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Flohmarkt - GEA

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Heimat/HeumahdAch soHeimat ist kein Ort— im Ausseeerischen herrschen andere Gesetze: meintdie Zugereiste, da kommt einem das Tragen von Leder -hosen ganz selbstverständlich vor, und die Mädchenaus der Stadt drängen in Scharen zum Dirndlkirtag— was hätten wir sonst noch an sogenannter Identitätvorzuweisen: wagt jemand zu fragen, wenn wir unsnicht als jodelnde Älpler verkleideten— so etwas haben die Beinvögel gar nicht gern: erklärtder AlmrauschhonigImker, wenn jemand im dunklenLodengewand vor die Bienenstöcke tritt und gar nochdaran herumklopft— Tracht ist das, was wir tragen: meint der Altblas -bichlbauer aus der Ramsau am Dachstein ungerührt,und Brauch ist das, was wir brauchenzumindest alle heiligen Zeiten scheinen wir Zuspruchund Fürsprache zu benötigen/zu brauchen: fürs Im -mer-Wieder-Überstehen des Jahreslaufs im Zeichender Spirale (wie sie in der Federkielstickerei erscheint),mit dem Figuren- und AttributenWerk des Mandl/Weibl-Kalenders im Hintergrund (auf Elfenbein plätt -chen geritzt in der Ambras’schen Wunderkammer, pa -pieren dreifarbig aus dem steirischen Druckhaus Ley -kam importiert, bei Strafe 10 Mark lötigen Goldes keinenin Steiermark einzuführen): mit dem von Mariadem Hohenpriester zur Beschneidung hingehaltenennackten Jesusknaben, mit blauem Saulus/Paulus aufscheuendem Pferd vor gelbem Sonnenviertel im linkenBildEck, mit überkreuzten brennenden BlasiusKerzen,mit spindelkletternden GertrudenMäusen, mit leeremKarfreitagKreuz, mit roter PankratiusMaiblume, mitkurioser FußabdruckHimmelfahrt mit hängendem Je -susUnterteil, mit AlexiusTreppe und MargaretenWurm,mit je einem roten Hund für Hundstag-Ein-und-Aus -gang (seitenverkehrt: der 1. Hund schaut hinein, der 2.zurück), mit rotem Felix und blauer Regula (wie sieihre abgeschlagenen Häupter vor sich hertragen), mitder Äbtissin Hildegard von Bingen, die ihr aufgeschlagenesNotizbuch in der Rechten und die gezückte Gän -sefeder gar in der Linken hält (also Linkshänderin!),mit gelb lachendem HieronymusLöwen am Septem -berEnde, mit Holz tragendem GallusBären, mit rotemSimon (Säge) und blauem Judas Thaddäus (Keule) alsDoppelgespann, mit Othmar’schem unerschöpflichemWeinfaß und zackigem KatharinenRad, mit goldenenNikolausBällen und gestrichelten StephanusSteinen,und nicht zu vergessen knapp vorm Jahresende dasaufrecht mit rotem Schwert und Bauchschlitz auf denBetrachter zuschreitende nacktweiße Unschuldige KindKARL-MARKUS GAUSSgeboren 1954 in Salzburg, woer heute als Autor und Heraus -geber der Zeitschrift Literaturund Kritik lebt. Seine Bücherwurden in viele Sprachen übersetztund mit etlichen Preisenausgezeichnet. Bei Zsolnayerschienen zuletzt Im Wald derMetropolen (2011) und Ruhmam Nachmittag (2012).Man muss Heimathaben, um sie nichtnötig zu haben.Jean AmeryBodo HellLinda Wolfsgruberimmergrün.Sudarium. CalendariumFolio Verlag, Wien 2011Karl-Markus GaußVon nah, von fern.Ein Jahresbuch.Zsolnay Verlag, Wien 2003© Zsolnay | Michael AppeltEs war ein Symposion, gewidmetdem Thema »Hei mat«, und dageschah es, dass eine berühmteSchrift stellerin, berühmt auchfür die kritische Schärfe ihrerAuffassung, ans Podium tratund