Bayerisches Netzwerk Pflege - Bayerisches Staatsministerium für ...
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<strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong><br />
<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />
Familie und Frauen<br />
Angehörigenberatung e.V. Nürnberg<br />
Beratung und Unterstützung <strong>für</strong><br />
Angehörige von hilfebedürftigen<br />
älteren Menschen<br />
<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong><br />
Dokumentation der<br />
6. Bayerischen Fachtagung<br />
„Weiterentwicklung der Angehörigenarbeit“<br />
Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis<br />
am 18./19. September 2002<br />
in Stein bei Nürnberg
2<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Eröffnung und Einführung Seite 04<br />
H.D. Mückschel, Geschäftsführer der Angehörigenberatung e.V.<br />
Nürnberg<br />
Eingangsstatement Seite 06<br />
Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong><br />
Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen<br />
Referat 1<br />
Symptomatik bei <strong>Pflege</strong>bedürftigen und bei pflegenden Ange- Seite 08<br />
hörigen<br />
Dr. Wolf-Dietrich Braunwarth, Klinikum Nürnberg Nord<br />
Referat 2<br />
Besonderheiten bei der Einstufung gerontopsychiatrischer Seite 12<br />
Patienten in die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />
Dr. Werner Haas, MdK-Bayern, Nürnberg<br />
Referat 3<br />
Umsetzung, Förderung, Weiterentwicklung der Versorgungs- Seite 23<br />
Strukturen, niederschwellige Betreuungsangebote, Modell-<br />
projekte<br />
Maria Weigand, Regierungsrätin im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong><br />
<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, München<br />
Anlagen: Vortragscharts Seite 29<br />
Referat 4<br />
Wohnungs-Verwahrlosung – Handlungsentscheidungen Seite 39<br />
zwischen Zwangsunterbringung und selbstbestimmten<br />
Lebensstil<br />
Dr. med. Lothar Linstedt, Leiter der Abt. Sozialpsychiatrie am<br />
Gesundheitsamt der Stadt Augsburg
Workshop 1<br />
Begleitung von Angehörigen bei der Begutachtung und dem Seite 60<br />
Widerspruch gerontopsychiatrisch Erkrankter (Fallbeispiele,<br />
praktische Übungen)<br />
Hans-Dieter Mückschel, Dipl. Sozialpädagoge/FH<br />
Konstanze Pilgrim, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung<br />
Nürnberg e.V.<br />
Workshop 2<br />
Methoden der Erwachsenenbildung bei der Schulung und<br />
Anleitung von ehrenamtlichen Helfer/innen Seite 66<br />
Gerlinde Dietl, Dipl. Sozialpädagogin, Beratzhausen<br />
Workshop 3<br />
Provokation und Humor in der Beratungsarbeit?! Seite 82<br />
Jürgen Escher, Dipl. Sozialpädagoge/FH, Coburg<br />
Workshop 4<br />
Aktivierung und Entspannung durch Bewegung in der Seite 84<br />
Gruppenarbeit<br />
Heide Reiser, Diplom-Tanztherapeutin, Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie am<br />
Klinikum Nürnberg Nord<br />
Barbara Kuhn, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung<br />
Nürnberg e.V.<br />
Zusammenfassung der Ergebnisse und Abschluss der Seite 90<br />
Fachtagung<br />
Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong><br />
<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, München<br />
3
Hans-Dieter Mückschel, Geschäftsführung Angehörigenberatung e.V. Nürnberg<br />
4<br />
Eröffnung und Einführung<br />
Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sehr geehrte Referentinnen und Referenten,<br />
ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen des Vereins Angehörigenberatung zur 6. Fachtagung<br />
im Rahmen des Bayerischen <strong>Netzwerk</strong>s <strong>Pflege</strong>, die wir wieder gemeinsam mit dem<br />
Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen <strong>für</strong> Sie organisiert<br />
haben.<br />
Mein Name ist Hans-Dieter Mückschel, ich bin der neue und alte Geschäftsführer der Angehörigenberatung<br />
e.V. Nürnberg.<br />
Als Gründungsmitglied der Angehörigenberatung war ich seit 1986 bis zum Jahre 1996<br />
hauptamtlich und schließlich auch als Geschäftsführer <strong>für</strong> die Beratungsstelle tätig. Danach<br />
leitete ich bis zum Mai diesen Jahres den Bereich der klinischen Sozialarbeit in einer Rehabilitationsklinik,<br />
bevor ich sozusagen zur alten Arbeitsstätte zurückgekehrt bin.<br />
Meiner Vorgängerin Frau Gerlinde Dietl, die aus privaten Gründen Ende März diesen Jahres<br />
die Angehörigenberatung verlassen hat, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich <strong>für</strong> die<br />
hervorragende Arbeit danken und insbesondere <strong>für</strong> die gute Vorplanung unserer aktuellen<br />
Tagung. Ich freue mich sehr, dass Sie auch heute und morgen als Workshop-Moderatorin<br />
unter uns ist.<br />
Die große Resonanz scheint zu bestätigen, dass wir mit unserem Titelthema „Weiterentwicklung<br />
der Angehörigenarbeit - Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis“ und den angebotenen<br />
Fachreferaten und Workshops Ihr Interesse gefunden haben. Den aktuellen gesetzlichen<br />
Neuerungen durch das <strong>Pflege</strong>leistungsergänzungsgesetz tragen wir mit zwei Fachreferaten<br />
Rechnung und sind sicher alle besonders gespannt, was uns Frau Weigand am morgigen<br />
Tag zur Umsetzung in Bayern berichten wird.<br />
Wir hoffen, dass Sie in den zwei Tagen neue Anregungen und Informationen aufnehmen<br />
können und auch Zeit finden, sich mit Fachkollegen und Fachkolleginnen auszutauschen. In<br />
den Grundsatzreferaten werden wichtige alltagsrelevante Fragen der Beratungsarbeit angesprochen:<br />
die Themen Beratung bei Depressionen, Einstufung in die <strong>Pflege</strong>versicherung von<br />
gerontopsychiatrischen Patienten und Fragen der Zwangsunterbringung werden uns beschäftigen<br />
und sicher auch zur Diskussion anregen.<br />
Die Workshops spannen diesmal den fachlichen Bogen vom Informations- und Erfahrungsaustausch<br />
zur Bewegungsübung, Entspannung und dem Thema Humor in der Beratung.<br />
Wir haben bewusst <strong>für</strong> beide Tage das Workshop-Programm gleich gehalten, damit es Ihnen<br />
allen möglich sein kann, an zwei unterschiedlichen Workshops teilzunehmen.
5<br />
Organisation<br />
Bevor ich nun das Wort an den Vertreter des <strong>Staatsministerium</strong>s Herrn Ministerialrat Meinhard<br />
Loibl übergebe, möchte ich zum Schluss noch einige organisatorische Hinweise geben:<br />
Als Begleiter durch die Fachtagung stehe ich Ihnen gemeinsam mit meinen Kolleginnen Frau<br />
Barbara Kuhn, Frau Konstanze Pilgrim und Frau Barbara Schirmer <strong>für</strong> Fragen jederzeit zur<br />
Verfügung.<br />
In den Pausen kümmert sich Frau Schirmer um den Verkauf von Fachbroschüren. Diese<br />
sind an den Infotischen zu erhalten.<br />
Die Essenszeiten sind 12.00 <strong>für</strong> Mittagessen (Speisesaal), 18.00 Uhr Abendessen und 8.00<br />
Uhr Frühstück. Das Abendessen ist <strong>für</strong> alle Teilnehmerinnen bestellt und bezahlt.<br />
Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir uns möglichst genau an den Programmrahmen und<br />
an die angegebene Zeitplanung halten werden.<br />
Bitte tragen Sie sich nach den Impulsreferaten in der Kaffeepause <strong>für</strong> die Workshops ein. Sie<br />
finden die Listen draußen an der Stellwand vor dem Saal. Wir treffen uns dann alle im Plenum<br />
(großer Saal) wieder und Ihre Referentin bzw. Referent begleitet Sie von dort aus in den<br />
jeweiligen Raum. Bitte beachten Sie, dass die Teilnehmerzahl jeweils auf 20 Teilnehmerinnen<br />
beschränkt ist. Bitte darüber hinaus keine weiteren Anmeldungen machen. Am nächsten<br />
Tag besteht ja eine zweite Chance.<br />
Hinweisen möchte ich noch darauf, dass auf den Stühlen ein Rückmeldeblatt zur Tagungsauswertung<br />
liegt. Bitte geben Sie dies in den Karton hier im Raum ausgefüllt zurück. Außerdem<br />
möchten wir allen Teilnehmerinnen anbieten, dass wir Ihnen mit der Tagungsdokumentation<br />
eine Liste mit den Adressen und den jeweiligen Angeboten der Einrichtungen der Tagungsteilnehmerinnen<br />
zusenden (Kontaktbörse). Voraussetzung da<strong>für</strong> ist, dass Sie dazu die<br />
ausliegende Liste ausfüllen.<br />
Schlusswort<br />
Zum Schluss möchte ich uns noch ein kleines Tagungsmotto von Arthur Schnitzler mit auf<br />
den Weg geben:<br />
„Lebensklugheit bedeutet alle Dinge möglichst wichtig aber keines völlig ernst zu<br />
nehmen!“
Meinhard Loibl, Ministerialrat, <strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />
Familie und Frauen<br />
6<br />
Eingangsstatement<br />
Das Thema unserer diesjährigen Fachtagung handelt von der Weiterentwicklung der Angehörigenarbeit<br />
– Ziel unserer Tagung ist eine bessere Zurüstung <strong>für</strong> die beruflichen Vollzüge<br />
in diesem Arbeitsfeld. Lassen Sie mich einleitend zu „Weiterentwicklung“ einige grundsätzliche<br />
und perspektivische Ausführungen machen.<br />
• Der Standort und die Bedeutung der Angehörigenarbeit im gesellschaftlichen Hilfssystem<br />
<strong>für</strong> ältere Menschen, die der Unterstützung, der Hilfe, der <strong>Pflege</strong>, der tatsächlichen<br />
oder rechtlichen Betreuung, der Aufsicht und der Zuwendung bedürfen, ist immer<br />
noch zuwenig bestimmt, zu unsicher finanziert und, was das eingesetzte Personal<br />
sowie die eingesetzten Finanzmittel anbetrifft, im Verhältnis zu stationären <strong>Pflege</strong>angeboten<br />
immer noch marginal. Jedoch sind überall in Bayern in den vergangenen<br />
Jahren – auch mit Hilfe der Förderung im Rahmen des <strong>Netzwerk</strong>s <strong>Pflege</strong> – etliche<br />
Stellen geschaffen worden. Ein erfreulicher Anfang!<br />
•<br />
• Wichtige und gesellschaftlich sowie fachpolitisch allgemein akzeptierte Grundsätze<br />
im Bereich der Hilfe und <strong>Pflege</strong> <strong>für</strong> ältere Menschen sind<br />
•<br />
o ambulant vor teilstationär vor stationär<br />
o Prävention vor Behandlung und Rehabilitation vor <strong>Pflege</strong><br />
• Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken.<br />
• Die konzeptionelle Arbeit zur Weiterentwicklung muss sich mit diesen Grundsätzen<br />
auseinandersetzen und eigene kreative Lösungsansätze entwickeln – einige Beispiele:<br />
• o Um die ambulante Arbeit zu stärken, sind neben den unverzichtbaren bezahlten<br />
• Kräften auch freiwillig Tätige anzuwerben, die alltagsweltliche Bezüge <strong>für</strong> das<br />
• Klientel in besonders flexibler Weise gewährleisten können.<br />
• Durch frühzeitige Beratung und günstige Beeinflussung der Lebensverhältnis-<br />
• se(z.B. Wohnen) können Hilfs- und <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit abgemildert und hinaus-<br />
• geschoben werden.<br />
o Der angemessene Umgang mit Demenzkranken muss entwickelt werden, die<br />
Angehörigenfachstellen haben hier ein hochbedeutsames Arbeitsfeld. Gerade<br />
das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz, mit dem wir uns auf dieser Tagung be-<br />
schäftigen werden, wird die Entwicklung in diesem Bereich beschleunigen.<br />
• Zu einer professionellen systemischen Sichtweise des familialen Hilfs- und <strong>Pflege</strong>systems<br />
mit Fokus auf den pflegenden Angehörigen gehört es auch, die Grenzen des<br />
Systems zu erkennen und abgestufte Entlastungs- und Betreuungsangebote zu organisieren<br />
(z.B. Erholung, Angehörigengruppen, Betreuungsgruppen, Tagespflege,<br />
Kurzzeitpflege). Auch eine stationäre Dauerunterbringung (Heim) muss professionell<br />
in die Wege geleitet werden, wenn das häusliche System trotz dieser Angebote auf<br />
Dauer überfordert ist. Es gilt hier, zukünftige <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit der <strong>Pflege</strong>personen<br />
zu vermeiden und dem pflegebedürftigen Menschen Lebensqualität zu bieten – dies<br />
erfordert aber qualitativ anspruchsvolle Angebote in den Heimen!
7<br />
• Die Herausforderungen der Angehörigenarbeit werden auch durch die demografischen<br />
Entwicklungen zunehmen, dazu einige Hinweise:<br />
o Die Zahl der älteren Menschen nimmt absolut und im Verhältnis zu den Jünge-<br />
ren zu,<br />
o damit ist auch mit einer weiteren Zunahme pflegebedürftiger Menschen zu<br />
rechnen, wobei diese Zahl abhängig ist vom präventiven Verhalten, von Fort-<br />
schritten der medizinischen Wissenschaft sowie von Verbesserungen im Ver-<br />
sorgungssystem, z.B. geriatrische Rehabilitation, und<br />
o die hochbetagten Menschen nehmen überproportional zu.<br />
Ab dem 80sten Lebensjahr steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, überproportional<br />
an. Die Folge - in Zusammenschau mit der überproportionalen Zunahme<br />
der Hochbetagten – ist, dass unsere Gesellschaft ein soziales und pflegerisches<br />
Problem bekommen wird, das weder schwerpunktmäßig durch die Angehörigen allein<br />
noch durch ein massiv ausgebautes, aber nicht bezahlbares Heimsystem bewältigt<br />
werden kann. Auf die Angehörigenfachstellen kommen weitere Aufgaben zu, die<br />
zusätzliche neue und andere Qualifikationen erfordern. Ich tippe hier nur Aufgaben an<br />
wie Wohnberatung, Aktivierung und Begleitung freiwilliger Helfer in bedeutend größerem<br />
Umfang als jetzt, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, Entwicklung von Nachbarschaftsnetzen<br />
usw. Hier werden neue Angebote von Fort- und Weiterbildung gefragt<br />
sein.<br />
• Fachpolitisches Ziel ist es, die Angehörigenfachstellen zu umfassenden, professionellen<br />
Schaltstellen in der kommunalen Altenhilfe und Altenpflege weiterzuentwickeln.<br />
Ich wünsche Ihnen allen, dass die Tagung einen guten Verlauf nimmt, ich freue mich auf die<br />
Gespräche mit Ihnen.
