder haben so in Mauretanien eine Situationgeschaffen, in der die Migrant_innen weitgehendauf sich allein gestellt sind. In Mauretanienhat ein Kontrollregime Einzug gehalten, das Migrant_innenunter Generalverdacht stellt. Diesgelang umso einfacher, als unter den ausreisewilligenMigrant_innen wenige Mauretanier sind. Die kriminalisierteFigur des Transit-Migranten ist zugleichAusländer und Schwarz; die Kontrolle vonMigrant_innen fördert Rassismus in einer Gesellschaft,deren Identität zwischen Maghreb und demsubsaharischen Afrika immer spannungsreich war.Auch wenn der Transit gestoppt ist und viele Migrant_innenNouadhibou verlassen haben, weitensich von Europa angestoßene Überwachungsprogrammebis über die Südgrenzen Mauretaniensaus.Der Migrationsforscher Bensâad warnt, dassMauretanien inzwischen Gefahr läuft, durch dieAnpassung an europäische Wünsche und Gesetzgebungzu Migration eine künstliche Irregularitätzu schaffen, unter der Missachtung der tradiertenMigrationsbeziehungen zwischen Mauretanien undseinen Nachbarn und unter der Gefahr, das sozioökonomischeGleichgewicht zu stören.medico international unterstützt in Mauretanien die AssociationMauritanienne des Droit d’Homme (AMDH) beiihrer Rechtsberatung und sozialen Unterstützung vonMigrant_innen, sowie die Mission Catholique de Nouadhiboubei ihren Bemühungen um die Verbesserung derGesundheitsversorgung von Migrant_innen.35


SENEGALImmobilität statt EntwicklungAUSWANDERUNG UND WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG STE-HEN IN EINER VIELFACHEN BEZIEHUNG. NUR EINE EUROPÄI-SCHE ENTWICKLUNGSPOLITIK, DIE DIE MÖGLICHKEIT GE SELL -SCHAFTLICHER TEILHABE ERMÖGLICHT, KANN DIE RISIKEN DERMIGRATION MINDERN.allem die jüngere Generation sah sich chancenlos,ohne Aussicht, eine Familie zu gründen oder ein eigenesHaus zu bauen. So wurde St. Louis 2006 einHoffnungsort für Ausreisewillige nicht nur aus denarmen Vorstädten und Gebieten des Senegal, sondernauch den angrenzenden Staaten.36Die Hafenstadt St. Louis liegt am nördlichen EndeSenegals, wo das Land an Mauretanien grenzt undder Fluss Senegal in den Atlantik mündet. 1659 gingenhier französische Kolonialtruppen an Land, St.Louis war lange die Kolonialhauptstadt für den erobertenfranzösischen Sudan, der sich bis in denheutigen Tschad erstreckte. Über Brücken geht esvom Zentrum auf die langgestreckte Landzunge,wo vor allem Fischer leben. Zwischen meist einstöckigenHäusern führen sandige Wege hinunter zumStrand. 2006 stachen von hier aus die ersten senegalesischenPirogen mit Migrant_innen in See, mitKurs auf die Kanarischen Inseln, Europa. Im Senegalherrschte drückende Perspektivlosigkeit. DieAbwertung des Franc CFA und die Strukturanpassungsprogrammevon Internationalem Währungsfondsund Weltbank führten zur Verarmung. VorHeute denkt hier kaum noch jemand daran, mitPirogen zu den Kanarischen Inseln aufzubrechen.Die niedrigeren Fangmengen der Kleinfischer sindauch Konsequenz einer stark gestiegenen Konkurrenzzwischen den Fischern selbst. Mangels Alternativenversuchen immer mehr Menschen ihr Glück in derFischerei, auch wenn die Erträge niedrig sind undwenig Geld einbringen. In größeren Pirogen versuchensie, nicht immer mit der erforderlichen Lizenzausgestattet, ihr Glück in den fischreicheren GewässernGuinea Bissaus oder Mauretaniens. Aufdem Land schlagen sich viele mit Gelegenheitsjobsund Kleinhandel durch. Die wirtschaftliche Misere,die auch der Politik des abgewählten PräsidentenAbdulaye Wade angelastet wurde, ist beständigesThema. Für einen kurzen Moment schien die Migrationauf die Kanaren und von dort auf das europäischeFestland einen Ausweg zu bieten. Für vielejedoch war dies, wie sich Gaoussou Guèye, der Vizepräsidentdes senegalesischen Kleinfischerverbandsausdrückt, „das große Rendezvous mit dem Tod“.


