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Aktuelle Herausforderungen für die Pflege Demenzkranker ...

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Eine Initiative von<br />

Zukunftsforum<br />

Demenz<br />

Postfach 11 13 53<br />

60048 Frankfurt am Main<br />

E-Mail: zukunftsforum@demenz.de<br />

www.zukunftsforum-demenz.de<br />

ISBN 978 -3-938748-30-5<br />

41312<br />

Zukunftsforum Demenz · <strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong><br />

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Eine Initiative von<br />

<strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong>:<br />

Stürze, Fixierung, Schluckstörungen und<br />

Desorientierung<br />

33. Workshop<br />

des „Zukunftsforum Demenz“<br />

Herausgegeben von<br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen<br />

Dokumentationsband 29<br />

Medical Tribune Verlagsgesellschaft mbH<br />

Wiesbaden


Zukunftsforum Demenz<br />

<strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong>:<br />

Stürze, Fixierung, Schluckstörungen<br />

und Desorientierung<br />

Herausgeber<br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen<br />

33. Workshop<br />

des „Zukunftsforum Demenz“<br />

2. November 2010 in Hannover<br />

Dokumentationsreihe • Band 29<br />

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Eine Initiative von


Editorial<br />

Der demografische Wandel<br />

Der demografische Wandel mit dem massiven Anstieg<br />

der Hochbetagten ist mit einer deutlichen Krankheitszunahme<br />

verbunden. Der Be<strong>für</strong>chtung des Menschen, im Alter<br />

zum kindlichen Greis zu werden, steht der uralte Traum vom<br />

Jungbrunnen entgegen, den man verjüngt und gesund verlässt.<br />

Auch wenn sich <strong>die</strong>ser Traum sicher nie erfüllen lassen<br />

wird, so zielt doch <strong>die</strong> Hoffnung älterer Menschen darauf,<br />

<strong>die</strong>ses höhere Lebensalter zumindest auch in einer körperlichen<br />

und psychischen Situation erleben zu können, <strong>die</strong> ihren<br />

Vorstellungen von Lebensqualität und Würde entspricht.<br />

Und <strong>die</strong>se Hoffnung sollten wir jetzt und in Zukunft, soweit<br />

es eben geht, zu erfüllen versuchen.<br />

So ist es auch keine übertriebene Geschäftigkeit, wenn<br />

Kongresse, Tagungen, Symposien und Workshops speziell<br />

über demenzielle Erkrankungen im höheren Lebensalter in<br />

rascher Aufeinanderfolge stattfinden. Das Zukunftsforum<br />

Demenz sieht hierin <strong>die</strong> Überwindung der früheren Resignation<br />

und den Versuch, den sich im demografischen Wandel<br />

so dringend stellenden Aufgaben der rasch anwachsenden<br />

Zahl <strong>Demenzkranker</strong> nachzukommen. Sicher werden sich<br />

hierzu in absehbarer Zeit keine generellen Lösungen finden<br />

lassen, aber <strong>die</strong> bewusste und gezielte Bearbeitung eines<br />

vorliegenden Problems besteht eben darin, Einzelerkenntnisse<br />

zusammenzutragen und miteinander so zu verbinden,<br />

dass sich – wenn auch keine allgemeingültige Antwort zu<br />

finden sein wird – zumindest doch Teilantworten ergeben<br />

werden. Das war das Ziel der bisherigen 33 Workshops des<br />

Zukunftsforum Demenz. Trotz der großen Zahl der durchgeführten<br />

Veranstaltungen ergeben sich keine Wiederholungen<br />

und wenn ein Thema zum zweiten Mal aufgegriffen<br />

wurde, dann unter neuen gesundheitspolitischen Vorstellungen.<br />

Diesmal standen spezielle <strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> im Mittelpunkt.<br />

Die Demenzkrankheit ist progre<strong>die</strong>nt und in ihren verschiedenen<br />

Abschnitten häufig von funktionellen Defiziten


egleitet. Und fraglos gestalten gerade <strong>die</strong>se Defizite den<br />

Umgang mit den dementen Patienten in vielerlei Hinsicht<br />

problematisch. Der Arzt, <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>kraft und <strong>die</strong> Therapeuten<br />

sehen sich bei dementen Patienten mit einem Patiententypus<br />

konfrontiert, der in vielen Fällen in keiner Weise den<br />

Patienten entspricht, <strong>die</strong> einen einfachen und zumeist angenehmen<br />

Umgang garantieren. Für <strong>die</strong>sen 33. Workshop des<br />

Zukunftsforum Demenz wurden einige Problemfelder im<br />

pflegerischen Umgang herausgegriffen.<br />

Zu den pflegerischen <strong>Herausforderungen</strong> im Umgang<br />

mit verhaltensgestörten bzw. deliranten Demenzpatienten<br />

kommt, dass <strong>die</strong> Verfügbarkeit effizienter Interventionsmöglichkeiten<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong>se Patienten eingeschränkt ist. In <strong>die</strong>sem<br />

Sinne bildeten <strong>die</strong> vorliegenden Erkenntnisse über Störungen<br />

und altersbedingte Veränderungen des Schluckens<br />

und <strong>die</strong> Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen<br />

bzw. <strong>die</strong> daraus entstehenden Konsequenzen einen Schwerpunkt<br />

des Workshops. Der andere wurde auf Optimierung<br />

gelegt: medikamentöse Versorgung, Zusammenarbeit von<br />

Angehörigen und Polizei und Sturzprävention.<br />

Nach einer kurzen Einführung durch meine Person, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Bedeutung der Qualifizierung <strong>für</strong> den Bereich pflegerische<br />

Probleme beim Demenzkranken hervorhob, referierte zuerst<br />

Dr. Heiner Melchinger aus Hannover. In seinen detaillierten<br />

Ausführungen wurden auf der einen Seite <strong>die</strong> Defizite in der<br />

ambulanten Versorgung deutlich gemacht, auf der anderen<br />

Seite zeigte er aber auch Strategien auf, wie <strong>die</strong> Problembereiche<br />

angegangen werden könnten. Allerdings müsste<br />

dazu aus meiner persönlichen Sicht ein Systemwandel im<br />

Gesundheitswesen erfolgen, den ich zurzeit nicht erkennen<br />

kann.<br />

Nach Dr. Melchinger widmete sich Professor Dr. Hans-Joachim<br />

Naurath einem der pflegerischen Hauptprobleme –<br />

dem Sturz. Der Sturz bei Demenzkranken hat immer eine<br />

multifaktorielle Ursache, so Professor Naurath. Insbesondere<br />

Alterungsprozess, Multimorbidität, Multimedikation und<br />

Malnutrition führen zu Sarkopenie (Muskelabbau) und da-


mit zum Kraftverlust. Dieser zieht dann den Sturz nach sich.<br />

Uwe Brucker, Fachbereichsleiter <strong>Pflege</strong>rische Versorgung<br />

des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen,<br />

ging auf <strong>die</strong> häufigsten Ursachen und Begründungen<br />

<strong>für</strong> freiheitsentziehende Maßnahmen ein. Dabei<br />

hinterfragte er kritisch das zurzeit bestehende Entscheidungsnetzwerk<br />

bei Fixierung im Hinblick auf seine Praktikabilität<br />

im täglichen pflegerischen Ablauf. Im Mittelpunkt<br />

des gesamten Referates stand aber immer <strong>die</strong> Aussage<br />

„Fixierung ist Gewalt an <strong>Pflege</strong>bedürftigen“ und wir sollten<br />

ihr mit den uns zur Verfügung stehenden Erkenntnissen und<br />

anwendbaren Möglichkeiten entgegenwirken.<br />

Im Vortrag von Professor Dr. Martina Hielscher-Fastabend<br />

wurde deutlich, dass es sich beim Thema Schluckstörungen<br />

bei älteren Kranken noch immer um ein großes Tabuthema<br />

handelt. Wir wissen zwar inzwischen einiges über <strong>die</strong> Störungen<br />

und altersbedingten Veränderungen des Schluckens,<br />

stehen aber der Diagnostik und speziellen Therapie von<br />

Schluckstörungen bei altersabhängigen Erkrankungen wie<br />

der Demenz noch relativ hilflos gegenüber.<br />

Der anschließende Vortrag von Polizeioberrat Christoph<br />

Badenhop war von der Praxis geprägt. Christoph Badenhop<br />

machte auf der einen Seite deutlich, dass <strong>die</strong> Polizei recht<br />

vielfältige Aufgaben gegenüber hilflosen und vermissten<br />

Personen hat, aber andererseits in ihrer Handlungsweise<br />

schnell an ihre Grenzen kommt. Deutlich wurde auch, dass<br />

das Thema Demenz bisher in Niedersachsen noch nicht konkret<br />

aufgearbeitet wurde. Die Aktion in Rheinland-Pfalz wurde<br />

beispielgebend dargestellt und kann Denkanstoß sein.<br />

Insgesamt war es ein sehr praxisbezogener und spannender<br />

Vortrag, der <strong>die</strong> Problematik mit weglaufenden älteren Menschen,<br />

hier meistens Demenzkranke deutlich machte.<br />

Abschließend referierte Rolf Höfert, Geschäftsführer des<br />

Deutschen <strong>Pflege</strong>verbandes, über Gerichtsurteile zur Fixierung<br />

und zum Sturz. In bekannter Art, Probleme kurz und klar<br />

zu definieren, machte er am Beispiel einiger Gerichtsurteile<br />

deutlich, wie sich zurzeit <strong>die</strong> Rechtslage <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>kräfte


im Hinblick auf Sturz und Fixierung darstellt. Abschließend<br />

zog er <strong>die</strong> Folgerungen aus den vorliegenden Gerichtsurteilen<br />

und gab Tipps <strong>für</strong> <strong>die</strong> tägliche <strong>Pflege</strong>praxis.<br />

Dieser 33. Workshop zeigte wieder einmal auf, welch riesiges<br />

Problemfeld <strong>für</strong> uns alle <strong>die</strong> Demenzkrankheit darstellt.<br />

Die Herausforderung, <strong>die</strong>se Krankheit zu bewältigen,<br />

richtet sich nicht nur an jeden Forscher, jeden Arzt, jede <strong>Pflege</strong>kraft,<br />

sondern an jeden Einzelnen von uns in seiner Eigenschaft<br />

als Mitglied der Gemeinschaft der Bürger. Professor<br />

Dr. Eberhard Lungerhausen drückte es 1992 in seinem Buch<br />

„Demenz“ so aus: „Es gibt vieles zu forschen und zu untersuchen,<br />

noch mehr ist zu tun; und über alledem sollte das<br />

Nachdenken nicht vergessen werden, das sich vielleicht dadurch<br />

erleichtert, weil jeder von uns eines Tages alt sein wird<br />

und vielleicht Hilfe benötigt. Denkt man über das Maß der<br />

Hilfe nach, <strong>die</strong> man in <strong>die</strong>sem Fall einst erwartet, so wird es<br />

vielleicht auch leichter, <strong>die</strong> Frage zu beantworten, welche<br />

Hilfen wir heute geben und entwickeln müssen.“<br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen


Herausgeber<br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen<br />

St. Elisabeth-Krankenhaus<br />

Lehrstuhl <strong>für</strong> Geriatrie der<br />

Universität Witten-Herdecke<br />

Tönisheider Str. 24<br />

42553 Velbert-Neviges


Referenten des Workshops<br />

Im Rahmen der Fachtagung führten Experten aus unterschiedlichen<br />

Bereichen einen fachübergreifenden Dialog zum<br />

Thema „<strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong>“.<br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen<br />

Chefarzt Geriatrische Klinik am St. Elisabeth-Krankenhaus,<br />

Lehrstuhl <strong>für</strong> Geriatrie der Universität<br />

Witten-Herdecke, Velbert<br />

Dr. phil. Heiner Melchinger<br />

Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung Hannover,<br />

Klinik <strong>für</strong> Medizinische Rehabilitation und Geriatrie,<br />

Arbeitsbereich Versorgungsforschung, Hannover<br />

Professor Dr. med. Hans-Joachim Naurath<br />

Chefarzt Krankenhaus St. Josef-Stift, Zentrum <strong>für</strong> Altersmedizin/Geriatrie,<br />

Celle<br />

Uwe Brucker<br />

Fachgebietsleiter <strong>Pflege</strong>rische Versorgung, Medizinischer<br />

Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e.V.<br />

(MDS), Essen<br />

Professor Dr. Martina Hielscher-Fastabend,<br />

Pädagogische Hochschule Ludwigsburg,<br />

Institut <strong>für</strong> allgemeine Sonderpädagogik,<br />

Ludwigsburg<br />

Christoph Badenhop<br />

Polizeioberrat & Leiter Einsatz,<br />

Polizeiinspektion Ost,<br />

Hannover<br />

Rolf Höfert<br />

Experte <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong>recht, Geschäftsführer Deutscher<br />

<strong>Pflege</strong>verband e.V., Neuwied


Impressum<br />

© 2011 Zukunftsforum Demenz<br />

Postfach 11 13 53<br />

60048 Frankfurt am Main<br />

E-Mail: zukunftsforum@demenz.de<br />

www.zukunftsforum-demenz.de<br />

Redaktion, Gestaltung und Produktion:<br />

Medical Tribune<br />

Verlagsgesellschaft mbH Wiesbaden<br />

April 2011<br />

Printed in Germany<br />

ISBN 978 -3-938748-30-5


Inhalt<br />

Professor Dr. med. Ingo füsgen<br />

<strong>Aktuelle</strong> <strong>Herausforderungen</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong> 11<br />

Dr. phil. Heiner Melchinger<br />

Die aktuelle Versorgungslage<br />

muss verbessert werden! 17<br />

Professor Dr. med. Hans-Joachim Naurath<br />

Stürze: Welche Optionen gibt es<br />

<strong>für</strong> Demenzpatienten? 25<br />

Uwe Brucker<br />

Fixierung verschlechtert <strong>die</strong><br />

medizinische Versorgung 31<br />

Professor Dr. Martina Hielscher-Fastabend<br />

Dysphagie: ein unterschätztes Problem 41<br />

Christoph Badenhop<br />

Mit einfachen Maßnahmen <strong>die</strong> Arbeit<br />

der Polizei erleichtern 51<br />

Rolf Höfert<br />

Urteile zu Fixierung und Sturz 57<br />

Es gibt noch vieles zu verbessern 65<br />

Zukunftsforum Demenz 69


Probleme bei der Gesundheitsversorgung<br />

<strong>Aktuelle</strong> <strong>Herausforderungen</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong><br />

Professor Dr. med. Ingo Füsgen<br />

Im nächsten Jahrzehnt drohen den EU-Staaten zum Teil dramatische<br />

Engpässe in der Gesundheitsversorgung – eine<br />

Herausforderung <strong>für</strong> unsere Gesundheitspolitik. Altersabhängige<br />

Krankheiten werden dabei aufgrund des demografischen<br />

Wandels im Mittelpunkt aller Überlegungen zu stehen<br />

haben. Dies trifft im besonderen Maße <strong>für</strong> <strong>die</strong> Demenz<br />

zu, weil sie sowohl eine medizinische als auch eine soziale<br />

Herausforderung darstellt.<br />

Nach Schätzungen der EU-Kommission könnten<br />

den europäischen Gesundheitssystemen 2020 bis<br />

zu zwei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Dies gilt insbesondere<br />

auch <strong>für</strong> Deutschland, wo bereits heute<br />

300 000 <strong>Pflege</strong>kräfte fehlen. Zu wenig Ärzte und<br />

zu wenig <strong>Pflege</strong>kräfte werden den demografischen<br />

Wandel mit massivem Anstieg älterer chronisch<br />

Kranker nicht schaffen können. Ein möglicher Ausweg<br />

wird sein, <strong>die</strong> Gesundheitsberufe attraktiver<br />

zu gestalten. Dies schließt Initiativen zur Qualitäts-<br />

Prof. Dr. med.<br />

sicherung und eine Balance zwischen Berufs- und Ingo Füsgen<br />

Privatleben zum Schutz der Gesundheit von Fachkräften<br />

ein.<br />

Besondere Probleme ergeben sich im Umgang mit Demenzkranken,<br />

deren Zahl sich nach aktuellen Schätzungen<br />

in den nächsten 15 bis 20 Jahren durch eine zunehmend älter<br />

werdende Bevölkerung verdoppeln wird.<br />

Der Krankheitsverlauf der Alzheimer-Demenz (Abbildung<br />

1) ist gekennzeichnet von beginnenden leichten kognitiven<br />

Störungen bis hin zur schwersten <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

und zum vorzeitigen Tod. Während der Krankheitsbeginn ein<br />

11


12<br />

besonderes Problem <strong>für</strong> den Betroffenen und seine Umgebung<br />

darstellt, ist der mittlere Krankheitsabschnitt in der<br />

Regel aufgrund des zunehmenden Verlusts der Selbstständigkeit<br />

durch Verhaltensauffälligkeiten geprägt, <strong>die</strong> mit weiteren<br />

Funktionsdefiziten (Schluck- und Sprachstörungen, Inkontinenz,<br />

Bewegungsstörungen) einhergehen und schnell<br />

zur <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit führen.<br />

Differenzialdiagnose der Verhaltensauffälligkeiten<br />

Verhaltensauffälligkeiten mit Aggressivität, Weglauftendenzen,<br />

Störungen des Tag-Nacht-Rhythmus oder Sturzgefährdung<br />

fordern <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong> besonders heraus. Diese Verhaltensauffälligkeiten<br />

finden sich in besonders hohem Maße in<br />

der stationären Betreuung, wo aufgrund von Personalmangel<br />

oft <strong>die</strong> nötige Zeit <strong>für</strong> den Patienten fehlt (Abbildung 2).<br />