Dr. W.-D. Braunwarth, Facharzt <strong>für</strong> Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt <strong>für</strong><br />
Neurologie, Oberarzt Klinikum Nürnberg Nord<br />
8<br />
Referat 1<br />
Beratung bei Depression, Symptomatik bei <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />
und bei pflegenden Angehörigen<br />
Mit einer Punktprävalenz von 2 – 7 % der Gesamtbevölkerung stellen Depressionen ein insgesamt<br />
häufiges Krankheitsbild dar. Dennoch liegt beispielsweise in allgemeinärztlichen<br />
Praxen die Erkennungsrate unter 50 %. Es ist deshalb von großer Bedeutung, allen Berufsgruppen,<br />
die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, auf depressive Personen zu treffen, Informationen<br />
zu diesem Krankheitsbild zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht beispielsweise<br />
im Nürnberger Bündnis gegen Depressionen <strong>für</strong> viele verschiedene Berufsgruppen wie<br />
Allgemeinärzte, Seelsorger, Sozialpädagogen, Polizeibeamte und Altenpfleger.<br />
Eine häufig übersehene Krankheit:<br />
Depressionen werden häufig deshalb nicht als solche erkannt, weil auch die Betroffenen ihre<br />
körperlichen Beschwerden ganz in den Vordergrund stellen, oder weil Klagen über gedrückte<br />
Stimmung fälschlicherweise als normalpsychologische Befindlichkeitsstörung, nicht aber als<br />
Krankheitssymptom interpretiert werden. Darüber hinaus werden Depressionen, da sie sich<br />
„nur im Kopf abspielen“, nicht so ernst genommen wie körperliche Erkrankungen. Wohlgemeinte<br />
Ratschläge wie etwa der, sich einen Urlaub zu gönnen, sind eher schädlich als hilfreich,<br />
weil ein Depressiver während eines Urlaubes nur noch stärker mit seinen Symptomen<br />
Melancholie, Freudlosigkeit, sozialer Rückzug und Insuffizienzerleben konfrontiert wird.<br />
Vorurteile betreffen aber auch die Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere die Therapie mit<br />
Antidepressiva. Diese werden immer noch mit suchterzeugenden Tranquilizern oder Drogen<br />
verwechselt.<br />
Die Erkrankung muss ernst genommen werden:<br />
Depressionen sind rezidivierende, phasenhaft verlaufende Erkrankungen. Eine durchschnittliche<br />
Phase dauert etwa 6 Monate. Leidet der Betroffene an einer rezidivierenden depressiven<br />
Störung, so wird er im statistischen Mittel während seines Lebens etwa 7 Krankheitsphasen<br />
durchmachen. Während dieser Phasen besteht ein ungemein hoher Leidensdruck,<br />
darüber hinaus ist in Anbetracht der Suizidrate von bis zu 15 % <strong>für</strong> schwere Depressionen<br />
von einer erheblichen Lebensbedrohung durch diese Erkrankung auszugehen.<br />
Hauptsymptome:<br />
Zentrales Symptom der Depression ist eine melancholische Stimmung. Diese sollte nicht mit<br />
einem Gefühl von Trauer oder Frustration verwechselt werden. Viel zutreffender ist das<br />
Schlagwort vom „Gefühl der Gefühllosigkeit“. Die Depression bedeutet in erster Linie einen<br />
Verlust der Fähigkeit, positive wie auch negative Gefühle zu empfinden. Dieser als ausgesprochen<br />
quälend zu beschreibende Zustand betrifft auch Gefühle, die die Betreffenden<br />
normalerweise ihren Angehörigen gegenüber haben. Der weitgehende Verlust des Gefühlslebens<br />
führt häufig zu Selbstvorwürfen der Betroffenen.<br />
Daneben führt eine Depression regelmäßig zu einem weitgehenden Verlust an Interesse an<br />
allen Dingen, die den Betreffenden sonst wichtig waren, sowie zu einer Unfähigkeit, Freude<br />
zu empfinden. Es kommt zu sozialem Rückzug, Aufgabe aller Hobbies, verlorener Genussfähigkeit,<br />
erlöschendem sexuellen Interesse und Einengung der Gedankenwelt bis hin zu
9<br />
einem unproduktiven Gedankenkreisen. Dieser Rückzug führt zu einem Ausbleiben der<br />
sonst gewohnten positiven Erlebnisse, sogenannter Verstärker, was seinerseits wieder zu<br />
einer Zunahme der depressiven Symptomatik führt (Psychologisches Modell des Verstärkerverlusts<br />
bei Depressionen).<br />
In der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen ist darüber hinaus ein Antriebsdefizit zu beobachten,<br />
das im Extremfall dazu führen kann, daß der Betroffene nicht einmal mehr in der<br />
Lage ist, das Bett zu verlassen. Dieser Antriebsmangel wird häufig auch körperlich als Kraftlosigkeit<br />
gespürt.<br />
Weitere Symptome:<br />
Bei Depressionen sind häufig Lebensbereiche, die mit der inneren Uhr des Organismus zusammen<br />
hängen, gestört. Viele Patienten berichten über Schlafstörungen mit charakteristischem<br />
Früherwachen gegen 02.00 Uhr, über eine Betonung ihrer depressiven Symptomatik<br />
in den Morgenstunden bei gleichzeitiger Besserung am Abend sowie eine Häufung depressiver<br />
Beschwerden zu bestimmten Jahreszeiten, besonders im Frühjahr und im Herbst.<br />
Depressionen führen meist auch zu vegetativen Beschwerden mit Appetit- und Gewichtsverlust<br />
sowie Obstipation.<br />
Das Denken ist von Besorgnis und Angst in Bezug auf die grundlegenden Fragen unserer<br />
Existenz bestimmt, nämlich die körperliche Gesundheit (Hypochondrie), die materielle Existenzgrundlage<br />
(Verarmungsängste) und die transzendente Existenz (Schuld- und Versündigungsgedanken).<br />
Die Mehrzahl der Patienten berichtet von Lebensüberdruß, ein beträchtlicher Anteil auch von<br />
manifesten Suizidgedanken.<br />
Verschiedene Verlaufsformen:<br />
Am häufigsten ist die rezidivierende depressive Störung, in deren Verlauf der Patient mehrmals<br />
im Leben abgegrenzte Depressionen erlebt, in den freien Intervallen dazwischen jedoch<br />
beschwerdefrei ist. Seltener sind die sogenannten bipolaren Verläufe, bei denen neben<br />
den wiederkehrenden Depressionen auch deren Spiegelbild, Manien, beobachtet werden.<br />
Manische Phasen sind von einem krankhaften Stimmungshoch mit Antriebssteigerung und<br />
Minderung des Kritikvermögens gekennzeichnet.<br />
Von den phasenhaften Verläufen abzugrenzen ist diejenige Patientengruppe, die quasi konstitutionell<br />
dauerhaft leicht depressiv ist, ohne einerseits jemals ganz beschwerdefrei zu sein,<br />
andererseits aber auch ohne unbedingt schwere depressive Phasen zu erleben. Diesen Verlauf<br />
bezeichnet man als Dysthymie, an anderer Stelle wird dieses Krankheitsbild auch als<br />
depressive Neurose oder depressive Persönlichkeitsstörung bezeichnet.<br />
Die Häufigkeit depressiver Störungen in der Altenbevölkerung<br />
Verschiedene Studien zeigen, daß depressive Störungen in der Altenbevölkerung mit einer<br />
Häufigkeit von 9,7 – 22,5 % auftreten. Schwere depressive Erkrankungen im Sinne des ICD-<br />
10 treten in der Altenbevölkerung je nach Studie in einer Häufigkeit von 1,2 – 3,7 % auf. Untersucht<br />
man besondere Populationen, wie die Bewohner von Alten- und <strong>Pflege</strong>heimen, so<br />
findet man noch einmal eine deutliche Zunahme der Depressivität. So sind einer Erhebung<br />
folgend 30 – 40 von 100 Heimbewohnern depressiv und 10 – 30 von 100 Demenzkranken<br />
leiden an Depressionen. Das Thema Depressivität im höheren Lebensalter wird dadurch<br />
noch einmal akzentuiert, daß sich zeigen läßt, dass die Suizidrate insbesondere bei Männern<br />
ab dem 70. Lebensjahr massiv ansteigt. Faktoren, die auf ein erhöhtes Depressionsrisiko im<br />
höheren Lebensalter hinweisen, sind Verlusterlebnisse, akute und chronische körperliche<br />
Erkrankungen sowie Behinderungen, Vereinsamung, Fehlen zufriedenstellender sozialer<br />
Beziehung, Verwitwung, Scheidung, ungünstige ökonomische Situationen, Heimaufenthalt,
10<br />
vorangegangene Depressionen, Frühstadien einer Demenz sowie eher zwanghafte introvertierte<br />
oder ängstlich vermeidende Persönlichkeitstypen.<br />
Demenz oder Depression<br />
Die Abgrenzung einer Depression gegen eine Demenz bereitet oft Probleme, wobei natürlich<br />
auch die Fälle zu berücksichtigen sind, bei denen Demenz und Depression zusammentreffen.<br />
Generell kann festgehalten werden, daß depressive Patienten spontan und oft verstärkt<br />
über subjektiv erlebte Defizite im Bereich von Merkfähigkeit und Konzentration klagen, während<br />
demente Patienten ihre objektiv vorhandenen kognitiven Einbußen häufig selbst wenig<br />
wahrnehmen. Generell wird bei dieser Fragestellung jedoch eine Abklärung durch den Psychiater<br />
und Nervenarzt empfohlen.<br />
Therapiemöglichkeiten<br />
Es gibt ein breites Spektrum von Behandlungswegen mit wissenschaftlich abgesicherter Effizienz.<br />
Am einfachsten zu erreichen und am raschesten zu realisieren ist eine Pharmakotherapie<br />
mit Antidepressiva, die jedoch eine gute Aufklärung und Motivation des Patienten und<br />
seiner Angehörigen voraussetzt. Dies ist deshalb umso wichtiger, weil der Effekt der Therapie<br />
nach frühestens drei Wochen Behandlung einsetzt und bei erfolgreicher Behandlung diese<br />
über 6 Monate fortgeführt werden muß, um den Therapieerfolg zu erhalten. Bei leichten<br />
und mittelschweren Depressionen ist die Psychotherapie der medikamentösen Therapie<br />
gleichwertig. Sie ist allerdings auch jetzt noch deutlich schwerer zu realisieren und meistens<br />
mit Wartezeiten von mehreren Monaten verbunden. Die Teilnahme an einer Psychotherapie<br />
setzt auch bzgl. Motivation, kognitiven Funktionen, Introspektionsfähigkeit und Verbalisationsfähigkeit<br />
Ansprüche, die nicht automatisch von jedem Patient erfüllt werden können. Die<br />
Kombination von Psychotherapie und antidepressiver Pharmakotherapie bringt in der kurzfristigen<br />
Behandlung der Depression wenig Gewinn, kann aber das langfristige Behandlungsergebnis<br />
günstig beeinflussen.<br />
Abgeleitet vom Verstärkerverlustmodell sind soziotherapeutische Maßnahmen, die dem Patienten<br />
soziale Kontakte und Erfolgserlebnisse ermöglichen, von großer Bedeutung. Die<br />
Wachtherapie bietet in 60 – 70 % der Fälle eine kurzfristige Linderung der Beschwerden, die<br />
jedoch nicht von Dauer ist. Die Lichttherapie ist nur indiziert, wenn eine echte, vom Psychiater<br />
zu diagnostizierende Winterdepression vorliegt, eine in unseren Breiten höchst seltene<br />
Erkrankung. Die heute nur noch selten eingesetzte Elektrokrampftherapie bietet dann noch<br />
eine Behandlungschance, wenn alle anderen Therapieverfahren versagt haben und die<br />
Schwere des Krankheitsbildes eine Behandlung notwendig macht. Bei therapieresistenten<br />
Fällen sind dann noch bei 80 % Besserung oder Heilung zu erreichen.<br />
Wie begegne ich Depressiven?<br />
Zunächst ist es von großer Bedeutung, das Beschwerdebild als Krankheit zu erkennen und<br />
anzusprechen. Da krankheitsbedingt dem Betroffenen die Fähigkeit zur Hoffnung auf Besserung<br />
und Genesung verlorengegangen ist, sollte der Gesprächspartner im Sinne der „stellvertretenden<br />
Hoffnung“ diese vorübergehend verlorengegangene Ich-Funktion ersetzen.<br />
Für das Gespräch mit Depressiven sind eine vertrauenschaffende Atmosphäre und ein möglichst<br />
großzügig bemessener Zeitrahmen von Bedeutung. Den Klagen des Erkrankten sollte<br />
Raum gegeben werden. Auf sachlicher Ebene können depressiv-verzerrte Sichtweisen des<br />
Betroffenen durchaus im Gespräch korrigiert werden. Dagegen sind gut gemeinte, oberflächliche<br />
Aufmunterungen wie „Kopf hoch“ oder „Das wird schon wieder“ fehl am Platz, da sie bei<br />
den Depressiven lediglich das Gefühl erzeugen, unverstanden zu sein und sein von Selbstvorwürfen<br />
geprägtes Erleben, ein „Versager“ zu sein, nur verstärken. Suizidäußerungen Depressiver<br />
sind stets ernst zu nehmen. Es ist durchaus erlaubt, diese auch aktiv zu erfragen,<br />
da in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich Lebensüberdruß oder Suizidgedanken vorliegen.<br />
Ist eine Behandlung in Gang gekommen, so sollten Betroffene wie Angehörige möglichst gut<br />
über das Wesen der Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten informiert werden. Den
11<br />
Angehörigen kommt häufig die Aufgabe zu, auf die regelmäßige Einnahme der Medikamente<br />
und auf die Wahrnehmung der Arztbesuche zu achten. Auch muß häufig da<strong>für</strong> Sorge getragen<br />
werden, daß depressive Patienten ausreichend Flüssigkeit und Kalorien zuführen. Körperliche<br />
Aktivität sollte gefördert werden, der Tagesablauf sollte behutsam strukturiert werden.<br />
Die Kontakte mit dem Patienten sollten <strong>für</strong> diesen planbar sein, Termine mit hoher Zuverlässigkeit<br />
eingehalten werden. Auch kleine Fortschritte des Patienten sollten gebührend<br />
gewürdigt werden, da sie das erwünschte, antidepressive Verhalten verstärken. Eine Überforderung<br />
des Patienten, dem auf dem Tiefpunkt seiner Depression schon kleinste Alltagsaktivitäten<br />
zuviel sein können, ist zu vermeiden.