SENEGALKOOPERATION GEGENDIE „ÉMIGRATION CLANDESTINE“Tatsächlich ziehen, so berichtet uns MadameYaye Bayam Diouf, viele Dörfer an der senegalesischenKüste eine ähnliche Bilanz wie Thiaroye sur Mer,eine Kleinstadt bei Dakar. 210 junge Männer undFrauen wurden von den Kanaren abgeschoben, 374Minderjährige wurden in einem Haftzentrum aufden Kanarischen Inseln festgehalten, 156 jungeMänner und Frauen sind auf der Überfahrt zu denInseln verschwunden und hinterließen 88 Waisenkinderim Ort. Madame Diouf sammelte nicht nurihre Namen und Schicksale. Sie gründete einenVerein, das Collectif des femmes pour la lutte contrel‘émigration clandestine au Sénégal, COFLEC, kaumdass die Beerdigungszeremonien beendet waren,wie sie uns sagt. Sie hat zahlreiche Hinterbliebenevon Opfern der irregulären Migration um sich versammelt,um Betroffenen eine Perspektive zu bietenund auch, um weitere junge Männer von Versuchenabzuhalten, über das Meer die Kanarischen Inselnzu erreichen. Für die hinterbliebenen Frauen undKinder ging es vor allem darum, Einkommensquellenzu erschließen. Schrittweise entwickelte der VereinKurse für verschiedene Handwerke, von der Fischverarbeitungbis zur Färberei. In diese Aktivitätenkonnten auch Mädchen eingebunden werden, dieaus Europa abgeschoben worden sind. Aktuell hatCOFLEC eine Finanzierung des senegalesischen Jugendministeriumserhalten und kooperiert mit derAfrikanischen Entwicklungsbank BAD in einemProjekt, das Jugendliche von der Migration abhaltensoll.Wohl nirgendwo liegen die hoffnungsfrohe Fahrtin Richtung Europa und das Trauern um die ausdem Meer gezogenen Leichen der jungen Männerso eng beieinander wie im Senegal. Dies magerklären, warum Kampagnen gegen irreguläre Migrationnicht allein von der senegalesischen Regierungund der Internationalen Organisation für Migration(IOM) durchgeführt werden, sondern sichauch Hinterbliebene und Teile der Zivilgesellschaftgegen die gefährlichen Bootsfahrten in RichtungKanarische Inseln engagieren. Für einige Jahre gabes einen breiten Konsens in der senegalesischenGesellschaft gegen die riskanten Migrationsversucheübers Meer. Heute, so sagt aber der Musiker Awadi,würden viele diese Haltung kritischer sehen: Nichtdie gewagten Fahrten auf die Kanaren, sondernEuropas Politik der Abwehr von Flüchtlingen undMigrant_innen gelte es zu kritisieren. Zwischen2006 und 2009 gab es jedoch eine breite Grauzoneder Kooperation und Kollaboration zwischen Vereinen,staatlichen Behörden und internationalenOrganisationen, viele mit festem Blick auf europäische,hauptsächlich durch Spanien verteilte Gelder.Nicht allen Organisationen, so scheint es, ging esbeim Kampf gegen irreguläre Migration um dieSchaffung von Alternativen für Migrant_innen,sondern dieser Kampf entfaltete auch als Erschließungvon neuen Geldquellen große Anziehungskraft.Weil bei zahlreichen Akteuren das Eine das Anderenicht ausschließt, wirkt das Credo eines Kampfesgegen die „émigration clandestine“ manchmal doppelbödig.Hier überschneiden sich die Diskurse derjenigen,die in der Emigration ein Scheitern der politischenKlasse im Senegal ausmachen und eineandere Politik wollen, und derer, die