In der Diagnostik unterscheiden wir bei den Verhaltensauf-<br />

Verlauf der Alzheimer-Demenz<br />

klinisches Bild<br />

Frühdiagnose<br />

Kognitive Defizite<br />

Verlust der Selbstständigkeit<br />

Moderate Demenz Schwere Demenz<br />

Verhaltensauffälligkeiten<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9<br />

Jahre<br />

Abbildung 1: Im Verlauf der Alzheimer-Demenz ist vor allem der mittlere Krankheitsabschnitt<br />

aufgrund des zunehmenden Verlusts der Selbstständigkeit durch Verhaltensauffälligkeiten<br />

geprägt. Quelle: Füsgen<br />

Tod


fälligkeiten zwischen psychotischen Störungen und affektiven<br />

Störungen. Während man <strong>die</strong> affektiven Störungen<br />

recht gut durch eine globale interdisziplinäre Betreuung mit<br />

Zuwendung und Überwachung beeinflussen kann, bleibt <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> psychotischen Störungen meist nur der Einsatz von Neuroleptika<br />

übrig.<br />

Neben den Verhaltensstörungen haben in der Betreuung<br />

des Demenzkranken noch delirante Symptome<br />

eine hohe Bedeutung, <strong>die</strong> häufig fälschlicherweise als<br />

Verhaltensstörungen interpretiert werden. Das Delir<br />

tritt im Gegensatz zu den Verhaltensstörungen bei<br />

Demenzkranken akut auf, und zwar in jedem Stadium<br />

der Demenz und verändert sich im weiteren Verlauf.<br />

Als mögliche Auslöser eines Delirs kommen Umgebungswechsel,<br />

Medikamente, Infektionen, aber auch diagnostische<br />

und therapeutische Maßnahmen infrage. Häufig findet sich<br />

Verhaltensauffälligkeiten bei Demenz<br />

7 %<br />

10 %<br />

10 %<br />

6 %<br />

4 %<br />

11 %<br />

4 %<br />

30 %<br />

18 %<br />

Unruhe Schlafstörungen Depressivität Wahn Aggression<br />

Angst Weglaufen Halluzinationen gestörtes Essverhalten<br />

Abbildung 2: Häufigkeiten der Verhaltensauffälligkeiten nach einer Expertise „Heimbewohner<br />

mit psychischen Störungen“ der Deutschen Gesellschaft <strong>für</strong> Gerontopsychiatrie u.<br />

-psychotherapie e.V. im Auftrag des Bundesministeriums <strong>für</strong> Gesundheit (April 2003).<br />

13


14<br />

beim Demenzkranken ein Mischbild aus Grundkrankheit<br />

und Delir, was <strong>die</strong> Diagnostik im Einzelverlauf sehr schwierig<br />

macht – insbesondere wenn es sich um ein hypoaktives<br />

Delir handelt.<br />

Therapie der Grundkrankheit steht im Fokus<br />

Sowohl <strong>für</strong> <strong>die</strong> Verhaltensstörung als auch <strong>für</strong> das Delir<br />

ist <strong>die</strong> Behandlung der Grundkrankheit bzw. der Multimorbidität<br />

Voraussetzung jeder therapeutischen Maßnahme.<br />

Se<strong>die</strong>rende Medikation und spezifische Betreuung je nach<br />

Ausprägung der Verhaltensstörung bzw. des Delirs können<br />

nur zusätzliche weiterführende Maßnahmen sein, <strong>die</strong> eine<br />

Therapie der Grunderkrankung in ihrem Einfluss auf Prognose<br />

und Langzeitverlauf nicht ersetzen können. Dennoch wird<br />

Metaanalyse: Memantine bei moderater bis schwerer<br />

Alzheimer-Demenz<br />

Kognition (ADAS-cog, SIB)<br />

Placebo Memantine<br />

SMD: 0,26 (p < 0,001)<br />

Verhalten (NPI)<br />

Placebo Memantine<br />

SMD: 0,12 (p < 0,03)<br />

SMD = Mittlere Standardabweichung (= Effektgröße)<br />

Alltagsaktivitäten (ADAS-ADL 19/23)<br />

Placebo Memantine<br />

SMD: 0,18 (p < 0,001)<br />

Gesamteindruck (CIBIC-Plus)<br />

Placebo Memantine<br />

SMD: 0,22 (p < 0,001)<br />

Abbildung 3: Die Auswertung von insgesamt sechs placebokontrollierten Doppelblindstu<strong>die</strong>n<br />

unterstreicht in verschiedenen Messparametern <strong>die</strong> Vorteile einer Memantine-Therapie.<br />

Quelle: nach Winblad et al., Dement Geriatr Cogn Disord 2007


heute selbst in spezialisierten Kliniken anstelle der antidementiven<br />

Therapie immer noch allzu oft zur mechanischen<br />

und medikamentösen Ruhigstellung gegriffen – auch in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht sind dringend Verbesserungen notwendig.<br />

Am Beispiel des Memantine-Einsatzes zur Behandlung<br />

der Demenz wird deutlich, dass sich hier sehr wohl schon<br />

<strong>die</strong> Alltagsaktivitäten und das Verhalten des Demenzkranken<br />

positiv beeinflussen lassen (Abbildung 3). Dies gilt sogar,<br />

wenn Verhaltensstörungen bei mit Cholinesterasehemmern<br />

behandelten Patienten auftreten: In einer entsprechenden<br />

Stu<strong>die</strong> (Abbildung 4) wurden unter der Zugabe von Memantine<br />

nicht nur signifikante Verbesserungen in den Symptomenkomplexen<br />

Agitation/Aggressivität, Reizbarkeit und Appetit/Essverhalten<br />

im Vergleich zu Placebo registriert – auch<br />

Spezifische Wirksamkeit von Memantine auf<br />

Verhaltensstörungen bei ChEH-behandelten Patienten<br />

NPI-Score<br />

Veränderung der LS-Mittelwerte zum Ausgangswert (±SE)<br />

-0,6<br />

-0,4<br />

-0,2<br />

0,0<br />

0,2<br />

0,4<br />

0,6<br />

0,8<br />

Agitation/<br />

Aggression<br />

p = 0,001<br />

n = 403 MMSE 14–5<br />

Reizbarkeit/<br />

Labilität<br />

Appetit/<br />

Essverhalten<br />

Memantine # (20 mg/d)<br />

Placebo # p = 0,045<br />

p = 0,005<br />

Verbesserung<br />

Verschlechterung<br />

# stabil auf Donepezil<br />

Abbildun g 4: Bei stabil auf einen Cholinesterasehemmer (ChEH) eingestellten Patienten führte<br />

<strong>die</strong> zusätzliche Gabe von Memantine nach 24 Wochen zu signifikanten Verbesserungen im<br />

NPI-Score (Neuropsychiatrisches Inventar). Quelle: nach Cummings et al., Neurology 2006<br />

15


16<br />

<strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>personen derjenigen Patienten, <strong>die</strong> Memantine<br />

erhielten, registrierten im Stu<strong>die</strong>nzeitraum von 24 Wochen<br />

weniger mit Agitation assoziierte Belastungen.<br />

Die Probleme der nächtlichen Unruhe, des aggressiven<br />

Verhaltens, der Nahrungsverweigerung und des Herum-<br />

irrens betreffen nicht nur den häuslichen oder den Heimbereich,<br />

sondern natürlich auch das Krankenhaus. Eine gerade<br />

fertiggestellte Pilotstu<strong>die</strong> von drei Geriatrischen Kliniken<br />

macht <strong>die</strong>s deutlich: Mit fast 100 % haben Delirsymptome<br />

bzw. Verhaltenssymptome eine hohe Bedeutung bei demenziellen<br />

Patienten in der Krankenhausbetreuung. Die ergriffenen<br />

Maßnahmen sind nicht immer optimal – hier besteht<br />

Handlungsbedarf, der sowohl <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>qualität stützt als<br />

auch <strong>für</strong> den Patienten Komplikationsvermeidung und Lebensqualität<br />

bedeutet. Vermeiden jedweder Fixierung ist<br />

der beste therapeutische Weg.<br />

Fazit<br />

Die massive Zunahme der Demenzerkrankungen, <strong>die</strong> bereits<br />

begonnen hat und sich weiter fortsetzen wird, stellt<br />

das Gesundheitssystem und <strong>die</strong> Gesellschaft vor große <strong>Herausforderungen</strong>.<br />

Nur wenn strukturelle und therapeutische<br />

Verbesserungen Hand in Hand gehen, werden sich <strong>die</strong>se<br />

<strong>Herausforderungen</strong> bewältigen lassen, zu denen insbesondere<br />

Verhaltensauffälligkeiten gehören.


Demenzspezifische Fortbildung <strong>für</strong><br />

Hausärzte durchführen<br />

Die aktuelle Versorgungslage<br />

muss verbessert werden!<br />

Dr. phil. Heiner Melchinger<br />

Unter- und Fehlversorgung sind in der Behandlung <strong>Demenzkranker</strong><br />

keine Ausnahme, sondern der weitverbreitete Alltag.<br />

Die Ursachen sind vielfältig, jedoch kommt dem Hausarzt<br />

eine zentrale Rolle zu – auch in den möglichen Auswegen aus<br />

<strong>die</strong>ser Situation.<br />

Weltweit werden immense Forschungskapazitäten<br />

mit dem Ziel eingesetzt, den Ursachen der<br />

Alzheimer-Demenz näher zu kommen und kausale<br />

Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Mehrere<br />

interessante Therapieoptionen sind in der Erprobung,<br />

aber bis heute vermag noch niemand vorauszusagen,<br />

wann ein wirklicher Durchbruch in der<br />

Behandlung von Demenzen erreicht sein wird.<br />

Von neuen Forschungsergebnissen, <strong>die</strong> in immer<br />

dichterer Folge berichtet werden, haben <strong>die</strong><br />

Dr. phil.<br />

heute lebenden Demenzkranken noch keinen Nut- Heiner Melchinger<br />

zen. Nach wie vor stellen zwei Substanzgruppen<br />

(Memantine und Acetylcholinesterasehemmer) <strong>die</strong><br />

einzigen zur Verfügung stehenden Therapieoptionen mit<br />

evidenzbasiertem Wirksamkeitsnachweis dar. Diese Antidementiva<br />

haben nur eine begrenzte Wirkung.<br />

Unbestritten ist aber, dass der Einsatz <strong>die</strong>ser Medikamente,<br />

eingebettet in ein multiprofessionelles Behandlungsprogramm,<br />

in dem demenzspezifische Kompetenzen<br />

von pflegerischen Berufen und von Berufen aus der Heilund<br />

Hilfsmittelversorgung große Bedeutung haben, eine<br />

Zeit lang den kognitiven Verfall aufhalten oder zumindest<br />

verlangsamen kann. Damit wird den an Demenz Erkrankten<br />

17


18<br />

und deren Angehörigen ein Zugewinn an Lebensqualität ermöglicht.<br />

Hausarzt als Dreh- und Angelpunkt<br />

Der Verlauf der Demenzerkrankung hängt wesentlich von<br />

der rechtzeitigen Diagnostik und der initialen Versorgung ab.<br />

Hier kommt dem Hausarzt eine wesentliche Rolle zu, <strong>die</strong> er<br />

als Koordinator eines multidisziplinären Therapieteams auch<br />

in der Langzeitbetreuung beibehält.<br />

Bei rechtzeitigem Beginn und konsequenter Aufrechterhaltung<br />

der Versorgung kann der Langzeitverlauf positiv beeinflusst<br />

und <strong>die</strong> Lebensqualität der Patienten, ihrer Angehörigen<br />

und Betreuer verbessert werden. Doch <strong>die</strong>s ist leider nur<br />

selten <strong>die</strong> Realität.<br />

Ärzte-Einschätzung: Wie viel Prozent der Patienten<br />

werden vom Therapiefortschritt erreicht?<br />

Herz-/Kreislauf-<br />

Erkrankungen<br />

61 %<br />

Asthma Krebs Depression Demenz<br />

59 %<br />

51 %<br />

40 %<br />

20 %<br />

Ärzte-Repräsentativumfrage von NAV-Virchowbund + Verband Forschender Arzneimittelhersteller 2008<br />

Abbildung 5: In einer repräsentativen Befragung äußerten Ärzte <strong>die</strong> Einschätzung, dass nur<br />

20 % der Demenzkranken vom Therapiefortschritt erreicht werden – deutlich weniger als<br />

bei anderen Erkrankungen. Quelle: NAV-Virchowbund/VFA 2008


Eine repräsentative Ärztebefragung vom NAV-Virchowbund<br />

und vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller<br />

hat ergeben, dass nach Einschätzung der Ärzte nur 20 % der<br />

Demenzpatienten vom Therapiefortschritt erreicht werden –<br />

und damit deutlich weniger als bei anderen Erkrankungen<br />

(Abbildung 5).<br />

Die in <strong>die</strong>ser Erhebung „gefühlte“ Benachteiligung der<br />

Demenzkranken stimmt leider mit der Realität überein. Das<br />

zeigt z.B. <strong>die</strong> DIAS-Stu<strong>die</strong> der DGGPP: Von den 65 000 darin<br />

erfassten Patienten, <strong>die</strong> von ambulanten <strong>Pflege</strong><strong>die</strong>nsten<br />

betreut wurden, erhielten gerade einmal 18 % Acetylcholinesterasehemmer<br />

oder 11 % Memantine. Damit blieben zwei<br />

Drittel <strong>die</strong>ser Patienten unterversorgt (Abbildung 6).<br />

Legt man <strong>die</strong> in den Leitlinien der psychiatrischen/neurologischen<br />

Fachgesellschaften definierten Standards zur<br />

Medikamentöse Versorgung von Demenzpatienten<br />

Keine Antidementiva<br />

65 000 Patienten von 903<br />

ambulanten <strong>Pflege</strong><strong>die</strong>nsten<br />

55 %<br />

18 %<br />

16 %<br />

AChE<br />

11 %<br />

29 %<br />

Memantine<br />

Andere<br />

Antidementiva<br />

(überwiegend Ginkgobiloba-Präparate)<br />

Abbildung 6: Die DIAS-Stu<strong>die</strong> hat gezeigt: Nur etwa ein Drittel der von ambulanten <strong>Pflege</strong><strong>die</strong>nsten<br />

betreuten Demenzpatienten erhält evidenzbasierte Antidementiva.<br />

Quelle: nach Grass-Kapanke et al., 2008<br />

19


20<br />

Diagnostik und Behandlung von Demenzen als Messlatte<br />

zugrunde, stellt sich <strong>die</strong> gegenwärtige Versorgungslage<br />

ebenfalls durch eine erhebliche Unter- und Fehlversorgung<br />

dar.<br />

Bei weniger als 20 % der Alzheimer-Patienten wird eine<br />

leitliniengerechte Diagnostik durchgeführt. Insgesamt erhalten<br />

weniger als ein Drittel der Patienten einen Behandlungsversuch<br />

mit Antidementiva und demenzkranke Heimbewohner<br />

deutlich seltener als zu Hause gepflegte Patienten.<br />

Neuropsychiatrische Symptome der Demenz (Agitiertheit,<br />

Aggressionen, Wahnvorstellungen u.a.) werden häufig eher<br />

mit Neuroleptika behandelt.<br />

Der GEK-Arzneimittelreport 2009 macht deutlich, dass<br />

<strong>die</strong> Verordnung von Antidementiva mit zunehmendem Alter<br />

Verordnung von Neuroleptika und Antidementiva in<br />

Abhängigkeit vom Alter<br />

Prozent<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

65–69 70–74 75–79 80–84 85–89 90–95 95–<br />

Neuroleptika<br />

Antidementiva<br />

Abbildung 7: Mit zunehmendem Alter nimmt <strong>die</strong> Verordnung von Antidementiva ab, während<br />

gleichzeitig der Anteil der verordneten Neuroleptika steigt.<br />

Quelle: GEK-Arzneimittelreport 2009


der Patienten abnimmt, während gleichzeitig der Anteil der<br />

verordneten Neuroleptika zunimmt (Abbildung 7). Diese Praxis<br />

ist höchst bedenklich, da Neuroleptika <strong>für</strong> Demenzkranke<br />

mit schweren unerwünschten Nebenwirkungen verbunden<br />

sein können und auch mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko<br />

behaftet sind.<br />

Die Schwelle, einem Verdacht auf eine demenzielle Entwicklung<br />

durch gezielte diagnostische Maßnahmen nachzugehen<br />

und bei Erhärtung der Verdachtsdiagnose einen<br />

Behandlungsversuch mit Antidementiva durchzuführen,<br />

ist bei der Mehrzahl der niedergelassenen Ärzte eher hoch<br />

angesetzt. Die Ursachen <strong>für</strong> <strong>die</strong>se defizitäre Versorgungslage<br />

liegen in einem vielschichtigen Zusammenspiel aus<br />

versorgungsstrukturellen Gegebenheiten (z.B. starre Zuständigkeitsgrenzen<br />

von Kranken- und <strong>Pflege</strong>versicherung),<br />

unterschiedlichen fachlichen Einschätzungen (z.B. bei der<br />

Bewertung des Nutzens von Antidementiva) und persönlichen<br />

Abwehrhaltungen.<br />

Strukturelle Gründe der Unterversorgung<br />

n Ängste vor Überschreitung des Arzneimittelbudgets:<br />

Besonders deutlich wird <strong>die</strong>s anhand des folgenden Zitats<br />

eines Sprechers der Hausärzte einer Region:<br />

„Kein Kollege kann unter den gegebenen Budgetbedingungen<br />

daran interessiert sein, eine suffiziente Demenztherapie<br />

anzubieten oder sich gar zum Demenzpapst der Region zu<br />

machen, dem dann <strong>die</strong> Kollegen <strong>die</strong> teuren Patienten überweisen.<br />

