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Bundespraesident Horst Koehler in seiner Grundsatzrede zur Bildung

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21.09.2006„Wer an der <strong>Bildung</strong> spart, spart an der falschen Stelle“, erklärte heute Bundespräsident <strong>Horst</strong> Köhler <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er mit Spannung erwarteten <strong>Grundsatzrede</strong> <strong>zur</strong> <strong>Bildung</strong>. ..Berl<strong>in</strong>er Rede von Bundespräsident <strong>Horst</strong>Köhler <strong>in</strong> der Kepler-Oberschule <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Neukölln21.09.2006Berl<strong>in</strong>I. Im vergangenen Jahr erreichten <strong>in</strong> Deutschland 80.000 Jungen und Mädchen ke<strong>in</strong>enSchulabschluss. Es fehlen Ausbildungsplätze - <strong>in</strong> diesem Herbst wahrsche<strong>in</strong>lich 30.000.Kl<strong>in</strong>gt Ihnen das zu abstrakt? Dann nehmen Sie das Beispiel dieser Schule, der Kepler-Oberschule <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Neukölln: Am 4. Juli haben hier 51 Schüler ihr Abschlusszeugnisbekommen. Nur e<strong>in</strong>er von ihnen - ich wiederhole: EINER - hatte zu diesem Zeitpunkt e<strong>in</strong>eLehrstelle gefunden.Weiter: In Deutschland erwerben vergleichsweise wenig junge Menschen die Hochschulreife,und zu wenige schließen e<strong>in</strong> Studium ab. Andere Nationen wandeln sich mit Begeisterung zuWissensgesellschaften, <strong>in</strong> denen Lernen und Können als Auszeichnung gelten - Deutschlandtut sich schwer damit.Wir hören von Schulen, <strong>in</strong> denen Gleichgültigkeit, Diszipl<strong>in</strong>losigkeit, ja Gewalt den Alltagbestimmen. Auch dadurch verliert unser Land <strong>in</strong>tellektuell und sozial jedes Jahr e<strong>in</strong>en Teilse<strong>in</strong>er jungen Generation.Und: E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus e<strong>in</strong>er Facharbeiterfamilie hat im Vergleich zu dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>esAkademikerpaares nur e<strong>in</strong> Viertel der Chancen, aufs Gymnasium zu kommen. Die Ursachendafür mögen vielschichtig se<strong>in</strong>; der Befund ist beschämend. <strong>Bildung</strong>schancen s<strong>in</strong>dLebenschancen. Sie dürfen nicht von der Herkunft abhängen. Darum werde ich immer auf derSeite derer se<strong>in</strong>, die leidenschaftlich e<strong>in</strong>treten für e<strong>in</strong>e Gesellschaft, die offen und durchlässigist und dem Ziel gerecht wird: <strong>Bildung</strong> für alle.II. Auf dieses Ziel müssen wir h<strong>in</strong>arbeiten. Und es gibt ja viel Gutes, an das wiranknüpfen können. Engagierte Pädagogen machen immer noch das Beste auch ausschwierigen Bed<strong>in</strong>gungen, und deutsche Schulen, Universitäten und Forschungse<strong>in</strong>richtungenbr<strong>in</strong>gen immer noch Spitzenleistungen hervor. Aber mit "immer noch" dürfen wir uns nichtlänger zufrieden geben. Gerade <strong>in</strong> Sachen <strong>Bildung</strong> müssen wir im Interesse aller vielehrgeiziger se<strong>in</strong>. Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche. Konzentrieren wir uns auf<strong>Bildung</strong>.Deutschland steht nicht zum ersten Mal vor e<strong>in</strong>er solchen Herausforderung. Vor 200 Jahrenhalf Wilhelm von Humboldt, se<strong>in</strong> Land - Preußen - aus Rückständigkeit und Unfreiheit zuführen. Er entwickelte e<strong>in</strong> neues <strong>Bildung</strong>sideal, er weckte Begeisterung dafür und er entwarfe<strong>in</strong> <strong>Bildung</strong>swesen auf der Höhe der Zeit. Das schuf zugleich die Grundlagen für den AufstiegDeutschlands zu e<strong>in</strong>er der führenden Wissenschaftsnationen. Klare <strong>Bildung</strong>sziele, e<strong>in</strong> Klima


der <strong>Bildung</strong>sfreude und e<strong>in</strong> modernes <strong>Bildung</strong>swesen - diesen Dreiklang brauchen wir heutewieder.III. Gute <strong>Bildung</strong> stellt den ganzen Menschen <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Diese Erkenntnis f<strong>in</strong>denwir bei Humboldt und Kant, bei Goethe und Pestalozzi. Der Blick auf das Individuum - dasmuss auch heute unser Ausgangspunkt se<strong>in</strong>. Gute <strong>Bildung</strong> geht nicht <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie vongesellschaftlichen Bedürfnissen oder den Anforderungen der Wirtschaft und desArbeitsmarktes aus. Zuallererst hilft gute <strong>Bildung</strong> uns, das zu entwickeln, was <strong>in</strong> jedeme<strong>in</strong>zelnen von uns steckt; was uns von Gott gegeben ist.Dieser Weg steht allen offen - dem Hauptschüler genauso wie dem Abiturienten, demJugendlichen genauso wie dem Rentner. Jeder kann etwas, und jeder braucht die Chance, sichdurch <strong>Bildung</strong> weiter zu entwickeln und mehr aus dem eigenen Leben zu machen. <strong>Bildung</strong>bedeutet nicht nur Wissen und Qualifikation, sondern auch Orientierung und Urteilskraft.<strong>Bildung</strong> gibt uns e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Kompass. Sie befähigt uns, zwischen Wichtig und Unwichtigund zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.