Dr. Werner Haas MDK Bayern, Nürnberg<br />
12<br />
Referat 2<br />
Besonderheiten bei der Einstufung gerontopsychiatrischer Patienten<br />
in die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />
Zahlen:<br />
Im ambulanten Bereich der sozialen <strong>Pflege</strong>versicherung beziehen bundesweit rd. 1,27 Mio.<br />
Versicherte Leistungen nach SGB XI, in Bayern werden 190.000 Menschen zu Hause gepflegt<br />
bei insgesamt 270 000 anerkannten <strong>Pflege</strong>bedürftigen.<br />
(Stand: 30.06.2001)<br />
Zuordnung zu den <strong>Pflege</strong>stufen:<br />
<strong>Pflege</strong>stufe I 695.852 = 54,7 %<br />
<strong>Pflege</strong>stufe II 447.348 = 35,1 %<br />
<strong>Pflege</strong>stufe III 129.739 = 10,2 %<br />
gesamt 1.272.939 = 100 %<br />
Die Leistungen im Überblick:<br />
Häusliche <strong>Pflege</strong><br />
<strong>Pflege</strong>sachleistung<br />
bis € monatlich<br />
<strong>Pflege</strong>geld<br />
€ monatlich<br />
<strong>Pflege</strong>stufe I <strong>Pflege</strong>stufe II <strong>Pflege</strong>stufe III<br />
Erheblich Schwerpflege- Schwerstpflege-<br />
<strong>Pflege</strong>bedürftige bedürftige bedürftige/ (3+)<br />
384 921 1.432/ (1.918)<br />
205 410 665<br />
Übersicht über die zugelassenen <strong>Pflege</strong>einrichtungen nach dem SGB XI:<br />
(Statistik des VdAK ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Stand: 01.10.2001)<br />
Land<br />
Bayern<br />
ambulante teilstationäre Kurzzeitpflege-<br />
Einrichtungen Einrichtungen Einrichtungen<br />
1.841 412 554<br />
Vollstationäre<br />
Einrichtungen<br />
1.379<br />
Prävalenz gerontopsychiatrischer Erkrankungen in Mittelfranken:<br />
(Stand 31.12.1999)<br />
Gesamtbevölkerung: 1.683.282 Einwohner,<br />
davon über 65 Jahre: 275.440 Einwohner;<br />
Psychische Erkrankungen: 68.860 (= 25%)<br />
Demenz: 16.526 (= 6%)<br />
Schwere depressive Erkrankung: 5.509 (= 2%)<br />
Depressive Störungen insgesamt: 27.544 (= 10%)<br />
Schizophrenie: 1.377 (= 0,5%)<br />
Anhaltende wahnhafte Störungen: 27.544 (= 10%)<br />
Alkoholismus: 4.132 (= 1,5%)<br />
(Bayer. Landesamt <strong>für</strong> Statistik und Datenverarbeitung, Stand: 31.12.1999)
13<br />
Jährliche Umsätze aus der <strong>Pflege</strong>versicherung<br />
1995: 9,72<br />
1996: 21,24<br />
1997: 29,61<br />
1998: 31,05<br />
1999: 31,32<br />
2000: 32,61<br />
2001: ~33,5 Milliarden DM<br />
Zufriedenheit:<br />
Dennoch bestand seit dem ersten Jahr nach Einführung des <strong>Pflege</strong>versicherungsgesetzes<br />
zunehmende Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Einstufung.<br />
Dies mag damit zusammenhängen, dass nicht vermittelt werden konnte, dass Leistungen<br />
nach dem <strong>Pflege</strong>versicherungsgesetz nie alle denkbar notwendigen oder gar erbrachten Leistungen<br />
und Belastungen entgelten können.<br />
Das Gesetz legt i.V.m. den BRi die wesentlichen Kriterien, die sog. "täglichen Verrichtungen"<br />
zur Bestimmung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit fest, woraus sich der Hilfebedarf und die Stufe der<br />
<strong>Pflege</strong>bedürftigkeit ergeben.<br />
I. Was ist der zu berücksichtigende Hilfebedarf?<br />
Maßstab <strong>für</strong> die Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit und die Zuordnung zu einer <strong>Pflege</strong>stufe<br />
ist der individuelle Hilfebedarf des Antragstellers bei den abschließend genannten gewöhnlichen<br />
und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen.<br />
Dieser <strong>für</strong> die Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit und die Zuordnung zu einer <strong>Pflege</strong>stufe<br />
maßgebliche Hilfebedarf ergibt sich nach Art, Häufigkeit, zeitlichem Umfang und Prognose<br />
aus<br />
• der individuellen Ausprägung von funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen<br />
durch Krankheit oder Behinderung,<br />
• der individuellen Lebenssituation (Wohnverhältnisse, soziales Umfeld),<br />
• der individuellen <strong>Pflege</strong>situation<br />
unter Zugrundelegung der Laienpflege.<br />
Es ist ausschließlich auf die Individualität des <strong>Pflege</strong>bedürftigen abzustellen. Die Individualität<br />
der <strong>Pflege</strong>person bzw. -personen werden nicht berücksichtigt.<br />
II. Formen der Hilfeleistung<br />
Bei den Formen der Hilfe werden die Unterstützung, die teilweise oder vollständige Übernahme<br />
der Verrichtung sowie die Beaufsichtigung und Anleitung unterschieden.<br />
Diese Individuellen Hilfeleistungen wiederum können dabei aus einer Kombination einzelner<br />
Hilfeformen zusammengesetzt sein oder im Tagesverlauf wechselnde Hilfeformen bedingen.<br />
Sie sind dann in ihrer Gesamtheit zu werten.<br />
Unterstützung bedeutet, noch vorhandene Fähigkeiten bei den Verrichtungen des täglichen<br />
Lebens zu erhalten und zu fördern sowie dem <strong>Pflege</strong>bedürftigen zu helfen, verloren gegangene<br />
Fähigkeiten wieder zu erlernen und nicht vorhandene zu entwickeln (aktivierende <strong>Pflege</strong>).<br />
Dazu gehört auch die Unterstützung bei der richtigen Nutzung der ihm überlassenen Hilfsmittel.
14<br />
Eine Unterstützung z. B. beim Waschen liegt dann vor, wenn eine bettlägerige Person sich<br />
zwar selbst waschen kann, aber das Waschwasser bereitgestellt, nach dem Waschen beseitigt<br />
oder ein Waschlappen angereicht werden muss. Weitere Beispiele sind die Auswahl geeigneter<br />
Kleidungsstücke im Rahmen des An- und Auskleidens, insbesondere bei geistig<br />
Behinderten oder die Hilfe bei der Überwindung von Hindernissen (Treppenstufen, Bordsteinschwellen)<br />
bei einem hinsichtlich der Fortbewegung ansonsten selbständigen Rollstuhlfahrer.<br />
Teilweise Übernahme bedeutet, dass die <strong>Pflege</strong>person den Teil der Verrichtungen des täglichen<br />
Lebens übernimmt, den der <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst nicht ausführen kann. Auch die<br />
teilweise Übernahme sollte im Sinne der aktivierenden <strong>Pflege</strong> erbracht werden.<br />
Eine teilweise Übernahme der Verrichtung liegt dann vor, wenn eine Hilfe zur Vollendung<br />
einer teilweise selbständig erledigten Verrichtung benötigt wird.<br />
Eine teilweise Übernahme des Waschens liegt z.B. dann vor, wenn Gesicht und Körper selbständig<br />
gewaschen werden, <strong>für</strong> das Waschen der Füße und Beine aber die Hilfe einer <strong>Pflege</strong>person<br />
benötigt wird. Auch wenn eine Verrichtung begonnen, aber z. B. wegen Erschöpfung<br />
abgebrochen wird, kann eine teilweise Übernahme der Verrichtung notwendig werden.<br />
Bei geistig Verwirrten oder psychisch Kranken kann eine teilweise Übernahme dann erforderlich<br />
werden, wenn der <strong>Pflege</strong>bedürftige von der eigentlichen Verrichtung wiederholt abschweift<br />
oder die Verrichtung trotz Anleitung zu langsam und umständlich ausführt. In einem<br />
solchen Fall muss z. B. das Waschen wegen der Gefahr des Auskühlens von der <strong>Pflege</strong>person<br />
durch eine teilweise Übernahme zu Ende gebracht werden.<br />
Die teilweise Übernahme kann Bestandteil der aktivierenden <strong>Pflege</strong> sein. Sie ist dann darauf<br />
gerichtet, verloren gegangene Fähigkeiten wieder zu erlernen oder nicht vorhandene Fähigkeiten<br />
zu entwickeln. Auch wenn diese Ziele z. B. bei rasch fortschreitenden Erkrankungen<br />
nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zu verwirklichen sind, soll der <strong>Pflege</strong>bedürftige die<br />
Verrichtungen des täglichen Lebens so weit wie möglich selbständig übernehmen.<br />
Drittens bedeutet vollständige Übernahme, dass die <strong>Pflege</strong>person alle Verrichtungen selbst<br />
ausführt, die der <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst nicht ausführen kann. Auch die vollständige Übernahme<br />
sollte im Sinne der aktivierenden <strong>Pflege</strong> erbracht werden.<br />
Eine vollständige Übernahme liegt dann vor, wenn die <strong>Pflege</strong>person die Verrichtung selbst<br />
ausführt und der <strong>Pflege</strong>bedürftige sich dabei passiv verhält, ohne einen eigenen Beitrag zur<br />
Vornahme der Verrichtung zu leisten. Die vollständige Übernahme mehrerer Verrichtungen<br />
ist bei der Mehrzahl der <strong>Pflege</strong>bedürftigen nicht erforderlich. Sie kommt vor allem bei bewusstseinseingeschränkten<br />
oder gelähmten Menschen in Betracht.<br />
Überversorgung ist auszuschließen.<br />
Schließlich: Die Hilfeformen der Anleitung und Beaufsichtigung kommen insbesondere bei<br />
geistig behinderten, psychisch kranken und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen in<br />
Betracht. Auch hier ist nur der Hilfebedarf in Form der Anleitung und Beaufsichtigung zu berücksichtigen,<br />
der bei den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlich ist.<br />
Anleitung bedeutet, dass die <strong>Pflege</strong>person bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der<br />
einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren<br />
muss.<br />
Dies kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn der <strong>Pflege</strong>bedürftige trotz vorhandener<br />
motorischer Fähigkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchführen<br />
kann.
Zur Anleitung gehört auch die Motivierung des Antragstellers bzw. <strong>Pflege</strong>bedürftigen zur<br />
selbständigen Übernahme der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen<br />
Lebens.<br />
Bei der Beaufsichtigung steht einmal die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der<br />
Verrichtungen im Vordergrund.<br />
15<br />
Z.B. ist Beaufsichtigung beim Rasieren erforderlich, wenn durch unsachgemäße Benutzung<br />
der Klinge oder des Stroms eine Selbstgefährdung gegeben ist.<br />
Zum anderen kann es um die Kontrolle darüber gehen, ob die betreffenden Verrichtungen in<br />
der erforderlichen Art und Weise durchgeführt werden.<br />
Eine Aufsicht, die darin besteht zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen<br />
Lebens überhaupt ausgeführt werden, und lediglich dazu führt, dass gelegentlich zu<br />
bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss, reicht nicht aus.<br />
Nur konkrete Anleitung, Überwachung und/oder Erledigungskontrollen sind zu berücksichtigen,<br />
die die <strong>Pflege</strong>person in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden wie bei<br />
unmittelbarer personeller Hilfe.<br />
Beaufsichtigung und Anleitung zielen darauf, dass die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen<br />
im Ablauf des täglichen Lebens nach § 14 Abs. 4 SGB XI in sinnvoller Weise vom<br />
<strong>Pflege</strong>bedürftigen selbst durchgeführt werden. Beaufsichtigung und Anleitung bei diesen<br />
Verrichtungen richten sich auch darauf, körperliche, psychische und geistige Fähigkeiten zu<br />
fördern und zu erhalten (z. B. Orientierung zur eigenen Person und in der Umgebung),<br />
Selbst- oder Fremdgefährdung zu vermeiden (z. B. durch unsachgemäßen Umgang mit<br />
Strom, Wasser oder offenem Feuer), Ängste, Reizbarkeit oder Aggressionen abzubauen.<br />
Ein unabhängig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlicher allgemeiner<br />
Aufsichts- und Betreuungsbedarf (z. B. eines geistig Behinderten) zur Vermeidung<br />
einer möglichen Selbst- oder Fremdgefährdung ist bei der Feststellung des Hilfebedarfs lt.<br />
BRi und Gesetz nicht zu berücksichtigen.<br />
III. Welche Besonderheiten bei der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Personen mit psychischen<br />
Erkrankungen und/oder geistigen Behinderungen gelten nun?<br />
Bei der Begutachtung von psychisch Kranken kann eine Reihe von Besonderheiten auftreten<br />
in Bezug darauf, dass psychisch kranke und geistig behinderte Menschen häufig in der Lage<br />
sind, die Verrichtungen des täglichen Lebens ganz oder teilweise selbst auszuführen. Krankheits-<br />
und behinderungsbedingt kann jedoch die Motivation zur Erledigung der Verrichtung<br />
fehlen, obwohl die Notwendigkeit grundsätzlich erkannt werden kann. Andere Kranke und<br />
Behinderte erkennen die Notwendigkeit der Verrichtung nicht, sind aber nach entsprechender<br />
Aufforderung zur selbständigen Erledigung in der Lage. Ohne die Hilfe einer <strong>Pflege</strong>person<br />
unterbleiben hier die Verrichtungen des täglichen Lebens.<br />
In wieder anderen Fällen werden die Verrichtungen des täglichen Lebens zwar begonnen,<br />
jedoch nicht zielgerecht zu Ende geführt. Die Verrichtung wird dann abgebrochen und entweder<br />
nicht oder erst nach Unterbrechung(en) beendet. Wiederum andere Menschen können<br />
die Verrichtungen zwar erledigen, gefährden sich jedoch hierbei im Umgang mit alltäglichen<br />
Gefahrenquellen, indem z. B. vergessen wird, den Herd oder fließendes Wasser abzustellen.<br />
Bei geistig behinderten, psychisch kranken und gerontopsychiatrisch veränderten<br />
Menschen kommen insbesondere die Hilfeformen der Anleitung und Beaufsichtigung in Betracht.
