Lebensart
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■2 <strong>Lebensart</strong><br />
98 stern 23/2012<br />
Von BeRT GaMeRsCHLaG (Text)<br />
und eva HaeBeRLe (Fotos)<br />
M<br />
anchmal, wenn Tim<br />
Mälzer, 41, auf Mallorca<br />
landet und Nina ihn abholt,<br />
platzt es aus ihm<br />
heraus. „Kannst du“, raunzt er,<br />
„die Gummistiefel nicht wenigstens<br />
einmal dann ausziehen,<br />
wenn du mich abholst?“<br />
Seine Freundin, sagt Mälzer<br />
triumphierend, sei noch schlimmer<br />
als er. Dabei ist er schon<br />
schlimm. Ein schwer zu bremsender<br />
Impulsivmensch, ein Chaot<br />
mit Tendenz zur patho logischen<br />
Verwahrlosung. Mit (früher mal)<br />
Sedimentschichten verkrusteter<br />
Teller und Töpfe im Spülstein und<br />
derlei Verwüstungen im Korridor,<br />
dass sich die Nachbarin durch<br />
die offene Tür ins Wohnzimmer<br />
pirschte, weil sie fürchtete, „bei<br />
dem jungen Mann“ sei eingebrochen<br />
wor den.<br />
Aber Sich-gehen-Lassen war<br />
früher. Er hat sein Leben jetzt so<br />
unter Kontrolle, dass es stetig verläuft<br />
– nach einem Burnout mit<br />
Kollaps und Suizidtendenz 2006.<br />
Auf der unbegrenzt schnellen<br />
Lebensautobahn cruist er heute<br />
bewusst bei Tempo 130. Regelmäßig<br />
zieht er sein Ego in seine<br />
Parkbucht auf Mallorca, wo<br />
er eine Finca bewohnt, und erdet<br />
sich bei Nina, die mit ihren Modderstiefeln<br />
fest im Garten steht.<br />
Tim Mälzer ist ein Phänomen,<br />
er ist mehr als Deutschlands<br />
beliebtester Fernsehkoch. Er ist<br />
ein ernst genommener Charakter,<br />
eine Autorität nicht nur in Küchen-,<br />
fast schon in Lebensfragen.<br />
Wöchentlich kocht er in der ARD.<br />
Auch ist er als Volksauf klärer für<br />
gute Ernährung un terwegs. Seine<br />
Kochbücher „Born to Cook“ (I und<br />
II) sowie „Mälzer und Witzigmann“<br />
verkaufen sich gut, und in<br />
Talkshows verkauft er sich gut.<br />
Sein Lokal Bullerei im Hamburger<br />
Schlachthofviertel läuft bestens,<br />
und er verdient, wie er sagt, „gutes<br />
Geld, wirklich tolles Geld“.<br />
Kaum einer aber weiß, wer dieser<br />
Mann Mälzer ist. Wie es kam,<br />
dass er jetzt dort ist, wo er ist.<br />
Dass er von Glück reden kann,<br />
überhaupt noch zu sein. Wobei er<br />
Tim Mälzer in<br />
seiner Bullerei,<br />
einem Hamburger<br />
Restaurant<br />
mit New Yorker<br />
Loft-Charakter<br />
selbst kaum von „Glück“ spräche,<br />
dass er noch lebt. Wäre er tot,<br />
auch nicht schlimm. Tot ist tot. Da<br />
ist er emotionslos. Unlängst hat<br />
er „einen Mitarbeiter verloren,<br />
mit 26, das ist für mich okay.<br />
Wenn Leute sterben, sterben sie.“<br />
Er empfindet keine Trauer, ist so.<br />
Er kultiviert Emotionslosigkeit,<br />
seziert nüchtern. „Ich nehme die<br />
Dinge genau wahr, durchschaue<br />
die Menschen, stelle aber nichts<br />
infrage. Die Frage ‚Warum?‘ gibt<br />
es bei mir nicht.“ Für ihn gilt nur<br />
das Wie. Wie gelingt die Sauce,<br />
wie funktioniert der Typ vor ihm,<br />
wie kontrolliert er eine Gruppe?<br />
Er könnte sich vorstellen, noch<br />
mal zu studieren. Welches Fach?<br />
„Psychologie.“ Um den Menschen<br />
besser zu verstehen? „Nein, um<br />
ihn besser zu manipulieren.“<br />
Mälzer platzen derlei Sätze heraus,<br />
als hätte er sie lange schon auf<br />
dem gedanklichen Herd hin und<br />
her gewendet. Ähnlich ist es, wenn<br />
er sagt, im Grunde sei er seit dem<br />
Alter von acht Jahren ausgereift.<br />
Ein Scheidungskind, scharf beobachtend,<br />
schwer zu ent täuschen,<br />
wenig erwartend, gar nichts erhoffend,<br />
aus allem das Beste machend.<br />
Er nennt das seine „analytische<br />
Seite“. Den Fernsehkoch mit dem<br />
„Laberteppich“ (Mälzer) umgibt<br />
ein Schleier des Traurigen. „Ich bin<br />
der lachende und der weinen-<br />
de Clown“, sagt er, er habe dieses<br />
Klischee schon oft bemüht.<br />
Dass Mälzer heute ernst genommen<br />
wird, liegt auch an<br />
der Wiederauferstehung des gebrochenen<br />
Küchenkaspers, der<br />
zu seinem Bruch stand und steht.<br />
Er war zu schnell aus dem<br />
Nichts zum Superduperturbokoch<br />
geworden, getrieben von sich<br />
selbst, mehr aber noch von anderen.<br />
Vor allem war er nicht er<br />
selbst. Er war ein Plagiat – und<br />
unsicher.<br />
Er kochte in einem Hamburger<br />
Restaurant, als Fernsehleute den<br />
„deutschen Jamie Oliver“ suchten.<br />
Der echte Jamie hatte 1999<br />
die britische Fernsehküche revolutioniert.<br />
Er war jung und trug<br />
T-Shirt, sabbelte und quatschte,<br />
schnodderte und schnackte im<br />
Londoner Vorstadtakzent. Voll<br />
der Proll. Er nahm das französische<br />
„Oh, là, là“ aus der Fernsehküche,<br />
mischte den Salat mit<br />
den Händen und wischte sie an<br />
der Hose ab. Bei ihm lief alles<br />
schnell.<br />
Deutsche Fernsehmacher sind<br />
wenig innovativ – blöd sind<br />
sie nicht. 2003 finden sie Mäl-<br />
zer, ein Kind aus den Hamburger<br />
Vororten. Er ist jung und trägt<br />
T-Shirt, er sabbelt und quatscht,<br />
er schnoddert und schnackt im<br />
Jugendslang. Der Formattrans-<br />
fer klappt, Mälzer wird rasch<br />
populär, und kaum ist das so, ➔