<strong>Bildung</strong> hilft, die Welt und sich selbst dar<strong>in</strong> kennen zu lernen. Aus dem Wissen um dasEigene kann der Respekt für das Andere, das Fremde wachsen. Und sich im Nächsten selbsterkennen, heißt auch: fähig se<strong>in</strong> zu Empathie und Solidarität. <strong>Bildung</strong> ohne Herzensbildungist ke<strong>in</strong>e <strong>Bildung</strong>.Erst wenn Wissen und Wertebewusstse<strong>in</strong> zusammenkommen, erst dann ist der Mensch fähig,verantwortungsbewusst zu handeln. Und das ist vielleicht das höchste Ziel von <strong>Bildung</strong>.Gute <strong>Bildung</strong> ist und bleibt für den E<strong>in</strong>zelnen auch die wichtigste Voraussetzung fürgesellschaftliche Anerkennung und berufliches Fortkommen. Zwar bietet selbst <strong>Bildung</strong>ke<strong>in</strong>en absoluten Schutz vor den Risiken am Arbeitsmarkt. Aber die Berufs- undBeschäftigungschancen e<strong>in</strong>es Menschen steigen, je besser er gebildet und ausgebildet ist.Gute <strong>Bildung</strong> ist deshalb e<strong>in</strong>e besonders wirksame Form der sozialen Absicherung.Übrigens ist auch Demokratie auf <strong>Bildung</strong> angewiesen. Unsere freiheitliche Gesellschaft lebtdavon, dass mündige Bürger<strong>in</strong>nen und Bürger Verantwortung für sich und für dasGeme<strong>in</strong>wohl übernehmen. E<strong>in</strong>e Diktatur kann sich ungebildete Menschen leisten - ne<strong>in</strong>: siewünscht sich die sogar. E<strong>in</strong>e Demokratie dagegen braucht wache und <strong>in</strong>teressierte Bürger, dieIdeen entwickeln und Fragen stellen. Wo die Staatsgewalt vom Volk ausgeht, da kann es nichtgleichgültig se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> welcher geistigen Verfassung sich das Volk bef<strong>in</strong>det. Und: WerPopulisten, Extremisten und religiösen Fanatikern widerstehen soll, braucht dafür <strong>Bildung</strong>.Auch darum ist das <strong>Bildung</strong>swesen Sache des ganzen Volkes. In den Familien, imK<strong>in</strong>dergarten, <strong>in</strong> der Schule, der Lehrwerkstatt und der Universität entscheidet sich, <strong>in</strong>welcher Gesellschaft wir künftig zusammenleben: Wir wünschen uns doch e<strong>in</strong>e offene undtolerante Gesellschaft. Wir wollen doch unter Mitbürgern leben, die gerechtigkeitsliebend,wissbegierig und kreativ s<strong>in</strong>d, die Ideen haben und bereit s<strong>in</strong>d, Verantwortung zuübernehmen. Es liegt zu e<strong>in</strong>em großen Teil an uns selbst, ob sich dieser Wunsch erfüllt.IV. Unsere Fähigkeiten und unser Wissen, unser E<strong>in</strong>fallsreichtum und unsere Kreativitäts<strong>in</strong>d die wichtigste Ressource, die wir <strong>in</strong> Deutschland haben. Der globale Wettbewerb istlängst e<strong>in</strong> Wettbewerb der <strong>Bildung</strong>ssysteme. Und da zählt eben auch, wie lange e<strong>in</strong>eAusbildung dauert und wie alt zum Beispiel e<strong>in</strong> Akademiker ist, wenn er se<strong>in</strong>e erste Stelleantritt. In der Welt von heute ist es nicht gleichgültig, ob junge Menschen <strong>in</strong> ihrer Heimat


gute Lern- und Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen f<strong>in</strong>den - oder ob sie die lieber im Ausland suchen. In derWelt von heute ist es nicht gleichgültig, ob e<strong>in</strong> Land se<strong>in</strong>en Bedarf an Facharbeitern,Ingenieuren und Naturwissenschaftlern selbst heranbilden kann - oder ob es <strong>in</strong> diesenSchlüsseldiszipl<strong>in</strong>en auf Zuwanderung von außen hoffen muss.Und es ist nicht gleichgültig, ob Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land auch nach der Berufsausbildungsystematisch weiterlernen oder eher nicht. Mit der Entwicklung <strong>in</strong> Wissenschaft und Technikhat sich unser Wissen rasant vermehrt. Gleichzeitig verlieren Kenntnisse und Fähigkeiten, diegestern noch richtig und wichtig waren, immer schneller an Bedeutung. Umso wichtiger istes, das Lernen selbst zu lernen, damit man se<strong>in</strong> Wissen immer wieder auffrischen underneuern kann. Lernen ist mehr denn je e<strong>in</strong>e Lebensaufgabe.Ich weiß, das sagen viele. Aber viel zu wenige handeln auch danach. In Deutschland nehmennur etwa 12 Prozent der Menschen im Erwerbsalter an beruflichenWeiterbildungsmaßnahmen teil. In den meisten vergleichbaren Staaten liegt dieser Anteildeutlich höher. Haben Politik und Wirtschaft sich dem Thema Weiterbildung wirklich schongründlich genug gewidmet? Und hat wirklich schon jede und jeder von uns begriffen, wiegroß die Herausforderung "Lebenslanges Lernen" ist?V. In Deutschland leben über 15 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln. DieHälfte davon hat e<strong>in</strong>en deutschen Pass. Heute hat jedes vierte Neugeborene <strong>in</strong> Deutschlandm<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>en ausländischen Elternteil; <strong>in</strong> wenigen Jahren werden etwa 40 Prozent derMenschen <strong>in</strong> Deutschlands Großstädten e<strong>in</strong>e Migrationsgeschichte haben. Jeder von ihnenprägt