sich den europäischenKampf gegen irreguläre Migration zu eigenmachen.SPANIEN VERTEIDIGT EUROPADie Migration aus dem Senegal rückte 2006 inden Fokus internationaler Aufmerksamkeit. Die„Krise der Cayucos“, wie die massenhafte Ankunftvom Migrant_innen in Fischerbooten auf den KanarischenInseln in den spanischen Medien genanntwurde, war die Folge der Abschottung von Migrationswegenrund um Marokko und das Mittelmeer.Von den gut 30.000 Migrant_innen, die im Jahr2006 die Kanarischen Inseln erreichten, waren fastdie Hälfte Senegales_innen. In den spanischen Medienlöste diese Einreisewelle eine Hysterie aus.Schon die vorangegangenen Versuche vonAfrikaner_innen im Herbst 2005, die Grenzzäuneder spanischen Exklaven Ceuta und Melilla zu überwinden,hatten in Spanien zu erregten politischenDebatten geführt. Mit den Reaktionen auf die neueEinwanderung über die Kanarischen Inseln gerietdie spanische Regierung massiv unter Zugzwang.So ist es nicht verwunderlich, dass nicht die Ex-Kolonialmacht Frankreich, sondern das KönigreichSpanien in der Bekämpfung irregulärer Migrationnach Europa auch im Senegal die Führungsrolleübernahm. Spanien pflegt mit dem Senegal engediplomatische und wirtschaftliche Beziehungen seitder Unhabhängigkeit. Als es 2006 fast täglich zurAbfahrt von Hunderten senegalesischen und westafrikanischenMigrant_innen in Richtung Kanarische37


SENEGAL38SENEGALSenegal liegt an der westafrikanischen Atlantikküste.Das Land mit einer Fläche vonknapp 200.000 Quadratkilometern wird imNorden durch den Fluss Senegal begrenzt.Landwirtschaft und Fischerei beschäftigeneinen großen Teil der Bevölkerung.Einwohner_innen: 2009 ca. 12,5 MillionenEinwohner_innen bei einem jährlichenWachstum von ca. 2 %. Senegal ist geprägtvon starker Landflucht und Urbanisierung.Auswanderung: 2011 lebten ca. 636.200 senegalesischeStaatsbürger_innen imAusland.Einwanderung: 2013 stammen die größtenmigrantischen Communities aus Mauretanien(40.955), Guinea (39.594), Mali (26.103),Guinea Bissao (22.670), Sierra Leone(11.453) und Frankreich (10.652).Rücksendegelder: 1.367 Millionen US-Dollarwurden 2012 nach Senegal überwiesen,davon 290 Millionen US-Dollar aus Frankreich,247 Millionen aus Italien und 246 MillionenUS-Dollar aus Gambia.BIP: 14,151 Milliarden US-Dollar, Phosphatabbau,Düngemittelproduktion und Fischereisind die wichtigsten Exporteinnahmendes Staates.Human Development Index: 2012 lag Senegalauf dem 154. Platz des Human DevelopmentIndex.Regierung: Präsident Macky Sall löste 2012seinen langjährigen Vorgänger AbdulayeWade ab, Premierministerin ist AminataTouré.Inseln kam, nutzte Spanien seine guten Beziehungenzum senegalesischen Präsidenten Abdulaye Wade.Es ging eine enge Kooperation mit der senegalesischenRegierung ein, die die gemeinsame Abwehrvon Migrant_innen auf See und an der Küste, aberauch eine starke entwicklungspolitische Komponenteeinschloss. Die Rückübernahme von aus Spanienabgeschobenen senegalesischen Migrant_innenwurde von Fall zu Fall verhandelt, und Senegal ließsich die Zustimmung zur Abschiebung eigenerStaatsangehöriger mehrfach gut honorieren.Spanien fuhr besonders im Senegal eine