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„Niederdeutsche Sprachgeschichte“ (V)

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<strong>„Niederdeutsche</strong> <strong>Sprachgeschichte“</strong> (V)<br />

Mittelniederdeutsch


Vom Altsächsischen zum Mittelniederdeutschen<br />

Altsächsisch Mittelniederdeutsch<br />

- Ausdehnung des Sprachgebietes<br />

- Verlagerung der Domänen nd. Schriftlichkeit<br />

- Veränderungen im Sprachsystem<br />

- „Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

- Schriftlichkeit und Mündlichkeit in mnd. Zeit<br />

- Übergang zur frnhd. Schriftsprache<br />

- Gesprochenes Hochdeutsch in Norddeutschland<br />

- Herausbildung norddeutscher Umgangssprachen<br />

(„Missingsch“)<br />

- Niederdeutsche Schriftlichkeit nach 1600


Ausdehnung des niederdeutschen Sprachgebiets<br />

Die Ostkolonisation im Mittelalter (12.-13. Jh.)<br />

Ziele:<br />

- politische Unterwerfung der Slawen<br />

- christliche Missionierung<br />

- wirtschaftliche Nutzbarmachung des Landes östlich der Elbe<br />

Ansiedlung von Bauern aus dem ganzen nd. Altland (Niederrhein,<br />

Westfalen, Ostfalen, Holstein),<br />

außerdem niederländische Kolonisten<br />

Folge: sprachliche Ausgleichsprozesse (Dialektmischungen)<br />

= Entstehung der ostniederdeutschen Mundarten<br />

(Mecklenburgisch, Brandenburgisch, Pommersch, Niederpreußisch)<br />

[Vergleichbar: die Ostkolonisation im mitteldeutschen Raum<br />

� Entstehung des Ostmitteldeutschen als kolonialer Ausgleichssprache]


Ausdehnung des niederdeutschen Sprachgebiets<br />

Ausdehnung nach Norden: im 15. Jh. starker Einfluss des Mnd. auf den<br />

Norden (Skandinavien), Verschiebung des nd. Einflussgebietes etwa<br />

bis zur Höhe Husum - Schleimündung (Holsteinisch).<br />

[In Südschleswig erst seit dem 18. Jh. Sprachwechsel vom Jütischen<br />

zum Niederdeutschen.]<br />

Ausdehnung an der ostfriesischen Küste:<br />

seit dem 14. Jh. Verdrängung der altfries. Schreibsprache durch die<br />

mnd. Schreibsprache,<br />

danach wohl Übernahme des Mnd. als Sprechsprache der höheren<br />

Schichten, später allgemeine Ausbreitung, zeitlich gestaffelt (Jeverland:<br />

16. Jh., Harlingerland: 17./18. Jh., Wangerooge: um 1930): Entstehung<br />

des ostfries. Nd. (mit starken fries. und nl. Interferenzen)<br />

Letztes Reliktgebiet des alten (Ost-)Friesischen: das Saterfriesische<br />

(oldenburgisches Saterland)


Ausdehnung des niederdeutschen Sprachgebiets<br />

Ausdehnung an der nordfriesischen Küste:<br />

keine altnordfries. Textzeugnisse überliefert. Mnd. im 15. Jh. als<br />

Schreibsprache eingeführt<br />

In der Mündlichkeit bis heute Nebeneinander von (nordfries.) Nd. und<br />

Fries. (und Hochdeutsch).