unser Land mit. Auch das macht Deutschland aus. Also geht es schlicht um die Frage,wie wir unsere geme<strong>in</strong>same Zukunft gestalten.Und da geht es eben uns alle an, dass fast jeder fünfte ausländische Jugendliche die Schuleohne Abschluss verlässt, dass vier von zehn jungen Menschen mit Migrationsh<strong>in</strong>tergrundke<strong>in</strong>e abgeschlossene Berufsausbildung haben und dass die Chance, e<strong>in</strong>e qualifizierteAusbildung zu bekommen, für ausländische Jugendliche nur halb so hoch ist wie für deutsche.Die Folgen s<strong>in</strong>d bekannt: Die Arbeitslosenquote der Ausländer <strong>in</strong> Deutschland ist doppelt sohoch wie die der E<strong>in</strong>heimischen. Das s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e guten Voraussetzungen für denZusammenhalt und den wirtschaftlichen Erfolg unserer Gesellschaft.Integration fordert beide Seiten. Unsere Gesellschaft muss Zuwanderern gute<strong>Bildung</strong>schancen bieten, und die Zuwanderer müssen sich im Klaren darüber se<strong>in</strong>, was aufihrer Seite den <strong>Bildung</strong>serfolg fördert. Zum Beispiel zeigen Untersuchungen, dass e<strong>in</strong>e guteLeseleistung von Schülern, deren Eltern zugewandert s<strong>in</strong>d, sehr davon abhängt, dass <strong>in</strong> ihrenFamilien Deutsch gesprochen wird. Und von den Deutschkenntnissen und der Lesekompetenzder K<strong>in</strong>der hängt dann wiederum entscheidend ab, wie gut sie <strong>in</strong> der Schule <strong>in</strong>sgesamtmitkommen. Das heißt doch: Eltern hier <strong>in</strong> Deutschland, die ihren K<strong>in</strong>dern im Leben Erfolgwünschen, sprechen mit ihnen Deutsch - nicht unbed<strong>in</strong>gt nur Deutsch alle<strong>in</strong>, aber jedenfallsauch Deutsch. Und Eltern, die selber noch nicht Deutsch können, die lernen es - aus eigenemInteresse und um ihrer K<strong>in</strong>der willen. Angebote dafür gibt es. Und wo sie noch fehlen, damüssen sie geschaffen werden. Aber an dieser geme<strong>in</strong>samen Anstrengung führt ke<strong>in</strong> Wegvorbei.VI.Was brauchen wir, um <strong>in</strong> unserem Land mehr und bessere <strong>Bildung</strong> zu erreichen?Erstens: <strong>Bildung</strong> braucht Anerkennung! Wer jungen Menschen <strong>Bildung</strong> vermittelt, hatAchtung und Unterstützung verdient. Und wer mit Freude lernt und sich mit Eifer neues


Wissen aneignet, hat Anspruch auf Wertschätzung und Respekt. Anerkennung: Das ist immernoch der stärkste Motivationsfaktor.<strong>Bildung</strong> braucht zweitens Anstrengung! Um etwas zu lernen - ob nun e<strong>in</strong>e Mathematikformeloder e<strong>in</strong> Musik<strong>in</strong>strument, ob Judo oder Vokabeln - braucht man Zielstrebigkeit, Übung undAusdauer. Das macht nicht immer Spaß, aber die Mühe wird meist belohnt - mit der Freudeam Erfolg. Diesen Zusammenhang kennt jeder von uns; aber beim Thema <strong>Bildung</strong> ist erzunehmend vernachlässigt worden - auch darum verlieren viele <strong>in</strong> Schule und Ausbildung zuschnell den Mut und geben auf. Es muss wieder deutlicher werden: Ja, <strong>Bildung</strong> brauchtAnstrengung und Beharrlichkeit, aber nochmals ja, diese Mühen tragen auch ihren Lohn <strong>in</strong>sich.<strong>Bildung</strong> braucht mehr Anstrengung - auch von Seiten des <strong>Bildung</strong>swesens. Wir wissen: Nichtalles ist messbar. Aber PISA hat uns genügend Anhaltspunkte dafür gegeben, dass unser<strong>Bildung</strong>ssystem sich nicht auf der Höhe der Zeit bef<strong>in</strong>det. Die Verantwortlichen <strong>in</strong> denLändern und im Bund, vor allem die M<strong>in</strong>isterpräsidenten und die Kultus- und<strong>Bildung</strong>sm<strong>in</strong>ister, haben den Menschen <strong>in</strong> Deutschland versprochen, die Defizite abzubauen.Diese Botschaft höre ich gerne. Und ich habe den E<strong>in</strong>druck: Die Deutschen werden dieVergleichsstudien und Ranglisten sehr genau verfolgen. Denn dort lässt sich durchausablesen, wie es um die Anstrengungen der Verantwortlichen steht. Für mich ist es e<strong>in</strong>zentraler Prüfste<strong>in</strong> für die Zukunftsfähigkeit unserer bundesstaatlichen Ordnung, ob ihr dieVerbesserung unseres <strong>Bildung</strong>swesens gel<strong>in</strong>gt.Und schließlich drittens: <strong>Bildung</strong> braucht Vorbilder! <strong>Bildung</strong> lebt davon, dass Menschen sicham guten Beispiel anderer orientieren, dass sie sich begeistern und mitnehmen lassen. Jederkann e<strong>in</strong> Vorbild se<strong>in</strong>: Eltern, Nachbarn, Tra<strong>in</strong>er, Lehrer, Klassenkameraden.Und wenn gar e<strong>in</strong> weltberühmter Dirigent wie Sir Simon Rattle mit jungen Leuten musiziert(und die Kepler-Oberschule war dabei); wenn e<strong>in</strong> erfolgreicher Sportler wie Luan Krasniqi als"<strong>Bildung</strong>sboxer" dazu aufruft, beim Lernen niemals stehen zu bleiben; wenn Wissenschaftler,Schriftsteller oder Politiker sich zu K<strong>in</strong>dern setzen, mit ihnen diskutieren, ihnen aus ihrereigenen Schulzeit und von ihrem <strong>Bildung</strong>sweg erzählen, dann lässt sich die Begeisterung