16<br />
Auch hier ist nur der Hilfebedarf in Form der Anleitung und Beaufsichtigung zu berücksichtigen,<br />
der bei den genannten Verrichtungen erforderlich ist.<br />
Aufgabe des Gutachters ist es, Art und Umfang der Hilfeleistungen "Beaufsichtigung" und<br />
"Anleitung" allein im Zusammenhang mit den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im<br />
Ablauf des täglichen Lebens nach § 14 Abs. 4 SGB XI zu ermitteln.<br />
In der Regel wird der Hilfebedarf von dem <strong>Pflege</strong>bedürftigen selbst nicht richtig wiedergegeben,<br />
wenn die Krankheitseinsicht fehlt, die tatsächlichen Hilfeleistungen nicht erinnert oder<br />
aus Scham verschwiegen werden. Nur die <strong>Pflege</strong>person selbst wird in der Regel hierzu in<br />
der Lage sein. <strong>Pflege</strong>dokumentationen oder längerfristige Aufzeichnungen des Hilfebedarfs<br />
(<strong>Pflege</strong>tagebuch) sind besonders geeignet, um objektive Feststellungen treffen zu können.<br />
Dabei muss der Zeitaufwand <strong>für</strong> Anleitung und Beaufsichtigung bei den einzelnen Verrichtungen<br />
in jedem Einzelfall individuell erhoben und in dem Gutachten bewertet werden.<br />
Beispiel: Bei der <strong>Pflege</strong>zeitbemessung ist die gesamte Zeit zu<br />
berücksichtigen, die <strong>für</strong> die Erledigung der Verrichtung benötigt wird.<br />
Entfernt sich z.B. ein unruhiger Demenzkranker beim Waschen aus dem<br />
Badezimmer, so ist auch die benötigte Zeit <strong>für</strong> ein beruhigendes<br />
Gespräch, das die Fortsetzung des Waschens ermöglicht, zu<br />
berücksichtigen.<br />
Die Begutachtung geistig behinderter oder psychisch kranker Antragsteller dauert in der Regel<br />
länger als die Begutachtung von Antragstellern mit körperlichen Erkrankungen.<br />
IV. Welche Krankheitsbilder sind bei diesen Überlegungen relevant?<br />
1. Hirnorganische Erkrankungen (Demenzen und organische Psychosen)<br />
Demenzkranke sind die weitaus größte Gruppe aller psychisch Erkrankten. Hier kann das<br />
manchmal unauffällige äußere Erscheinungsbild in der Begutachtungssituation Anlass zu<br />
Fehldeutungen geben. Die Antragsteller können, zumal in vertrauter Umgebung, bei der<br />
Kontaktaufnahme zunächst orientiert und unauffällig wirken, so dass die Einschränkung der<br />
seelisch-geistigen Leistungsfähigkeit nicht deutlich wird. Hier kann gezieltes Befragen, z.B.<br />
zur Krankheitsvorgeschichte und aktuellen Lebenssituation, dennoch Defizite aufzeigen.<br />
Bei Demenzkranken können Schwankungen im Tagesverlauf auftreten. Einige psychisch<br />
kranke <strong>Pflege</strong>bedürftige sind tagsüber nur relativ leicht gestört, während sie am späten<br />
Nachmittag und nachts unruhig und verwirrt sind. Da das Befinden und die kognitive Leistungsfähigkeit<br />
Schwankungen unterliegen können, sind die Angaben von Angehörigen und<br />
<strong>Pflege</strong>nden unentbehrlich.<br />
2. Geistige Behinderungen<br />
Die meisten der geringgradig geistig behinderten Personen erlangen durch Förderung eine<br />
weitgehende Unabhängigkeit in der Selbstversorgung und in praktischen und häuslichen<br />
Tätigkeiten. Bei mittelgradiger geistiger Behinderung werden tägliche Verrichtungen im<br />
Handlungsablauf oft nicht verstanden. Die Patienten müssen bei einigen Verrichtungen zeitweise<br />
angeleitet und beaufsichtigt werden.<br />
Schwere und schwerste geistige Behinderungen bedürfen eines hohen pflegerischen Aufwands<br />
und gehen häufig mit körperlich neurologischen Defiziten einher.
3. Schizophrene und manisch-depressive (sog. endogene) Psychosen<br />
17<br />
Bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen ist die sog. Minussymptomatik mit u. a. Antriebsschwäche,<br />
Ambivalenz, Mangel an Spontaneität, autistischen Zuständen, affektiven<br />
Störungen und Denkstörungen am häufigsten pflegebegründend.<br />
Beispiel: Vernachlässigung der Hygiene und eingeschränkte soziale Kompetenz sind häufig.<br />
Die Patienten können sich dann nicht mehr ausreichend selbst versorgen und sehen teilweise<br />
die Notwendigkeit der Verrichtungen selbst nicht. Umstimmungs- und Überzeugungsarbeit<br />
beim Aufstehen, Waschen, Anziehen, bei regelmäßiger Nahrungsaufnahme und anderen<br />
Verrichtungen erfordern oft erheblichen zeitlichen Aufwand.<br />
Psychosekranke können situationsabhängig und u. U. auch in der Begutachtungssituation<br />
wenig auffällig wirken. Auch hier ist die Befragung der Angehörigen oder anderer <strong>Pflege</strong>personen<br />
sehr wichtig.<br />
Für den Zeitaufwand der Grundpflege legt § 15 Abs. 3 SGB XI Mindestzeitwerte fest, die wöchentlich<br />
im Tagesdurchschnitt erreicht werden müssen.<br />
Zur Erinnerung:<br />
<strong>Pflege</strong>stufe Grundpflege<br />
I mehr als 45 Minuten<br />
II 120 Minuten<br />
III 240 Minuten<br />
Die genannten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des<br />
täglichen Lebens sind gemäß Gesetz:<br />
5.1. Körperpflege<br />
Das Waschen<br />
Das Duschen<br />
Das Baden<br />
Die Zahnpflege<br />
Das Kämmen<br />
Das Rasieren<br />
Die Darm- und Blasenentleerung<br />
5.2. Ernährung<br />
Das mundgerechte Zubereiten der Nahrung<br />
Die Aufnahme der Nahrung<br />
5.3. Mobilität<br />
Das selbständige Aufstehen und Zubettgehen - Umlagern<br />
Das An- und Auskleiden<br />
Das Gehen<br />
Das Stehen<br />
Das Treppensteigen<br />
Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung<br />
5.4 Hauswirtschaftliche Versorgung<br />
...<br />
Es ist richtig, dass <strong>Pflege</strong> aus mehr als den dort aufgeführten, allein körperbezogenen Verrichtungen<br />
besteht, eine Ausweitung darüber hinaus wurde jedoch vom Gesetzgeber im SGB<br />
XI ausdrücklich ausgeschlossen. Die <strong>Pflege</strong>versicherung sollte bekanntermaßen eine Teil-
18<br />
kasko-Versicherung sein und sie ist es nach dem Willen des Gesetzgebers auch nach den<br />
neuen Regelungen geblieben.<br />
Daher gilt zusammenfassend:<br />
Nur die in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen der Bereiche Körperpflege, Ernährung,<br />
Mobilität und Hauswirtschaftliche Versorgung dürfen zur Bewertung von <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />
herangezogen werden. Zwar muss der Hilfebedarf in diesen Bereichen auch bei Unterstützung,<br />
Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme<br />
berücksichtigt werden, aber eben nur, soweit er mit den konkreten Verrichtungen in Zusammenhang<br />
steht. Jedenfalls wurde eine "allgemeine Beaufsichtigung", die darüber hinausgeht,<br />
bei der Bemessung des Hilfebedarfs ausgeschlossen. Dies wurde bisher vom BSG in Urteilen<br />
zu diesem Problemkreis immer wieder bestätigt.<br />
MDK-eigene Untersuchungen<br />
Der MDK in Bayern war bereits im Jahr 1997 vom Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit<br />
und Sozialordnung, Frauen, Familie und Gesundheit um Prüfung gebeten worden, ob durch<br />
eine gesetzeskonforme, aber von den Richtlinien abweichende Begutachtung von Personengruppen<br />
mit bestimmten Diagnosen signifikante Veränderungen in der Einstufung dieser<br />
Personen zur <strong>Pflege</strong>versicherung zu erwarten sind. Hierbei sollten insbesondere die Gruppe<br />
der geistig und psychisch Behinderten Berücksichtigung finden. Schon damals erschienen<br />
"Anleitung und Beaufsichtigung" das Merkmal zu sein, das aufgrund einer vermeintlichen<br />
"Unterbewertung" auf das größte Unverständnis bei den Antragstellern stößt.<br />
Auch nach einer aktuellen Auswertung von Gutachten, die die Diagnose "Demenz" berücksichtigen,<br />
wurde bereits nach den bisher geltenden Richtlinien übereinstimmend das untersuchte<br />
Personenkollektiv in einem über dem allgemeinen Durchschnitt liegenden Maß in die<br />
höhere <strong>Pflege</strong>stufen eingruppiert, während die Zahl der Ablehnungen und der Zuerkennung<br />
von Stufe 1 unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt.<br />
Aktuelle Situation<br />
Im Hinblick auf die demografischen Veränderungen wird sich die Situation in der Altenpflege<br />
verschärfen. Neben den rund 25.000 Mitarbeitern der ambulanten sozialpflegerischen Dienste<br />
im Freistaat Bayern werden die <strong>Pflege</strong>leistungen zum Großteil von den Angehörigen erbracht.<br />
Diese <strong>Pflege</strong> ist bekanntermaßen mit großen körperlichen und seelischen Belastungen,<br />
mit Verzicht und Entbehrungen verbunden.<br />
Bereits heute ist eine steigende Anzahl der <strong>Pflege</strong>bedürftigen multimorbid erkrankt und mit<br />
der Zunahme hochbetagter Menschen wird die Zahl derer, die an Demenz - vornehmlich an<br />
Alzheimer - erkranken, dramatisch ansteigen. Daher muss sich die Gesellschaft auf das Risiko<br />
'Demenz' als einer verantwortlichen Gemeinschaftsaufgabe vorbereiten". Auch die Politik<br />
stellt sich dieser Herausforderung. Ministerin Stewens fordert dazu: "Damit die erkrankten<br />
Menschen möglichst lange im gewohnten Umfeld bleiben können, benötigen wir neben qualifizierten<br />
Fachkräften auch den Einsatz von Familienangehörigen und freiwilligen Helfern."<br />
Bereits vor Jahren hat die Bayerische Staatsregierung festgestellt, dass im Rahmen einer<br />
vorausschauenden Altenpolitik reagiert werden müsse. Es wurde erkannt, dass die verstärkte<br />
Einbindung der Gerontopsychiatrie in die Ausbildung der <strong>Pflege</strong>fachkräfte, die Entlastung<br />
der pflegenden Angehörigen und der Aufbau verbesserter Strukturen ambulanter gerontopsychiatrischer<br />
Versorgung notwendig sind.<br />
So gab es bereits seit 1998 die Förderung von Angehörigengruppen im Rahmen des Bayerischen<br />
<strong>Netzwerk</strong>es <strong>Pflege</strong> (Angehörigenarbeit). Derzeit können in Bayern 62 Angehörigen-
19<br />
Fachstellen, 87 Angehörigen-Gruppen und 42 Betreuungsgruppen zur Entlastung mit unterschiedlicher<br />
Standortdichte gezählt werden.<br />
Auch der MDK in Bayern ist im Rahmen interner Fortbildungen bestrebt, seine eigenen Gutachter<br />
auf dem Gebiet der Gerontopsychiatrie weiterzuqualifizieren und <strong>für</strong> diese spezielle<br />
Problematik zu sensibilisieren.<br />
Waren aus gutachterlicher Sicht Tagespflege, Betreuungsleistungen, ambulante Rehabilitation<br />
zu empfehlen, so musste bisher häufig festgestellt werden, dass die notwendige Infrastruktur<br />
da<strong>für</strong> nicht vorhanden war.<br />
Über diese politischen und gutachterlichen Aspekte hinaus sind aber auch verstärkt Anstrengungen<br />
zu unternehmen, um Verständnis und Solidarität der Gesellschaft einzufordern, um<br />
Selbständigkeit zu bewahren und ggf. die pflegenden Angehörigen zu entlasten.<br />
Seit Beginn der <strong>Pflege</strong>versicherung stellten sich somit zunehmend die Fragen:<br />
♦ Welche Möglichkeiten gibt es, die Versorgung pflegebedürftiger, insbesondere altersdementer,<br />
Menschen zu verbessern?<br />
♦ Wie lassen sich Diagnose- und Beratungsmöglichkeiten verbessern? Wer übernimmt die<br />
Kosten?<br />
Die Antwort darauf soll das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz - PflEG geben:<br />
Nach längerer Vor- und Abstimmungsarbeit wurde am 15. November 2001 das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz<br />
verabschiedet und zum 01.01.2002 in Kraft gesetzt. Leistungen<br />
sind seit dem 01.04.2002 abrechenbar. Dadurch sollen <strong>für</strong> die pflegenden Angehörigen zusätzliche<br />
Möglichkeiten zur dringend notwendigen Entlastung geschaffen werden, <strong>für</strong> die<br />
<strong>Pflege</strong>bedürftigen [in der Entlastungsphase der pflegenden Angehörigen] aktivierende und<br />
qualitätsgesicherte Betreuungsangebote zur Verfügung gestellt und strukturpolitisch sinnvolle<br />
Weichenstellungen vorgenommen werden.<br />
Berechtigter Personenkreis<br />
Der berechtigte Personenkreis umfasst nach dem Gesetz <strong>Pflege</strong>bedürftige der Stufen I, II, III<br />
mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder psychischen<br />
Erkrankungen (= Eingrenzung auf bestimmte Diagnosen), bei denen der Medizinische Dienst<br />
gemäß Gesetz dauerhafte Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens in Form<br />
von erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt hat.<br />
Die Maßnahmen im Einzelnen<br />
Bei häuslicher <strong>Pflege</strong> besteht durch das <strong>Pflege</strong>leistungsergänzungsgesetz ein zusätzlicher<br />
Leistungsanspruch <strong>für</strong> "<strong>Pflege</strong>bedürftige mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung<br />
und Betreuung". Danach kann dieser Personenkreis zusätzliche finanzielle Hilfen der<br />
<strong>Pflege</strong>versicherung im Wert bis zu 460 € (900 DM) pro Kalenderjahr <strong>für</strong> qualitätsgesicherte<br />
Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen.<br />
Die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> „demente" <strong>Pflege</strong>bedürftige<br />
wird gefördert mit zwei ineinander greifenden Komponenten:<br />
a. Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote, ergänzt durch<br />
oder kombiniert mit der<br />
b. Förderung von Modellprojekten.