Verlagerung der Domänen niederdeutscher<br />

Schriftlichkeit<br />

Domäne des Altsächsischen (ca. 800-1150): kirchlicher Bereich<br />

(Bibeldichtung, religiöse Gebrauchstexte, nd. Glossen in lat.<br />

Kirchentexten)<br />

nur wenig weltlich-pragmatische Schriftlichkeit<br />

Schreiborte: Klöster (ebenso im Althochdeutschen)<br />

Domänen des Mittelniederdeutschen: weltlicher Bereich<br />

- Rechtswesen: Rechtskodifikationen (Sachsenspiegel, Stadtrechte),<br />

Handwerksstatuten, Urkunden<br />

- Verwaltung: Stadtrechnungen, Ratsprotokolle, auswärtige<br />

Verwaltungskorrepondenz (Missiven), „Stadtbücher“<br />

- Geschichtsschreibung: Chroniken (Sächsische Weltchronik)<br />

- Handel: Texte aus dem Umfeld der Hanse (Handelskorrespondenz:<br />

Briefe, Frachtverträge, Rechnungen, Rechnungsbücher,<br />

Schuldbriefe, Bürgschaften usw.)<br />

- Literatur: v.a. imporierte Stoffe: Versdichtung Reynke de Vos,<br />

Lübecker Totentanz, Dat narren schyp usw.


Einige mittelniederdeutsche Textproben<br />

Typischer Beginn einer mnd. Urkunde (Duisburg, 9. Juni 1379):<br />

Wij Bruyn frentzen Scoilteyt henrich van volden end diderich specht<br />

scepene to duysborg doen kont allen luden dat vur vns komen sijn<br />

Gude halueridders diderick end Iohan oere sone end hebben<br />

bekant dat sye rechtlike verkocht hebben end vercopen ouermids<br />

desen brief twe Morghen lands an eynem stucke gelegen bauen<br />

dusseren by lande Iohans van Sest end by lande peter wetzels<br />

eruen ynghen hoevelde ...<br />

Wir, Bruyn Frentzen, Schultheiß, Henrich van Volden und Diderich<br />

Specht, Schöffen zu Duisburg, tun kund allen Leuten, dass vor uns<br />

getreten sind Gude Halueridders Söhne Diderick und Johan, und<br />

sie haben bekannt, dass sie rechtmäßig verkauft haben und<br />

verkaufen mittels dieses Briefs zwei Morgen Landes, an einem<br />

Grundstück gelegen jenseits von Duissern, bei dem Land Johans<br />

von Sest und dem Land von Peter Wetzels Erben im Hochfeld ...


Herausbildung mnd. Textsorten<br />

- Entwicklung volkssprachlicher Textsortenmuster und Sprachausprägungen<br />

(Varietäten)<br />

- Übernahme von formalen Mustern aus dem Lateinischen, zugleich<br />

allmähliche Emanzipation vom lat. Vorbild<br />

Textsorte „Urkunde“:<br />

Wij ... doen kont allen luden dat vur vns komen sijn ... end hebben bekant<br />

dat ...


Herausbildung mnd. Textsorten<br />

Beispiele für Formelhaftigkeit und Variabilität von Urkunden (am Beispiel<br />

städtischer Urkunden aus Essen (1350-1365, Stadtschreiber 1):<br />

- Cundic si allen luden dey dissen breyf seyt efte horet lesen Dat Ich, herman kerchellen ...<br />

- Cůndic si allen luden dey dissen breyf seyt efte horet lesen Dat Ich ...<br />

- Ich herman beneker eyn burger tho Essende do kůndic allen luden dey desen breyf seyt<br />

efte horet lesen dat Ich ...<br />

- Ich Randolf hake van heerne der Iunghe do kundic allen dey dissen breyf seyt of horet<br />

lesen dat Ich ...<br />

- Allen guden luden dey dissen breyf solen seyn of horen lesen doyn Ich kraft van<br />

Haystveld dey Iůnghe Ritter kund vnd bekenne openbare In dissen seluen breyue daz<br />

Ich ...<br />

- Ich Peter van Wytterinch do kůndich allen luden dey dissen breyf seyt of horet lesen Vnd<br />

bekenne openbare in Dessen breyue Dat ich ...<br />

- Ich Gerd kesken van der leyten Do kůndich vnd kenlich allen luyden dey dissen breyf seyt<br />

horet lesen Dat ich ...<br />

- Ich wenemer vnbetunde Do kůndich vnd kenlich allen luden vnd betuyge openbare in<br />

dessen breyue Dat Ich ...<br />

- Wij Ebdisse vnd dat ghemeyne Capytel des gestichtes van Essende doyt kůndich allen<br />

luyden dey nů sint of dey hir na komen moegen ...