derK<strong>in</strong>der und Jugendlichen fast mit Händen greifen.VII. <strong>Bildung</strong> beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> der Familie. Dort stellen K<strong>in</strong>der die ersten Fragen, und sie wollendabei ernst genommen se<strong>in</strong>. Fast alle Eltern wünschen sich ja: "Unsere K<strong>in</strong>der sollen ihrenWeg machen." Nun, es gibt ke<strong>in</strong>e bessere Mitgift auf diesem Weg als gute <strong>Bildung</strong> undErziehung - und zwar nicht nur für den beruflichen Erfolg, sondern auch, um schwierigeZeiten durchzustehen und Durststrecken zu überw<strong>in</strong>den. Denn die erleben alle irgendwanne<strong>in</strong>mal, jeder e<strong>in</strong>zelne und auch ganze Nationen. Persönliche Rückschläge, verpasste Chancenoder auch bloß e<strong>in</strong> Weniger an gesellschaftlichem Wohlstand - alles Tests dafür, woran unserHerz hängt, worauf unser Selbstwertgefühl beruht, worüber wir aus der Fassung geraten.Manche verlieren dann schnell den Halt. <strong>Bildung</strong> ist auch da e<strong>in</strong> Anker.Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern alles tun, um ihren K<strong>in</strong>dern das richtige Rüstzeug füre<strong>in</strong> erfülltes Leben mitzugeben. Zu diesem Rüstzeug gehören auch die elementaren Regelndes zwischenmenschlichen Umgangs: Respekt, Rücksichtnahme, Manieren, das Wissen umRechte und Pflichten. Wir sollten der Neugier der K<strong>in</strong>der Raum geben; K<strong>in</strong>der sollten aberauch Grenzen kennen lernen. Auch das Wort ""Ne<strong>in</strong>" gehört <strong>zur</strong> Erziehung. Dafür braucht eske<strong>in</strong> Lehrbuch. Dafür braucht es das Vorbild, die Zuwendung und die Konsequenz der Eltern.Eltern müssen sich Zeit für ihre K<strong>in</strong>der nehmen: Spiel und Gespräch, Vorlesen und Erzählen,


geme<strong>in</strong>same Mahlzeiten am Familientisch - das fördert die Entwicklung der K<strong>in</strong>der. E<strong>in</strong>Fernseher im K<strong>in</strong>derzimmer tut es nicht.Ich weiß, dass Eltern e<strong>in</strong>e große Verantwortung tragen: In e<strong>in</strong>er Umwelt, die manchmal denAnsche<strong>in</strong> erweckt, als sei alles möglich und alles erlaubt, sollen sie ihren K<strong>in</strong>dern Werte undOrientierung vermitteln und ihnen e<strong>in</strong>e gute Entwicklung ermöglichen. Manche Elternscheitern an dieser Aufgabe. Manche nehmen ihre Verantwortung auch nicht ernst genug. DieLeidtragenden s<strong>in</strong>d immer die K<strong>in</strong>der. Diesen Familien müssen wir helfen. Wir müssen unsfragen: Ist die Aufmerksamkeit <strong>in</strong> Jugendhilfe, K<strong>in</strong>dergärten, Schulen und Ämtern großgenug, damit ke<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d vernachlässigt wird oder gar verwahrlost? Und erreichen die vielenAngebote, die es <strong>in</strong> der Erziehungsberatung gibt, wirklich diejenigen, die sie am nötigstenbrauchen? Wir haben allen Anlass, e<strong>in</strong> starkes Netz zu knüpfen, das K<strong>in</strong>der und Eltern <strong>in</strong>schwierigen Zeiten trägt.VIII. Die ersten Jahre s<strong>in</strong>d entscheidend: Vieles lernt e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d leichter als e<strong>in</strong>Jugendlicher oder e<strong>in</strong> Erwachsener; und viele Lernfähigkeiten bilden sich im Lauf der Zeitwieder <strong>zur</strong>ück. "Lernen" - so der Philosoph Peter Sloterdijk - "ist die Vorfreude auf sichselbst." Wer e<strong>in</strong>mal mit kle<strong>in</strong>en Zuschauern die "Sendung mit der Maus" gesehen hat, were<strong>in</strong>mal K<strong>in</strong>der beim Theaterspiel beobachtet hat, wer ihren spielerischen Schaffensdrangmiterlebt hat, wird diesen Satz bestätigen. Und es ist gut, dass wir jetzt auch die frühen Jahreder K<strong>in</strong>dheit als "Lernzeit" entdecken - als e<strong>in</strong>e Zeit, <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>e Menschen spielerischherangeführt werden können an Phänomene der Natur, an logische Zusammenhänge, anmusisches Erleben, an die Bedeutung von Sprache.Wer früh erfährt, wie spannend es ist, immer wieder Neues zu lernen, dem wird es leichterfallen, offen und neugierig zu bleiben - e<strong>in</strong> Leben lang. Darum brauchen wir gute<strong>Bildung</strong>sangebote schon <strong>in</strong> der frühen K<strong>in</strong>dheit und e<strong>in</strong> enges Zusammenwirken vonK<strong>in</strong>dertagesstätten und Schulen. Bessere frühk<strong>in</strong>dliche <strong>Bildung</strong> ist im Übrigen auch e<strong>in</strong> Gebotder Chancengerechtigkeit: Gerade benachteiligte K<strong>in</strong>der profitieren davon, wenn siemöglichst frühzeitig <strong>in</strong> den K<strong>in</strong>dertagesstätten gefördert werden - vor allem beim Umgang mitder deutschen Sprache. Deshalb: Ich b<strong>in</strong> für e<strong>in</strong> verpflichtendes und möglichst kostenfreiesletztes K<strong>in</strong>dergartenjahr. Und ich b<strong>in</strong> für verpflichtende Sprachprüfungen vor demSchule<strong>in</strong>tritt. Gute Deutschkenntnisse s<strong>in</strong>d nun e<strong>in</strong>mal unersetzlich für den