Unsere Arzneimittelbudgets sind jetzt schon überschritten.<br />

Wenn ich jetzt allen betroffenen Patienten Antidementiva<br />

anbieten würde, könnte ich gleich Konkurs anmelden.“<br />

Allerdings wird <strong>die</strong> von Antidementiva ausgehende Gefahr<br />

der Budgetüberschreitung erheblich überschätzt. Denn<br />

bei leitliniengerechter Behandlung aller Demenzpatienten<br />

wird das Budget einer Praxis nur geringfügig belastet.<br />

Bundesweit ist kein Fall bekannt, bei dem ein Arzt wegen<br />

begründeter Verordnung von Antidementiva in Regress genommen<br />

worden wäre.<br />

21


22<br />

n Sektorale Gliederung der Versorgung: Durch <strong>die</strong> starren<br />

Zuständigkeitsgrenzen der Kostenträger wird eine suffiziente<br />

Demenzversorgung behindert. So bedeutet der Verzicht<br />

auf Antidementiva zwar einen wirtschaftlichen Vorteil <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> Krankenkassen – weshalb <strong>die</strong>se an einer entsprechenden<br />

Verordnung nicht wirklich interessiert sind. Gleichzeitig aber<br />

ist <strong>die</strong>ser Verzicht mit erheblichen Mehrkosten <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

und Sozialhilfe verbunden, was bei einer volkswirtschaftlichen<br />

Gesamtbetrachtung eine Verschwendung<br />

von Ressourcen bedeutet (Abbildung 8). Denn wenn <strong>die</strong> Heimunterbringung<br />

eines Demenzpatienten auch nur um einen<br />

Monat hinausgezögert werden könnte, dann würde der einge-<br />

sparte Betrag rechnerisch ausreichen, um bei drei Patienten<br />

Behandlungsversuche über sechs Monate zu unternehmen<br />

Kostenvergleich in der Versorgung von<br />

Demenzpatienten<br />

<strong>Pflege</strong>versicherung<br />

Ergänzung Sozialhilfe<br />

<strong>Pflege</strong>versicherung +<br />

Sozialhilfe<br />

Antidementiva<br />

130 �<br />

1000 �<br />

1300 �<br />

2300 �<br />

Abbildung 8: Ein Vergleich der Kosten macht deutlich: Die Verordnung von Antidementiva<br />

ist ein vergleichsweise geringer Kostenfaktor in der Versorgung von Demenzpatienten.<br />

Quelle: Melchinger H., 2009


und um den erhöhten Behandlungsaufwand des Arztes mit<br />

einem Fall-Honorar von 100 Euro zu vergüten.<br />

n Unterschiede in der regionalen Versorgungspraxis: Die<br />

Behandlung mit Antidementiva ist durch teilweise extreme,<br />

fachlich nicht begründbare, regionale Disparitäten gekennzeichnet.<br />

Das bedeutet: Ob ein <strong>Demenzkranker</strong> einen Behandlungsversuch<br />

mit Antidementiva erhält oder nicht,<br />

kann von seiner Wohnregion abhängen.<br />

n Überschreitung der Leistungsmöglichkeiten der Praxis:<br />

Manche Hausärzte <strong>für</strong>chten, den Erwartungen der Angehörigen<br />

aus zeitlichen und wirtschaftlichen Gründen nicht gerecht<br />

werden zu können.<br />

Fachliche Gründe der Unterversorgung<br />

n Zweifel an der Wirksamkeit von Antidementiva: Diese<br />

Zweifel werden dadurch verstärkt, dass es zur Diagnostik<br />

und Therapie von Demenzen mehrere Leitlinien gibt, <strong>die</strong> sich<br />

teilweise widersprechen. In der neuen S3-Leitlinie Demenz,<br />

<strong>die</strong> von insgesamt 28 Institutionen konsentiert wurde, werden<br />

den verfügbaren Antidementiva (Memantine und Cholinesterasehemmer)<br />

höchste Evidenzgrade zugewiesen und<br />

der Einsatz <strong>die</strong>ser Medikamente wird daher uneingeschränkt<br />

empfohlen. Leider schloss sich <strong>die</strong> Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />

Allgemeinmedizin und Familienmedizin der neuen S3-Leitlinie<br />

nicht an. Stattdessen beharrt sie auf der Gültigkeit ihrer<br />

eigenen Leitlinie aus dem Jahr 2008 – dort steht: „Alle Antidementiva<br />

weisen nur eine begrenzte bzw. nicht überzeugend<br />

nachgewiesene Wirkung auf.“<br />

n Uneindeutigkeit des Therapieerfolges: In der Demenztherapie<br />

besteht der therapeutische Effekt oft darin, dass sich der<br />

kognitive Zustand des Patienten nicht weiter oder auch nur<br />

langsamer verschlechtert. Doch es widerstrebt dem normalen<br />

ärztlichen Denken, „keine Veränderung“ bereits als Therapieerfolg<br />

anzuerkennen. So wird eine Stagnation im Krankheitsverlauf<br />

oft nicht wirklich als ein positiver Therapieeffekt registriert.<br />

Die Behandlungsabbrüche geschehen oft pragmatisch<br />

und ohne eine wissenschaftlich haltbare Rechtfertigung.<br />

23


24<br />

n Unkenntnis regionaler Versorgungsangebote: Die regional<br />

vorhandenen Hilfsangebote <strong>für</strong> Demenzkranke (von<br />

Beratungs-, <strong>Pflege</strong>- und Betreuungsangeboten bis hin zu<br />

Selbsthilfegruppen) sind den behandelnden Ärzten meist<br />

nur ausschnittweise bekannt und werden deshalb auch<br />

nicht in <strong>die</strong> Behandlung eingebunden. Häufig resultiert<br />

daraus ein unkoordiniertes Nebeneinander an Behandlung<br />

und anderen Hilfen, oft unterbleibt der Hinweis auf weitere<br />

Hilfsangebote auch gänzlich.<br />

Emotionale Gründe der Unterversorgung<br />

Die Behandlung von Demenzkranken liegt im untersten<br />

Bereich der Beliebtheitsskala ärztlicher Tätigkeiten. Vielen<br />

Ärzten fällt es auch schwer, <strong>die</strong> Betroffenen und ihre Angehörigen<br />

mit der Diagnose Demenz zu konfrontieren. Deshalb<br />

wird Demenz allzu oft als „altersbedingte Einschränkung“<br />

klassifiziert, was ebenfalls den Zugang zu einer suffizienten<br />

Versorgung erschwert.<br />

Fazit<br />

Wir müssen erreichen, dass den behandelnden Ärzten vor<br />

allem <strong>die</strong> wirtschaftliche Angst vor der Verordnung von Antidementiva<br />

genommen wird. Darüber hinaus brauchen wir<br />

eine demenzspezifische Fortbildung <strong>für</strong> Hausärzte, um <strong>die</strong><br />

Versorgungssituation zu verbessern. Die Hauptziele <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />

Zukunft sind daher:<br />

n regional organisierte, produktneutrale ärztliche Fortbildungsangebote<br />

zur Vermittlung von demenzspezifischen<br />

Behandlungskompetenzen und<br />

n automatische Herausrechnung der Antidementiva als<br />

Praxisbesonderheiten in den Richtgrößen-Vereinbarungen.


Stürze – Prävention und Management<br />

Welche Optionen gibt es <strong>für</strong><br />

Demenzpatienten?<br />

Professor Dr. med. Hans-Joachim Naurath<br />

Im Alter kommt es zu einer drastischen Zunahme des Sturzrisikos.<br />

Hauptdeterminanten <strong>die</strong>ser Risikoerhöhung sind<br />

muskuläre Schwäche sowie Beeinträchtigungen von Balance<br />

und Gang. Demenzen üben auf beide Risikofaktoren einen<br />

nachhaltig negativen Einfluss aus.<br />

Stürze können jeden in jedem Lebensalter treffen.<br />

In der Regel sind Unachtsamkeiten oder Unfälle<br />

<strong>für</strong> Stürze verantwortlich. Während ein Sturz bei<br />

kleineren Kindern in der Phase des Laufenlernens<br />

fast ausnahmslos glimpflich abläuft, wird es in den<br />

späteren Lebensphasen oft schmerzhaft – Hautabschürfungen<br />

und Prellungen sind dabei noch <strong>die</strong><br />

harmlosesten Folgen. Treppenstürze und Stürze<br />

aus dem Bett (bei Bettlägerigkeit) sind besonders<br />

folgenschwer.<br />

Prof. Dr. med.<br />

Zu <strong>die</strong>ser Risikokonstellation unseres Lebensall- Hans-Joachim Naurath<br />

tags können sich bei älteren Menschen eine Vielzahl<br />

zusätzlicher Faktoren hinzugesellen – zu den<br />

altersassoziierten Risikofaktoren zählen:<br />

n Muskelschwäche<br />

n Mangelernährung und Sarkopenie<br />

n Balance- und Gangstörungen infolge von Begleiterkrankungen<br />

(Morbus Parkinson, Apoplex, Demenz, Neuropathie)<br />

n Visusminderung<br />

n Mobilitätseinschränkungen (degenerative Gelenkerkrankungen,<br />

Osteoporose, Polyarthritis)<br />

n Störungen der Orthostase<br />

n Dranginkontinenz<br />

25


26<br />

Medikamente erhöhen<br />

das Sturzrisiko*<br />

n Neuroleptika<br />

n Antidepressiva<br />

n Benzodiazepine<br />

n Sedativa/Hypnotika<br />

n Opiate<br />

n Antihypertensiva<br />

n Multimedikation<br />

(≥ 5 Medikamente)<br />

* Van der Velde et al., Br J Clin Pharmacol<br />

2006; 63: 232–37<br />

Tabelle 1<br />

Gewichtsverlust als Prädiktor<br />

der Demenz<br />

Bei Patienten mit Demenz wird das Sturzrisiko<br />

in besonderem Maße noch durch zusätzliche<br />

demenzassoziierte Störungen sowie<br />

durch <strong>die</strong> oft zu beobachtende begleitende<br />

Mangelernährung verstärkt. So ist bekannt,<br />

dass Demenzpatienten viel stärker von physiologischen<br />

Umbaumechanismen betroffen<br />

sind als nicht demente Senioren. Demenzpatienten<br />

verlieren auch mehr Gewicht als<br />

Gleichaltrige ohne Demenz und oft geht <strong>die</strong>ser<br />

Gewichtsverlust den kognitiven Einbußen<br />

sogar zeitlich voraus. Daher sollte auch der Gewichtsverlust<br />

als möglicher Prädiktor einer demenziellen Erkrankung gewertet<br />

werden.<br />

Die Ursachen <strong>für</strong> <strong>die</strong>sen Gewichtsverlust sind zumindest<br />

in der präklinischen Phase unklar. Im weiteren Verlauf der<br />

Demenz aber wird der Gewichtsverlust durch eine mangelnde<br />

Nahrungszufuhr und ungünstige Nahrungsauswahl gefördert.<br />

Rolle der Altersgebrechlichkeit<br />

Die Altersgebrechlichkeit, im englischen Sprachraum als<br />

„Frailty“ bezeichnet, trägt ebenfalls entscheidend zur Erhöhung<br />

des Sturzrisikos im Alter bei. Ein zentrales Kennzeichen<br />

<strong>die</strong>ser Altersgebrechlichkeit ist <strong>die</strong> Sarkopenie – der progressive,<br />

unwillkürliche Verlust an Muskelkraft, Muskelmasse<br />

und Muskelqualität im Alter. Aber auch <strong>die</strong> Balance- und<br />

Gangstörungen, <strong>die</strong> in direktem Zusammenhang mit dem<br />

Kraftverlust stehen, tragen entscheidend zu dem aus der<br />

„Frailty“ resultierenden Erhöhung des Sturzrisikos bei.<br />

Stürze fördern auch <strong>die</strong> Angst vor neuen Stürzen. Dieser<br />

Verlust des Vertrauens in <strong>die</strong> eigene Gehfähigkeit führt nicht<br />

nur zu einem veränderten Gangbild („protektiver Gang“),<br />

sondern auch zur Reduktion der alltagsüblichen Aktivitäten.


Diese Immobilisierung führt einerseits direkt zu weiteren<br />

Kraftverlusten, fördert aber auch über einen reduzierten<br />

Energieverbrauch <strong>die</strong> Malnutrition. Aus <strong>die</strong>sen vielfältigen<br />

Zusammenwirkungen ergeben sich letztlich mehrere miteinander<br />

verknüpfte „Teufelskreise“, <strong>die</strong> sowohl <strong>die</strong> Altersgebrechlichkeit<br />

als auch das mit <strong>die</strong>ser assoziierte Sturzrisiko<br />

steigern (Abbildung 9).<br />

Weitere relevante Risikofaktoren <strong>für</strong> Stürze sind:<br />

n Medikamentöse Therapien (Tabelle 1)<br />

n Zentralnervöse Begleiterkrankungen (z.B. Parkinsonsyndrom,<br />

Schlaganfälle, Neuropathien)<br />

n Umgebungsfaktoren (z.B. „Stolperfallen“, nasse Bodenbeläge,<br />

ungeeignetes Schuhwerk; Tabelle 2).<br />

Auch <strong>die</strong> Folgen von Stürzen sind im höheren Lebensalter<br />

gravierender als in jungen Jahren. So sind weit über 80 %<br />

Frailty – zwei „Teufelskreise“<br />

Energieverbrauch↓<br />

Aktivität↓<br />

Behinderung<br />

„Protektiver Gang“<br />

Malnutrition<br />

Stoffwechsel↓<br />

Ganggeschwindigkeit↓<br />

Sarkopenie<br />

Kraft↓<br />

Abhängigkeit Stürze<br />

Alterungsprozesse<br />

Multimorbidität<br />

Multimedikation<br />

Immobilisierung Gestörtes Gleichgewicht<br />

Angst<br />

Abbildung 9: An der international als „Frailty“ bezeichneten Altersgebrechlichkeit sind viele<br />

Faktoren beteiligt, <strong>die</strong> sich über miteinander verknüpfte „Teufelskreise“ gegenseitig beeinflussen.<br />

Quelle: Naurath<br />

27


28<br />

der an Sturzfolgen verstorbenen Personen 75 Jahre und älter.<br />

Das Risiko <strong>für</strong> Verletzungen und Knochenbrüche ist bei<br />

älteren Menschen massiv erhöht.<br />

Möglichkeiten der Intervention<br />

Für den Älteren allgemein, aber <strong>für</strong> den Demenzpatienten<br />

im Besonderen, sind <strong>die</strong> adäquate Nährstoffzufuhr und <strong>die</strong><br />

Sicherstellung der Ernährung <strong>die</strong> Kernmaßnahme. Denn damit<br />

werden <strong>die</strong> Hauptrisikofaktoren Ernährungsmangel und<br />

Muskelschwäche, <strong>die</strong> das Sturzrisiko um den Faktor 4,4 erhöhen,<br />

am ehesten beeinflusst. Allerdings sind bei Demenzpatienten<br />

<strong>die</strong> Effekte einer Ernährungstherapie auf Kognition<br />

und Mortalität bisher nicht ausreichend untersucht. Von daher<br />

erfüllt <strong>die</strong> Umsetzung von Ernährungstherapie trotz aller<br />

Logik gegenwärtig nicht <strong>die</strong> Kriterien einer evidenzbasierten<br />

Empfehlung.<br />

Damit <strong>die</strong> adäquate Nährstoffzufuhr aber auch zum<br />

Kraftaufbau führt, ist ein entsprechendes Krafttraining erforderlich.<br />

Die Möglichkeiten hier<strong>für</strong> sind vielfältig und <strong>die</strong><br />

Erfahrungen zeigen, dass auch Demenzpatienten in <strong>die</strong>ser<br />

Hinsicht durchaus trainierbar<br />

sind.<br />

Die Sturzvermeidung durch<br />

Beeinflussung der Umgebungsfaktoren<br />

muss man im Wesentlichen<br />

den Angehörigen überlassen.<br />

Dennoch sollte das Thema<br />

im Beratungsgespräch unbedingt<br />

angesprochen werden. Zur Risikominderung<br />

gehört vor allem <strong>die</strong> Beseitigung von Stolperfallen.<br />

Eine ausreichende Beleuchtung sollte nicht nur<br />

vorhanden sein, sondern auch <strong>die</strong> Erreichbarkeit der Beleuchtungsquellen<br />

sollte gewährleistet sein. Darüber hinaus<br />

sollte auf geeignetes Schuhwerk ohne rutschige Sohlen oder<br />

Absätze geachtet werden.<br />

Eine wichtige ärztliche Aufgabe ist <strong>die</strong> Prüfung der Medikation<br />

auf deren mögliche Erhöhung des Sturzrisikos. Vor<br />

Stürze – Umgebungsfaktoren<br />

n Glatte/nasse/unebene Bodenoberflächen<br />

n Schuhwerk (rutschige Sohlen, Absätze)<br />

n „Stolperfallen“ (Verlängerungskabel, Teppichkanten,<br />

abgestellte Taschen/Müllbeutel)<br />

n Unzureichende/fehlende Beleuchtung<br />

Tabelle 2


allem <strong>die</strong> Indikation <strong>für</strong> zentral wirksame Medikamente<br />

ist hinsichtlich des gesteigerten Sturzrisikos zu überprüfen.<br />

Insbesondere bei Neuverschreibungen solcher Medikamente<br />

sollte man daher nicht nur <strong>die</strong> klassischen pharmakologischen<br />

Probleme betrachten, sondern auch den<br />

Mobilitätsaspekt und <strong>die</strong> Aufrechterhaltung der Mobilität<br />

berücksichtigen. Natürlich müssen Patienten, <strong>die</strong> Antidepressiva,<br />