Als zusätzliche Betreuungsleistungen (1) können nach dem Gesetz bspw. als Tages-<br />
/Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Betreuungsleistungen zugelassener <strong>Pflege</strong>dienste niedrigschwelliger<br />
Betreuungsangebote in Anspruch genommen werden.<br />
20<br />
Unter niedrigschwelligen Betreuungsangeboten sind zu verstehen:<br />
Tagesbetreuung in Kleinstgruppen,<br />
Nachtcafes,<br />
Betreuungsgruppen durch gerontopsychiatrische Zentren<br />
Fachberatung,<br />
Familienentlastende Dienste<br />
Helferinnenkreise.<br />
Es handelt sich dabei um reine Sachleistungen, die mit der Kasse abgerechnet werden, Gelder<br />
werden nicht ausgezahlt.<br />
Der Aufbau der neuen Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen (2) wird anteilig<br />
durch die soziale und private <strong>Pflege</strong>versicherung einerseits, sowie durch Länder und/oder<br />
Kommunen andererseits in Höhe von insgesamt 20 Mio. € jährlich finanziert.<br />
Auf das Bundesland Bayern entfallen dabei nach einer bestimmten Berechnungsgrundlage<br />
insgesamt 2,9 Mio. € <strong>für</strong> die Förderungen der niedrigschwelligen Betreuungsangebote und<br />
die Modellprojekte.<br />
Neu geregelt werden auch die Beratungseinsätze gemäß § 37 SGB XI, wonach bei Stufe I<br />
und II einmal halbjährlich, nach Stufe III einmal vierteljährlich ein Einsatz abgerufen und bescheinigt<br />
werden muss. Die Einsätze werden von der <strong>Pflege</strong>kasse mit bis zu 16 oder 26 €<br />
beglichen.<br />
Personen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung dürfen diese<br />
Einsätze in diesen Zeiträumen zweimal in Anspruch nehmen.<br />
Nicht in Anspruch genommene Beträge aus dem Jahres-Budget können ins Folgejahr übernommen<br />
werden.<br />
Das Gesetz steht dabei weiterhin eindeutig unter dem engen Finanzierungsmantel des bisher<br />
gültigen 1,7%igen Beitragssatzes. Dieser wird auch nicht geändert. In der Begründung<br />
des Gesetzes heißt es dazu:<br />
"Aufgrund dieser bestehenden finanziellen Rahmenbedingungen ist es nicht<br />
möglich, mit diesem Gesetz die Demenzproblematik durchgreifend zu lösen,<br />
der Teilsicherungscharakter der <strong>Pflege</strong>versicherung wird grundsätzlich<br />
auch in diesem Bereich nicht verändert werden können".<br />
Damit wird zum wiederholten Male deutlich ausgesprochen, dass die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />
eine Teilkaskoversicherung ist und bleibt, die an verschiedenen Stellen Entlastung bzw. einen<br />
Zuschuss bietet, nicht mehr und nicht weniger. Sie steht unter dem gesellschaftlichen<br />
Finanzierungsvorbehalt.<br />
KOMMENTAR:<br />
Grundsätzlich sieht das Bundesministerium vorrangig im ambulanten Bereich Handlungsbedarf,<br />
um demenzkranke <strong>Pflege</strong>bedürftige besser zu versorgen und pflegende Angehörige zu<br />
entlasten.<br />
Im stationären Bereich könnten entstehende Aufwendungen <strong>für</strong> den besonderen Hilfe- und<br />
Betreuungsbedarf dementiell erkrankter <strong>Pflege</strong>bedürftiger ja bereits jetzt aufgrund des ge-
21<br />
setzlichen Anspruchs von Heimträgern auf eine leistungsgerechte Vergütung in den Heimentgelten<br />
berücksichtigt werden.<br />
Verordnung zur Ausführung des PflEG - AVPflEG<br />
Zur länderspezifischen Umsetzung des Gesetzes hat die Bayerische Staatsregierung dazu<br />
die Ausführungsverordnung auf den Weg gebracht. Die Verordnung ist am 01.04.2002 in<br />
Kraft getreten.<br />
Als zuständige Behörde ist das <strong>Bayerisches</strong> Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung<br />
in Bayreuth (Hegelstrasse 2) <strong>für</strong> die Anerkennung, die Rücknahme und den Widerruf<br />
von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten nach § 45b Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 vom Bayerischen<br />
<strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen eingeschaltet.<br />
Von dort werden als niedrigschwellige Betreuungsangebote auf Antrag anerkannt:<br />
• Betreuungsgruppen <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftige mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen,<br />
geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen,<br />
• ehrenamtliche Helferinnen- und Helferkreise zur Entlastung der pflegenden Angehörigen<br />
in Gruppen oder in Einzelbetreuung,<br />
• familienentlastende Dienste und schließlich<br />
• Dienste, die Leistungen der Familienpflege und Dorfhilfe erbringen, sowie<br />
• niedrigschwellige Betreuungsangebote <strong>für</strong> Menschen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner<br />
Beaufsichtigung und Betreuung.<br />
Voraussetzungen <strong>für</strong> die Anerkennung sind ein nachvollziehbares Konzept, ausreichender<br />
Versicherungsschutz, Verpflichtung zur Erstellung eines Tätigkeitsberichts und Auskunftspflicht<br />
über Zahl und Art der Betreuungen und Kräfte.<br />
Gefordert wird im Einzelnen <strong>für</strong> Betreuungsgruppen i. S. des § 2 Nr. 1, dass<br />
• die Leitung durch eine Fachkraft mit psychiatrischer, gerontopsychiatrischer oder heilpädagogischer<br />
Erfahrung sichergestellt ist,<br />
• die Durchführung unter Mitwirkung von fachlich geschulten und angeleiteten ehrenamtlichen<br />
Helferinnen (<strong>für</strong> 1 bis 3 Betreute) erfolgt<br />
• durchschnittlich mindestens vier Hilfebedürftige durch die Gruppe betreut werden und<br />
• angemessene Räumlichkeiten zur Verfügung stehen.<br />
Die Betreuungsgruppen sollen in mindestens 14-tägigem Rhythmus angeboten werden, von<br />
den <strong>Pflege</strong>kassen wird ein wöchentlicher Turnus angestrebt.<br />
Die Ausbildung der Helferinnen soll 40 Unterrichtseinheiten zu je 45' umfassen und danach<br />
eine kontinuierliche Begleitung sichergestellt werden können.<br />
Angestrebt wird von der Bayer. Staatsregierung der Aufbau von gemeinwesenorientierten<br />
gerontopsychiatrischen Verbundsystemen, wie sie bereits in Schwaben oder Würzburg<br />
(HALMA) bestehen.<br />
Die erklärten Ziele dieser Aktivitäten sind:<br />
- der Erhalt der eigenen Häuslichkeit<br />
- ressourcenorientierter Hilfeansatz<br />
- Vollversorgung unter der Prämisse "ambulant vor stationär"<br />
- Vernetzung der Hilfeanbieter<br />
Umsetzung<br />
Der Medizinische Dienst hat in diesem Verfahren im Rahmen der Begutachtung zu bewerten,<br />
ob dauerhafte Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens in Form von erheblicher<br />
Einschränkung der Alltagskompetenz vorliegen.
22<br />
Die Begutachtungsrichtlinien sind dahingehend ergänzt worden.<br />
Dabei sollen<br />
� Eigen- und Fremdgefährdung,<br />
� soziales Verhalten,<br />
� Eigenantrieb, Stimmung, Wahrnehmung, Erleben sowie der<br />
� Tag-Nacht-Rhythmus<br />
berücksichtigt werden.<br />
Dies bedeutet <strong>für</strong> den Patienten [oder die Angehörigen], bei der zuständigen <strong>Pflege</strong>kasse im<br />
Rahmen des normalen Antrags- und Einstufungsverfahren die Einschränkung der Alltagskompetenz<br />
feststellen zu lassen. Patienten, die bereits eingestuft sind, können [und müssen]<br />
einen zusätzlichen Antrag stellen. Diese Konstellation wurde <strong>für</strong> die Bearbeitung bisher als<br />
"Altfall" bezeichnet. Diese Regelung wird zum 30.09.2002 auslaufen.<br />
Im Rahmen der regulären Begutachtung wird zunächst ein sogenanntes "Screening" im Bereich<br />
der psychischen Fähigkeitsstörungen durchgeführt, das im Falle von einer Auffälligkeit<br />
durch das eigentliche "Assessment" erweitert wird. Das Assessment enthält 13 Positionen in<br />
zwei unterschiedlich gewichteten Blöcken und ist positiv, wenn wenigstens in zwei unterschiedlichen<br />
Bereichen wenigstens einmal dauerhafte und regelmäßige Schädigungen festgestellt<br />
werden.<br />
Das Gesetz regelt außerdem, dass auf Antrag regelmäßig mit Hilfe dieses Assessmentverfahrens<br />
die Begutachtung im häuslichen Bereich durchgeführt wird. Nur ausnahmsweise und<br />
nur vorübergehend war bei bereits anerkannten <strong>Pflege</strong>bedürftigen, den sog. "Altfällen" eine<br />
Begutachtung nach Aktenlage möglich.<br />
Ausblick und Anstöße<br />
... In diesem Sinne ist die Feststellung im Gesetzesentwurf zu verstehen, dass "bürgerschaftliches<br />
Engagement ... eine unverzichtbare Bedingung <strong>für</strong> den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />
..." ist, eine Aussage, die den Leitgedanken der <strong>Pflege</strong>versicherung zur Verbesserung<br />
der <strong>Pflege</strong>kultur in Deutschland unterstreicht.<br />
Quelle:<br />
<strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz BRi<br />
Fr. M. Weigand, Regierungsrätin, Bayer. Sozialministerium (19.09.02)
23<br />
Maria Weigand, Regierungsrätin im <strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />
Familie und Frauen<br />
Referat 3<br />
<strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz:<br />
Umsetzung, Förderung, Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen, - niederschwellige<br />
Betreuungsangebote, Modellprojekte<br />
Verfahrensstand<br />
Anfang des Jahres, als das Programm <strong>für</strong> diese Fachtagung aufgestellt wurde, bin ich davon<br />
ausgegangen, dass bis September die zweite Ausführungs-Verordnung zum <strong>Pflege</strong>leistungs-<br />
Ergänzungsgesetz vorliegt und ich Ihnen hier die Inhalte darlegen kann. Da war ich allerdings<br />
etwas zu optimistisch.<br />
Vor dem Erlass der Ausführungs-Verordnung durch die Länder hat der Gesetzgeber die<br />
Empfehlungen der Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung<br />
e.V. auf Bundesebene gesetzt. Und die befinden sich zur Zeit im Zustimmungsverfahren;<br />
d.h., die Länder und das BMG müssen diesen Empfehlungen zustimmen.<br />
Dann können die Länder auf der Grundlage des PflEG und dieser Empfehlungen die Ausführungs-Verordnung<br />
erlassen. Bayern hat letzte Woche zugestimmt.<br />
Nachdem wir zumindest schon einen Entwurf <strong>für</strong> die Ausführungs-Verordnung auf die Beine<br />
gestellt haben – in den anderen Bundesländern gibt es m.W. noch nicht viel - kann ich Ihnen<br />
schon mal berichten, wohin der Weg wohl gehen wird.<br />
Versorgungsprobleme<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
so viel zum aktuellen Verfahrensstand - um was geht es aber inhaltlich? Sicher trage ich in<br />
diesem Kreis Eulen nach Athen – aber man kann es einfach nicht oft genug wiederholen: Die<br />
ambulante Versorgung von Personen mit Demenz, psychischen Erkrankungen und geistigen<br />
Behinderungen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf ist nach wie vor unbefriedigend.<br />
Die pflegenden Angehörigen sind ganz besonderen Belastungen ausgesetzt. Neben<br />
den psychischen Belastungen, durch das Erleben und den Umgang mit psychischen Störungen<br />
eines lieben Menschen, dem Partner, der Mutter oder des Vaters, besteht das größte<br />
Problem in der Notwendigkeit, den dementen Menschen ständig zu beaufsichtigen, <strong>für</strong> ihn<br />
jeden Augenblick des Tages zu strukturieren, ihn nie allein lassen zu können. Aufgaben im<br />
Haushalt, Einkauf, Behörden- oder eigene Arztbesuche erfordern so organisatorische<br />
Höchstleistungen.<br />
<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong><br />
Bayern hat neben verschiedenen, leider zum Scheitern verurteilten, Bundesratsinitiativen zur<br />
besseren Berücksichtigung von altersverwirrten Menschen in der <strong>Pflege</strong>versicherung alles<br />
unternommen, um wenigstens im eigenen Land Verbesserungen zu erzielen. So haben wir<br />
1998 mit dem Aufbau von Fachstellen <strong>für</strong> pflegende Angehörige und der Förderung von Angehörigengruppen<br />
begonnen. Nach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist es die Aufgabe<br />
der Angehörigenfachstellen, die <strong>Pflege</strong>bereitschaft und die <strong>Pflege</strong>fähigkeit der pflegenden<br />
Angehörigen zu erhalten. Gerade auch altersverwirrte Menschen haben ein Recht darauf,<br />
solange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu bleiben.
24<br />
Ich bin sehr stolz, dass es trotz der allgemein knappen Haushaltslage bei Trägern und<br />
Kommunen innerhalb von vier Jahren gelungen ist, 62 Angehörigenfachstellen zu installieren.<br />
Auch wenn wir von unserem Ziel, pro 100.000 Einwohner eine Angehörigenfachkraft,<br />
noch weit entfernt sind, ist dies doch beachtlich. Immerhin haben wir in Mittelfranken und<br />
Schwaben bereits einen Versorgungsgrad von knapp über bzw. unter 50 % erreicht. In den<br />
übrigen Regierungsbezirken liegt der Versorgungsgrad bei ca. 1/3. Geförderte Angehörigengruppen<br />
gibt es in ganz Bayern stolze 87. Hier hinken Niederbayern, Ober- und Unterfranken<br />
der allgemeinen Entwicklung noch etwas hinterher. Betreuungsgruppen, zur stundenweisen<br />
Entlastung der pflegenden Angehörigen, die erstmals in diesem Jahr mit einer<br />
Pauschale von 2.000 € staatlich gefördert werden, gibt es immerhin schon 42. In diesem<br />
Jahr werden da<strong>für</strong> insgesamt, also <strong>für</strong> Angehörigenfachstellen, Angehörigengruppen und<br />
Betreuungsgruppen, rund 1 Mio. € ausgereicht.<br />
Das ist also die Basis, auf der wir aufbauen können.<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz ist sicherlich in vielen Punkten unzureichend, insbesondere<br />
was die von Bayern immer wieder geforderte Verbesserung der Einstufungsmöglichkeiten<br />
bei der <strong>Pflege</strong>versicherung <strong>für</strong> altersverwirrtn Menschen betrifft. Der § 45c SGB XI<br />
greift jedoch die in Bayern erprobten und geförderten Ansätze zur Stärkung der ambulanten<br />
<strong>Pflege</strong> und zur Unterstützung der pflegenden Angehörigen auf.<br />
Der Ansatz ist gut. Ziel des Gesetzes ist es, konzentriert Maßnahmen zur Stärkung der häuslichen<br />
<strong>Pflege</strong> von <strong>Pflege</strong>bedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf zu fördern.<br />
Allerdings ist das Gesetz gesetzestechnisch ziemlich unausgegoren und bereitet uns in<br />
der praktischen Umsetzung doch erhebliche Probleme.<br />
Das Gesetz sieht Leistungen sowohl <strong>für</strong> die Seite der Nachfrager, also die Familien, als auch<br />
<strong>für</strong> die Seite der Anbieter, also <strong>für</strong> die Verbesserung der Versorgungsstrukturen vor. Der begünstigte<br />
Personenkreis ist allerdings nicht ganz identisch. Darauf werde ich später noch<br />
näher eingehen.<br />
Zusätzliche Betreuungsleistung 460 €<br />
Auf der einen Seite gewährt die <strong>Pflege</strong>versicherung <strong>für</strong> Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz<br />
pro Jahr zusätzlich 460 €, die zweckgebunden <strong>für</strong> qualitätsgesicherte<br />
Betreuungsleistungen zur Verfügung stehen. Diese Leistung kann seit 01.04.2002 in Anspruch<br />
genommen werden. Es werden Aufwendungen erstattet, die entstehen im Zusammenhang<br />
mit<br />
⇒ Tages- oder Nachtpflege,<br />
⇒ Kurzzeitpflege,<br />
⇒ Leistungen zugelassener <strong>Pflege</strong>dienste <strong>für</strong> besondere Angebote der allgemeinen Anleitung<br />
und Betreuung sowie <strong>für</strong><br />
⇒ anerkannte niedrigschwellige Betreuungsangebote.<br />
Die Ausführungs-Verordnung zum PflEG, die das Anerkennungsverfahren <strong>für</strong> diese niedrigschwelligen<br />
Betreuungsangebote regelt, wurde am 19. März diesen Jahres erlassen und<br />
konnte so rechtzeitig zum 1. April in Kraft treten. Zuständig <strong>für</strong> die Anerkennung ist das Bayerische<br />
Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung in Bayreuth.<br />
Diese zusätzlichen Betreuungsleistungen, also die 460 €, erhalten nur <strong>Pflege</strong>bedürftige der<br />
<strong>Pflege</strong>stufen I, II oder III mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen<br />
oder psychischen Erkrankungen, mit einer vom MDK festgestellten erheblichen Einschränkung<br />
der Alltagskompetenz.