Schul- und damitfür den <strong>Bildung</strong>serfolg.IX. Die Schule soll jungen Menschen e<strong>in</strong>e solide Grundausstattung an Fähigkeiten undKenntnissen mitgeben. Das beg<strong>in</strong>nt mit Lesen, Schreiben und Rechnen - die drei s<strong>in</strong>d derGrundstock. Und darüber h<strong>in</strong>aus? Um diese Frage wird von jeher heftig gerungen. AlleSchulzeit ist knapp - sollen also im Deutschunterricht Gedichte auswendig gelernt oder lieberBundestagsreden analysiert werden? Soll es mehr Unterricht <strong>in</strong> Fremdsprachen geben oder <strong>in</strong>den Naturwissenschaften?Ich bilde mir nicht e<strong>in</strong>, da Experte zu se<strong>in</strong>. Aber zwei Feststellungen s<strong>in</strong>d mir wichtig.Erstens: Die Schule soll jungen Menschen doch das vermitteln, was nötig ist, um sich <strong>in</strong> derWelt <strong>zur</strong>echtzuf<strong>in</strong>den, um selbständig weiterzulernen und um Neues beurteilen zu können.Dafür aber s<strong>in</strong>d Maßstab und Richtschnur nötig. Das griechische Wort für "Richtschnur"heißt: Kanon. Gerade im <strong>Bildung</strong>swesen brauchen wir e<strong>in</strong>e klare Vorstellung vomMaßgebenden und Maßgeblichen. Der Inhalt des <strong>Bildung</strong>skanons wird immer im Wandelbleiben, denn immer kommt Neues h<strong>in</strong>zu, und Altes veraltet. Aber was wirklich Maß gibt, dashat lange Bestand.


Zweitens: Bei der Konkurrenz um die knappe Schul- und Lernzeit dürfen Fächer wie Musik,Kunst und Sport nicht <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>tertreffen geraten. Denn Musik, Kunst und Sport br<strong>in</strong>genVernunft und Gefühl zusammen, und das ist wichtig für die Persönlichkeit und gut fürIntuition und Kreativität.Und noch e<strong>in</strong> Schulfach liegt mir am Herzen: der Religionsunterricht. Er bietet jungenMenschen Antworten auf ihre S<strong>in</strong>nfragen. Jedem steht es frei, ob er diese Angeboteannehmen möchte oder nicht. Ich f<strong>in</strong>de es wichtig, dass auch <strong>in</strong> der Schule die Frage nachGott gestellt wird. Deshalb halte ich den Religionsunterricht für unverzichtbar.Gerade weil wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er pluralen Gesellschaft leben, sollen die Religionen ihr Licht nichtunter den Scheffel stellen müssen, sondern im Unterricht Zeugnis von dem geben können,woran sie glauben und worauf sie hoffen. Das gilt natürlich auch für den Islam. Ich halte esfür überfällig, dass <strong>in</strong> unseren Schulen den K<strong>in</strong>dern muslimischen Glaubens von gutausgebildeten Lehrern und <strong>in</strong> deutscher Sprache Islamunterricht angeboten wird.X. Wissen und Erfahrung zusammen machen erfolgreiches Lernen aus. Und da ist es e<strong>in</strong>Unterschied, ob der Lehrer im Unterricht nur mit e<strong>in</strong>em Schaubild erklärt, wie e<strong>in</strong>eparlamentarische Demokratie funktioniert, oder ob die Klasse selbst e<strong>in</strong>e Parlamentsdebattedurchspielt. Es ist e<strong>in</strong> Unterschied, ob Schüler die Natur nur aus dem Biologiebuch kennenoder ob sie die Tier- und Pflanzenwelt auch e<strong>in</strong>mal unter freiem Himmel studieren.Gutes Lernen f<strong>in</strong>det nicht alle<strong>in</strong> im Klassenzimmer und nicht nur während der Unterrichtszeitstatt. Und gute Schule gibt den K<strong>in</strong>dern möglichst viel Gelegenheit zu Erfolgserlebnissen.Gute Schule will eigenständiges Denken und fördert selbständiges Arbeiten. Es geht dabeiimmer um die richtige Balance zwischen Selbsterprobung und Anleitung. Wir sollten die altenDebatten h<strong>in</strong>ter uns lassen, <strong>in</strong> denen Diszipl<strong>in</strong> mit Drill, Leistungsorientierung mitÜberforderung, Benotung mit persönlicher Demütigung gleichgesetzt wurden.Ke<strong>in</strong>e Frage: Junge Menschen "bei der Stange zu halten", sie für den Unterricht zu begeisternund Lernfortschritte mit ihnen zu erzielen - das ist oft alles andere als e<strong>in</strong>fach. Ich halte dieseRede mit Bedacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hauptschule. Wir alle wissen: In den Hauptschulen bündeln sichviele Schwierigkeiten. Das hat allerd<strong>in</strong>gs auch damit zu tun, dass manche es sich zu leichtmachen, <strong>in</strong>dem sie Schüler e<strong>in</strong>fach sitzenbleiben lassen oder von e<strong>in</strong>er Schule <strong>zur</strong> anderenweiterreichen.Dennoch: Auch an Hauptschulen wird viel erreicht. Und es gibt e<strong>in</strong>en wichtigen eigenen<strong>Bildung</strong>sauftrag für praktisches und berufsbezogenes Lernen. Dass die Hauptschulen diesenAuftrag selbstbewusst erfüllen können, zeigt seit nun schon fast zehn Jahren der"Hauptschulpreis". Im vergangenen Jahr habe ich damit die Augsburger Friedrich-Ebert-Volksschule ausgezeichnet. Schüler, Lehrer und Eltern haben dort geme<strong>in</strong>sam dasSchulgebäude renoviert, den Schulhof gestaltet, e<strong>in</strong> Café, ja sogar e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>o e<strong>in</strong>gerichtet undso die Schule zu e<strong>in</strong>em Ort gemacht, an dem sie nicht nur lernen, sondern auch gerne leben.Oder nehmen Sie KEPS - die von Schülern geführte Cater<strong>in</strong>g-Firma hier an der Kepler-Oberschule. Diese Schülerfirma ermöglicht es ihren jugendlichen Mitarbeitern, Erfahrungenim Wirtschaftsleben zu machen. Und was die jungen Leute leisten, wie begeistert sie bei derSache s<strong>in</strong>d - davon können Sie, me<strong>in</strong>e Damen und Herren, sich gleich anschließend beimEmpfang überzeugen. KEPS ist e<strong>in</strong> gutes Beispiel dafür, dass Betriebe bei jungen Menschen,die e<strong>in</strong>en Ausbildungsplatz suchen, auch auf solche Erfahrungen und Erfolge achten sollten.