Neuroleptika oder Opiate benötigen, <strong>die</strong>se auch erhalten,<br />

doch das erhöhte Sturzrisiko sollte sowohl dem verschreibenden<br />

Arzt bewusst sein als auch den Angehörigen<br />

und <strong>Pflege</strong>personen erläutert werden.<br />

Alkoholismus ist im Alter keineswegs ein seltenes Problem<br />

– auch darüber und über <strong>die</strong> damit verbundene Sturzneigung<br />

sollte man sich als behandelnder Arzt im Klaren<br />

sein.<br />

Ein Balance- und Gangtraining ist bei Demenzpatienten<br />

möglich, dabei sind aber deren kognitive Fähigkeiten zu berücksichtigen.<br />

Die häufige Empfehlung komplexer Trainingsformen<br />

wie zum Beispiel Tai-Chi ist <strong>für</strong> Demenzpatienten<br />

wenig geeignet, weil sie <strong>die</strong> erforderliche Konzentration und<br />

Kooperation oft nicht mehr aufbringen können.<br />

Sehr gute Erfahrungen wurden dagegen mit einer gezielt<br />

auf <strong>die</strong> Bedürfnisse von Demenzpatienten konzipierten<br />

Kombination aus Vibrationsbehandlung und Gangtraining<br />

gesammelt. Die Vibrationsbehandlung erfolgt mithilfe einer<br />

„Rüttelplatte“, deren Frequenz (5–30 Hertz) und Bewegungsamplitude<br />

(bis 9 mm) individuell auf den Patienten<br />

und seine Fähigkeiten eingestellt werden.<br />

Der Patient erhält zwei- bis dreimal hintereinander jeweils<br />

etwa zwei Minuten <strong>die</strong>se Vibrationsbehandlung.<br />

Dieses Training ist in Kombination mit einem Gangtraining<br />

auch <strong>für</strong> Demenzpatienten gut durchführbar und führt zu<br />

einer erheblichen und messtechnisch fassbaren Besserung<br />

der Gangsicherheit. Da <strong>die</strong>se Methode erst seit wenigen Jahren<br />

eingesetzt wird, stehen Langzeiterfahrungen noch aus.<br />

Eine relativ neue Erkenntnis ist, dass eine Versorgung mit<br />

Vitamin D 2 oder D 3 (mind. 700 IE pro Tag) zu einer signifi-<br />

29


30<br />

Maßnahmen zur Sturzvermeidung<br />

n Kernmaßnahme: Sicherung der Nährstoffzufuhr<br />

n Ausschaltung oder Minderung der Risiken durch Umgebungsfaktoren<br />

n Prüfung der aktuellen Medikation,„Erweiterung des Blickwinkels“ bei der<br />

Indikationsstellung <strong>für</strong> neue Medikamente<br />

n Alkoholkonsum eruieren, ggf. Strategien zur Reduktion<br />

n Krafttraining zur Vermeidung von Muskelschwäche<br />

n Balance- und Gangtraining (z.B. Vibrationsbehandlung mit Gangtraining)<br />

n Mindestaufnahme Vitamin D oder D : 700 IE/Tag<br />

2 3<br />

Tabelle 3<br />

kanten Reduktion des Sturzrisikos beiträgt – unabhängig<br />

von Einflüssen auf eine Osteoporose oder von einer begleitenden<br />

Kalziumgabe. Stu<strong>die</strong>ndaten belegen <strong>für</strong> eine solche<br />

Vitamin-D-Supplementierung eine Reduktion des Sturzrisikos<br />

um 20 % (Tabelle 3).<br />

Fazit<br />

Die Sturzprävention hat eine hohe Bedeutung im Hinblick<br />

auf den Erhalt der Funktionalität und Selbstständigkeit. Die<br />

dazu erforderlichen Maßnahmen können und sollten auch<br />

bei Demenzpatienten umgesetzt werden, denn sie können<br />

dazu beitragen, dass deren Gangsicherheit gesteigert wird.<br />

Es ist davon auszugehen, dass damit letztlich auch <strong>die</strong> Lebensqualität<br />

der Betroffenen verbessert wird.


Freiheitsentziehende Maßnahmen in<br />

<strong>Pflege</strong>heimen vermeiden<br />

Fixierung verschlechtert <strong>die</strong><br />

medizinische Versorgung<br />

Uwe Brucker<br />

Freiheitsentziehende Maßnahmen sind schwerwiegende<br />

Eingriffe in <strong>die</strong> Grundrechte. Sie sind mit chronischem Stress<br />

verbunden, unter dem nicht nur <strong>die</strong> Betroffenen selbst leiden,<br />

sondern auch <strong>die</strong> Mitarbeiter, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se Maßnahmen umsetzen<br />

müssen. Doch es gibt auch Alternativen.<br />

Demenzkranke sind <strong>die</strong> Hauptbetroffenen von<br />

freiheitsentziehenden Maßnahmen, <strong>die</strong> meist<br />

als körpernahe Fixierungen umgesetzt werden.<br />

Während früher fixiert wurde, wenn es <strong>für</strong> richtig<br />

gehalten wurde, müssen heute rechtliche Voraussetzungen<br />

eingehalten werden. Dies hat den Betroffenen<br />

selbst allerdings keine Vorteile gebracht,<br />

denn es wird in deutschen <strong>Pflege</strong>einrichtungen so<br />

häufig fixiert wie nie zuvor (Tabelle 4). Diese Praxis<br />

entspricht allerdings nicht dem Stand des Wissens.<br />

In der Hamburger Heimstu<strong>die</strong> wurden <strong>die</strong> Beobachtungen<br />

bei ca. 2500 Bewohnern über zwölf Monate<br />

hinweg dokumentiert. Bei knapp 40 % aller<br />

Uwe Brucker<br />

Bewohner fand mindestens einmal eine freiheitsentziehende<br />

Maßnahme statt.<br />

Nach den Daten eines aktuellen Halbjahresberichts der<br />

Stadt Essen sind mittlerweile zwei von drei Heimbewohnern<br />

(69 %) kognitiv beeinträchtigt, dement oder gerontopsychiatrisch<br />

erkrankt. Die Demenz ist der häufigste Grund<br />

<strong>für</strong> eine Heimeinweisung. Dennoch haben 42 % der Heime<br />

kein gerontopsychiatrisch qualifiziertes Personal.<br />

47 % der Bewohner erhalten eine ärztliche Verordnung<br />

von Neuroleptika. 21,6 % der Patienten werden fixiert. Doch<br />

31


32<br />

Verfahren „Freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen“<br />

(FEM)<br />

davon genehmigte<br />

FEM<br />

davon abgelehnte<br />

FEM<br />

Tabelle 4<br />

1998 2002 2004 2009 Veränderungsquote<br />

1998–2008<br />

40 337 71 914 98 299 103 578 mehr als das Zweieinhalbfache<br />

+ 256,8 %<br />

38 826 66 111 91 523 96 062 knapp das Zweieinhalbfache<br />

+ 247,3 %<br />

1491 5026 6476 7516 verfünffacht<br />

504 %<br />

Ablehnungsquote 3,7 7,0 6,6 7,26 knapp verdoppelt<br />

es gibt auch viele Heime, <strong>die</strong> nach eigener Aussage gar<br />

nicht fixieren.<br />

Nach den Zahlen des Bundesjustizamtes ist in den vergangenen<br />

zehn Jahren eine Zunahme von Fixierungen um<br />

247,3 % zu beobachten. Die Ablehnungsquote ist generell<br />

sehr gering, sie zeigt aber auch Unterschiede zwischen<br />

den Bundesländern. Im selben Zeitraum hat <strong>die</strong> Anzahl der<br />

Heimplätze um nicht ganz 10 % zugenommen.<br />

Zu freiheitsentziehenden Maßnahmen in Akutkrankenhäusern<br />

gibt es wenig Untersuchungen. In einer aktuellen<br />

Übersichtsarbeit werden als Gründe <strong>für</strong> freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen genannt: Sicherung von medizinischen<br />

Maßnahmen, Verhaltensauffälligkeit durch Agitation bzw.<br />

Verwirrtheit und Fixierungen als Sturzprophylaxe. Als Art der<br />

Fixierungen im Krankenhaus werden überwiegend Handfixierungen<br />

sowie Stuhl- und Bettfixierungen berichtet.<br />

Ursachen <strong>für</strong> Fixierungen<br />

Zu den Ursachen von Fixierungen gehört einerseits <strong>die</strong><br />

Unkenntnis von Alternativen. Andererseits tragen auch <strong>die</strong><br />

Umstände innerhalb der <strong>Pflege</strong>heime dazu bei. So sehen<br />

sich Angehörige oft in der häuslichen <strong>Pflege</strong> des Demenzerkrankten<br />

zunehmend überfordert und geben ihn daher in<br />

professionelle Hände – in der Hoffnung, damit <strong>die</strong> Situation<br />

zu verbessern. Diese Hoffnung wird allerdings nicht immer<br />

erfüllt.


In vielen Einrichtungen gibt es in Bezug auf freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen eine Art „Hausgeist“ – beispielsweise<br />

<strong>die</strong> Devise: „Wer fixiert, handelt verantwortungsbewusst.“<br />

Dabei wird darüber hinweggesehen, dass Fixierungen immer<br />

Gewalt an <strong>Pflege</strong>bedürftigen darstellen. Daran ändert<br />

auch das Placet des Betreuungsrichters nichts – zumindest<br />

nicht aus der Betroffenenperspektive: Für <strong>die</strong> Betroffenen ist<br />

auch „gerechtfertigte“ und richterlich genehmigte Gewalt<br />

immer noch Gewalt.<br />

Eine neuere Untersuchung sieht in freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen einen Indikator da<strong>für</strong>, dass man in <strong>die</strong>sen Einrichtungen<br />

<strong>die</strong> tatsächlichen Bedürfnisse der Bewohner<br />

nicht richtig einzuschätzen vermag. Die fachgerechte Versorgung<br />

von Menschen mit Demenz scheint zu stagnieren. Das<br />

Verhalten von Menschen mit Demenz kann von vielen <strong>Pflege</strong>nden<br />

nicht „dechiffriert“, nicht als deren Kommunikation<br />

aufgenommen werden. Sie verstehen sie nicht und kommen<br />

Entscheidungsnetzwerk bei Fixierung<br />

Verfahrenspfleger<br />

Angehörige<br />

Arzt<br />

Richter<br />

<strong>Pflege</strong>fachkraft<br />

Betreuer<br />

Betreuungsbehörde<br />

Abbildung 10: Das Entscheidungsnetzwerk macht deutlich, dass <strong>die</strong> Entscheidung über <strong>die</strong><br />

Notwendigkeit der Fixierung von der <strong>Pflege</strong>fachkraft abhängt. Quelle: Brucker U. (MDS e.V.)<br />

33


34<br />

aus <strong>die</strong>sem Nichtverstehen zu falschen Schlussfolgerungen,<br />

<strong>die</strong> letztlich auch falsche Handlungen nach sich ziehen.<br />

Grundsatzstellungnahme Demenz<br />

In der Grundsatzstellungnahme Demenz 1 wird vom MDS<br />

(Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen<br />

e.V.) darauf hingewiesen, dass <strong>die</strong> vermehrte Pra-<br />

xis des Fixierens eine falsche,<br />

den Bedürfnissen von Menschen<br />

mit Demenz nicht angepasste<br />

Betreuung darstellt. Einschränkungen<br />

der Bewegungsfreiheit,<br />

vor allem durch Fixierungen, verstärken<br />

bei Demenzkranken das<br />

Gefühl des Ausgeliefertseins und<br />

der Hilflosigkeit. Damit erschweren<br />

sie das Verständnis der Betroffenen <strong>für</strong> <strong>die</strong> Situation.<br />

Die mit der Fixierung einhergehende Immobilisierung kann<br />

auch <strong>die</strong> Entwicklung psychotischer Symptome begünstigen:<br />

Bereits nach wenigen Stunden der Fixierung werden Halluzinationen<br />

und Wahnvorstellungen bei den Betroffenen beobachtet,<br />

meist in Verbindung mit erheblicher Unruhe und Aggressivität.<br />

Hier gerät man dann in einen Teufelskreis und <strong>die</strong><br />

Begründung der Fixierung wird zur „Self-fulfilling Prophecy“.<br />

Zur stressfreien Betreuung von Menschen mit Demenz gehört<br />

<strong>die</strong> Identifikation der Ursachen von herausforderndem<br />

Verhalten – <strong>die</strong>s ist daher eine zentrale Aufgabe der <strong>Pflege</strong>fachkräfte.<br />

Hieraus lassen sich dann Alternativen zu freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen ableiten. Dass <strong>die</strong>s möglich ist,<br />

wird in vielen Einrichtungen deutlich. Erst wenn <strong>die</strong>se pflegefachliche<br />

Analyse keine Alternativen mehr zulässt, kommt<br />

quasi als „Ultima ratio“ eine freiheitsentziehende Maßnahme<br />

infrage.<br />

Wo kann wer dazu beitragen, neue<br />

Signale ins Heim zu tragen<br />

n Wo? Vor Ort: Landkreis, Kommune, Träger<br />

n Wer? Betreuungsgericht, Behörde, Betreuer,<br />

Angehörige<br />

n Und: Heime in Persona ihres Führungspersonals<br />

Tabelle 5<br />

Was sagen <strong>die</strong> Stu<strong>die</strong>n?<br />

In mehreren Stu<strong>die</strong>n wurden <strong>Pflege</strong>fachkräfte befragt,<br />

warum sie fixieren. Auf <strong>die</strong>se Frage wurden in fast allen


Ländern <strong>die</strong> folgenden übereinstimmenden<br />

Begründungen gegeben:<br />

n Stürze vermeiden,<br />

n das Verhalten kontrollieren,<br />

n <strong>die</strong> Sicherheit gewährleisten<br />

(Schutz vor Fremd- und Eigengefährdung)<br />

und<br />

n <strong>die</strong> medizinische Versorgung<br />

garantieren.<br />

In einer Stu<strong>die</strong> wurden <strong>Pflege</strong>fachkräfte<br />

mit Sätzen konfrontiert,<br />

denen sie zustimmen oder<br />

<strong>die</strong> sie ablehnen konnten. Einer<br />

<strong>die</strong>ser Sätze lautete: „Fixie-<br />

Heime brauchen neue Signale<br />

n Signal 1: Vermeidung von FEM* in der <strong>Pflege</strong><br />

ist gewollt und zu begrüßen.<br />

n Signal 2: Alle Beteiligten bestärken <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>einrichtungen<br />

bei Anstrengungen, FEM auch<br />

bei vermeintlich höherem Haftungsrisiko zu<br />

vermeiden.<br />

n Signal 3: Angebot an <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>heime:<br />

Entscheidungen von FEM-Verzicht werden<br />

gemeinsam mitgetragen.<br />

n Signal 4: <strong>Pflege</strong>heime verpflichten sich, jede<br />

einzelne Fixierung regelmäßig kritisch zu<br />

überprüfen.<br />

n Signal 5: Gemeinsam ständiger Austausch<br />

und erweiterndes Wissen in der Kommune.<br />

* Freiheitsentziehende Maßnahme<br />

rungen führen bei sturzgefährdeten Bewohnern zur Sturzreduktion.“<br />

– <strong>die</strong>sem Satz stimmten 80 % der <strong>Pflege</strong>nden<br />

zu oder sogar sehr zu. Von denselben Befragten würden<br />

aber 85 % <strong>für</strong> sich ein Verweigerungsrecht bei Fixierungen<br />

in <strong>Pflege</strong>heimen reklamieren.<br />

Von den zahlreichen Stu<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> dazu vorliegen, gibt es<br />

keine Stu<strong>die</strong>, <strong>die</strong> Hinweise darauf gibt, dass Fixierungen<br />

Stürze vermeiden, was den mittelfristigen Krankheitsverlauf<br />

betrifft. Sicherlich kann ein ans Bett gefesselter Patient<br />

nicht stürzen, doch es muss <strong>für</strong> ihn auch eine Zeit nach<br />

der Fixierung geben. Bei Berücksichtigung der unfixierten<br />

Zeiträume verändert sich jedoch <strong>die</strong> „Bilanz“ des Sturzgeschehens.<br />

Die Stu<strong>die</strong>nevidenz zu körpernahen Fixierungen besagt,<br />

dass Fixierungen ein unangemessenes Mittel zur Sturzprophylaxe<br />

darstellen. Denn freiheitsentziehende Maßnahmen<br />

haben sogar vermehrt Stürze zur Folge und führen zu<br />

Gleichgewichts- und Koordinationsproblemen.<br />

Darüber hinaus führen körpernahe Fixierungen zu<br />

einem Anstieg des Todesfallrisikos, sie steigern das Risiko<br />

ernsthafter Verletzungen sowie <strong>die</strong> Dauer von Krankenhausaufenthalten.<br />

Dem Argument der „Sturzprophylaxe“<br />

Tabelle 6<br />

35


36<br />

stehen darüber hinaus zahlreiche weitere negative Folgen<br />

der Fixierungen entgegen:<br />

n Abbau der Körperfunktionen<br />

n Schmerzen<br />

n Durchblutungsstörungen<br />

n Herz-Kreislauf-Belastung<br />

n Inkontinenz und Infektionen<br />

n Muskelabbau und Dekubitalulzera<br />

n Agitiertheit und soziale Isolation<br />

n psychiatrische Erkrankungen<br />

n schwere Verletzungen und Tod<br />

Die Wiener Rechtsmedizinerin Andrea Berzlanovich hat 33<br />

Todesfälle durch Fixierung am Bettgitter näher untersucht<br />

– 82 % davon betrafen Menschen mit Demenz. Sie hat dabei<br />

auch <strong>die</strong> Zeit vom letzten Lebendkontakt bis zum Todeszeitpunkt<br />

erfasst. Im Heim betrug <strong>die</strong>se Zeitspanne drei bis vier<br />

Stunden. Die Erklärung <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Zeitspanne ist das Lagerungsintervall.<br />