mir nichts, dir nichts demaufgewühlten Publikum sagte,Heimat sei überhaupt so etwasDummes, das ein aufgeklärterMensch nicht brauche und siejedenfalls schon gar nicht. Da wurde es ganz ehrfürchtigvor kritischer Zu stimmung im Saal, hast du’s ge -hört, sie braucht keine Heimat, auch wir wollen sienicht mehr brauchen müssen. Und so gingen die Leuteauseinander und erzählten es sich weiter, ach, war ichein Depp, die Heimat ist doch ein Försterfilm, und werschaut sich heute noch freiwillig Försterfilme an, dieHeimat ist ein Trachtenanzug, da habe ich weiß GottFlotteres im Kleiderkasten. Das er zählten sie auch demPendler und dann dem Arbeits emigranten und endlichdem Flüchtling. Bleibt keine reaktionären Finsterlinge,sagten sie ihnen, vergesst, woher ihr kommt und wasihr gewesen seid, das Dorf, die Straße in der Vorstadt,die Siedlung, das Licht am Morgen, den Blick aus demFenster, die Freunde abends beim Trinken, und vergesstauch eure Sprache, ihr braucht sie hier nicht, wirbrauchen ja nicht einmal unsere eigene Sprache. Dieso belehrt wurden, nickten, langsam verstehend, achso, endlich haben wir ihn begriffen, den Grund unseresUnglücks, von hier nach dort kommandiert vonKonzernen, die da eine Firma eröffnen, sie dort wiederschließen. Wir müssen flexibel werden, wie uns geheißen,nur wer flexibel ist, wird bestehen, wer an Erin -nerungen haftet, muss untergehen, und wir warendum me Untergeher, dabei könnten auch wir Besteherwerden, wenn wir uns nur darein fügten, menschlichesTreibgut zu sein.Das ist das Gute an dem nahen, fernen Land: dass diekritischen Geister dort gerne rebellisch verkünden, wasdie Wirtschaft schon lange praktiziert. Kühn wagensie es, dem common sense Ausdruck zu verleihen, undmutig achten sie nicht der Gefahren, die sie eingehen,wenn sie als Avantgarde die Nachhut bilden. Hat dieÖkonomie die Menschen erst einmal heimatlos ge -macht, dann stellen sie sich bald mit einer avan ciertenTheorie ein, die aus der Entwurzelung von Millionenein Lob auf die Unbehaustheit und das Nomadentumdes Intellektuellen presst.Timbuktu, Mali, Afrika1IIch war nie in Timbuktu. Vielleicht werdeich auch nie in diese Oasenstadt kommen.Die größte und älteste Bibliothek Afrikas befindet sichhier – mit hunderttausenden Handschriften, viele da -von mehr als ein halbes Jahrtausend alt. KunstvolleLehm bauten mit markanten hohen Türmen beherbergtendurch Jahrhunderte die wichtigste Universität derislamischen Welt. Und dann die Gräber der Sufi-Hei -ligen, wichtige Orte der Verehrung und des Vertrauensfür afrikanische Muslime und Muslimas; zudem UNES-CO Weltkulturerbe – das war bis Anfang Juli so. Dannbe gannen mit Maschinengewehren bewaffnete »Kämp-fer für den wahren Islam« die Heiligengräber zu zerstören.Nach Ansicht der Wahhabiten, einer islamischenSekte aus Saudiarabien, ist Heiligenverehrung Sün de,deswegen müssen die uralten Plätze islamischer Fröm -migkeit zerstört werden. Viele weinten in Timbuktu,als das geschah, berichteten Augenzeugen der französischenPresseagentur AFP. Mittlerweile sind zweiDrit tel der Bevölkerung aus der Stadt geflüchtet.Auf einem unscharfen, mit Handy aufgenommenenFilm sieht man, wie ein paar Männer uralte Lehm -mauern niederreißen. Mir kommen die Tränen, währendich das sehe. Ein