XI. Schulen müssen die Lebensbed<strong>in</strong>gungen ihrer Schüler <strong>in</strong> den Blick nehmen können -und die s<strong>in</strong>d von Stadtteil zu Stadtteil, von Region zu Region unterschiedlich.Darum brauchen die Schulen nicht nur Lehrpläne, Stellen- und Budgetpläne, sondern siebenötigen <strong>in</strong>nerhalb dieser Pläne auch Freiheit für eigene Gestaltungsideen. Sie sollen<strong>in</strong>haltlich ihr eigenes Profil entwickeln können, sie sollen mitentscheiden, welches Personalzu ihrem Profil passt, und sie sollen Mittel nach eigenem Ermessen e<strong>in</strong>setzen können - für denSchulgarten zum Beispiel, für e<strong>in</strong> Aquarium oder für neue Computer. Für all das brauchenSchulen aber auch Ruhe. Ihre Kraft darf nicht durch ständig neue bildungspolitischeVorgaben ermüdet werden. Richtig ist: Jede Schule muss sich an allgeme<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>dlichenLern- und <strong>Bildung</strong>szielen orientieren und nachweisbar e<strong>in</strong> bestimmtes Leistungsniveausichern - schon damit Schulwechsel nicht noch schwerer werden. Aber genau so wichtig istes, Vertrauen <strong>in</strong> den Gestaltungswillen der Schulen zu haben und auf ihre Bereitschaft zusetzen, selbst etwas verbessern zu wollen.XII. Getragen wird die Arbeit <strong>in</strong> den Schulen von Menschen - vor allem von Lehrer<strong>in</strong>nenund Lehrern und den Schulleitern und Schulleiter<strong>in</strong>nen an der Spitze. Sie haben e<strong>in</strong>e großeVerantwortung - für die ihnen anvertrauten Jugendlichen und für unsere Gesellschaft<strong>in</strong>sgesamt. Lehrer zu se<strong>in</strong>, das ist weit mehr als e<strong>in</strong> Job. Der Lehrerberuf verlangt solidesFachwissen - er verlangt aber auch Liebe zu K<strong>in</strong>dern und die Überzeugung, dass <strong>in</strong> jedeme<strong>in</strong>zelnen Schüler etwas Besonderes steckt.Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer arbeiten oft unter schwierigen Voraussetzungen. In manchen Schulenist es für sie nahezu unmöglich, ihre Aufgabe zu erfüllen, weil <strong>in</strong> den Elternhäusern und imsozialen Umfeld der Schüler schon so viel versäumt wurde. Engagierte Lehrer<strong>in</strong>nen undLehrer, die nicht aufgeben, die darauf brennen, jungen Menschen etwas beizubr<strong>in</strong>gen - dass<strong>in</strong>d für mich Helden des Alltags. Wir alle kennen Lehrer, die ihre Schüler im Unterrichtbegeistern können. Wir alle kennen Pädagogen, für die der E<strong>in</strong>satz für ihre Schüler nicht nachdem letzten Kl<strong>in</strong>gelzeichen endet. Wir wissen, wie viele Schulleiter sich bemühen, ihreSchule nach vorn zu br<strong>in</strong>gen. Ihnen allen danke ich ganz, ganz herzlich!Wir brauchen Lehrer, die nicht nur das Talent, sondern auch das Handwerkszeug haben, umK<strong>in</strong>der auf die Welt vorzubereiten. Ich f<strong>in</strong>de es richtig, dass der Praxisbezug bei der Aus- undWeiterbildung von Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrern stärker betont wird. E<strong>in</strong> Beispiel dazu:Lehramtsstudenten aus Köln erteilen im Rahmen ihrer Ausbildung K<strong>in</strong>dern ausZuwandererfamilien Zusatzunterricht <strong>in</strong> Deutsch. Dabei lernen beide Seiten etwas: die K<strong>in</strong>derdie deutsche Sprache und die künftigen Lehrer, Schüler mit e<strong>in</strong>em anderen kulturellenH<strong>in</strong>tergrund zu fördern.Wir brauchen gute Lehrer - und wir brauchen auch genug Lehrer: Genug Lehrer, um denUnterrichtsausfall zu m<strong>in</strong>imieren; genug Lehrer für vernünftige Klassengrößen; genug Lehrerfür alle vorgesehenen Schulfächer. Wir müssen endlich ernst machen mit der <strong>in</strong>dividuellenFörderung von Schülern. Und dafür brauchen Lehrer mehr Unterstützung von Spezialisten -zum Beispiel von Logopäden, Schulpsychologen und Sozialarbeitern.Mehr Teamwork macht es auch leichter, K<strong>in</strong>der mit Beh<strong>in</strong>derungen geme<strong>in</strong>sam mit ihrennicht-beh<strong>in</strong>derten Altersgenossen zu unterrichten. Gleiches gilt für die K<strong>in</strong>dertagesstätten. Beiden K<strong>in</strong>dern mit Beh<strong>in</strong>derung stärkt das Zusammense<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Gruppe oder demKlassenverband das Gefühl: "Wir gehören dazu." Und die anderen lernen auf diese Weiseschon sehr früh, dass es normal ist, verschieden zu se<strong>in</strong>. Ich wünsche mir, möglichst vieleK<strong>in</strong>der könnten diese Erfahrung machen.