Es gibt bei Fixierungen drei Todesursachen:<br />

Die Strangulation beziehungsweise Halskompression, <strong>die</strong><br />

Brustkorbkompression und <strong>die</strong> Kopftieflage.<br />

Vom Beginn bis zum Eintritt des Todeszeitpunktes ist <strong>die</strong><br />

Strangulation der kürzeste Tod, da der Todeskampf dann<br />

„nur“ etwa acht Minuten dauert. Das bedeutet aber: In der<br />

<strong>Pflege</strong> sollte bei fixierten Patienten unter haftungsrechtlichen<br />

Gesichtspunkten eine Besuchsfrequenz von unter<br />

acht Minuten eingehalten werden. Das Gegenteil ist der Fall:<br />

Man verspricht sich durch <strong>die</strong> Fixierung eine <strong>Pflege</strong>erleichterung,<br />

in der Praxis resultiert sogar, wie <strong>die</strong>se Untersuchung<br />

zeigt, geradezu eine <strong>Pflege</strong>vermeidung.<br />

Rechtliche Aspekte freiheitsentziehender<br />

Maßnahmen<br />

Ein wesentlicher Grund, warum <strong>Pflege</strong>nde in Heimen zu<br />

Fixierungen greifen, ist eine weit verbreitete Angst vor Haftung<br />

und Regress. Dabei reduziert sich <strong>die</strong> Haftungsangst<br />

auf Sturzfolgenereignisse. Real existierende Haftungslagen<br />

aufgrund von unerwünscht verlaufenden Folgen von Fixie-


ungen bis hin zum Tod des Fixierten sind in <strong>die</strong>sem „Sicherheitsdenken“<br />

nicht vorgesehen. Es geht in <strong>die</strong>sen Heimen<br />

um <strong>die</strong> Sicherheit der Bewohner, der Angehörigen sowie des<br />

Personals. Eine Güterabwägung zwischen Nutzen (<strong>für</strong> wen?)<br />

von Sicherheitsmaßnahmen und dem Schaden, der sich<br />

beim Betroffenen damit einstellen kann, scheint nicht stattzufinden.<br />

Bestehende Alternativen, <strong>die</strong> weniger in das Wohl<br />

und <strong>die</strong> Freiheitsrechte der Bewohner eingreifen, werden<br />

leicht als „verantwortungslos“ abgetan. Dieses Sicherheitsdenken<br />

wurde in Stu<strong>die</strong>n nicht untersucht.<br />

Das Sicherheitsdenken in <strong>Pflege</strong>heimen wird durch <strong>die</strong><br />

Genehmigungspraxis der Gerichte eher verstärkt. Denn im<br />

Antrag und in der Genehmigung steckt auch der Gedanke,<br />

<strong>die</strong> Bewohner zu schützen. Die juristische Logik geht davon<br />

aus, dass es, wo es einen Sturz gibt, auch einen Schuldigen<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong>sen Sturz geben muss, weil keine Fixierung vorgenommen<br />

wurde. Eine Nichtfixierung wird damit als unverantwortlich<br />

angesehen und bedarf im Heim, auch unter Kollegen,<br />

der Rechtfertigung.<br />

Die Entscheidung über freiheitsentziehende Maßnahmen<br />

läuft meist folgendermaßen ab: Der Richter genehmigt, er<br />

ist dabei aber abhängig von Informationen und Einschätzungen<br />

der <strong>Pflege</strong>fachkraft. Mit <strong>die</strong>ser berät sich der Betreuer<br />

und stellt dann in der Regel einen Antrag. Die Betreuungsbehörde<br />

bekommt <strong>die</strong> Informationen zur Stellungnahme<br />

ebenfalls von der fixierungswilligen <strong>Pflege</strong>fachkraft, der Arzt<br />

beurteilt ebenfalls nach Rücksprache mit der <strong>Pflege</strong>fachkraft.<br />

Das heißt: Letztlich entscheidet <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>fachkraft allein, ob<br />

der Entscheidungsprozess zur Anordnung von freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen in Gang kommt (Abbildung 10).<br />

Von vielen Gerichten wird ein Verfahrenspfleger benannt,<br />

um <strong>die</strong> Interessen des Bewohners wahrzunehmen. Das ist in<br />

der Regel ein Rechtsanwalt, der sich in pflegefachlichen Fragen<br />

genauso gut auskennt wie der Richter – nämlich so gut<br />

wie gar nicht. Hier brauchen wir neue Signale (Tabelle 6).<br />

Als erste Konsequenz sollten Richter <strong>die</strong> Funktion des Verfahrenspflegers<br />

neu ausrichten. Bisher waren das durchweg<br />

37


38<br />

Der Werdenfelser Weg: Verantwortung ohne Fixierung<br />

Der sogenannte Werdenfelser Weg wurde in Garmisch-Partenkirchen<br />

im Werdenfelser Land entwickelt und in zwei Jahren umgesetzt. Durch zwei<br />

Maßnahmen hat man dort in knapp zwei Jahren <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>heime im Landkreis<br />

nahezu fixierungsfrei bekommen. Die beiden Maßnahmen waren:<br />

1. Als Verfahrenspfleger wurde der Rechtsanwalt durch <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>fachkraft<br />

ausgewechselt.<br />

2. Die Heime wurden verpflichtet, zunächst Alternativen zu versuchen, bevor<br />

eine Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen vom Amtsgericht<br />

erteilt wurde.<br />

Das Schreiben des Gerichts, das dem Heim <strong>die</strong> Genehmigung mit Verweis<br />

auf <strong>die</strong> Erprobung von Alternativen verweigert, wirkt wie ein Schutzschirm<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> Einrichtung bezüglich der Ansprüche von Regressnehmern. Es<br />

gibt allerdings bisher keine Hinweise, dass in den letzten zwei Jahren <strong>die</strong><br />

sturzbedingten Behandlungskosten in den <strong>Pflege</strong>heimen des Landkreises<br />

Garmisch-Partenkirchen angestiegen wären.<br />

Die Anträge auf freiheitsentziehende Maßnahmen haben sich dort auf<br />

niedrigem Niveau stabilisiert – ein spürbarer Erfolg. Das <strong>Pflege</strong>personal<br />

fühlt sich ernst genommen. Die Heimleiter berichten von einer Offenheit,<br />

Kooperationsbereitschaft und von einem noch nicht gekannten Ehrgeiz<br />

innerhalb der <strong>Pflege</strong>, <strong>die</strong> freiheitsentziehenden Maßnahmen zu vermeiden.<br />

Das gemeinsame Auftreten von Amtsgericht und Landratsamt hat hier<br />

auch zu einem veränderten Gemeinschaftsgefühl geführt.<br />

www.pea-ev.de (mit weiterführender Literatur zum Thema)<br />

Rechtsanwälte, obwohl <strong>die</strong>s nicht zwingend ist. Anstatt des<br />

Rechtsanwalts sollte <strong>die</strong>s eine <strong>Pflege</strong>fachkraft sein, <strong>die</strong> Expertin<br />

im Thema Sturzprophylaxe ist, sodass im Heim auf<br />

gleicher Augenhöhe über mögliche Alternativen diskutiert<br />

werden kann. Neben dem bisher einseitigen Sicherheitsdenken<br />

sollten auch Alternativen zur Vermeidung von freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen diskutiert werden.<br />

In der Initiative von Amtsgericht und Betreuungsbehörde<br />

steckt auch ein Angebot an <strong>die</strong> Heime zur gemeinsamen<br />

Übernahme der Verantwortung. Das führt<br />

zu einer Stärkung der Handlungssicherheit der Heime<br />

gegen Vorwürfe wie auch gegen Haftungsansprüche.<br />

Bei einem bleibenden Restrisiko ermöglicht <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Vermeidung<br />

von freiheitsentziehenden Maßnahmen durch


<strong>die</strong> Minimierung des Haftungsrisikos mittels Verteilung<br />

der Verantwortung auf viele Schultern.<br />

Fazit<br />

Um freiheitsentziehende Maßnahmen auf ein Minimum<br />

zu reduzieren, gilt es in erster Linie, <strong>die</strong> Betreuungsrichter und<br />

Betreuer <strong>für</strong> Alternativen zu gewinnen. Zu überzeugen sind<br />

Heimleiter, <strong>Pflege</strong>fachkräfte und Angehörige. Am einfachsten<br />

erscheint <strong>die</strong>s bei den <strong>Pflege</strong>fachkräften. Nach den bisherigen<br />

Erfahrungen kommt man hier mit wenigen Fortbildungsmaßnahmen<br />

aus, da gerade bei den <strong>Pflege</strong>fachkräften das Wissen<br />

um <strong>die</strong> Alternativen zur Fixierung vielfach durchaus vorhanden<br />

ist.<br />

1 www.mds-ev.de/media/pdf/Demenz-Broschuere_4MB.pdf<br />

39


Eine weitere Herausforderung im Umgang<br />

mit alten Menschen<br />

Dysphagie:<br />

ein unterschätztes Problem<br />

Professor Dr. Martina Hielscher-Fastabend<br />

Die <strong>Pflege</strong> demenzkranker Menschen umfasst unter anderem<br />

eine angemessene Ernährung sowie <strong>die</strong> hinreichende Zufuhr<br />

von Nahrung und Flüssigkeit. Beide Aspekte sind im höheren<br />

Alter ohnehin problematisch, bei Patienten mit demenziellen<br />

Störungen zeigen sich zudem zusätzliche Probleme. Die<br />

angemessene Versorgung mit Essen und Trinken erfordert<br />

daher ein hohes Maß an Wissen um <strong>die</strong> verschiedenen Facetten<br />

der Erkrankung sowie ein hohes Maß an Geduld und<br />

Zeit. Im <strong>Pflege</strong>alltag kommt es aber häufig im Bereich der<br />

Nahrungsaufnahme zu konkreten Problemen, <strong>die</strong> nicht früh<br />

genug korrekt erkannt werden.<br />

Schluckprozesse und ihre Veränderungen im Alter<br />

Der normale Schluckprozess umfasst überaus<br />

komplizierte und zeitlich genau abgestimmte willkürliche<br />

Bewegungen und Reflexe:<br />

1. Orale Vorbereitungsphase: Diese reicht von der<br />

Aufnahme des Speisematerials in den Mund bis<br />

zum Kauen und Vermischen der Speise mit Speichel<br />

sowie Formen eines schluckfertigen Speisebreis,<br />

der über Kiefer-, Wangen- und Zungenbewegungen<br />

auf der Zunge platziert wird.<br />

2. Orale Phase: Dabei wird der Speisebolus mittels Prof. Dr. Martina<br />

Wellenbewegungen über <strong>die</strong> Hinterzunge in den Hielscher-Fastabend<br />

Oropharynx transportiert und der Kehlkopf angehoben.<br />

Die Atmung wird kurz unterbrochen und<br />

der Schluckreflex wird ausgelöst.<br />

3. Pharyngeale Phase: Diese läuft nicht mehr willentlich<br />

41


42<br />

steuerbar ab, sondern als eine reflektorische Bewegungskette.<br />

Der Speisebolus wird durch den Rachen zum oberen Speiseröhrenöffner<br />

befördert, der sich entspannt und <strong>die</strong> Speise<br />

passieren lässt.<br />

4. Ösophageale Phase: Sie <strong>die</strong>nt dem Transport des Speisebolus<br />

durch <strong>die</strong> Speiseröhre in den Magen mittels Wellenbewegungen.<br />

Damit ist der Schluckvorgang abgeschlossen. Bei pathologischen<br />

Prozessen können anschließend Nachschlucke notwendig<br />

sein, darüber hinaus kann ein Reflux der Nahrung in<br />

den Ösophagus oder sogar in den Rachenraum auftreten.<br />

Schon relativ früh im Alter können sich spezifische Veränderungen<br />

entwickeln, welche <strong>die</strong> Nahrungsaufnahme zum<br />

Teil problematisch werden lassen. Es kommt zu Verände-<br />

Dysphagie bei verschiedenen neurologischen<br />

Erkrankungen<br />

Demenz<br />

Parkinson<br />

Apoplex<br />

0 20 40 60<br />

Prozentsatz dysphagischer Symptome bei Aufnahme in Akuthaus<br />

Prozentsatz dysphagischer Symptome bei Entlassung<br />

Abbildung 11: Neurologische Erkrankungen gehen häufig mit Dysphagie-Symptomen einher,<br />

<strong>die</strong> sich unter der Therapie bei vielen Betroffenen bessern.<br />

Quelle: nach Rithig, Kaiser und Füsgen, 2009


ungen im Mundraum und des Zahnstatus, zu mangelndem<br />

Lippenschluss und zu einem Absinken des Unterkiefers infolge<br />

struktureller Veränderungen des Kiefergelenks, welche<br />

<strong>die</strong> Vorbereitungsphase und <strong>die</strong> orale Phase beeinträchtigen<br />

können. Eine reduzierte Speichelproduktion und trockene<br />

Schleimhäute, oftmals auch durch Medikamente bedingt,<br />

wirken sich nicht nur auf den Kau- und Transportvorgang<br />

aus, sondern indirekt auch auf <strong>die</strong> Schluckreflextriggerung.<br />

Geschwächte Gaumensegelfunktionen bedeuten, dass Speise<br />

und Flüssigkeit frühzeitig in den Rachen abgleiten können.<br />

Es kommt zu Penetrationen und Aspirationen, wenn<br />

nicht der Schluckreflex noch schnell genug ausgelöst wird<br />

oder entsprechend abgehustet wird.<br />

Ältere Personen zeigen zudem eine höhere Frequenz an<br />

Nach- und Mehrfachschlucken, häufigeres Einatmen nach<br />

dem Schlucken, vermehrtes Husten während oder nach<br />

dem Schlucken, vermehrte laryngeale Bewegungen und<br />

eine verringerte Druckstärke beim Schlucken. Die Ergebnisse<br />

deuten darauf hin, dass primäre Altersveränderungen<br />

auch einen Einfluss auf <strong>die</strong> Koordination des Schluckvorganges<br />

haben. Altersbedingte Veränderungen beginnen<br />

schon etwa ab dem Alter von 55–60 Jahren, ab ca. 80 Jahren<br />

ist zudem oft <strong>die</strong> orale Sensibilität reduziert. Die primäre<br />

Presbyphagie (altersbedingte Schluckveränderungen)<br />

bleibt oft lange Zeit ohne klinische Relevanz, denn „funktionelle<br />

Reserven“ können <strong>die</strong> Veränderungen kompensieren,<br />

sodass <strong>die</strong> vorliegende Schluckproblematik unerkannt und<br />

verdeckt bleibt. Latent, aber zunehmend Probleme bereitet<br />

den <strong>Pflege</strong>kräften zum Beispiel eine zu langsame und reduzierte<br />

Nahrungsaufnahme, <strong>die</strong> eine höhere Störungsanfälligkeit<br />

bedeutet.<br />

Schluckprozesse und pathologische Veränderungen<br />

aufgrund neurogener Erkrankungen<br />

Infolge verschiedener neurogener Erkrankungen, wie<br />

nach einem Schlaganfall, bei Morbus Parkinson oder im<br />

Verlauf einer Demenz, treten sehr häufig Dysphagien auf,<br />

43


44<br />

<strong>die</strong> dennoch nicht immer entsprechend erkannt werden.<br />

Nach Jones & Donner (1991) zeigen insgesamt 40 bis 50 %<br />

aller Altenheimbewohner vorübergehend Symptome einer<br />

Schluckstörung. Man geht davon aus, dass ca. 20 % der Bewohner<br />

eine manifeste Dysphagie und 50 % Probleme der<br />

Nahrungsaufnahme aufweisen (Keller 1993). Diese Angaben<br />

werden auch in neueren Stu<strong>die</strong>n bestätigt.<br />

In einer europaweiten Untersuchung an 400 <strong>Pflege</strong>heimbewohnern<br />

mit Schluckstörungen konnte gezeigt<br />

werden, dass bei 60 % <strong>die</strong>ser Bewohner <strong>die</strong> Diagnose „Dysphagie“<br />

nie gestellt worden war und nur 33 % <strong>die</strong>ser Personen<br />

wegen der Schluckstörung behandelt wurden. Am<br />

häufigsten wurde <strong>die</strong> Diagnose der Dysphagie im fortgeschrittenen<br />

Stadium einer Parkinson-Erkrankung gestellt<br />

(Angaben bis zu 90 %).<br />

In einer ersten groß angelegten Stu<strong>die</strong> zur Prävalenz von<br />

Auffälligkeiten im Bereich der Schluckdiagnostik (Anamnese,<br />

Danielstest und klinische Fragen zur Dysphagie) konnte bei<br />

insgesamt 6084 untersuchten Patienten <strong>die</strong> Häufigkeit einer<br />

Dysphagie bei den verschiedenen neurologischen Ätiologien<br />

erfasst werden (Abbildung 11). Für Patienten nach<br />

einem Schlaganfall zeigten akut 45,9 % Anzeichen einer<br />

Dysphagie, bei Entlassung noch 31,3 %. Beim Parkinson-Syndrom<br />

zeigten bei Aufnahme 41,0 % eine Dysphagie, bei der<br />

Entlassung noch 33,3 %. Für beide Patientengruppen lassen<br />

sich also Therapieerfolge in Akut-, Rehabilitations- und Geriatrieeinrichtungen<br />

nachweisen.<br />

Patienten mit einer demenziellen Erkrankung, <strong>die</strong> in geriatrischen<br />