Verbesserung der Versorgungsstruktur<br />
25<br />
Der zweite Ansatz des PflEG betrifft die Anbieterseite. Das Angebot an spezifischen Hilfen<br />
soll weiter ausgebaut werden, um damit eine Entlastung der <strong>Pflege</strong>personen zu erreichen.<br />
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen<br />
und Versorgungskonzepte gefördert werden.<br />
Die <strong>Pflege</strong>kassen stellen da<strong>für</strong> pro Jahr bundesweit 10 Mio. € zur Verfügung. Diese Mittel<br />
werden nach dem sog. Königsteiner Schlüssel auf die Länder verteilt. Auf den Freistaat Bayern<br />
entfallen danach rund 1,45 Mio. €. Dazu kommen Mittel des Landes oder der Kommunen<br />
in gleicher Höhe. D.h., die Mittel der <strong>Pflege</strong>versicherung kommen nur zur Auszahlung, wenn<br />
vom Land oder den Kommunen Gelder in gleicher Höhe fließen. Im Idealfall stehen so <strong>für</strong><br />
Bayern 2,9 Mio. € zur Verfügung. Die kommunalen Spitzenverbände haben allerdings bereits<br />
signalisiert, dass sich die Kommunen nicht beteiligen werden, so dass die gesamte Förderung<br />
nun auf den Schultern des Staates lastet. Im Entwurf des Staatshaushalts 2003/2004<br />
sind <strong>für</strong> diesen Zweck 500.000 bzw. 1 Mio. € .eingeplant.<br />
Für was können diese Mittel nun verwendet werden?<br />
Erst mal ist damit der Auf- und Ausbau von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten zu fördern.<br />
Dies sind im wesentlichen die Betreuungsgruppen und die ehrenamtlichen Helfer, sog.<br />
Helferkreise zur stundenweisen Entlastung der pflegenden Angehörigen. Evtl. wird auch die<br />
Förderung der Angehörigengruppen in diese neue Förderung nach dem PflEG integriert.<br />
Die im Gesetz genannten Vermittlungsagenturen gibt es in Bayern nicht. Dies wurde uns<br />
auch bei einer Besprechung mit den Verbänden bestätigt. Wenn jemand ein Konzept <strong>für</strong> so<br />
eine Vermittlungsagentur entwickeln würde, wäre es sinnvoll, dies erst mal modellhaft zu<br />
erproben.<br />
Betreuungsgruppen<br />
Die Betreuungsgruppen werden voraussichtlich wie bisher mit einem Pauschalbetrag unterstützt.<br />
Nur wird dieser Zuschuss künftig je zur Hälfte von der <strong>Pflege</strong>versicherung und dem<br />
Freistaat Bayern aufgebracht. Verfahrenstechnisch wird es wohl so laufen, dass das Bayerische<br />
Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung –wie bisher- die Anträge prüft, das<br />
Einvernehmen der Arbeitsgemeinschaft der <strong>Pflege</strong>kassenverbände in Bayern einholt und<br />
dann das Bundesversicherungsamt über die Entscheidung informiert. Ob dann das Bundesversicherungsamt<br />
seine Zahlungen direkt an den Träger leistet oder an das Landesamt, das<br />
dann die Auszahlung zusammen vornimmt, muss noch geklärt werden. Ich gehe davon aus,<br />
dass es auch nur einen Verwendungsnachweis geben wird. Das Gleiche gilt natürlich auch<br />
<strong>für</strong> die Förderung der ehrenamtlichen Helfer oder die Angehörigengruppen.<br />
Die Voraussetzungen <strong>für</strong> die Förderung von Betreuungsgruppen werden die gleichen sein,<br />
wie <strong>für</strong> die Anerkennung.<br />
1. Es muss also eine Fachkraft mit psychiatrischer, gerontopsychiatrischer, sozialpädagogischer<br />
oder heilpädagogischer Erfahrung mit der fachlichen Leitung betraut sein (Gedacht<br />
ist hier an Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Krankenschwestern und Krankenpfleger,<br />
Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger, Heilpädagoginnen und Heilpädagogen,<br />
Dipl. Sozialpädagoginnen und Dipl. Sozialpädagogen oder vergleichbare Qualifikationen<br />
mit mindestens zweijähriger einschlägiger Berufserfahrung).<br />
2. Die Durchführung muss unter Mitwirkung von fachlich geschulten und angeleiteten ehrenamtlichen<br />
Helferinnen und Helfern erfolgen (Dabei bestimmt sich die notwendige Zahl<br />
der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer nach der Zahl der Betreuten, dem Schweregrad<br />
der Erkrankung der Betreuten und dem notwendigen Betreuungsumfang. Denkbar<br />
ist ein Verhältnis von einem ehrenamtlichen Helfer bzw. einer ehrenamtlichen Helferin <strong>für</strong>
26<br />
drei Hilfebedürftige bis hin zu einem Verhältnis von eins zu eins <strong>für</strong> Hilfebedürftige mit intensivem<br />
Betreuungsbedarf).<br />
3. Durchschnittlich müssen mindestens vier Hilfebedürftige durch die Gruppe betreut werden.<br />
4. Außerdem müssen angemessene räumliche Voraussetzungen <strong>für</strong> die Betreuung gegeben<br />
sein (Es sollte ein möglichst heller, angemessen großer Raum, möglichst mit Teeküche<br />
vorhanden sein).<br />
Im Rahmen der Förderung im Bayerischen <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong> ist ein mindestens 14-tägiges<br />
Angebot Voraussetzung <strong>für</strong> die Förderung. Die Empfehlungen der Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen<br />
zum PflEG sprechen von „anzustreben ist mindestens einmal in der Woche“. Ich<br />
kann mir auch vorstellen, zwei Förderpauschalen <strong>für</strong> ein wöchentliches und ein 14-tägiges<br />
Angebot anzusetzen. Damit würden neue und nur 14-tägige Angebote nicht ganz ausgeschlossen,<br />
aber gleichzeitig ein finanzieller Anreiz <strong>für</strong> ein wöchentliches Angebot geschaffen.<br />
Ehrenamtliche Helfer<br />
Für die Förderung der ehrenamtlichen Helfer ist Voraussetzung, dass sie eine angemessene<br />
fachbezogene Schulung erhalten. Die Schulung muss sich am künftigen Betätigungsfeld orientieren.<br />
In der Regel sind 40 Unterrichtseinheiten á 45 Minuten oder eine gleichwertige<br />
Vorbereitung ausreichend.<br />
Die Förderung der ehrenamtlichen Helferkreise wird sich unterteilen in einen Pauschbetrag<br />
� <strong>für</strong> die kontinuierliche fachliche Begleitung und Vermittlung einschließlich Aufwandsentschädigungen<br />
<strong>für</strong> jeden ehrenamtlichen Helfer und<br />
� <strong>für</strong> die Förderung von Schulungsmaßnahmen.<br />
Hier werden wir uns an den üblichen Förderungen von Fortbildungsmaßnahmen in der Altenhilfe<br />
orientieren. Dort werden, soweit ausreichend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen,<br />
45 € je Unterrichtseinheit bei mindestens 8 Teilnehmern gewährt.<br />
Für die Förderung aller niedrigschwelligen Betreuungsangebote ist Voraussetzung, dass<br />
� ein Konzept zur Qualitätssicherung vorgelegt wird,<br />
� ein ausreichender Versicherungsschutz vorliegt und<br />
� ein jährlicher Tätigkeitsbericht vorgelegt wird.<br />
Modelle<br />
Der zweite sehr interessante Ansatz des PflEG auf der Anbieterseite ist die Förderung von<br />
Modellvorhaben zur Erprobung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen,<br />
insbesondere <strong>für</strong> demenzkranke <strong>Pflege</strong>bedürftige. Dabei ist an Modellvorhaben im ambulanten<br />
Bereich gedacht. Nur unter dem Aspekt der Vernetzung ist es denkbar, auch stationäre<br />
Angebote einzubeziehen.<br />
Nach den Empfehlungen sollen vor allem Möglichkeiten einer stärker integrativ ausgerichteten<br />
Versorgung <strong>Pflege</strong>bedürftiger ausgeschöpft und in einzelnen Regionen Möglichkeiten<br />
einer wirksamen Vernetzung aller <strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>bedürftigen erforderlichen Hilfen erprobt werden.<br />
Auch hier haben wir bekanntlich schon was vorzuweisen. Ich denke an Halma e.V., ein gerontopsychiatrisches<br />
Verbundnetz in Würzburg, das schon zur festen Einrichtung geworden<br />
ist, und den gerontopsychiatrischen Verbund in Schwaben, der gerade seinen Abschlussbericht<br />
vorgelegt hat. Der Träger ist z.Zt. dabei, die Finanzierung nach der Modellphase sicherzustellen.<br />
Ich bin ganz optimistisch, dass dies zusammen mit den Leistungen des Freistaates
Bayern <strong>für</strong> die Angehörigenarbeit, den Kassen und dem Bezirk Schwaben auch gelingen<br />
wird.<br />
27<br />
Unser Ziel ist es, mit Unterstützung der Mittel aus dem Ausgleichsfond der <strong>Pflege</strong>versicherung<br />
in ganz Bayern <strong>Netzwerk</strong>e im Sinne von gemeinwesenorientierten Verbundsystemen zu<br />
schaffen. Wir können dabei auf den Erfahrungen in Würzburg und Schwaben aufbauen und<br />
sie unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Gegebenheit nutzen und umsetzen. Es<br />
geht um den Aufbau einer bedarfsgerechten gerontopsychiatrischen Basisversorgung mit<br />
den Zielen<br />
⇒ die eigene Häuslichkeit so lange wie möglich zu erhalten,<br />
⇒ einen personenorientierten Hilfeansatz zu etablieren<br />
⇒ eine Vollversorgung unter der Prämisse ambulant vor stationär sicherzustellen und<br />
⇒ alle Hilfeanbieter zu vernetzen.<br />
Die Angehörigenfachstellen mit den Betreuungsgruppen, den Angehörigengruppen und den<br />
Helferkreisen werden dabei ein ganz wesentliches Element, um nicht zu sagen, das Kernelement<br />
bilden. In dieses <strong>Netzwerk</strong> müssen aber auch die niedergelassene Ärzteschaft, die<br />
Sozialstationen, Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen usw. integriert werden. Das hört<br />
sich einfach an. Aber ich denke, es ist einfacher, Gesetze zu erlassen oder Förderprogramme<br />
aufzulegen, als Menschen dazu zu bringen, unter Zurückstellung von Eigeninteressen<br />
zusammenzuarbeiten. Unzureichende Kommunikations- und Kooperationsstrukturen sind<br />
häufig die Ursache, dass trotz größtmöglichen finanziellen und personellen Aufwands ältere<br />
Menschen nicht optimal versorgt werden. Probleme in der berufs- und institutionsübergreifenden<br />
Zusammenarbeit entstehen u.a. als Folge von Machtunterschieden und unausgeglichenen<br />
Abhängigkeitsverhältnissen sowie aufgrund unterschiedlicher Situationswahrnehmungen,<br />
Prioritätensetzungen und Interessen.<br />
Ich möchte an jeden einzelnen von Ihnen appellieren, seinen Beitrag zu leisten, seinen Einfluss<br />
geltend zu machen und so im Rahmen dieser Modellprojekte zum Aufbau von funktionsfähigen<br />
Versorgungsnetzwerken beizutragen.<br />
Vielleicht ist es ein Traum. Aber ich denke, wir hatten noch nie so viele Möglichkeiten, so<br />
gute Rahmenbedingungen wie jetzt, um die Prämisse ambulant vor stationär auch <strong>für</strong> altersverwirrte<br />
Menschen mit Leben zu füllen. Diese Chance müssen wir nutzen!<br />
<strong>Pflege</strong>stufe O<br />
Gestatten Sie mir noch einige ergänzende Anmerkungen:<br />
Im Gegensatz zu den zusätzlichen Betreuungsleistungen nach § 45b PflEG (460 €) können<br />
die geförderten niedrigschwelligen Betreuungsangebote durchaus auch <strong>Pflege</strong>bedürftige der<br />
sog. <strong>Pflege</strong>stufe 0 mit einem erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarf betreuen. Der Kostenbeitrag<br />
muss dann privat aufgebracht werden.<br />
Inkrafttreten<br />
Ich gehe davon aus, dass die Ausführungs-Verordnung zur Förderung von niedrigschwelligen<br />
Betreuungsangeboten und Modellprojekten rechtzeitig zum 01.01.2003 in Kraft treten<br />
wird und mit der Förderung begonnen werden kann.<br />
Mittelverteilung<br />
Ich denke, die Frage, wie viele Mittel in die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten<br />
fließen werden und wie viele in die Förderung von Modellprojekten, wird sich wie bei<br />
kommunizierenden Röhren regeln. Jetzt wo noch nicht so viele niedrigschwellige Betreuungsangebote<br />
zur Verfügung stehen, werden mehr Modelle gefördert werden können. Spä-
28<br />
ter, wenn eine flächendeckende Versorgung aufgebaut sein wird, werden alle oder zumindest<br />
die meisten Mittel in die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten fließen.<br />
<strong>Pflege</strong>kurse<br />
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der zwar nicht das PflEG betrifft, aber <strong>für</strong> die<br />
pflegenden Angehörigen eine große Hilfe darstellt. Ich meine die von den <strong>Pflege</strong>kassen finanzierten<br />
<strong>Pflege</strong>kurse. Wir haben gemeinsam mit dem Institut <strong>für</strong> Gerontologische Forschung<br />
München-Berlin ein neues Handbuch zur Kursgestaltung entwickelt. Dieses Kurskonzept<br />
legt die Grundlage <strong>für</strong> eine stärkere Beachtung des psychosozialen Bereichs, des<br />
richtigen Umgangs mit Dementen. Die Arbeitsgemeinschaft der <strong>Pflege</strong>kassenverbände in<br />
Bayern hat mit Schreiben vom 19.03.01 an die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege<br />
dieses <strong>Pflege</strong>kurskonzept begrüßt und gebeten, bei der Planung und Gestaltung der <strong>Pflege</strong>kurse<br />
darauf zurückzugreifen.<br />
Das Handbuch ist <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong>kursleiter kostenlos beim Bayerischen Landesamt <strong>für</strong> Versorgung<br />
und Familienförderung erhältlich (Tel. 089/38604-750). Draußen liegt ein Ansichtsexemplar<br />
und eine Bestellliste.<br />
Staatlich geförderte Kursleiterseminare auf der Basis dieses Kurskonzeptes werden von der<br />
Kath. Akademie Regensburg, dem DBfK München und dem Caritasverband Augsburg angeboten.<br />
Schluss<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
<strong>für</strong> mich steht der Wunsch der meisten alten Menschen, solange wie möglich in der vertrauten<br />
häuslichen Umgebung zu bleiben, im Vordergrund. Unser Ziel muss es sein, die notwendigen<br />
Rahmenbedingungen zu schaffen, um auch den altersverwirrten Menschen möglichst<br />
lange ein weitgehend selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu ermöglichen. Wenn es<br />
uns gelingt, die ambulanten Strukturen zu verbessern und so den demografisch bedingten<br />
Druck auf die stationären Einrichtungen zu reduzieren, dann wird dies ganz bestimmt<br />
zugleich auch zu einer Verbesserung der Qualität in der stationären Versorgung beitragen.<br />
Es gibt also viele Gründe, die Umsetzung des PflEG beherzt anzupacken.