XIII. Ebenso wenig wie Lehrer E<strong>in</strong>zelkämpfer am Pult se<strong>in</strong> sollten, dürfen Schulen isoliertse<strong>in</strong>. Verantwortung für die Schule tragen nicht nur der Staat und die Lehrer, sondern alleBürger<strong>in</strong>nen und Bürger. Schon jetzt geschieht auf diesem Feld sehr viel: Eltern engagierensich <strong>in</strong> der Hausaufgabenbetreuung. Schul-Fördervere<strong>in</strong>e erschließen zusätzliche f<strong>in</strong>anzielleRessourcen. Sportvere<strong>in</strong>e stimmen ihre Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsangebote mit den Schulen ab. ÖrtlicheUnternehmen sponsern nicht nur gelegentlich e<strong>in</strong> Schulfest, sondern bieten auch PraktikumsundAusbildungsplätze. Initiativen wie diese müssen wir stärken und unterstützen. UnsereSchulen brauchen Partner.Vor zwei Wochen habe ich die Goethe-Grundschule <strong>in</strong> Ma<strong>in</strong>z besucht - übrigens e<strong>in</strong>eGanztagsschule. Dort gibt es an den Nachmittagen viele Spiel-, Sport- und Lernangebote. Undes gibt Leseclubs, die von ehrenamtlichen Lesepaten betreut werden. Sie helfen mit, dieK<strong>in</strong>der zum Buch zu br<strong>in</strong>gen - und das ist nicht nur wegen der schlechten PISA-Ergebnisseim Lesen e<strong>in</strong> ganz wichtiges Ziel.Viele so gute Beispiele zeigen: Bürgerschaftliches Engagement kann den Schulen wirksamhelfen, mehr für die K<strong>in</strong>der zu erreichen. Es darf aber ke<strong>in</strong>e Missverständnisse geben:<strong>Bildung</strong> ist vor allem das Geschäft der Schule, und die Hauptverantwortung für denUnterricht tragen die Profis.Die <strong>Bildung</strong>sangebote <strong>in</strong> der Schule s<strong>in</strong>d das e<strong>in</strong>e. Es geht aber auch darum, die<strong>Bildung</strong>smöglichkeiten außerhalb der Schulen besser zu nutzen. Mir gefällt die Idee, dass jedeSchule dafür Lotsen haben sollte: Lehrer oder ehrenamtliche Helfer, die den Weg weisen zuStadtbüchereien, Sportvere<strong>in</strong>en, zu den Pfadf<strong>in</strong>dern oder auch <strong>zur</strong> Freiwilligen Feuerwehr.Und geme<strong>in</strong>nütziges Engagement sollte ruhig im Schulzeugnis dokumentiert werden. Ine<strong>in</strong>igen Bundesländern geschieht das bereits. K<strong>in</strong>der und Jugendliche haben Freude daran, zuhelfen, Pflichten und Verantwortung zu übernehmen - und das sollte Anerkennung f<strong>in</strong>den.Zurzeit reichen die Angebote für geme<strong>in</strong>nütziges Engagement nicht aus. Programme wie dasFreiwillige Soziale Jahr und das Freiwillige Ökologische Jahr können bei weitem nicht soviele Jugendliche aufnehmen, wie sich bewerben. Diese Programme sollen aufgestocktwerden. - Gut so. Aber nicht halbherzig bitte!XIV. Und es lohnt sich vielleicht auch, über das Bestehende h<strong>in</strong>aus zu denken. NamhaftePädagogen sagen mir, nichts könne die prägende Erfahrung e<strong>in</strong>es solchen Dienstes an derGeme<strong>in</strong>schaft und für das Geme<strong>in</strong>wohl ersetzen. Hartmut von Hentig hat e<strong>in</strong> entsprechendes"Pflichtjahr" für junge Leute vorgeschlagen und spricht von der "nützlichen Erfahrung,nützlich zu se<strong>in</strong>". Er nennt selber die Gegenargumente, und sie wiegen schwer. Aber wiegtnicht auch die Frage schwer, möglicherweise schwerer, wie wir bei jungen MenschenPflichtbewusstse<strong>in</strong> stärken, <strong>in</strong>dem wir ihnen mehr Gelegenheit geben, sich verantwortlich undgebraucht zu fühlen?Erfahrene Jugendarbeiter wissen: Viele junge Leute warten nur darauf, sich durchVerantwortungsbewusstse<strong>in</strong> zu beweisen und zu bewähren. Und kluge Kommunalpolitikerberichten mir: Zu tun gibt es allemal genug für junge Leute, die anpacken wollen, wenn dierechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür gegeben s<strong>in</strong>d. Ich f<strong>in</strong>de: Alle, diedas so sehen und die so denken, gehören an e<strong>in</strong>en Tisch, um jungen Leuten so schnell wiemöglich mehr Chancen zum Engagement zu bieten - und ich b<strong>in</strong> auf ihrer Seite.XV. Wenn es um <strong>Bildung</strong> geht, muss auch über Geld gesprochen werden. Das warübrigens schon zu Humboldts Zeiten so. Se<strong>in</strong>e Heimat, Preußen, war damals von Napoleon