Herausbildung mnd. Textsorten<br />

Formelhafte Wendungen:<br />

- kund sei allen Leuten oder ich tue kund allen Leuten<br />

- die diesen Brief sehen oder lesen hören<br />

- und bekenne öffentlich<br />

- in diesem vorliegenden Brief<br />

- allen Leuten, die nun sind oder nachkommen werden<br />

Sprachliche Merkmale der Rechtssprache:<br />

- Paarformeln: kůndich vnd kenlich, redeliken vnd rechtliken, orber vnd nůt, to<br />

hebbene vnd to besittene, myt hande vnd myt můnde, ghenghe vnd gheue,<br />

als ghewonlich vnd recht is, wedersprake of argelist (alls Beispiele aus einer<br />

Essener Urkunde von 1365)<br />

- juristische Fachterminologie<br />

- subtile Modifikation der Äußerungen durch Gebrauch von Modalpartikeln:<br />

sullen/scholen, mogen, kunnen, willen<br />

- komplexe Syntax<br />

- morphologische Besonderheiten, z.B. häufiger Gebrauch des Konjunktivs<br />

vgl. Beispiel „Sachsenspiegel“


Einige mittelniederdeutsche Textproben<br />

Aus dem Sachsenspiegel (Spegel der Sassen, ostfälisches Frühmnd.,<br />

1220/24) des Eike von Repgow:<br />

§ 1: Jewelk man den man sculdeget mach wol wegeren to antwerdene,<br />

man ne scüldege ine an der sprake, die ime angeboren is,<br />

of he düdesch nicht ne kann vnd sin recht dar to dut.<br />

Scüldeget man ine denne an siner sprake, so mut he antwerden,<br />

oder sin vorspreke von sinent haluen, als it die klegere vnde die<br />

richtere verneme.<br />

Jeder, den man beschuldigt, kann sich weigern zu antworten,<br />

wenn man ihn nicht in seiner Muttersprache beschuldigt,<br />

sofern er nicht Deutsch versteht und dies beschwört.<br />

Beschuldigt man ihn dann in seiner Sprache, so muss er<br />

antworten, oder es muss sein Vorsprecher an seiner Stelle tun,<br />

so dass es der Kläger und der Richter verstehen.


Einige mittelniederdeutsche Textproben<br />

Aus einer Verordnung der Stadt Hamburg (1435):<br />

Vortmer juncfrowen, de vnechte boren sind, de scholen noch myd<br />

smyd noch myd parlen to der kerken gan, men slichter kledere<br />

sunder smyde vnde voder moghen zee brouken.<br />

Ferner Jungfrauen, die unehelich geboren sind, die sollen weder<br />

mit Geschmeide noch mit Perlen zur Kirche gehen, sondern<br />

schlichte Kleider ohne Geschmeide und Pelzwerk sollen sie tragen.


Einige mittelniederdeutsche Textproben<br />

Beispiel für eine formal weniger standardisierte Textsorte: Handelsbrief<br />

Aus der Hansischen Korrespondenz (Brief aus Danzig nach Brügge, 1411):<br />

... Weten schole ghi, dat ic juwe breve wol vornomen hebbe also gy my<br />

schriven, dat gi my senden in schipper Noytte Stevenson 5 Hemborger<br />

tunnen engevers. Disse vorscreven schipper es, Got si ghelovet, myt<br />

leve wol overkomen unde dit gut en is noch nicht opgheschepet ...<br />

Ic will ju hirnest wol allre tidinghe toscriven. Nicht mer dan blivet<br />

ghesunt myt Gode. Grotet alle vrund sere. Ghescreuen 8 daghe na<br />

sunte Peter unde Pauwels dach 1411 in Danczeke ...<br />

... Wissen sollt Ihr, dass ich Eure Briefe wohl verstanden habe, so wie<br />

Ihr mir geschrieben habt, dass Ihr mir gesendet habt mit dem Schiffer<br />

Noytte Stevenson 5 Hamburger Tonnen Ingwer. Dieser vorgenannte<br />

Schiffer ist, Gott sei gelobt, wohlbehalten angekommen und dieses Gut<br />

ist noch nicht gelöscht ...<br />

Ich will Euch hiernächst wohl alle Nachrichten schreiben. Bleibt nur<br />

gesund mit Gott. Grüßet sehr alle Freunde. Geschrieben 8 Tage nach<br />

Sankt Peter und Paul 1411 in Danzig ...