doppelteStrategie: Es gewann die senegalesische Regierungfür die enge Kooperation bei der Bekämpfung vonMigrant_innen, die per Boot die Kanarischen Inselnerreichen wollten. Spanische und senegalesischeSicherheitskräfte operieren gemeinsam in senegalesischenKüstengewässern, um Boote abzufangenund zurück an Land zu zwingen. Die Regierungdes Senegal hatte schon 2005 ein Gesetz verabschiedet,das die „illegale Auswanderung“ kriminalisierte.Nicht nur Schlepper, sondern auchMigrant_innen, die ihre Dienste in Anspruch genommenhatten, mussten mit Geld- und Haftstrafenrechnen. Die Europäische Union unterstützte Spanienhierbei finanziell. Erst ab Ende 2006 griff auchFrontex mit den „Hera“ genannten Operationen indie Migrationsabwehr vor der westafrikanischenKüste ein. Senegal ist außerdem ein Partnerstaatim von der spanischen Guardia Civil koordiniertenSeahorse-Projekt, das die effektive Überwachungdurch Radar, Satelliten und Überwachungszentrenan den Küsten des westatlantischen Seegebiets zwischenafrikanischem Festland, den Kapverden undden Kanarischen Inseln vorsieht. Das Seahorse-Projekt wird unter spanischer Führung auch aufdas Mittelmeer ausgeweitet und gilt als Vorstufezum Grenzüberwachungssystem Eurosur, das dengesamten Grenzraum der Europäischen Union überwachensoll. Die Kollaborationsbereitschaft der senegalesischenRegierung gewann Spanien nichtallein durch Rüstungslieferungen für die senegalesischeGendarmerie und Küstenwache, sondern vorallem durch Entwicklungsgelder, die kanalisiertwurden für die Abwehr von Migrant_innen. Als am19. Mai 2006 die Entsendung von Frontex nachSenegal bekannt gegeben wurde, beschloss das spanischeKabinett Zapatero den Plan África, in dementwicklungspolitische Leitlinien sich stark an derBekämpfung von Migrationsursachen, die vor allemin der Armut der Bevölkerung gesehen werden,ausrichten.TRADITIONEN DER MIGRATIONSeit den 1990er-Jahren sind es vor allem die Perspektivlosigkeitund der Mangel an Einkommensmöglichkeiten,die Migrant_innen den Weg nachEuropa suchen lassen. Dennoch ist Migration ausdem Senegal nicht immer und ausschließlich Armutsmigration,sondern eine lang tradierte Alltagspraxis.Das Land ist eingebunden in verschiedene


SENEGALMANCHE VERSSCHWANDEN FÜR IMMER. ANDERE WURDEN ZURÜCK GESCHICKT UND LEGTENFÜR EIN NEUES BOOT ZUSAMMEN. SIE FISCHEN WIEDER IN KAYAR.Migrationsbewegungen in den Maghreb und in derwestafrikanischen Region: Zahlreiche senegalesischeHändler und Arbeiter bilden Communities in nordoderzentralafrikanischen Städten. Seit den 1990er-Jahren verzeichnet der Senegal eine verstärkte Land-Stadt-Migration. Fehlende Einkommensmöglichkeitenin der Landwirtschaft führen zur Abwanderung insbesondereder Jugend, zu einer Zunahme von prekarisierterBevölkerung in den Küstenstädten undzugleich zur zunehmenden Abhängigkeit des Senegalvon Lebensmittelimporten. Zugleich ist Senegal Zielfür Migrant_innen aus den Nachbarländern Guinea,Gambia, Mali oder Burkina Faso sowie von Flüchtlingenaus verschiedenen afrikanischen Krisengebieten.Gemessen an dieser regionalen Mobilität befindetsich nur ein kleiner Teil der senegalesischenMigrant_innen in Übersee, in