esiegt, war halbiert und f<strong>in</strong>anziell ausgeblutet. Aber Preußen und später ganz Deutschlandwurde e<strong>in</strong> "Schulstaat" - gegen alle Widerstände von Eltern, die glaubten, das Leben sei ihrenK<strong>in</strong>dern Lehrmeister genug; gegen den Widerstand der Städte und Geme<strong>in</strong>den, denenganzjährige statt der bisherigen "W<strong>in</strong>terschulen" zu teuer waren; gegen den Widerstand vonUnternehmern, die von K<strong>in</strong>derarbeit profitierten. Hier <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> waren die Volksschulen 1840noch vierklassig und kosteten Schulgeld, 15 Jahre später waren sie achtklassig undschulgeldfrei. Das Gymnasium wurde aus dem Muff der alten Late<strong>in</strong>schulen neu erschaffen,und Preußen gründete die Berl<strong>in</strong>er Universität, die heute Humboldts Namen trägt.Und was ist uns heute <strong>Bildung</strong> wert? Nur jeder zehnte Euro, den die öffentliche Hand <strong>in</strong>Deutschland ausgibt, fließt <strong>in</strong>s <strong>Bildung</strong>ssystem. Bei den Ausgaben für die allgeme<strong>in</strong>bildendenSchulen liegen wir deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Länder, und der Abstand hatüber die letzten Jahre zugenommen.Warnen möchte ich <strong>in</strong> diesem Zusammenhang vor dem Trugschluss, wir könnten das Problemdurch e<strong>in</strong>e bloße Umverteilung <strong>in</strong>nerhalb der <strong>Bildung</strong>sausgaben lösen. So richtig es ist, dasswir mehr Geld für frühk<strong>in</strong>dliche <strong>Bildung</strong> und Erziehung ausgeben müssen, so falsch wäre es,dafür beispielsweise die Hochschulausgaben zu kürzen. Wir brauchen angemesseneF<strong>in</strong>anzmittel für alle Bereiche des <strong>Bildung</strong>swesens, denn unsere <strong>Bildung</strong>sausgaben s<strong>in</strong>d<strong>in</strong>sgesamt zu niedrig. Für genauso kurzsichtig halte ich die Vorstellung, man könnte s<strong>in</strong>kendeSchülerzahlen zum Anlass nehmen, um die Ausgaben für Schule und <strong>Bildung</strong>swesen zukürzen. Der demographische Wandel muss für die Schule, für das <strong>Bildung</strong>swesen, alszusätzliche Chance genutzt werden. S<strong>in</strong>kende Schülerzahlen eröffnen f<strong>in</strong>anzielle Spielräumeund neue Gestaltungsmöglichkeiten. Machen wir was daraus!Ich weiß um die schwierige Kassenlage der Länder, und ich kenne die Nöte derHaushaltspolitiker. Aber ohne ausreichende und effektive <strong>Bildung</strong>sausgaben wird der Weg zugesunden Staatsf<strong>in</strong>anzen noch schwieriger. Deshalb müssen wir den Mut und die politischeKraft haben, anderes zugunsten der <strong>Bildung</strong> <strong>zur</strong>ückzustellen. <strong>Bildung</strong> ist die wichtigsteInvestition, die unsere Gesellschaft und jeder E<strong>in</strong>zelne tätigen kann. Wer an der <strong>Bildung</strong>spart, spart an der falschen Stelle. "Es gibt nur e<strong>in</strong>e Sache auf der Welt, die teurer ist als<strong>Bildung</strong> - ke<strong>in</strong>e <strong>Bildung</strong>." (John F. Kennedy)XVI. Ich b<strong>in</strong> <strong>in</strong> unserem Land vielen Menschen begegnet, die lernen und etwas aus sichmachen wollen. Ich habe mit Schülern und Lehrern, mit Studenten und Professoren, mitAzubis und Handwerksmeistern gesprochen, die e<strong>in</strong>e genaue Vorstellung davon haben, wassie sich von <strong>Bildung</strong> erhoffen, was sie persönlich dafür leisten wollen und wo es <strong>in</strong> unserem<strong>Bildung</strong>swesen noch hakt. Alle diese Menschen haben Anspruch darauf, dass unser Land diebesten Voraussetzungen für <strong>Bildung</strong> schafft.Dafür kommt es auf uns alle an, auf unsere E<strong>in</strong>stellung, auf unsere Anstrengung, auf unserVorbild. <strong>Bildung</strong> für alle - das gel<strong>in</strong>gt am besten, wenn sich alle dafür e<strong>in</strong>setzen, wenn wiralle uns bewegen. Was h<strong>in</strong>dert uns? Auf geht's!Quelle: http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-,11057.633054/Berl<strong>in</strong>er-Rede-von-Bundespraesi.htm

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