<strong>Pflege</strong>einrichtungen aufgenommen wurden,<br />

zeigten anfangs mit einer Prävalenz von 23,5 % und im Verlauf<br />

immerhin noch 18,4 % Anzeichen einer Dysphagie, <strong>die</strong><br />

sich weniger deutlich verbessern ließen. Genauere Untersuchungen<br />

zur Wirkung verschiedener Maßnahmen in verschiedenen<br />

Sta<strong>die</strong>n der Demenz sind hier durchzuführen.<br />

Probleme allgemeiner Art mit dem Ess- und Trinkverhalten<br />

werden in weit höherem Maße beobachtet, als es <strong>die</strong><br />

zirka 20 % manifester Dysphagien vermuten lassen. Als Ur-


sachen <strong>für</strong> Probleme bei der Nahrungsaufnahme werden<br />

z.B. von der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft folgende angegeben:<br />

n Hunger- und Durstgefühl werden nicht mehr wahrgenommen.<br />

n Nahrung wird nicht mehr als solche erkannt, der Aufforderungscharakter<br />

von Speisen wird geringer.<br />

n Apraktische Probleme beeinträchtigen den Handlungsablauf<br />

beim Essen und Trinken.<br />

n Es treten neurologisch bedingte Schluckstörungen auf.<br />

n Medizinische Gründe, wie Medikamente, chronische<br />

Schmerzen, Depressionen, Entzündungen im Mund- und<br />

Halsbereich, schlecht sitzende Zahnprothesen.<br />

n Soziale Gründe, wie zunehmende Hilflosigkeit beim Zubereiten<br />

der Nahrung und beim Essen, Zeitmangel und<br />

Erkennung typischer Fehler beim Essenanreichen<br />

Häufigkeitsverteilung Fehler: Workshopteilnehmer vs. Ø Workshopteilnehmer<br />

100<br />

90<br />

mit Workshop kein (Ø) Workshop<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

Radio lief<br />

beim Essen<br />

Löffel zu voll<br />

Essen zu schnell<br />

angereicht<br />

Mund nicht leer<br />

keine Pausen<br />

feste Kost<br />

mit Getränk<br />

Getränk nicht<br />

angedickt<br />

Liegeposition<br />

nach Essen<br />

Abbildung 12: Die in einem Video dargestellten Fehler beim Essenanreichen wurden zwar<br />

von den Teilnehmern eines entsprechenden Workshops etwas häufiger, aber immer noch<br />

nicht vollständig erkannt. Quelle: Stechbart R. 2009<br />

45


46<br />

Ungeduld des <strong>Pflege</strong>personals, nicht berücksichtigte<br />

frühere Gewohnheiten, Essenanreichen von nicht bekannten<br />

Personen in zu hektischer, den Patienten schnell<br />

überfordernder Situation wird abgelehnt (Nahrungsverweigerung).<br />

Essen und Trinken sind nicht nur unter ihrer lebenserhaltenden<br />

Funktion zu sehen, sie haben auch soziale Relevanz,<br />

untergliedern den Tagesablauf und können als Erinnerungen<br />

an <strong>die</strong> frühere Situation in der Familie <strong>die</strong>nen, was<br />

speziell bei Menschen mit einer Demenz von hoher Bedeutung<br />

ist.<br />

Bei längerfristiger Problematik der Nahrungsaufnahme<br />

oder einer Nahrungsverweigerung droht natürlich sehr<br />

schnell eine Mangelernährung (Malnutrition) und Dehydration,<br />

<strong>die</strong> man häufig durch eine Sondenernährung abzuwenden<br />

sucht. <strong>Aktuelle</strong> Stu<strong>die</strong>n lassen infrage stellen, ob<br />

Die Trias der Gefährdung bei Dysphagie<br />

Malnutrition Dehydration<br />

Aspiration<br />

Abbildung 13: Die möglichen Folgen einer Dysphagie gehen weit über eine gestörte Nahrungsaufnahme<br />

hinaus. Quelle: Hielscher-Fastabend M.


<strong>die</strong> längerfristige Verwendung von Sonden, speziell der PEG,<br />

eine lebensverlängernde Wirkung zeigt.<br />

Probleme in der Versorgung im Altenpflegebereich<br />

Verschiedene internationale Stu<strong>die</strong>n haben erhebliche<br />

Defizite im Umgang mit alten Menschen in <strong>Pflege</strong>einrichtungen<br />

aufgezeigt, vor allem in der Situation der Essensgabe.<br />

Sie verdeutlichen einen Mangel an Wissen beim <strong>Pflege</strong>personal<br />

über <strong>die</strong> Anatomie und Physiologie des Schluckens<br />

sowie über psychologische und kulturelle Aspekte des Essens.<br />

So zeigten sich bei der untersuchten Stichprobe, <strong>die</strong><br />

aus examinierten und nichtexaminierten <strong>Pflege</strong>kräften bestand,<br />

deutliche Defizite beim Wissen und Durchführen von<br />

Essenanreichtechniken.<br />

Diese Situation stellt sich auch in Deutschland vermutlich<br />

nicht besser dar. Im Rahmen eines Projektes zur Erfassung<br />

des Wissensstandes und des Fortbildungsbedarfs in deutschen<br />

<strong>Pflege</strong>einrichtungen haben Masterstu<strong>die</strong>rende der<br />

Klinischen Linguistik an der Universität Bielefeld von 2007<br />

bis 2009 eine Erhebung zum Kenntnisstand des <strong>Pflege</strong>personals<br />

in verschiedenen Einrichtungen der Region durchgeführt,<br />

entsprechende Fortbildungen und Schulungen wurden<br />

abgeleitet und in ersten Stu<strong>die</strong>n evaluiert. Die insgesamt 152<br />

teilnehmenden <strong>Pflege</strong>kräfte aus 13 verschiedenen Heimen<br />

(90 % mit pflegerischer Ausbildung, 10 % in Ausbildung oder<br />

ohne spezifische Ausbildung) der ersten Stu<strong>die</strong> zeigten einerseits<br />

ein deutliches Problembewusstsein, sie wiesen aber<br />

Lücken in theoretischen wie auch in praktischen Belangen<br />

der Versorgung der alten Menschen auf:<br />

n unspezifische Warnzeichen einer Dysphagie werden selten<br />

wahrgenommen,<br />

n es sind nicht alle sinnvollen Maßnahmen bei akuten Aspirationen<br />

bekannt, da<strong>für</strong> aber eher wenig effektive Maßnahmen<br />

und<br />

n es fehlt das theoretische Hintergrundwissen.<br />

Aber auch theoretisch abrufbares Wissen kann von den<br />

<strong>Pflege</strong>kräften nicht immer angemessen auf konkrete Situa-<br />

47


48<br />

tionen angewendet werden und Inhalte eines ersten Fortbildungskurses<br />

können nach ca. einem halben Jahr nicht vollständig<br />

auf <strong>die</strong> Beurteilung eines konkreten Videobeispiels<br />

angewendet werden. Nicht alle Inhalte des ersten Kurses<br />

zu typischen Alltagsfehlern bei der Situation des Essenanreichens<br />

werden bei der Beurteilung des Videos erkannt<br />

(Abbildung 12).<br />

In allen Befragungen weisen <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>kräfte andererseits<br />

mit Recht auf Probleme ihres Alltags hin, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Situation<br />

<strong>für</strong> eine adäquate Versorgung der Patienten/Bewohner<br />

deutlich behindern: Hier wird an erster Stelle <strong>die</strong> enge zeitliche<br />

Struktur genannt, außerdem fehlende Fortbildungen<br />

und mangelnde Unterstützung vor Ort in kritischen Situationen<br />

durch Spezialisten (Ärzte/Therapeuten).<br />

Aus den Ergebnissen lässt sich ein erhöhter Fort- und<br />

Weiterbildungsbedarf beim <strong>Pflege</strong>personal in Altenpflegeeinrichtungen<br />

ableiten, der allerdings genauso <strong>für</strong> ambulante<br />

<strong>Pflege</strong>kräfte und <strong>für</strong> pflegende Angehörige gilt. In<br />

der Ausbildung des Personals sollten <strong>die</strong> Curricula dementsprechend<br />

Inhalte zu <strong>die</strong>sem Thema verstärkt berücksichtigen.<br />

Fortbildungsmaßnahmen sollten mehr Sicherheit<br />

geben, um in der alltäglichen Essenssituation wie auch bei<br />

akuten Aspirationsereignissen kompetente Reaktionen zu<br />

ermöglichen. Eine frühzeitige Diagnose und ein effektives<br />

Management einer Dysphagie können <strong>die</strong> Inzidenz von Aspirationspneumonien<br />

verringern. Die Prävention von Aspirationspneumonien<br />

u.a. mittels <strong>Pflege</strong>standards, aber auch<br />

medikamentöser Therapie sollte demzufolge im <strong>Pflege</strong>alltag<br />

eine wichtige Rolle spielen.<br />

Fazit<br />

Alte Menschen, <strong>die</strong> zudem an einer Demenz erkrankt sind,<br />

benötigen auch in der Essenssituation zusätzliche Aufmerksamkeit.<br />

Leider können sich Menschen mit einer Alzheimer-<br />

Demenz auch zunehmend weniger adäquat über ihre Probleme<br />

in der Essenssituation mitteilen. Neben Sprech- und<br />

Sprachstörungen sind Schluckstörungen dringend schon


in der ärztlichen Diagnostik mit zu erfassen. Es kommt bei<br />

vielen Menschen mit einer Demenz auch in der Situation<br />

der Nahrungsaufnahme zu Entfremdungen und zu Sensibilitätsstörungen,<br />

ohne dass <strong>die</strong>se Probleme vom <strong>Pflege</strong>personal<br />

oder den Angehörigen entdeckt werden. Die Folgen<br />

können Mangelernährung (Malnutrition) und Dehydratation<br />

sein, aber auch Pneumonien können als Folge von aspirierter<br />

Nahrung und infektiösem Speichelsekret auftreten<br />

(Abbildung 13).<br />

Aus der Sicht der <strong>Pflege</strong> sind neben einer aufmerksamen<br />

Beobachtung von Störungen verschiedene Verhaltensmaßnahmen<br />

wichtig. Günstig ist zum Beispiel eine Konzentration<br />

auf <strong>die</strong> Mahlzeit, möglichst ohne ablenkende Beschallung<br />

oder Gespräche, wobei jeder Gang einzeln und nur mit<br />

dem passenden Besteck serviert werden sollte. Im fortgeschrittenen<br />

Stadium der Demenz müssen <strong>die</strong> Patienten an<br />

<strong>die</strong> Weiterführung der Nahrungsaufnahme und speziell an<br />

das Trinken erinnert werden, da oft kein Durstgefühl vorhanden<br />

ist und ein Glas auf dem Nachttisch vergessen wird.<br />

Hier werden zum Beispiel farbige Flüssigkeiten und Trinkrituale<br />

als hilfreich beschrieben.<br />

Im Rahmen von Qualitätssicherungsstandards sollten<br />

verbindliche Leitlinien <strong>für</strong> <strong>die</strong> Versorgung von <strong>Pflege</strong>heimbewohnern<br />

mit einer Schluck- und Essproblematik und zur<br />

Früherkennung von Betroffenen entwickelt werden. So<br />

könnte eine Erhöhung der Versorgungsqualität auch eine<br />

Vermeidung von Krankenhausaufenthalten der alten Menschen<br />

besonders in den letzten Lebenswochen und -tagen<br />

bedeuten, was auch eine Reduktion der damit verbundenen<br />

hohen Kosten beinhalten würde. Noch schwieriger stellt<br />

sich womöglich das Problem <strong>für</strong> <strong>die</strong> ambulante <strong>Pflege</strong> durch<br />

ausgebildete <strong>Pflege</strong>kräfte, wie auch durch pflegende Angehörige<br />

dar.<br />

Literatur bei der Referentin<br />

49


Patient mit Demenz wird vermisst<br />

Mit einfachen Maßnahmen <strong>die</strong><br />

Arbeit der Polizei erleichtern<br />

Christoph Badenhop<br />

Neun von zehn der über 65-Jährigen leben in Privatwohnungen.<br />

Der Anteil <strong>die</strong>ser Altersgruppe an der Gesamtbevölkerung<br />

nimmt immer weiter zu – und damit häufen<br />

sich <strong>die</strong> Polizeieinsätze, bei denen Polizisten mit vermissten<br />

oder hilflosen Senioren konfrontiert werden. Höchste<br />

Zeit also, dass sich auch <strong>die</strong> Polizei mit dem Krankheitsbild<br />

der Demenz und den Eigenheiten der Betroffenen auseinandersetzt.<br />

Demenz ist mehr als eine Gedächtnisstörung,<br />

vielmehr ist sie eine Beeinträchtigung des ganzen<br />

Daseins. Ein wesentliches Kennzeichen ist das häufige<br />

Fehlen eines Krankheitsgefühls: Fremde Hilfe<br />

wird oft abgelehnt, da das eigene Handeln als<br />

selbstständig und sinnvoll wahrgenommen wird.<br />

Aus einer anfänglichen Beharrlichkeit entwickelt<br />

sich oft Starrsinn, der mit einer zunehmenden Fehleinschätzung<br />

von Situationen sowie der eigenen<br />

Fähigkeiten einhergeht.<br />

So kommt es, dass sich gerade Menschen mit Demenz<br />

häufig in Situationen bringen, in denen polizeiliche<br />

Hilfe benötigt wird. Die beiden klassischen<br />

Situationen sind dabei:<br />

n Meldung einer hilflosen Person und<br />

n Vermisstenmeldung.<br />

Hilflose Person<br />

Orientierungsstörungen sind bei Demenzkranken besonders<br />

stark ausgeprägt. So kommt es vor, dass <strong>die</strong> Betroffenen<br />

nach Verlassen ihres unmittelbaren Lebensbereichs nicht<br />

Christoph Badenhop<br />

51


52<br />

Hilflose Person – Beispiel 1:<br />

Eine Polizeistreife wird in ein<br />

Mehrfamilienhaus gerufen. Ein<br />

älterer, verwirrt wirkender Mann<br />

erwartet sie im Eingangsbereich<br />

und erklärt, er benötige Hilfe, da<br />

er seinen Schlüssel verloren bzw.<br />

gestohlen bekommen habe. Der<br />

Schlüssel<strong>die</strong>nst öffnet <strong>die</strong> Haustür<br />

und stellt fest, dass der Wohnungsschlüssel<br />

innen im Schloss<br />

steckt. Die Beamten erkennen,<br />

dass sich <strong>die</strong> Wohnung in einem<br />

verwahrlosten Zustand befindet.<br />

Hier gilt es, neben der Klärung der<br />

akuten Situation auch langfristig<br />

eine Fürsorge zu veranlassen<br />

sowie Angehörige bzw. Betreuer<br />

ausfindig zu machen und zu<br />

benachrichtigen.<br />

mehr zurückfinden. Aus der krankheitsbedingten Hilflosigkeit<br />

von Demenzkranken ergeben sich erhebliche Gefahrenquellen<br />

– zum Beispiel wenn während der kalten Jahreszeit<br />

keine selbstständige Rückkehr in eine warme Umgebung<br />

möglich ist. Darüber hinaus ist bei den meist älteren Patienten<br />

oft eine regelmäßige Medikamenteneinnahme erforderlich,<br />

deren Aussetzen mit weiteren gesundheitlichen Risiken<br />

verbunden ist.<br />

Zu den Aufgaben und Zuständigkeiten von Polizisten, <strong>die</strong><br />

zu einer hilflosen Person gerufen werden, gehören <strong>die</strong> Veranlassung<br />

der erforderlichen Fürsorge, <strong>die</strong> Abklärung der<br />

Ursachen und Umstände der Hilflosigkeit sowie eventuell<br />

der Ausschluss einer Straftat. Die hier zu treffenden Maßnahmen<br />

sind <strong>die</strong> Bestimmung von Alter und Geschlecht<br />

sowie eine erkennungs<strong>die</strong>nstliche Behandlung. Wird <strong>die</strong><br />

Polizei in <strong>die</strong> Wohnung einer hilflosen Person gerufen –<br />

zum Beispiel von besorgten Nachbarn – dann ist es sehr


Das Vermissten-<br />

datenblatt kann<br />

Leben retten.<br />

53


54<br />

Hilflose Person – Beispiel 2:<br />

Bei einer Polizei<strong>die</strong>nststelle geht<br />

der Hinweis ein, dass eine ältere,<br />

seltsam wirkende Person auf<br />

dem Marktplatz umherirrt und<br />

kaum ansprechbar ist. Vor Ort<br />

treffen <strong>die</strong> Polizeibeamten auf<br />

eine apathische, in Bademantel<br />

und Pantoffeln gekleidete Frau.<br />

In solchen Fällen ist meist eine erkennungs<strong>die</strong>nstliche<br />

Behandlung<br />

erforderlich.<br />

hilfreich, wenn an einer gut sichtbaren Stelle<br />

der Wohnung ein Hinweis auf <strong>die</strong> Demenzerkrankung<br />

sowie eine Kontakt-Telefonnummer<br />

angebracht sind. Doch häufig werden<br />

hilflose Personen in der Öffentlichkeit angetroffen<br />

– hier können im Einzelfall auch eine<br />

DNA-Untersuchung, der Abgleich mit gemeldeten<br />

Vermisstenfällen oder aber auch eine<br />

Öffentlichkeitsfahndung über Rundfunk, Tagespresse<br />

oder auch Rundschreiben an <strong>die</strong><br />

Ärzteschaft notwendig werden.<br />

Vermisste Person<br />

Jeder Polizeibeamte ist zur Entgegennahme<br />

von Vermisstenanzeigen und der Einleitung<br />

von Sofortmaßnahmen verpflichtet. Wann<br />

eine Person als vermisst gilt, ist in einer entsprechenden<br />

Polizei<strong>die</strong>nstvorschrift (PDV 389)<br />

geregelt. Demnach wird eine Vermissten-<br />

Fahndung dann eingeleitet, wenn<br />

n eine Person ihren gewohnten Lebenskreis<br />

verlassen hat,<br />

n ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist<br />

und<br />

n eine begründbare Gefahr <strong>für</strong> Leib oder<br />

Leben (z.B. Opfer einer Straftat, Unfall,<br />

Hilflosigkeit, Selbsttötungsabsicht)<br />

angenommen werden muss.<br />

Für <strong>die</strong> Vermisstenfahndung selbst stehen<br />

heute neben klassischen Suchaktionen<br />

auch moderne Hilfsmittel zur Verfügung.<br />

So können beispielsweise Hubschrauber zur<br />

Personensuche eingesetzt werden. Es stehen<br />

nicht nur Suchscheinwerfer sowie Infrarotscheinwerfer<br />

<strong>für</strong> nächtliche Suchaktionen<br />

zu Verfügung, sondern auch Wärmebildkameras,<br />

<strong>die</strong> bereits Temperaturunterschiede


von 0,01 Grad erkennen. Eine weitere neue Möglichkeit ist<br />

<strong>die</strong> Handyortung. Neben speziellen Handys, <strong>die</strong> mittels GPS<br />