den Golfstaaten oderEuropa. In Europa verbindet Senegal vor allem mitder ehemaligen Kolonialmacht Frankreich eine langeMigrationsgeschichte. Senegales_innen kamen schonfrüh als Seeleute nach Frankreich, stellten großeKontingente auf Seiten der französischen Armee inbeiden Weltkriegen und kämpften auch für Frankreichin Südostasien. Seit den 1950er-Jahren arbeitetenviele Senegales_innen in französischen Fabriken.Erst in den 1970er-Jahren beschränkte Frankreichdie Einreisemöglichkeiten, führte Visa und striktereAufenthaltsbestimmungen ein. Weitere Einwanderunggeschah deshalb besonders über Familienzusammenführungund irreguläre Einreise. Seit den 1980erund1990er-Jahren gingen senegalesische Migrant_innendeswegen zunehmend auch nach Spanien undItalien. Im Jahr 2005, also noch vor den Fahrten aufdie Kanarischen Inseln, lebten immerhin knapp20.000 Senegales_innen mit einem legalen Aufenthaltstitelin Spanien. So wird es im Senegal nichtwirklich verstanden, warum sich die europäischenStaaten immer stärker abgrenzen gegen Migrant_innen,und dass Migration nach Europa nun als illegalgebrandmarkt wird.39


SENEGALFISCHER BERICHTEN MARIAME SOW ÜBER DIE ZEIT, ALS IHRE SÖHNE DIE PIROGENBENUTZTEN, UM MENSCHEN NACH SPANIEN ZU BRINGEN40ENTWICKLUNG UNDAUSWANDERUNGVor allem die Migrant_innen in Europa, NordundSüdamerika unterstützen ihre Familien im Senegalmit Rücküberweisungen. Sie bauen Häuser,finanzieren den Schulbesuch, die Kosten für Gesundheitsversorgungund investieren in Geschäfte.Zwischen 2000 und 2006 stiegen nach Berechnungender Weltbank die Rücküberweisungen in den Senegalvon 233 auf 633 Millionen US- Dollar. Die Gelderund Investitionen von Migrant_innen sind einewichtige und notwendige Quelle für die wirtschaftlicheEntwicklung des Senegal. Weil diese Entwicklungvielfach nur die Familien und Angehörigen der Migrant_innenund nicht die gesamte Bevölkerungerreicht, sorgen die aus der Migration resultierendenWohlstandsunterschiede dafür, dass Auswanderungeine attraktive Alternative zu den fehlenden Einkommensmöglichkeitenin vielen Regionen des Senegalbleibt. Weil legale Migrationsmöglichkeitenin das naheliegende Europa für die meisten inzwischenjedoch verschlossen sind, werden neben irregulärenRouten auch alternative Zielländer wiedie Golfstaaten oder Argentinien erschlossen.Spanien pflegte schon vor dem Exodus auf diekanarischen Inseln eine enge Zusammenarbeit mitSenegal, das den Status eines privilegierten Partnersin der spanischen Entwicklungspolitik genießt.2003 eröffnete Spanien ein Büro für technischeEntwicklungszusammenarbeit in Dakar. Dies wardie Grundlage für eine entwicklungspolitische Zusammenarbeitder beiden Staaten, die in ihrer Ausrichtungauf Migrationsverhinderung die Ziele desspanischen Plan África vorwegnahm. Im Frühjahr2006 wurde so der Plan REVA, der Plan de retourvers l’agriculture, der Rückkehr zur Landwirtschaft,vereinbart. Das von der senegalesischen Regierunggeleitete Projekt umfasste die Errichtung von 550