Einige mittelniederdeutsche Textproben<br />

Aus dem Reynke de Vos (Lübecker Druck von 1498):<br />

De konnynck vnde de konnygynne,<br />

Se hopeden beyde vp ghewynne.<br />

Se nemen Reynken vp eynen ort<br />

Vnde spreken: „segget vns nu vort,<br />

Wor gy hebben den groten schat!“<br />

Reynke sprack: „wat hulpe my dat,<br />

Scholde ik nu wysen myn gud<br />

Deme konnynge, de my hangen doet<br />

Vnde lo e uvet den deuen vnde<br />

mordeneren<br />

De myt legende my besweren<br />

Vnde wyllen my vorretlyken myn lyff<br />

affwynnen?“<br />

Der König und die Königin,<br />

Sie hofften beide auf Gewinn.<br />

Die nahmen Reynke beiseite<br />

Und sprachen: „Sagt uns sofort,<br />

Wo Ihr den großen Schatz habt!“<br />

Reynke sprach: „Was hülfe mir das,<br />

Sollte ich nun mein Gut zeigen<br />

Dem König, der mich hängen lassen will<br />

Und den Dieben und Mördern glaubt,<br />

Die mich mit übler Nachrede verleumden<br />

Und mir verräterischerweise das Leben<br />

nehmen wollen?“


Veränderungen im Lautsystem<br />

Altsächsisch Mittelniederdeutsch<br />

Hauptveränderungen:<br />

1) Germanische Akzentkonzentration auf die Stammsilbe<br />

Folge: Abschwächung der vollen Nebensilbenvokale (As.) zum<br />

Schwa-Laut bis hin zum Vokalausfall (Mnd.)<br />

Bsp.: as. fadar - mnd. vader, as. folgon - mnd. volgen<br />

as. herta - mnd. herte ‚Herz‘<br />

as. heritogo - mnd. hertoch<br />

2) Dehnung / „Zerdehnung“ und Senkung der Kurzvokale in offener<br />

Silbe:<br />

Bsp.: as. sunu - mnd. sone ‚Sohn‘<br />

as. nigun - mnd. negen ‚neun‘


Veränderungen im Lautsystem<br />

Umlaut von a, o, u, â, ô, û:<br />

Bsp.: as. mannisk ‚Mensch‘, slutil ‚Schlüssel‘, lâri ‚leer‘, môdi ‚müde‘<br />

> mnd. mensch, slötel, leer, mööt<br />

Ausfall des anlautenden [X]:<br />

Bsp.: as. hladan ‚laden‘, hlûd ‚laut‘, hrêni ‚rein‘, hwat ‚was‘<br />

> mnd. laden, luyd, rein, wat<br />

Wandel von [�, �] zu [d]:<br />

Bsp.: as. thiof ‚Dieb‘, erða ‚Erde‘, dôð ‚Tod‘<br />

> mnd. deef, erde, doot<br />

Wandel von [w] zu [v]:<br />

Bsp.: as. uui ‚wir‘, uuorth ‚Wort‘<br />

> mnd. wi/we, wort<br />

Vereinfachung der Langkonsonanten, z.B. [d:], [g:], [l:] > [d], [g], [l]:<br />

Bsp.: as. roggon [rOg:o:n] > mnd. roggen [rOg@n] ‚Roggen‘<br />

as. allero [al:@ro] > mnd. aller [al�] ‚aller‘


Veränderungen im morphologischen System<br />

Abschwächung der vollen Nebensilbenvokale > Folge: Vereinfachung der<br />

grammatischen Paradigmen<br />

Bsp. aus der Substantivflexion:<br />

Altsächsisch Mittelniederdeutsch<br />

Sg. Nom. herta herte ‚das Herz‘<br />

Gen. herton herten ‚des Herzen‘<br />

Dat. herton herten ‚dem Herzen‘<br />

Akk. herta herte ‚das Herz‘<br />

Pl. Nom. hertun herten ‚die Herzen‘<br />

Gen. hertono herten ‚der Herzen‘<br />

Dat. herton herten ‚den Herzen‘<br />

Akk. hertun herten ‚die Herzen‘<br />

= 4 Ausdrucksformen = 2 Ausdrucksformen<br />

(-o, -on, -un, -ono) (-e, -en)


