TUNESIEN26Ben Alis mit eigenen Bürger_innen und Migrant_innengalt Europa oder Italien nie als Hindernis, Geschäftezu machen.Die tunesischen Verhältnisse sind seither in Bewegunggeraten. Die Selbstverbrennung des 26-jährigen Mohamed Bou‘azizi am 17. Dezember2010 in Sidi Bouzid, einer Kleinstadt im ärmlichenLandesinneren Tunesiens, löste schnell um sichgreifende Proteste aus. Anfang Januar 2011 erreichtendie Aufstände Tunis. Die Bilder von Hunderttausendenvon Demonstrant_innen auf derAvenue Habib Bourgiba und der gewaltsamen Polizeirepressiongegen die Proteste gingen um dieWelt. Am 14. Januar 2011 flüchtet Diktator ZineEl-Abadine Ben Ali nach 23 Jahren Herrschaft nachSaudi Arabien. Der Umbruch in Tunesien hattenach Angaben der Vereinten Nationen 215 Totegefordert.Mit der Flucht Ben Alis am 14. Januar 2011 warder revolutionäre Prozess in Tunesien jedoch nochnicht an sein Ende gelangt. Die folgenden Wochenund Monate waren von Protesten, mehrfachen Regierungswechselnund einer bleibenden Frustrationinsbesondere innerhalb der jungen Generation geprägt.Am 23. Oktober 2011 fanden die erstenfreien Wahlen in der Geschichte Tunesiens statt,doch die politische Situation im Land bleibt labil.Noch 2011 sind die Proteste auf andere Staatendes Maghreb, auf Libyen und Ägypten übergegangen.Ein scheinbar kleiner Anlass hatte Proteste entfacht,die alte Autokratien am Mittelmeer ins Wankenbrachten. Europa begrüßte den Sturz der altenHerrscher, unterstützte in Libyen auch die Rebellen.Doch einen Wandel der europäischen Migrationspolitikzogen die Regimewechsel im Maghreb nichtnach sich.ANGST VOR DER FREIHEITIM MAGHREBDie europäische Migrationspolitik gegenüberTunesien ist beispielhaft für eine interessensgeleiteteRealpolitik, die wenig Unterschied macht zwischenalten Diktatoren und jungen Demokratien. Von bezeichnenderDoppeldeutigkeit in Anbetracht dertatsächlichen Praxis ist daher die Aussage vonStefan Füle, dem EU-Kommissar für Erweiterungund Europäische Nachbarschaftspolitik, Ende Februar2011:„Die Massen in den Straßen von Tunis, Kairound anderswo haben im Geiste unserer gemeinsamenWerte gekämpft. Mit ihnen müssen wir heute zusammenarbeiten und nicht mit Diktatoren, dieunter der Missachtung von Menschenleben dasBlut ihrer eigenen Leute vergießen.“Als etwa zur gleichen Zeit einige Tausend jungeTunesier_innen in Süditalien ankommen, löst dieseine hektische europäische Krise aus: Italien redetvon nationalem Notstand und stattet einen Teilder Migrant_innen mit Transitvisa aus, damit sieschnell das Land verlassen. Frankreich beginnt empört,die Tunesier_innen an der Grenze nach Italienzurückzuweisen. In Dänemark wird angesichts derAnkunft einer Handvoll Migrant_innen aus Tunesiendie Aussetzung des Schengener Abkommens unddie Wiedereinführung innereuropäischer Grenzkontrollengefordert. Zugleich wird die EuropäischeGrenzschutzagentur Frontex mobilisiert, um ineiner Eilaktion tunesische Boote aufzubringen undnach Tunesien zurückzuweisen. Die Kommissionwill die Frontex-Mittel um 30 Millionen Euro aufstocken.Bereits im April 2011 kündigt Frontexeine Vereinbarung mit den tunesischen Grenzbehördenzur Durchführung gemeinsamer Patrouillengegen irreguläre Migrant_innen an.Im Jahr 2011 gehörte das zentrale Mittelmeerzu der am dichtesten überwachten Region weltweit.Nicht nur Frontex war vor den Küsten des Maghrebpräsent, sondern auch die Schiffe der NATO vorden libyschen Küsten. Dennoch verloren im Jahr2011 mehr als 2.000 Flüchtlinge ihr Leben im Mittelmeer.Im April 2012 stellte der Europarat inseinem Bericht die Mitverantwortung der europäischenStaaten für das Massensterben auf See festund sprach von „kollektivem Versagen“ der NATO,der Vereinten Nationen und einzelner europäischerMitgliedstaaten.Ganz offenkundig erstreckt sich der Geist gemeinsamerWerte nicht auf die Solidarität mitFlüchtlingen und Migrant_innen. Diese wolltendurch die Fahrt nach Europa sich und ihren Familiennach den Wirren des Umsturzes ein Auskommensichern. Die Wirtschaft strauchelte, Investoren undTouristen blieben aus, für viele sah es nicht so aus,als könne der Lebensunterhalt allein in Tunesienverdient werden. Auch die Grenzkontrollen ließenzunächst nach, die Organisation der Sicherheitskräftewar durcheinander geraten. Dies nutzten die Flücht-
TUNESIENPROTESTE VON MÜTTERN UND ANGEHÖRIGEN VERMISSTER BOOTSFLÜCHTLINGEWÄHREND DES WELTSOZIALFORUMS IN TUNISlinge und Migrant_innen um in die Boote zu steigen;die neue Befreiung vom Joch des Regimes wurdewie beim Fall der Berliner Mauer von vielen auchals Bewegungsfreiheit begriffen. Europa beeilte sichdeshalb, die neue Regierung Tunesiens wieder einzugliedernin die Kontrolle von Migrant_innen.Tunesien wird eine „Mobilitätspartnerschaft“ inAussicht gestellt, wenn europäische Bedingungenim Kampf gegen irreguläre Migration erfüllt werden.Über die Mobilitätspartnerschaft können je nachBedarf selektiv Arbeitskräfte dem europäischen Arbeitsmarktzugeführt werden. Voraussetzung istallerdings, dass ein europäischer Mitgliedstaat entsprechendeKonzessionen erteilt.Die Hoffnung, dass die neue tunesische Regierungsich weniger auf Geschäfte mit Migrationskontrolleeinlassen würde als das alte Regime, zerschellterasch an der Wirklichkeit. Tunesien ist in hohemMaße wirtschaftlich abhängig von der EU. 80 Prozentder tunesischen Exporte gehen nach Europa, einGroßteil der ausländischen Investitionen in Tunesienkommt aus Frankreich und Italien. Auch der Beitragder Migrant_innen zur Wirtschaft ist erheblich.Ende 2011 lebten insgesamt rund 1,2 MillionenTunesier_innen, 11 Prozent der Bevölkerung, im27