SENEGALmodern geführten Modellfarmen zwischen 2006und 2008, die 300.000 direkte Arbeitsplätze in derLandwirtschaft, der Vermarktung und dem Transportvon Erzeugnissen schaffen sollten, sowie zahlreicheweitere mit dem Projekt zusammenhängende Arbeitsplätze.Spanien unterstützte den Plan REVAmit 10 Millionen Euro, ein weiteres Modellprojektin Djilakh mit zusätzlich 530.000 Euro. Das ehrgeizigeZiel des unter der Beteiligung von spanischen Entwicklungsorganisationendurchgeführten Projektes:Die landwirtschaftliche Entwicklung des Senegalsollte einen entscheidenden Impuls bekommen undsowohl die Selbstversorgung des Landes mit Lebensmittelnals auch den Export von Lebensmittelnbeleben. Die Landflucht sollte gestoppt werden, indemjungen Menschen attraktive Verdienstmöglichkeitenauf dem Land geboten würden, und auchdie Auswanderung nach Europa sollte das Projektstoppen, indem es inländische Alternativen böte.Schließlich sollten auch Rückkehrer und Abgeschobeneaus Spanien in die landwirtschaftliche Produktioneingebunden werden und so eine Chanceauf Reintegration erhalten. Die zeitliche Koinzidenzzwischen der spanischen Bereitstellung von 10 MillionenEuro für das Projekt und der Bereitschaftdes senegalesischen Präsidenten Wade zur Rückübernahmevon Abgeschobenen aus Spanien imSommer 2006 legt nahe, dass Spanien sich die Zustimmungzu Abschiebungen in den Senegal mitEntwicklungshilfe erkauft hat.Ein hoher Preis für leere Versprechen? Eine vonder Universidad Autonoma in Madrid durchgeführteStudie stellte fest, dass vom Plan REVA bis Anfang2008 lediglich das Modellprojekt von Djilakh umgesetztwurde. An den übrigen anvisierten Standortenwiesen lediglich Schilder auf die geplante Einrichtungvon Farmen hin. Auch das Projekt in Djilakh wiesso viele Defizite auf, dass die Madrider Forscher_innenzu dem Urteil kamen, dass die hochfliegendenZiele so nicht zu erreichen seien. Der Versuch, diesenegalesische Jugend für die Landwirtschaft zubegeistern, scheiterte schon im Modellprojekt unteranderem an Missmanagement, zentralistischer Kontrolleund mangelnder Einbindung der lokalen Bevölkerung,geringen Verdienstmöglichkeiten, Ausfällender Ernteerträge und einseitiger Ausrichtungauf Exportprodukte. Auch die Integration von Abgeschobenenin das Projekt wurde nicht realisiert.RECHT ZU BLEIBEN, RECHTZU GEHENDie Kooperation zwischen Spanien und Senegalist ein Beispiel für das Scheitern einer Politik, dieMigration und Entwicklung miteinander verbindenwill. Unter den Gründen für dieses Scheitern istdie Kollaboration auf Regierungsebene wesentlich.Die spanische und die senegalesische Regierungverbindet eine enge Kooperation, bei der Migrant_innenund Migrationswillige zu Objekten degradiertwerden. Das gelingt bei Überwachung und Kontrolleund misslingt bei Entwicklung. Spanische und senegalesischeInteressen der Bevölkerungs- und Mobilitätskontrollefanden Lösungen lediglich im repressivenBereich und scheiterten in der Schaffungvon Alternativen. Wenn auch die einfache Gleichung„Kampf gegen Armut als Kampf gegen Migrationsursachenführt zu weniger Migration“ mit Skepsiszu betrachten ist, so böte eine auf Arbeitsplätzeausgerichtete Entwicklungspolitik potentiellen Migrant_innendie Möglichkeit, Alternativen wahrzunehmen.Das Beispiel Senegal zeigt, dass eineEntwicklungspolitik, die in