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

Zum Begriff der Hanse<br />

- ahd. hansa ‚Schar‘, erst später bezogen<br />

auf die norddeutsche Handelsgemeinschaft<br />

- Gründung der Hanse als Kaufmannsvereinigung<br />

im 13. Jh. (Ersterwähnung<br />

in einer engl. Urkunde<br />

von 1267) = Kaufmannshanse<br />

- Zielsetzung: Vertretung der wirtschaftl.<br />

Interessen im Ausland<br />

- ab Mitte des 14. Jh. Hanse als<br />

Städtebund = Städtehanse<br />

Der Danziger Hansekaufmann Georg<br />

Gisze (Bildnis von 1532) in<br />

London<br />

- 14./15. Jh.: ca. 70-80 unmittelbare Hansestädte, im weiteren Sinne etwa 200<br />

Städte im gesamten norddeutschen und ostniederländischen Raum, als loser<br />

Verbund (daher keine genauen Angaben möglich) -> Karte


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

Lübeck als führende nd. Metropole des 14./15. Jhs.<br />

- im 15. Jh.: ca. 25.000 Einwohner (zweitgrößte Stadt des dt. Reiches, nach<br />

Köln)<br />

- günstige Lage zwischen Nord- und Ostsee > Lübeck als Handelszentrum<br />

- Sammelpunkt für die nach Osten ziehenden Siedler > Beteiligung Lübecks an<br />

den dortigen Städtegründungen (Vergabe des lübischen Rechts)<br />

- dadurch auch Lübeck als Ort des Sprachausgleichs (im Mündlichen)<br />

- Zentrum von Kunst und Literatur<br />

- Zentrum des Buchdrucks<br />

-> Lübecks Sprache als „normgebendes Muster“<br />

Domänen der sog. „Hansesprache“:<br />

1) Handel: Schriftstücke zur Regelung der geschäftlichen Angelegenheiten der<br />

Hansekaufleute<br />

2) Recht und Diplomatie: Stadtrechte, Privilegien, Urkunden, Protokolle usw.<br />

3) Literatur: mnd. Drucke v.a. aus Lübecker Offizinen


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

„Hansesprache“ in der wiss. Tradition:<br />

= eine Sprache, die „eine überregionale Einheitlichkeit anstrebte“ (Sanders<br />

1982), eine Art Ausgleichsniederdeutsch<br />

= eine überregionale Verkehrssprache für den gesamten Hanseraum (von<br />

Brügge bis Nowgorod)<br />

= eine Sprache, die während der Blütezeit der Hanse im 14./15. Jh. ihre größte<br />

Einheitlichkeit besaß und die mit dem Untergang der Hanse an Bedeutung<br />

verlor (Stellmachers These von der „Dialektisierung“):<br />

„Macht und Machterstreckung der Hanse finden ihre exakte Widerspiegelung<br />

in Geltung und Geltungsbereich der ‚Hansesprache‘“ (Sanders, a.a.O.)<br />

Traditionelles Periodisierungsmodell:<br />

1. Mnd. Frühzeit<br />

- Schreibdialekte<br />

- starke Nähe zur<br />

Mündlichkeit<br />

2. Klassisches Mnd.<br />

(„Hansesprache“)<br />

- Ausgleichssprache<br />

- tend. überregional<br />

- größere Distanz zur<br />

Mündlichkeit<br />

3. Mnd. Spätzeit<br />

- „Rückfall ins Dialektale“


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

- Beispiele für lautnahe Verschriftungen im Frühmnd.:<br />

Kontraktionen: sir, mitten, upper, thor, mens > in späterer Zeit: Vollformen<br />