29<br />
<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />
Ergänzungsgesetz –<br />
Maria Weigand<br />
Umsetzung,<br />
Förderung, Weiterentwicklung der<br />
Versorgungsstrukturen
30<br />
<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />
Ergänzungsgesetz –<br />
� Die ambulante Versorgung von Personen<br />
mit Demenz, psychischen Erkrankungen<br />
und geistigen Behinderungen<br />
mit erheblichem allgemeinen<br />
Betreuungsbedarf ist nach wie vor<br />
unbefriedigend.<br />
� Die pflegenden Angehörigen sind<br />
ganz besonderen Belastungen ausgesetzt.<br />
Maria Weigand
62 Angehörigenfachstellen<br />
Maria Weigand<br />
31<br />
<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong><br />
<strong>Pflege</strong><br />
-Angehörigenarbeit-<br />
87 Angehörigengruppen<br />
42 Betreuungsgruppen
32<br />
<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />
Ergänzungsgesetz<br />
� Ziel: Förderung von Maßnahmen zur<br />
Stärkung der häuslichen <strong>Pflege</strong> von <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />
mit erheblichem allgemeinem<br />
Betreuungsbedarf<br />
zusätzliche Betreuungsleistung<br />
460 €<br />
Maria Weigand<br />
Verbesserung der<br />
Versorgungsstrukturen<br />
(1,45 Mio. € <strong>Pflege</strong>versicherung)<br />
niedrigschwellige<br />
Betreuungsangebote<br />
(1,45 Mio. €<br />
Land/Kommunen) <br />
Modellprojekte
Niedrigschwellige Betreuungsangebote<br />
33<br />
� Betreuungsgruppen<br />
� Ehrenamtliche Helferkreise<br />
� Angehörigengruppen<br />
Maria Weigand
Fördervoraussetzungen <strong>für</strong><br />
Betreuungsgruppen<br />
34<br />
� Leitung durch Fachkraft mit psychiatrischer,<br />
gerontopsychiatrischer, sozialpädagogischer<br />
oder heilpädagogischer<br />
Erfahrung<br />
� Fachlich geschulte und angeleitete ehrenamtliche<br />
Helfer<br />
� Durchschnittlich mindestens vier Teilnehmer<br />
� Angemessene räumliche Voraussetzungen<br />
Maria Weigand
Fördervoraussetzungen<br />
<strong>für</strong> ehrenamtliche Helfer<br />
35<br />
� Angemessene fachbezogene<br />
Schulung<br />
(in der Regel: 40 Unterrichtseinheiten<br />
á 45 Minuten)<br />
� Kontinuierliche fachliche Begleitung<br />
und Unterstützung<br />
Maria Weigand
Allgemeine Fördervoraus-<br />
setzungen<br />
� Konzept zur Qualitätssicherung<br />
� Ausreichender Versicherungsschutz<br />
� Jährlicher Tätigkeitsbericht<br />
Maria Weigand<br />
36
Förderung der niedrigschwelligen<br />
Betreuungsangebote<br />
37<br />
Pauschale <strong>für</strong><br />
� Betreuungsgruppe wöchentlich<br />
� Betreuungsgruppe 14-tägig<br />
� Begleitung und Vermittlung einschließlich<br />
Aufwandsentschädigung je ehrenamtlichem<br />
Helfer mit mindestens 35 Einsätzen<br />
� je Unterrichtseinheit <strong>für</strong> die Schulung und<br />
Fortbildung von ehrenamtlichen Helfern<br />
(mindestens 8 Teilnehmer)<br />
� Angehörigengruppen<br />
Maria Weigand
38<br />
Modellvorhaben zur Erprobung<br />
neuer Versorgungskonzepte und<br />
Versorgungsstrukturen, insbesondere<br />
<strong>für</strong> Demenzkranke<br />
� Aufbau von gemeinwesenorientierten<br />
gerontopsychiatrischen Verbundsystemen<br />
� Ziele:<br />
Erhalt der eigenen Häuslichkeit<br />
personenorientierter Hilfeansatz<br />
Vollversorgung unter der Prämisse<br />
ambulant vor stationär<br />
Vernetzung aller Hilfeanbieter<br />
Maria Weigand
39<br />
Dr. med. Lothar Linstedt, Dipl.-Psychologe, Leiter der Sozialpsychiatrie am Gesundheitsamt<br />
der Stadt Augsburg<br />
Referat 4<br />
Wohnungsverwahrlosung<br />
Handlungsentscheidungen zwischen Zwangsunterbringung und<br />
selbstbestimmten Lebensstil<br />
1 Einleitung: Aspektiv- konzentrische Annäherung<br />
Wir nähern uns dem Thema vom Umfeld her: Für ordentliche Hausfrauen sind sie unvorstellbar,<br />
<strong>für</strong> die meisten unbekannt, <strong>für</strong> Polizei und öffentlichen Gesundheitsdienst Alltag: verwahrloste<br />
Wohnungen. Entsetzte Nachbarn und „besorgte“ Vermieter be<strong>für</strong>chten Seuchen<br />
oder Explosionen, schwelgen in Ekelgefühlen oder in Drohungen den Ämtern gegenüber, die<br />
schleunigst geordnete Verhältnisse herbeiführen sollen. Polizeimeldungen mit Fotos versuchen<br />
den ÖGD ebenfalls zu aktivieren.<br />
Vormundschaftsgerichte postulieren arbeitssparend ein Recht auf Verwahrlosung, weil die<br />
Betroffenen dies „so wollen“, es jedoch klugerweise tunlichst vermeiden selbst die Wohnung<br />
zu betreten.<br />
Angehörige versuchen Räumaktionen zwischen Wagemut und Verzweiflung, die wiederholt<br />
werden müssen wie bei Sysiphus.<br />
Ängstliche Betroffene vermeiden schamhaft jeden Kontakt, kündigen Räumaktionen an, machen<br />
sie aber nicht wahr.<br />
All dies sind Aspekte der Wohnungs-Verwahrlosung, die hier zusammenfassend und einführend<br />
dargestellt werden sollen.<br />
2 Definition<br />
Es wird versucht, die bisher beschriebenen Merkmale der Wohnungs-Verwahrlosung zusammenzufassen<br />
und zu systematisieren. Ziel ist jedoch nicht eine Einordnung in die ICD 10<br />
als Krankheitseinheit, sondern eine Differenzierungsmöglichkeit der verschiedenen Arten der<br />
Wohnungs-Verwahrlosungen bei verschiedenen Grunderkrankungen, so dass eine „handlungsrelevante<br />
Diagnose“ im Hinblick auf mögliche Maßnahmen erstellt werden kann.<br />
2.1 Merkmale<br />
Bei Wohnungs-Verwahrlosung handelt es sich nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild,<br />
sondern um ein Symptom, das bei verschiedenen Erkrankungen vorkommt und das einen<br />
Zustand des Lebensumfelds, meist der Wohnung, bezeichnet, ...<br />
• der in hohem Maße gesellschaftlich anerkannten Maßstäben nicht mehr entspricht,<br />
• der mit verschiedenen psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen verbunden ist,<br />
• der mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen verbunden ist, mit eigener Kraft oder eigenem<br />
Willen einen gesellschaftlich tolerierten Zustand der Wohnung oder des Umfelds herbeizuführen,<br />
• der nicht in jedem Fall beseitigt werden muss,<br />
• der häufig verbunden ist mit Nicht-Anerkennung des gesellschaftlich nicht akzeptierten<br />
Zustands der Wohnung und der Verweigerung von Hilfen, aber auch mit Scham und dem<br />
sozialen Rückzug wegen des Zustands.
Merkmale nach WILLIAMS:<br />
40<br />
(Journal of Intellectual Disability Research, 1998: Diogenes` syndrome in patients with intellectual<br />
disability: a rose by any other name? Psychiatry of learning Disability, Thomas Guy<br />
House, Guy`s Hospital London, England)<br />
Diogenes Syndrom bei geistig behinderten Patienten: “Eine Rose unter irgendeinem anderen<br />
Namen?” Dasselbe Ding mit neuem Namen? Neuer Wein in alten Schläuchen? Des Kaisers<br />
neue Kleider?<br />
„Das Diogenes Syndrom ist charakterisiert durch ausgeprägte Selbstvernachlässigung,<br />
häusliches Elend und Verwahrlosung, sozialen Rückzug und Sammeln von Müll<br />
(Syllogomania). Das Syndrom wurde von CLARKE et al. (1975) nach dem griechischen<br />
Philosophen Diogenes benannt, der bekannt war <strong>für</strong> sein Streben nach Unabhängigkeit/Selbständigkeit,<br />
materielle Bindungslosigkeit und seine Missachtung von häuslichem<br />
Komfort und gesellschaftlichen Nettigkeiten. Das Syndrom wird auch als “Syndrom des senilen<br />
Abbaus” (senile breakdown syndrome) bezeichnet (MACMILLAN & SHAW 1996) und<br />
“senile Zurückgezogenheit” (senile recluse) (POST 1982), aber es beschränkt sich nicht nur<br />
auf die ältere Bevölkerung (BERLYNE 1975; VOSTAINS & DEAN 1992; COONEY & HAMID<br />
1995; DRUMMOND et al. 1997).“<br />
2.2 Differenzierungen, Unterscheidungen, Abgrenzungen<br />
2.2.1 Abgrenzung von seelischer Verwahrlosung<br />
Die Wohnungs-Verwahrlosung sollte von der Verwahrlosung im seelischen Sinne (des "Charakters",<br />
„verwahrloste“ Jugendliche) unterschieden werden. Bei der Literatursuche fällt<br />
nämlich auf, dass sich dieser Begriff bisher und meist ausschließlich auf den seelischen Bereich<br />
bezieht. Daher empfiehlt es sich, den Begriff Verwahrlosung möglichst in Verbindung<br />
mit „Wohnungs“-Verwahrlosung zu verwenden. Es wird dadurch auch deutlich gemacht,<br />
dass nicht der betroffene Mensch (seelisch) verwahrlost ist, sondern die Wohnung. Damit<br />
wird auch ein Stück Diskriminierung und Be- oder gar Abwertung verhindert.<br />
KÜNZEL (S. 205) lehnt diesen Begriff gänzlich ab: der Begriff sei nicht nur rechtlich, sondern<br />
auch im Hinblick auf gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen über die Selbstbestimmung<br />
der Bürger unangemessen und veraltet. Sie verwendet ihn jedoch nur im Sinne der seelischen<br />
Verwahrlosung, bei ihr wären die Menschen verwahrlost („verwahrlost umschreibt offenbar<br />
eine bestimmte Gruppe von älteren Menschen, die sich in einigen Bereichen ihres<br />
Alltagslebens deutlich unterhalb der in unserer Gesellschaft üblichen Standards bewegen“;<br />
als Titel eines Beitrags von ihr in Sozial extra: „Verwahrloste ältere Menschen“). In der hier<br />
vorliegenden Definition sind schon von der Bezeichnung her nicht die Menschen verwahrlost,<br />
sondern die Wohnung! Außerdem stellt Wohnungs-Verwahrlosung nicht nur auf ältere Menschen<br />
ab, sie kann auch bei jüngeren Menschen vorkommen.<br />
2.2.2 Differenzierung Vermüllungssyndrom nein, Vermüllung ja<br />
Eine weitere Unterscheidung und Differenzierung sollte zum Vermüllungssyndrom getroffen<br />
werden. Dieser seit DETTMERING in der deutschen Literatur verwendete Ausdruck entspricht<br />
dem in der amerikanischen Literatur als Diogenes Syndrom bezeichneten. Dort wird<br />
es auch als extreme self-neglect, senile self-neglect, social breakdown (REIFLER) bezeichnet.<br />
Nach RENELT handelt es sich dabei nicht um ein durch eine Grunderkrankung bedingtes<br />
Verhalten, sondern eine isolierte Störung, die sich nur auf den Zustand der Wohnung bezieht,<br />
was bedeuten würde, es handle sich um eine eigene, neue Krankheit. Da dies wohl ein<br />
bisschen gewagt erscheint, wurde der Begriff der Wohnungs-Verwahrlosung geprägt, die bei<br />
verschiedenen Erkrankungen als Begleitphänomen (Begleitsymptom?) auftritt. Wenn keine<br />
andere Erkrankung zu finden ist, hat man eben nicht genau genug gesucht bzw. es handelt
41<br />
sich um Messies. So entstand auch die weiter unten stehende Aufteilung in die Wohnungs-<br />
Verwahrlosung bei ... : und dann kommen eben die verschiedenen Diagnosen bzw. die fehlende<br />
Diagnose „Wohnungs-Verwahrlosung bei nicht erkennbarer psychischer Erkrankung“.<br />
Im deutschen Sprachgebrauch sollte der Begriff Vermüllungssyndrom nicht mehr verwendet<br />
werden (Vielen Dank <strong>für</strong> den Anstoß, die Sache neu zu überdenken an Fr. Englert aus Neuruppin).<br />
Begründung:<br />
Es handelt sich nämlich a) weder um Müll noch b) um ein Syndrom!<br />
a) Es werden in den Wohnungen oft (auch) andere Dinge als Müll gesammelt. Müll bedeutet<br />
ja Verbrauchtes, Defektes, Überreste, nicht einmal Verpackungen zählen offiziell zum Müll,<br />
sondern wurden zum Wertstoff erklärt. Oft werden neue oder gebrauchte, aber funktionsfähige<br />
Dinge angehäuft, die man eben nicht als Müll bezeichnen kann. Vermüllung als Teilbereich<br />
der Wohnungs-Verwahrlosungen trifft also nur dann zu, wenn tatsächlich Müll gesammelt<br />
wird.<br />
b) Syndrom bedeutet eine Ansammlung von Symptomen, die sich zu einem Krankheitsbild<br />
verdichten (Pschyrembel: Symptomenkomplex; Gruppe von gleichzeitig zusammen auftretenden<br />
Krankheitszeichen). Dies trifft beim Begriff „Vermüllungssyndrom“ jedoch nicht zu.<br />
Falls die Bezeichnung zuträfe, würde die Wohnungs-Verwahrlosung eine eigene Krankheit<br />