<strong>die</strong> genaue Lokalisation einer zu beaufsichtigenden Person<br />

übermitteln können, kann <strong>die</strong> Polizei auch <strong>die</strong> Ortung eines<br />

herkömmlichen Handys über den zuständigen Telekommunikationsanbieter<br />

veranlassen – der Netzbetreiber gibt dann<br />

den Standort der entsprechenden Funkzelle an, über <strong>die</strong> sich<br />

das Handy des Vermissten eingeloggt hat bzw. zuletzt eingeloggt<br />

war.<br />

Zur besseren Vorbereitung auf einen eventuellen Vermisstenfall<br />

kann von Betreuenden bereits im Vorfeld ein<br />

Datenblatt mit der Angabe vieler im Notfall wichtiger Fakten<br />

zum Demenzpatienten selbst, zu seinem gesundheitlichen<br />

Zustand sowie zu seinem sozialen Umfeld ausgefüllt<br />

werden. Ein solches Datenblatt kann im Ernstfall <strong>die</strong><br />

Suche erleichtern und hilft, wertvolle Zeit zu gewinnen.<br />

Vorreiter ist hier das von der Polizei Rheinland-Pfalz zusammengestellte<br />

„Datenblatt vermisste Personen“, dass z.B.<br />

unter folgendem Link zum Download zur Verfügung steht:<br />

www.mehr-hunsrück.de/service/formulare/vorbereitung_<br />

auf_den_vermisstenfall.pdf<br />

Gerade im Falle von Vermisstenmeldungen haben aber<br />

auch <strong>die</strong> meldenden Angehörigen und Betreuer verschiedene<br />

Pflichten und Aufgaben:<br />

n Die Polizei ist unverzüglich zu informieren.<br />

n Es müssen ausführliche und wahrheitsgemäße Angaben<br />

über alle Umstände des Vermissten (auch Konflikte, Probleme<br />

etc.) gemacht werden.<br />

n Bei allen bekannten infrage kommenden Kontaktadressen<br />

und Aufenthaltsorten muss nachgefragt werden.<br />

n Bei Bekanntwerden neuer Erkenntnisse sowie bei einer<br />

Wiederauffindung des Vermissten (z.B. Rückkehr) muss<br />

<strong>die</strong> Polizei unverzüglich benachrichtigt werden.<br />

n Bei Nichtbeachtung der Wahrheits- und Informationspflicht,<br />

z.B. bei wissentlich falschen Angaben oder bewusstem<br />

Verschweigen wichtiger Informationen, kann<br />

55


56<br />

der Anzeigende gegebenenfalls auch kostenpflichtig gemacht<br />

werden.<br />

Fazit<br />

Bei Personen mit Demenz, bei denen aufgrund von Gedächtnis-<br />

und Orientierungsproblemen ein höheres Risiko<br />

besteht, dass sie zu hilflos vorgefundenen oder vermissten<br />

Personen werden, können verschiedene vorbeugende Maßnahmen<br />

sinnvoll sein. Beispiele sind:<br />

n Einnähen von Namen, Adressen und Telefonnummern in<br />

<strong>die</strong> Kleidung (nicht der eigenen Adresse!)<br />

n Anbringen von entsprechenden Aufklebern an häufig benutzten<br />

Gegenständen, z.B. am Rollator<br />

n Anbringen von sofort sichtbaren Hinweisen in der Wohnung<br />

Durch solche einfachen Maßnahmen kann im Bedarfsfall<br />

<strong>die</strong> Arbeit der Polizei deutlich erleichtert werden.


Spannungsfeld rechtlicher Anforderungen<br />

Urteile zu Fixierung und Sturz<br />

Rolf Höfert<br />

Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf<br />

eine an seinen persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde<br />

und qualifizierte <strong>Pflege</strong>, Betreuung und Behandlung.<br />

Gerade bei gebrechlichen Patienten mit Demenz<br />

kann <strong>die</strong>s aber zur juristischen Gratwanderung werden. Sowohl<br />

eine Fixierung als auch ein Sturz können strafrechtliche<br />

und zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.<br />

Im <strong>Pflege</strong>alltag häufen sich <strong>die</strong> Vorwürfe gegen<br />

<strong>Pflege</strong>nde wegen ungerechtfertigter Fixierung<br />

bzw. mangelhafter <strong>Pflege</strong> bei Fixierten. Hier geht<br />

es um den Vorwurf der fahrlässigen Tötung aufgrund<br />

nicht ärztlich verordneter, nicht rechtlich<br />

beantragter oder unkorrekter Durchführung.<br />

Wesentliche Vorwürfe sind hierbei <strong>die</strong> mangelnde<br />

Beaufsichtigung eines Fixierten und <strong>die</strong> mangelnde<br />

Dokumentation. Die fixierende <strong>Pflege</strong>person<br />

kann gemäß § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung<br />

Rolf Höfert<br />

mit § 253 Abs. 2 BGB zu Schadensersatzleistungen<br />

herangezogen werden. Strafrechtlich kann sich <strong>die</strong><br />

Fixierung als Freiheitsberaubung gemäß § 239 StGB<br />

darstellen. Dieses kann nur angenommen werden, wenn<br />

<strong>die</strong> Fixierung widerrechtlich erfolgte. Das Betreuungsrecht<br />

– § 1906, Abs. 1–3 BGB – hat bei einer hohen Anzahl pflegebedürftiger<br />

Dementer im Krankenhaus, Altenheim und in<br />

der ambulanten <strong>Pflege</strong> große Bedeutung.<br />

Fall 1 und 2: Urteile zu fahrlässiger Tötung<br />

Fall 1: Ein Altenheimleiter und eine Altenpflegerin waren<br />

angeklagt wegen fährlässiger Tötung und Freiheitsberaubung.<br />

Eine 83-jährige schwer pflegebedürftige Frau war mit<br />

57


58<br />

einer elastischen Kompressionsbinde an ihrem Rollstuhl fixiert<br />

worden. Sie rutschte nach unten, strangulierte sich und<br />

verstarb. Der Heimleiter wurde zu sechs Monaten Haft auf<br />

Bewährung und 3000 Euro Geldstrafe, <strong>die</strong> Altenpflegerin zu<br />

neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt (AG Mannheim,<br />

2009).<br />

Fall 2: Die Heimbewohnerin wurde mittags von einer Altenpflegepraktikantin<br />

mit einem Standardfixierungsmodell mittels<br />

Bauchgurt am Bett fixiert. Das Bettgitter wurde nicht<br />

hochgestellt. Weder <strong>die</strong> Schicht<strong>die</strong>nstleitung der Spätschicht<br />

noch der Wohngruppenleiter bemerkten den Fehler. Die <strong>Pflege</strong>bedürftige<br />

rutschte aus dem Bett und blieb am Bauchgurt<br />

hängen. Dies führte zum Tod. Wegen fahrlässiger Tötung<br />

wurde <strong>die</strong> Altenpflegepraktikantin zu 730 Euro, <strong>die</strong> Schicht<strong>die</strong>nstleiterin<br />

zu 1400 Euro und der Wohnbereichsleiter zu<br />

2800 Euro Geldstrafe verurteilt (AG Augsburg, April 2009).<br />

Fixierung – Beispiele <strong>für</strong> tödliche Unfälle<br />

Abbildung 14: Sowohl <strong>die</strong> Bett- als auch <strong>die</strong> Stuhlfixierung können bei Befreiungsversuchen<br />

oder auch bei Stürzen des Fixierten zu tödlichen Strangulationen führen.<br />

Quelle: aus „Von Fall zu Fall“ von R. Höfert


Urteil: Eigenmächtige Fixierung durch das<br />

<strong>Pflege</strong>personal<br />

Fall 3: Die Ehefrau eines Patienten verlangte Schadensersatz,<br />

weil <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>kräfte haftungsrechtlich <strong>für</strong> den Tod ihres Ehemannes<br />

verantwortlich seien. Wegen eines akuten psychotischen<br />

Schubs kam der 63-jährige Patient in das Klinikum<br />

und wurde von den zwei <strong>die</strong>nsthabenden <strong>Pflege</strong>kräften wegen<br />

starker Unruhe mittels eines Bauchgurtes und Fußfesseln<br />

im Bett fixiert. Eineinhalb Stunden später wurde eine <strong>Pflege</strong>person<br />

wegen eines Hilferufes darauf aufmerksam, dass in<br />

dem Zimmer des Patienten ein mit starker Rauchentwicklung<br />

verbundenes Feuer ausgebrochen war. Das Bettzeug des Patienten<br />

hatte sich in Brand gesetzt. Der Patient erlitt schwere<br />

Verbrennungen und verstarb nach drei Monaten. Die Ehefrau,<br />

als Klägerin, nahm das <strong>die</strong>nsthabende <strong>Pflege</strong>personal,<br />

den <strong>die</strong>nsthabenden Arzt und den Klinikträger auf Ersatz von<br />

Haushaltshilfekosten sowie von Aufwendungen in Zusammenhang<br />

mit der ärztlichen Behandlung, dem Krankenhausaufenthalt<br />

und der Beerdigung ihres Mannes in Anspruch.<br />

Die Feststellungen des Gerichtes:<br />

1. <strong>Pflege</strong>r handeln pflichtwidrig, wenn sie einen Patienten<br />

ohne vorherige schriftliche Anordnung des Arztes (teil-<br />

)fixieren und es darüber hinaus unterlassen, sofort einen<br />

Arzt von <strong>die</strong>ser Maßnahme zu unterrichten und dessen<br />

weitere Entscheidungen abzuwarten.<br />

2. Eine eigenmächtige (Teil-)Fixierung durch das <strong>Pflege</strong>personal<br />

kann nur zur Abwendung akuter Gefahren <strong>für</strong> den<br />

Patienten oder Andere, <strong>die</strong> keinen Aufschub duldet, zugelassen<br />

werden.<br />

3. Es ist ein Behandlungsfehler, einen psychiatrischen Risikopatienten,<br />

der medikamentös nicht ausreichend beruhigt<br />

worden war, im Bett zu fixieren, ohne ihn ständig optisch<br />

und akustisch zu überwachen.<br />

Aus den Gründen: Die beklagten <strong>Pflege</strong>personen und der<br />

Klinikträger haften wegen des Todes des Ehemannes gem. §<br />

§ 823, 844 Abs. 2, 831, 840 BGB gesamtschuldnerisch auf Scha-<br />

59


60<br />

denersatz. Die <strong>Pflege</strong>nden haben pflichtwidrig gehandelt, in<br />

dem sie entgegen der ihnen bekannten Weisung der (ärztlichen)<br />

Klinikleitung den Patienten ohne vorherige schriftliche<br />

Anordnung des <strong>die</strong>nsthabenden Arztes teilfixiert und es darüber<br />

hinaus unterlassen haben, den Arzt sofort von <strong>die</strong>ser Maßnahme<br />

zu unterrichten und dessen weitere Entschließung<br />

abzuwarten. Hierdurch haben sie, ohne über <strong>die</strong> erforderliche<br />

Sachkompetenz zu verfügen, Behandlungsmaßnahmen im<br />

weitesten Sinn ergriffen, <strong>die</strong> im Interesse des Heilerfolgs und<br />

der Sicherheit des Patienten dem Arzt vorbehalten sind (OLG<br />

Köln, Urteil vom 02.12.1992 – 27 U 103/91).<br />

Bedeutung der Dokumentation<br />

Die <strong>Pflege</strong>dokumentation ist bei freiheitsentziehenden<br />

Maßnahmen wesentlich. Neben der Dokumentation sollte<br />

ein Antragsvordruck <strong>für</strong> das Vormundschaftsgericht vonseiten<br />

der <strong>Pflege</strong> vorbereitet werden, der <strong>die</strong> Indikationen zu<br />

freiheitsentziehenden Maßnahmen, wie Bettgitter, <strong>Pflege</strong>stuhl,<br />

Bauchgurt oder Medikation, begründet und <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

der Zustimmung belegt. Die Anordnung zur Fixierung<br />

muss schriftlich durch den Arzt erfolgen. Dieser muss<br />

auch den Antrag umgehend beim Betreuungsgericht stellen.<br />

Wenn ein einwilligungsfähiger Patient/Bewohner zu seiner<br />

eigenen Sicherheit, z. B. ein Bettgitter wünscht, muss er <strong>die</strong>ses<br />

mit Unterschrift in der <strong>Pflege</strong>dokumentation bestätigen (Beweislast).<br />

Tipps<br />

1. Bei Zweifeln über <strong>die</strong> Genehmigungsbedürftigkeit sollte das<br />

Betreuungsgericht befragt werden. In Eilfällen, in denen<br />

zum Schutze des Betreuten ohne vorherige Genehmigung<br />

gehandelt werden muss, ist <strong>die</strong>se unverzüglich, spätestens<br />

nach 24 Stunden, nachzuholen. Dieser gerichtlichen Genehmigung<br />

bedürfen alle unterbringungsähnlichen Maßnahmen,<br />

Fixierung, Bettgitter etc., wenn sie regelmäßig<br />

oder über einen längeren Zeitraum durchgeführt werden.<br />

Der Betreuer des Patienten/Bewohners ist einzubeziehen.


2. Vor einer aus eigener Sicht zum Schutze des Patienten/Bewohners<br />

und von Mitpatienten dringend notwendigen<br />

freiheitsentziehenden Maßnahme sollte der Arzt gerufen<br />

werden, um <strong>die</strong> Art der Fixierung schriftlich anzuordnen.<br />

Zeitnah sollte <strong>die</strong> Durchführungsdokumentation geführt<br />

werden, unter Berücksichtigung der besonderen Beobachtungsverantwortung<br />

beim Risiko „Fixierung“.<br />

Sturz<br />

Schätzungen ergaben, dass jährlich mehr als 100 000 alte<br />

Menschen über 65 Jahre einen Hüftbruch erleiden. Darüber<br />

hinaus kommt es häufig zu schweren Schädelverletzungen.<br />

Neben dem Leid <strong>für</strong> <strong>die</strong> Betroffenen – und den Haftungsprozessen<br />

– entstehen in der Versorgung Folgekosten in Höhe<br />

von über einer Milliarde Euro. Sturzprävention ist daher eine<br />

wichtige pflegerische Aufgabe. Die Schadensersatzforderungen<br />

gegen Alten- und <strong>Pflege</strong>heime, hier insbesondere<br />

Regressansprüche durch <strong>die</strong> Krankenkassen, haben stark zugenommen.<br />

Bei gerichtlichen Auseinandersetzungen geht<br />

es immer darum, ob und inwiefern Sorgfalts- und Aufsichtspflichten<br />

seitens der Träger und des <strong>Pflege</strong>personals gegenüber<br />

gefährdeten Patienten verletzt worden sind.<br />

Vorwürfe sind im Wesentlichen:<br />

n keine Sturzanamnese bei Aufnahme,<br />

n keine Kenntnis und Berücksichtigung der Mitarbeiter über<br />

den Inhalt der MDK-Gutachten bezüglich besonderer <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit,<br />

n unzureichende Kommunikation mit dem behandelnden<br />

Arzt,<br />

n mangelhafte Dokumentation,<br />

n Nichtbeachtung medikamentöser Beeinträchtigung,<br />

n Nichtbeachtung vorangegangener Stürze,<br />

n unzureichende Hilfestellung durch das <strong>Pflege</strong>personal<br />

(Reichte <strong>die</strong> Begleitung durch eine Person aus?),<br />

n fehlendes Sturzprotokoll.<br />

Auch der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der <strong>Pflege</strong><br />

des Deutschen Netzwerkes <strong>für</strong> Qualitätsentwicklung in<br />

61


62<br />

Expertenstandard Sturzprophylaxe<br />

Deutsches Netzwerk <strong>für</strong> Qualitätsentwicklung in der<br />

<strong>Pflege</strong> - Stand September 2006<br />

Ergebnis E1<br />

Eine aktuelle, systematische Erfassung der Sturzrisikofaktoren<br />

liegt vor.<br />

der <strong>Pflege</strong> (DNQP) sieht unter<br />

Punkt E6 eine konsequente<br />

Dokumentation und Analyse<br />

von Stürzen vor (Tabelle 7).<br />

Urteile zu Sturzfolgen<br />

Fall 4: Eine Bewohnerin im Altenheim<br />

bricht sich bei einem<br />

verhängnisvollen Sturz beide<br />

Beine. Wenige Tage später verstirbt<br />

sie im Krankenhaus an<br />

den Folgen der Verletzungen.<br />

Eine Krankenschwester soll<br />

schuld am Tod der alten Frau<br />

sein. Im Rahmen einer Strafanzeige<br />

wegen fahrlässiger<br />

Tötung wird gegen <strong>die</strong> Krankenschwester<br />

ermittelt.<br />

Die Heimleitung stellt in<br />

<strong>die</strong>sem Zusammenhang fest,<br />

dass – entgegen der Anordnung<br />

der Heimleitung, <strong>die</strong><br />

Patientin immer mit zwei <strong>Pflege</strong>kräften zum Bad zu begleiten<br />