den Dienst von Migrationsbekämpfunggestellt wird, nicht wirkt. Undgerade die Fischerei zeigt, wie fragwürdig schonder Anspruch ist. Vor Senegals Küsten fischen zahlreichespanische Schiffe unter senegalesischer Flagge,die ihren Fang jedoch nicht im Senegal, sondern inSpanien verarbeiten lassen. Spanische und senegalesischeGeschäftsleute machen gemeinsame Sacheund unterlaufen bestehende Vorschriften. DieserProzess, durch den Tausende Arbeitsplätze in dersenegalesischen Fischverarbeitungsindustrie verlorengehen, wird zudem von der EU subventioniert. Dienegativen Folgen einer solchen Politik können nichtmit fragwürdigen Entwicklungsprojekten kompensiertwerden.Ohne auf die Forderung nach Bewegungsfreiheitzu verzichten, bleibt die Forderung nach einem Rechtzu bleiben bestehen: einem Recht auf ein menschenwürdigesAuskommen. Sonst bleibt von der Bewegungsfreiheitnur der Zwang zur Migration.41


IMPRESSUMHERAUSGEBER:Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst,medico international,Stiftung PRO ASYL/ Förderverein PRO ASYLDezember 2013BEITRÄGE:Länderkurzberichte: Stephan DünnwaldTürkei: Franck Düvell, Judith Kopp, Karl Kopp,Alex StathopoulosMoldau: Sophia Wirsching, Stephan DünnwaldTunesien: Judith Kopp, Stephan DünnwaldMauretanien: Stephan DünnwaldSenegal: Anna Krämer, Elsa Benhöfer, Mariame SowREDAKTION:Stephan Dünnwald, Martin Glasenapp, Judith Kopp,Karl Kopp, Francisco Marí, Sophia WirschingLAYOUT:Matthias Weinzierl, matthiasweinzierl.de, MünchenDRUCK/HERSTELLUNG:alpha print medien AG, DarmstadtWIR DANKENunseren lokalen Partnerorganisationen und transnationalenNetzwerken, die sich vor Ort für die Rechte von Migrant_innenund Flüchtlinge einsetzen. Im Besonderen:Association Mauritanienne des Droits de l´Homme –AMDH (Nouakchott), Mission Catholique Nouadhibou(Nouadhibou), Mülteci-Der (Izmir), Helsinki Citizens´ Assembly(Istanbul), Watch the Med, Boats4 People, Beginningof Life (Chisinau)Brot für die Welt- Evangelischer Entwicklungsdienst,Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.Caroline-Michaelis-Straße 1, 10115 BerlinTelefon: +49 (0)30 65211 0Fax : +49 30 65211 3333Mail : info@brot-fuer-die-welt.deKonto: 500 500 500Bank für Kirche und DiakonieBLZ: 1006 1006IBAN: DE10100610060500500500BIC: GENODED1KDBmedico international e.V.Burgstraße 106, D-60389 Franfurt/MainTelefon: +49 (0) 69 - 94438 - 0Fax: +49 (0)69 - 43 60 02E-Mail: info@medico.dewww.medico.deKonto: 1800Frankfurter SparkasseBLZ: 500 502 01IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00BIC: HELADEF1822Stiftung PRO ASYL e.V.Postfach 160624, D-60069 Frankfurt/MainTelefon: +49 (0)69 - 24 23 14 10Fax: +49 (0)69 - 24 23 14 72E-Mail: proasyl@proasyl.dewww.proasyl.de42BILDNACHWEISE:Titelbild: Giorgos MoutafisS. 16: © Helsinki Citizens´ AssemblyS. 21: © Brot für die WeltS. 33, 34: © Stephan DünnwaldS. 39, 40: © Brot für die WeltKonto: 10 13 701 012KD Bank eGBLZ: 350 601 90BIC: GENODED1DKDIBAN: DE17 3506 0190 1013 7010 12Produktnummer: 129 5 0161 0SPENDEN:


„DAS EDELSTE AM MENSCHEN IST DER PASS.“ (BERTOLT BRECHT)Angespülter Pass am Strand von Lesvos.

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