siner, mit den, up der, tho der, men des<br />

Lenisierungen: oben- > open<br />

Assimilationen: orkunne, gullen > orkunde, gulden<br />

Ausfall von intervokal. -d-: neer, broer > neder, broder<br />

Dentaleinschub zw. Nasal/Liquid und -er: honder, kelder > honer, keller<br />

Gutturalisierung von -nd-: gesynge, hange > gesinde, hande<br />

Diphthongschreibungen: tau, kou > to, ko<br />

Folge: das Frühmnd. wirkt „moderner“ (weil dialektnäher) als das klassische<br />

Mnd.<br />

- Allerdings: quantitativ relativ wenige „Reflexe der Mündlichkeit“ auch in<br />

frühmnd. Texten (z.B. Fedders 1993, S. 363: „nur in Ausnahmefällen“)


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

- Beispiele für regionale Varianz im Frühmnd.: z.B. wfäl. derde, sal, elk, op, tot<br />

vs. nordnds. drüdde, schall, ider, vp, bit usw.<br />

in der „Hansesprache“: Vereinheitlichung, Verzicht auf regionale Spezifika<br />

(Bsp.: ostfäl. mik/dik, südwestfäl. git ‚ihr‘, ink ‚euch‘ werden nicht<br />

geschrieben; -en wird als Einheitsplural verwendet, trotz dialektalem -et in<br />

den meisten Regionen)<br />

Allerdings: Verzicht auf die regionalen Formen nicht in allen Regionen<br />

in Westfalen meist keine Übernahme der lübischen Schreibungen, sondern<br />

nur interne, regionale Ausgleichsprozesse (Variantenabbau)


„Hansesprache“ und regionale Schreibtraditionen<br />

Einschränkungen zum Begriff „Hansesprache“:<br />

- medial: eine rein geschriebene Varietät<br />

- räumlich: „reinste Ausprägung“ nur in Texten großer Kanzleien, vor allem<br />

Lübecks<br />

- text- und schreiberbezogen: starke Variation selbst in der Lübecker<br />

Kanzleisprache je nach Textsorte und Schreiber<br />

Das heißt:<br />

- Mündlichkeit bleibt dialektal (gesprochene mnd. Ausgleichssprache gilt als<br />

unwahrscheinlich)<br />

- großer Teil der Schriftlichkeit bleibt regional geprägt (schwach oder nicht<br />

beeinflusst durch Lübecker Traditionen)<br />

- Drucke konnten nur von einer Bevölkerungsminderheit rezipiert werden<br />

- die „Lübecker Norm“ selbst ist nicht homogen > als Normvorbild wenig<br />

geeignet<br />

Fazit (R. Peters):<br />

- Hansesprache im Sinne einer Norm als bloßer „Mythos“<br />

- Mnd. im wesentlichen als Oberbegriff für verschiedene regionale Schreibsprachen


Schriftlichkeit und Mündlichkeit in<br />

mittelniederdeutscher Zeit<br />

Schreibsprachen = regional gefärbt<br />

aber:<br />

Schreibsprachen = relativ distanziert zur Mündlichkeit (insbesondere zu den<br />

Basisdialekten)<br />

- meist keine Wiedergabe typisch sprechsprachlicher Merkmale (s.o.)<br />

- keine Wiedergabe (potenziell) sozial stigmatisierter Formen<br />

- keine Wiedergabe bestimmter Lautunterschiede: z.B. keine klare<br />

Umlautkennzeichnung (obwohl es möglich gewesen wäre), häufig keine<br />

Wiedergabe diphthongischer Lautwerte<br />

- Orientierung der Schriftlichkeit eher an der Mündlichkeit der Oberschichten<br />

(Mnd. in diesem Sinne als „Sondersprache einer Minderheit“)<br />

> Mnd. als Schriftsprache ohne wesentlichen Einfluss auf die gesprochenen<br />

Dialekte<br />

> Nd. Dialekten in ihrer lautlichen und grammat. Entwicklung weitgehend<br />

unabhängig von der mnd. Schriftsprache

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