– <strong>die</strong> Frau von der Krankenschwester nur allein gestützt<br />

wurde. Dabei war <strong>die</strong> Patientin zusammengesackt und zu<br />

Boden gestürzt. Der Krankenschwester wird gekündigt.<br />

Fall 5: Ein dementer Heimbewohner wurde von einer ungelernten<br />

Hilfskraft (Freiwilliges Soziales Jahr) zum Toilettengang<br />

begleitet. Der Patient stürzte und musste 21 Tage stationär<br />

im Krankenhaus behandelt werden. Die Krankenkasse<br />

klagte gegen <strong>die</strong> <strong>Pflege</strong>einrichtung auf Schadensersatz. Sie<br />

forderte <strong>die</strong> Erstattung der Behandlungskosten ihres Versicherten.<br />

Entscheidungsgründe: Dem <strong>Pflege</strong>heim ist ein schuldhafter<br />

<strong>Pflege</strong>fehler vorzuwerfen, der ursächlich <strong>für</strong> den Sturz verantwortlich<br />

war. Aus den <strong>Pflege</strong>berichten geht hervor, dass<br />

der Bewohner zu dem Zeitpunkt erheblich sturzgefährdet<br />

Ergebnis E2<br />

Der Patient/Betroffene und seine Angehörigen kennen<br />

<strong>die</strong> individuellen Risikofaktoren sowie geeignete<br />

Maßnahmen zur Sturzprophylaxe.<br />

Ergebnis E3<br />

Ein individueller Maßnahmenplan zur Sturzprophylaxe<br />

liegt vor.<br />

Ergebnis E4<br />

Interventionen, Hilfsmittel und Umgebung sind dem<br />

individuellen Sturzrisiko des Patienten/Bewohners<br />

angepasst und fördern eine sichere Mobilität.<br />

Ergebnis E5<br />

Den an der Versorgung beteiligten Berufs- und Personengruppen<br />

sind das individuelle Sturzrisiko und <strong>die</strong><br />

jeweils notwendigen Maßnahmen zur Sturzprophylaxe<br />

bekannt.<br />

Ergebnis E6<br />

Jeder Sturz ist dokumentiert und analysiert. In der<br />

Einrichtung liegen Zahlen zu Häufigkeit, Umständen<br />

und Folgen von Stürzen vor.<br />

Tabelle 7


war. Zur Vermeidung eines Sturzes wäre <strong>die</strong> Beaufsichtigung<br />

durch eine insbesondere im Umgang mit sturzgefährdeten<br />

Patienten erfahrene <strong>Pflege</strong>kraft erforderlich gewesen.<br />

Das Handeln der Beklagten rechtfertigt eine entsprechende<br />

Beweislastumkehr. Die Beklagte kann den ihr obliegenden<br />

Entlastungsbeweis, dass im vorliegenden Fall trotz Verwirklichung<br />

eines Schadens im von ihr voll beherrschbaren Risikobereich<br />

kein objektiv pflichtwidriger und ihr vorwerfbarer<br />

<strong>Pflege</strong>fehler vorlag, nicht führen. Die Klägerin hat Anspruch<br />

auf Erstattung der von ihr erbrachten Aufwendungen <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />

Krankenhausbehandlung in Höhe von 5120,86 Euro (LG Heilbronn,<br />

Urteil vom 29.07.2009, AZ: 1 O 195/08).<br />

Tipps<br />

1. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe (Tabelle 7) sollte<br />

konsequent umgesetzt werden. Dabei sollten bei Pati-<br />

Rechtliche Auseinandersetzungen<br />

Staat<br />

Bürger<br />

Strafrechtliche<br />

Haftung<br />

Zivilrechtliche<br />

Haftung<br />

Bürger Bürger<br />

Strafe Schadensersatz<br />

Abbildung 15: Die Folgen von Fixierung und Stürzen haben bezüglich der Haftung sowohl<br />

eine strafrechtliche als auch eine zivilrechtliche Komponente. Quelle: Höfert R.<br />

63


64<br />

enten/Bewohnern <strong>die</strong> nachfolgenden Faktoren beachtet<br />

werden:<br />

n Sturzvorgeschichte,<br />

n veränderte Beweglichkeit,<br />

n veränderter geistiger Zustand,<br />

n veränderte Sinnesverarbeitung,<br />

n Nutzung von Hilfsmitteln zur Fortbewegung,<br />

n Nebenwirkungen von Medikamenten,<br />

n sichere Umgebung (Beleuchtung, Betthöhe, freier<br />

Bettzugang),<br />

n rutschhemmende Schuhe,<br />

n Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der<br />

<strong>Pflege</strong>planung und aus der MDK-Einschätzung,<br />

n konsequente Erstellung von Sturzprotokollen,<br />

n Dokumentation und Risikodokumentation.<br />

2. Es sollte immer gewährleistet sein, dass der Patient/Bewohner<br />

einen Alarm (Klingel) auslösen kann, dass Überwachungspatienten<br />

immer in Sichtweite sind und dass<br />

ein ungehinderter Zugang zum Bett besteht. Die Angehörigen<br />

sollten einbezogen werden und freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen nur im Notfall erfolgen. Wenn es zu<br />

einem unvermeidbaren Sturz kam, muss sofort ein Sturzprotokoll<br />

angefertigt werden.<br />

Fazit<br />

Die Entscheidung <strong>für</strong> oder gegen freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen sollte immer individuell getroffen und gut dokumentiert<br />

werden. Dabei muss auf der anderen Seite auch<br />

das Sturzrisiko, das ebenfalls juristische Konsequenzen nach<br />

sich ziehen kann, erwogen und durch geeignete Maßnahmen<br />

bekämpft werden. Sowohl in strafrechtlichen als auch<br />

in zivilrechtlichen Prozessen (Abbildung 15) spielt <strong>die</strong> Dokumentation<br />

<strong>die</strong> wesentliche Rolle als Qualitäts-, Therapie-<br />

und <strong>Pflege</strong>beweissicherung. Dennoch wird es eine absolute<br />

Sicherheit vor juristischen Konsequenzen wohl nie geben.


Medizin + <strong>Pflege</strong> müssen<br />

mehr und besser interagieren<br />

Es gibt noch vieles zu verbessern<br />

Für <strong>die</strong> nahe Zukunft stellt <strong>die</strong> Demenz eine medizinische,<br />

aber auch soziale und gesundheitspolitische Herausforderung<br />

von immenser Bedeutung dar. Die Zahl der Demenzkranken<br />

wird sich in den nächsten 15 bis 20 Jahren allein<br />

schon aufgrund des demographischen Wandels verdoppeln.<br />

Nur wenn strukturelle und therapeutische Verbesserungen<br />

Hand in Hand gehen, werden sich <strong>die</strong>se <strong>Herausforderungen</strong><br />

bewältigen lassen.<br />

Auf dem 33. Workshop des Zukunftsforums Demenz wurden<br />

einzelne wichtige Aspekte in der Demenzversorgung sowie<br />

mögliche Verbesserungsansätze diskutiert:<br />

n Immer noch wird allzu oft anstelle einer antidementiven<br />

Therapie zur mechanischen und medikamentösen Ruhigstellung<br />

gegriffen – in <strong>die</strong>ser Hinsicht sind dringend Verbesserungen<br />

notwendig, um <strong>die</strong> Lebensqualität der Patienten<br />

möglichst zu erhalten.<br />

n Nach wie vor stellen zwei Substanzgruppen (Memantine<br />

und Acetylcholinesterasehemmer) <strong>die</strong> einzigen zur Verfügung<br />

stehenden Therapieoptionen mit evidenzbasiertem<br />

Wirksamkeitsnachweis dar. In der neuen S3-Leitlinie Demenz<br />

werden <strong>die</strong>sen beiden Antidementiva höchste Evidenzgrade<br />

zugewiesen, und der Einsatz <strong>die</strong>ser Medikamente wird uneingeschränkt<br />

empfohlen. Der Zugewinn an Selbstständigkeit<br />

und Lebensqualität <strong>für</strong> <strong>die</strong> Patienten selbst wie auch <strong>für</strong><br />

<strong>die</strong> Betreuenden bleibt unbestritten. Eine leitliniengerechte<br />

Therapie der Demenz ist deshalb zu fordern!<br />

n Den betreuenden Ärzten muss vor allem <strong>die</strong> wirtschaftliche<br />

Angst vor der Antidementiva-Verordnung genommen<br />

werden – am besten über eine automatische Herausrechnung<br />

der Antidementiva als Praxisbesonderheiten in den<br />

Richtgrößen-Vereinbarungen. Darüber hinaus gilt es, <strong>die</strong><br />

65


66<br />

demenzspezifische Fortbildung zu verbessern und <strong>die</strong> Trennung<br />

<strong>Pflege</strong>kasse/Krankenkasse <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Indikation aufzuheben.<br />

n Die Sturzprävention hat eine hohe Bedeutung im Hinblick<br />

auf den Erhalt der Funktionalität und Selbstständigkeit. Die<br />

dazu erforderlichen Maßnahmen lassen sich auch bei Demenzpatienten<br />

umsetzen und sind deshalb anzuwenden!<br />

n <strong>Aktuelle</strong> Beispiele machen deutlich, dass man in der Versorgung<br />

von Demenzpatienten auch weitestgehend ohne<br />

freiheitsentziehende Maßnahmen auskommen kann. Hier<br />

ist daher ein Umdenken erforderlich.<br />

n Die Entscheidung <strong>für</strong> oder gegen freiheitsentziehende<br />

Maßnahmen sollte immer individuell, aber nie allein getroffen<br />

und gut dokumentiert werden. Dabei muss auch das<br />

Sturzrisiko, das ebenfalls juristische Konsequenzen nach sich<br />

ziehen kann, erwogen und durch geeignete Maßnahmen<br />

bekämpft werden.<br />

n Alte Menschen mit Demenz benötigen auch in der Essenssituation<br />

zusätzliche Aufmerksamkeit. Neben Sprech- und<br />

Sprachstörungen sind Schluckstörungen dringend schon in<br />

der ärztlichen Diagnostik mit zu erfassen. Im Rahmen von<br />

Qualitätssicherungsstandards sollten verbindliche Leitlinien<br />

<strong>für</strong> <strong>die</strong> Versorgung von <strong>Pflege</strong>heimbewohnern mit einer<br />

Schluck- und Essproblematik und zur Früherkennung von<br />

Betroffenen entwickelt werden.<br />

n Zunehmend wird auch <strong>die</strong> Polizei mit dem Krankheitsbild<br />

der Demenz konfrontiert. Die klassischen Situationen sind<br />

Meldungen von hilflosen oder vermissten Personen. Durch<br />

entsprechende vorbeugende, oft einfach umzusetzende<br />

Maßnahmen kann <strong>die</strong> Arbeit der Polizei in <strong>die</strong>sen Situationen<br />

erheblich erleichtert werden, was letztlich zur effektiveren<br />

Aufklärung beiträgt.


Zukunftsforum Demenz<br />

Das „Zukunftsforum Demenz“ wurde 2001 gegründet und<br />

hat sich zum Ziel gesetzt, <strong>die</strong> Versorgung der Demenzkranken<br />

in Deutschland zu verbessern, um ihnen möglichst lange<br />

ein würdevolles und – entsprechend ihren noch vorhandenen<br />

Fähigkeiten – erfülltes Leben zu ermöglichen.<br />

Dass <strong>die</strong> Versorgung der Demenzkranken verbesserungswürdig<br />

ist, ist unter den an der Versorgung Beteiligten unumstritten.<br />

Das Spektrum <strong>die</strong>ser Beteiligten reicht von den<br />

Ärzten der verschiedenen Fachrichtungen und deren Fachverbände<br />

über <strong>Pflege</strong>personal bis zu <strong>Pflege</strong>- und Krankenkassen,<br />

Selbsthilfeorganisationen und Sozialbehörden. Um<br />

Synergismen im Sinne der Versorgungsoptimierung zu erzeugen<br />

oder Versorgungsstrukturen zu verbessern, ist ein<br />

intensiver Dialog aller Beteiligten unabdingbar. Das „Zukunftsforum<br />

Demenz“ hat sich <strong>die</strong> Aufgabe gestellt, den interdisziplinären<br />

Austausch zu fördern.<br />

Dies geschieht hauptsächlich durch Workshops <strong>für</strong> verschiedene<br />

Fachgruppen, Fachtagungen in Kooperationen mit Versorgungsbeteiligten<br />

sowie daraus resultierende Informationsschriften<br />

wie Dokumentationen, Ratgeber oder Newsletter.<br />

Bei den Workshops des „Zukunftsforum Demenz“ werden<br />

wichtige Aspekte des Versorgungsproblems bei Demenz<br />

thematisiert und von Vertretern der verschiedenen mit der<br />

Versorgung betrauten Gruppen diskutiert.<br />

Das „Zukunftsforum Demenz“ versteht sich bei <strong>die</strong>sen<br />

Workshops allerdings nicht nur als Diskussionsplattform.<br />

Es wird vielmehr angestrebt, auf den Workshops<br />

Konzepte zur Versorgung der Demenzkranken<br />

anzustoßen, Forderungen zu artikulieren und deren Umsetzung<br />

zu unterstützen. Der fachliche Austausch soll –<br />

je nach Möglichkeit – <strong>die</strong> Arbeit der einzelnen Teilnehmer<br />

bereichern, Ideen liefern und so dazu beitragen, <strong>die</strong> Versorgung<br />

der Demenzkranken letztlich zu verbessern.<br />

Zu den folgenden Themenbereichen haben bisher Workshops<br />

bzw. Fachtagungen stattgefunden:<br />

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n „Geriatrisches Assessment“<br />

n „Die Arzneimittelversorgung des Demenzkranken unter<br />

den Gesichtspunkten der aktuellen Gesetzgebung“<br />

n „Probleme bei der <strong>Pflege</strong> <strong>Demenzkranker</strong>“<br />

n „Betreuungsrecht – Wer wahrt <strong>die</strong> Rechte des<br />

Demenzkranken?“<br />

n „Demenz – auf dem Weg zu einem<br />

Disease-Management-Programm?“<br />

n „Demenzkranke im Leistungsstreit zwischen<br />

Kranken- und <strong>Pflege</strong>versicherung“<br />

n „Neues aus der Demenzforschung“<br />

n „Demenz – Prävention und Erkennung von<br />

Risikofaktoren“<br />

n „Sprech- und Schluckstörungen – Problemfeld<br />

in der Demenztherapie“<br />

n „Demenz – Die Rolle des Apothekers in der<br />

Demenzberatung“<br />

n „Versorgung von Demenzkranken – Chancen und<br />

Risiken nach der Gesundheitsreform 2004“<br />

n „Qualitätsgesicherte Heimbetreuung <strong>für</strong> Demente –<br />

Wohin geht der Weg?“<br />

n „Frühformen der Demenz – Früherfassung,<br />

Risikofaktoren und Prävention bei MCI“<br />

n „Innovative Therapieansätze – in welche Richtung<br />

geht <strong>die</strong> Alzheimer-Therapie?“<br />

n „Demenz – Prävention vor <strong>Pflege</strong>“<br />

n „Musik- und Kunsttherapie bei Demenz“<br />

n „Integrierte Versorgung – der Hausarzt in der<br />

Schnittstelle Geriatrie/Demenz/<strong>Pflege</strong>“<br />

n „Perspektiven in der medizinisch-therapeutischen<br />

Versorgung in der Altenhilfe“<br />

n „Patientenrelevante Endpunkte bei der Behandlung<br />

von Demenzkranken“<br />

n „Der Nutzen der Demenztherapie <strong>für</strong> pflegende<br />

Angehörige und <strong>Pflege</strong>kräfte“<br />

n „Demenzbehandlung in <strong>Pflege</strong>heimen – Wirklichkeit,<br />

Chancen und Grenzen“


n „Nutzen einer verbesserten medizinischen Versorgung <strong>für</strong><br />

Demenzpatienten und stationäre <strong>Pflege</strong>einrichtungen“<br />

n „Therapiebegrenzung im Alter“<br />

n „Demenz-Patienten erkennen und betreuen“<br />

n „Tabuthemen bei dementen Patienten – Inkontinenz,<br />

Schmerz, Mangelernährung“<br />

n „Demenzversorgung – Anforderungen an <strong>die</strong><br />

Kranken-und <strong>Pflege</strong>versicherung“<br />

n „Wie können wir Menschen mit Demenz<br />

(noch) gerecht werden?“<br />

n „Demenzversorgung nach dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz<br />

– Perspektiven <strong>für</strong> Verträge der<br />

Integrierten Versorgung<br />

n „Geriatrische Rehabilitation – Vom Ermessen zur Pflicht<br />

auch <strong>für</strong> den dementen Patienten“<br />

n „Qualitätssicherung in der Demenzversorgung bei Multimorbidität“<br />

n „Therapie der Demenz: Multiprofessionell und integrativ“<br />

n „Strukturierte Versorgungskonzepte“<br />

n „Leitlinien bei Demenz“<br />

n „GEK-<strong>Pflege</strong>report“<br />

n „Neue Wege in der Demenzversorgung“<br />

n „Frühdiagnose Alzheimer-Demenz“<br />

n „Demenz – ein unausweichliches Alterschicksal?“<br />

Für Betroffene und Betreuende wurden darüber hinaus<br />

Broschüren vom „Zukunftsforum Demenz“ herausgegeben:<br />

n „Das schleichende Vergessen“ – Hintergrundinformationen<br />

zum Krankheitsbild der<br />

Alzheimer-Demenz und Therapiemöglichkeiten<br />

n „Rechte der Kranken- und <strong>Pflege</strong>versicherten“ –<br />

Erläuterungen <strong>für</strong> Versicherte<br />

n „Leben mit Demenzkranken – Tipps <strong>für</strong> den Alltag“ –<br />

Hilfestellung <strong>für</strong> Betreuende<br />

Weiterführende Informationen und Dokumentationen sind erhältlich bei:<br />

Zukunftsforum Demenz<br />

Eckenheimer Landstraße 100, 60318 Frankfurt am Main<br />

E-Mail: zukunftsforum@demenz.de; www.zukunftsforum-demenz.de<br />

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