heller, scharfer Schmerz bohrtsich in mein Herz, ein Schmerz über den Verlust vonetwas sehr Nahem und Vertrautem, sehr Kostbarem.Mit den Menschen in Timbuktu teile ich weder Spra -che noch Religion noch Lebensgewohnheiten. Aber dieZerstörung ihrer Heimat, ihres Lebens zerstört auchetwas in mir – ein Stück meiner Seele? Ein StückHeimat?2Heimat ist Erinnerung und Gewohnheit -zum Beispiel für mich manchmal der Ge -ruch von frischen Erdbeeren im Frühsommer, das leiseGeräusch reifer Getreideähren im Wind und der ganzspezielle Geruch der Sommerwiesen. Manchmal habenmir diese Gerüche und Geräusche gefehlt; einmal hatteich mitten in der Regenzeit in Japan beharrlich dieVision einer großen Schüssel mit frischem grünenSalat und Gartenkräutern. Ist das Heimat? Es ist etwasgerade nicht da, was einmal da war und gut war. Undvor allem mit Beziehungen verbunden ist – zu Groß -eltern, Kindheitsfreunden, zu der kleinen Katze ... zuBäumen oder Landschaften. Zum Apfelbaum im Gar -ten meiner Großmutter zum Beispiel, der schon längsteinem Feuchtbiotop Platz machen musste. War dasHei mat, als ich hoch oben im Apfelbaum sitzend imSeptember die sonnenwarmen reifen Äpfel gegessenhabe? Es war sehr schön, und die Erinnerung belebtmich heute noch; und zugleich ist da ein Schmerz,weil der Baum gefällt wurde. Vielleicht gibt mir dieserErwachsenenschmerz über den Verlust eines Ortes,an dem für Augenblicke das Paradies erlebbar war, denSchlüssel, den Schmerz der Menschen in Timbuktu zuverstehen. Was zerstört wurde, sind keine Baudenk -mäler, sondern Orte, an denen manchmal für Augen -blicke das Paradies aufgeleuchtet ist.3Heimat ist dort, wo die Dinge Geschichtenhaben. Der alte VW rumpelte zuerst überSeitenstraßen nach Bozen und dann über die mehrspurigeAutostrada Richtung Brenner. Der Fahrer, einStudienkollege und Bergbauernsohn aus der Gegendoberhalb Bozens hörte nicht auf zu erzählen – überdiese Bäume und jene Steine, über die Brücke, dieBauernhöfe am Hang, tausend Geschichten über Ver -wandte und Bekannte aus dieser Landschaft, seinerHeimat. Je näher wir dem Brenner kamen, desto dünnerflossen die Geschichten, und auf der anderen Seitedes Passes verstummten sie völlig. Hier war Fremde,keine Erinnerungen, keine Geschichten mehr – bisWien. Da kamen sie dann wieder – Geschichten überGeschichten aus den Bezirken, in denen er bishergelebt hatte. Hier war er wieder daheim und kanntesich aus. Heimat ist, wovon sich mit Zuneigung undvon Herzen erzählen lässt. Alles andere ist nicht Hei -URSULA BAATZPhilosophin, Ö1-WissenschaftsundReligionsjournalistin, Lehr -beauftragte an der UniversitätWien, Qi Gong-Lehrerin, Zen-Praktikerin, Reisende undBuchautorin, zuletzt: Erleuchtungtrifft Auferstehung. Zen-Buddhismus und Christen tum.Eine Orientierung (Theseus2009). Mit-Her ausgeberin vonpolylog: zeitschrift für interkulturellesphilosophierenDen Weg zu studierenheißt sich selbst zustudieren, sich selbstzu studieren heißt sichselbst vergessen. Sichselbst zu vergessenbedeutet von allenWesen erleuchtet zuwerden. Von allen Wesenerleuchtet zu werdenbedeutet, frei zu seinvom Anhaften an Körperund Geist von sich selbstund anderen.Zen-Meister Dogen© lukasbeck.com/edition a.8 Nº 29/12 Nº 29/129

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