(mit ICD Nummer) darstellen und verschiedenste Symptome (welche?) umfassen. Wenn dagegen<br />
die Kombination Wohnungs-Verwahrlosung plus irgendeine Erkrankung ein Syndrom<br />
darstellen soll, ist es ja keine Ansammlung von Krankheitszeichen, sondern eine Ansammlung<br />
einer Erkrankung und eines seltenen Phänomens, nämlich eines beobachtbaren bestimmten<br />
Zustands einer Wohnung. Der Begriff Vermüllungssyndrom stimmt also „hinten und<br />
vorn nicht“.<br />
Lassen wir diesen Begriff also weg.<br />
Kleinlaut muss ich anmerken: Der Haken ist, als Suchstichwort muss man Vermüllungssyndrom<br />
immer noch verwenden, da ja die alte Literatur es so bezeichnet und viele auch<br />
weiter genau damit suchen. Daher kommt das Vermüllungssyndrom im Untertitel dieser<br />
Handreichung dennoch vor.<br />
In älteren Auflagen dieser vorliegenden Handreichung wurde der Begriff Vermüllungssyndrom<br />
noch als Untergruppe der Verwahrlosungssyndrome verwendet und neben das<br />
Sammelsyndrom, die Defizit-Verwahrlosungen und andere gestellt. Er wurde nur <strong>für</strong> die<br />
Wohnungen verwendet, bei denen keine Erkrankung der Bewohner festgestellt werden konnte.<br />
Es war gedacht als Restkategorie, „als das eigentliche Vermüllungssyndrom als Erkrankung<br />
mit den Symptomen verschiedener gesammelter Dinge ohne weitere psychische Erkrankung“.<br />
Nur hier<strong>für</strong> hätte man also eine neue ICD 10 Nummer definieren können.<br />
Aus den obengenannten Gründen muss als Fortsetzung der Denktätigkeit gegenüber den<br />
alten Auflagen der Begriff jedoch völlig abgelehnt werden.<br />
Die Restkategorie der Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung<br />
wird jetzt als solche (nämlich „Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische<br />
Erkrankung“) bezeichnet und nicht mehr als Vermüllungssyndrom.<br />
Wie beim alten Vermüllungssyndrom muss bei der neuen Bezeichnung „Wohnungs-<br />
Verwahrlosung ohne erkennbare Erkrankung“ auch genau unterschieden werden, ob Gegenstände<br />
bzw. in diesem Fall Müll von außen in die Wohnung gebracht wurden („externe<br />
Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung, Unterkategorie Vermüllung“)<br />
oder ob sich durch (bestimmungsgemäße) Verwendung von Gegenständen des
42<br />
Alltagsgebrauchs (Über-)Reste = Müll angesammelt haben („interne Wohnungs-<br />
Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung, Unterkategorie Vermüllung“).<br />
Nur dann, wenn jemand Gegenstände sammelt, die man tatsächlich als Müll bezeichnen<br />
könnte, Speisereste, Verdorbenes, Defektes, Versifftes, kann man von einer Vermüllung<br />
sprechen, auch von einer Wohnungsvermüllung, nicht jedoch von einem Vermüllungssyndrom!<br />
Zusammenfassung:<br />
Vermüllungssyndrom ist out, Vermüllung gibt es weiterhin, auch vermüllte Wohnungen, aber<br />
dann muss es sich auch wirklich um Müll im Sinne von Restmüll handeln.<br />
2.2.3 Wohnungs-Verwahrlosung und Messies<br />
Seit wenigen Jahren (seit Anfang der 80er Jahre in den USA Sandra FELTON) gibt es zusätzlich<br />
in der Laienpresse und mittlerweile auch als Selbsthilfegruppenthema die sogenannten<br />
Messies (40 Gruppen in der BRD mit 3000 Rundbrief-Beziehern). Es handelt sich dabei<br />
um Menschen, die oft noch in ihrem Beruf leistungsfähig sind, deren Wohnung aber so verwahrlost<br />
ist, dass sie z.B. keinen Besuch einladen können. Zitate aus einem Faltblatt einer<br />
Messies-Selbsthilfegruppe im Kasten unten. Wie weit Unterschiede oder Parallelen zum<br />
Wohnungs-Verwahrlosungssyndrom, zum Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (vgl. Artikel in<br />
der MMW) bestehen oder ob es sich nur um eine „Modeerkrankung“ handelt, kann noch<br />
nicht gesagt werden. Immerhin passt es ganz gut in unsere Aufstellung der Wohnungs-<br />
Verwahrlosungssyndrome.<br />
Messies, anonyme Messies, AM<br />
Definition<br />
Messies sind eine Gemeinschaft von Menschen, die mit Unordnung, Desorganisation und<br />
der Anhäufung von nutzlosem Krempel kämpfen. Ihr Ziel ist es, mit Würde und Selbstachtung<br />
zu leben und ihre Lebensaufgabe zu erfüllen<br />
Eigenschaften<br />
Sie räumen Dinge, die sie benutzen, nicht wieder weg, bewahren zu viele Dinge auf und haben<br />
ein schlechtes Zeitgefühl. Ablenkbarkeit, Vergeßlichkeit, Perfektionismus, eingeschränkte<br />
visuelle Orientierung, mangelnde Fähigkeiten Grenzen zu setzen, Wegwerfschwierigkeiten.<br />
Trotz angestrengten Bemühens ist der Haushalt außer Kontrolle, ein Gefühl der Überforderung<br />
besteht.<br />
Geschichte<br />
Seit Anfang der 80 er Jahre in den USA durch Sandra FELTON begründet<br />
Bedeutung<br />
40 Gruppen in der BRD mit 3000 Rundbrief-Beziehern (1999),<br />
beliebt in der Laienpresse und mittlerweile auch in anderen Medien<br />
unterteilt in die...<br />
Horter (heben alles auf - Papierberge, Klamotten, Nippes, Müll)<br />
Zeitmessies (sind chronisch unpünktlich, verwechseln Termine)<br />
Chaosarbeiter (verwüsten das Büro, nehmen zu viele Aufträge an)
43<br />
Auch hier besteht noch Unsicherheit mit der Definition. Die Messies bestehen darauf, nicht<br />
als psychisch krank zu gelten, sondern nur eine isolierte Auffälligkeit, eine auffällige Variante<br />
der Wohnung zu haben. Wie weit hier Neurosen und andere Erkrankungen z.B. das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom<br />
im Erwachsenenalter zugrunde liegen, ist nur im Einzelfall zu<br />
entscheiden, zumindest sind die Messies eine Sondergruppe, welche die Wohnungs-<br />
Verwahrlosung selbst erkennen und als zu verändernd anerkennen und oft noch arbeitsfähig<br />
sind. Im internen Gebrauch bezeichnen wir alle Menschen in verwahrlosten Wohnungen, die<br />
noch arbeiten, zunächst einmal als Messies, erst wenn zusätzlich z.B. Alkohol hinzukommt,<br />
wird eine Wohnungs-Verwahrlosung bei Alkoholismus daraus.<br />
2.3 Arten: Wohnungs-Verwahrlosung bei ...<br />
Es kann also unterschieden werden:<br />
Wohnungs-Verwahrlosung bei ....<br />
1. Abhängigkeit (Alkohol)<br />
2. seniler Demenz Defizitverwahrlosungen<br />
3. psychosozialer Desintegration<br />
4. Paranoia (Sammelsyndrom)<br />
5. schizophrene Psychose<br />
6. Depression, Manie<br />
7. Neurose<br />
8. Messies-Syndrom<br />
9. nicht erkennbarer / nicht vorhandener psychischer Erkrankung<br />
Bei jeder dieser Formen der Wohnungs-Verwahrlosungen kann die Wohnung vermüllt sein,<br />
meist aber sind es Ansammlungen von Haushaltsgegenständen, Kleidung, Zeitungen etc.<br />
also keine Vermüllungen.<br />
Ob es speziell Formen der Wohnungs-Verwahrlosung bei Borderline-Störungen oder bei<br />
Persönlichkeitsstörungen gibt, mag dahingestellt sein. Am einfachsten wird es sein, die jeweils<br />
bekannt gewordene Wohnungs-Verwahrlosung einer bekannten, schon vorhandener<br />
Diagnose mit ICD 10 Nummer zuzuordnen.<br />
Wir haben damit eine „gemeinsame Endstrecke“ verschiedener psychischer Erkrankungen<br />
vor uns, ein wohl gesellschaftlich bedingtes Symptom als Auswirkung bei gewissen Einschränkungen<br />
des Lebensvollzugs bei psychischen Erkrankungen.<br />
Ziel wäre es, die Wohnungs-Verwahrlosung so unterscheiden zu können, dass die Erkrankung<br />
daraus erkennbar ist: Zeige mir ein Bild der Wohnung und ich sage Dir, woran der darin<br />
lebende Mensch leidet.<br />
Die Zuordnung der vorfindlichen Wohnungs-Verwahrlosung zu den möglichen Diagnosen ist<br />
zwar in der obigen Schematisierung eindeutig, in der Realität aber deswegen schwierig, weil<br />
es Übergänge, Doppeldiagnosen und zeitliche Veränderungen gibt.<br />
Abbildung 1 stellt die zeitliche Entwicklung schematisch dar, es stehen keine empirischen<br />
Daten dahinter.
Ausprägung, Schwere der W-V<br />
44<br />
Abb. 1 Zeitlicher Verlauf der Wohnungs-Verwahrlosung<br />
Protest,<br />
Neurose<br />
Alkohol<br />
psychosoz.Desinte-gration, geistige<br />
Behinderung<br />
Messies<br />
Paranoia<br />
20J 30J 40J 50J 60J 70J 80J<br />
senile Demenz<br />
• Neurose: als Protestreaktion verstanden, blüht sie in jungen Jahren und bessert sich später;<br />
verkehrt sich sogar ins Gegenteil, zwanghaftes Aufräumen.<br />
• Psychosoziale Desintegration: schon immer ein bisschen verwahrlost, steigt der Ausprägungsgrad<br />
der Wohnungs-Verwahrlosung im Leben stetig, aber nur sachte an.<br />
• Messies-Syndrom: In wechselnden Phasen Aufräumversuche aber insgesamt doch Steigerung,<br />
meist ohne stabilen, aufgeräumten Zustand<br />
• Alkoholabhängigkeit: Zunächst nur langsam, dann rasche zunehmende Verwahrlosung<br />
bis zum Zusammenbruch<br />
• Paranoia (Sammelsyndrom): Bei Beginn der Paranoia, des Sammelns rasche Zunahme<br />
bis der Sättigungsgrad der Wohnung erreicht = die Wohnung voll ist. Dann nur noch geringe<br />
weitere Füllung, z.B. in die Höhe oder ausgelagerte Nebenstellen: Garagen, Gartenhäuser.<br />
• Schizophrene Psychose: Bei Beginn der Grunderkrankung rasche Zunahme, dann weitere<br />
Steigerung nur noch langsam.<br />
• Vermüllungssyndrom: stetiges, kontinuierliches weiter vollaufen der Wohnung, egal wie<br />
voll sie bereits ist, bis an die Decke. Keine Außenstellen!<br />
• Senile Demenz: langsamer Anstieg, Nicht-Bemerken und Nicht-Reagieren.<br />
Kompliziert wird es bei Doppeldiagnosen oder Kombinationen. Bei Inkontinenz wird eine senile<br />
Wohnungs-Verwahrlosung sich der eines chronisch mehrfach geschädigten Alkoholabhängigen<br />
nähern. Bei Paranoia, die erst im Alter beginnt, ist zwischen beginnendem hirnorganischem<br />
Psychosyndrom bzw. einer Persönlichkeits-Entdifferenzierung bei seniler Demenz<br />
nur sehr schwer zu unterscheiden und selbstverständlich sehen die Wohnungs-<br />
Verwahrlosungen dann auch sehr ähnlich aus.<br />
Zudem gibt es auch verschiedene Stadien der Verwahrlosung, die sich bei den verschiedenen<br />
Erkrankungen je nach Dauer von der Unordnung im zeitlichen Verlauf über die Verschmutzung<br />
zur malignen Verwahrlosung unter menschenunwürdigen Umständen oder gar<br />
Gefährdung von Leib und Leben entwickeln.<br />
3. Ursachen, Erklärungsansätze<br />
Je nach Art der beteiligten Professionen sind die unten folgenden Erklärungsansätze möglich.<br />
Sie können bei den verschiedenen Formen der Wohnungs-Verwahrlosung oft gleichzeitig<br />
plausibel erscheinen, andere Formen bleiben weiterhin erklärungsbedürftig.
45<br />
3.1 Biologisch, lebenspraktisch, medizinisch<br />
Bei der Überlegung zu den körperlichen Ursachen einer Wohnungs-Verwahrlosung können<br />
diese nur als Kofaktoren angesehen werden. Als Alleinursache ohne anderweitige Defizite<br />
konnten wir sie bisher nicht beobachten. Speziell bei den senilen Demenzen liegen diese<br />
Kofaktoren als Ursache <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung nahe. Wer den Abfall und den<br />
Schmutz nicht mehr sieht und riecht, wird weniger Eigenmotivation verspüren, aufzuräumen<br />
oder zu putzen.<br />
3.1.1 Reduzierte Sehfähigkeit<br />
Wie ein vermehrter Putzdrang von Hausfrauen nach Staroperation bekannt ist, weil sie den<br />
Dreck bzw. Staub wieder sehen, wäre eine reduzierte Sehfähigkeit (grauer Star, Makuladegeneration)<br />
als Ursache der verwahrlosenden Wohnung gut vorstellbar.<br />
3.1.2 Geruchsfähigkeit reduziert<br />
Auch die im Alter sicher verringerte Geruchsfähigkeit konnte als Ursache einer Verwahrlosung<br />
nicht isoliert beobachtet werden. Jemand, der nicht mehr wahrnehmen kann, wie es in<br />
seiner verwahrlosten Wohnung riecht, wird auch weniger Anlass haben, daran etwas zu ändern.<br />
3.1.3 Inkontinenz<br />
Eine Inkontinenz wirkt sich erst recht negativ auf den Zustand der Wohnung aus. Bei Mangel<br />
an Therapie, Windeln oder Krankenpflege kann dies zu unüberseh- und riechbaren Folgen in<br />
einer Wohnung führen. Dies konnte in einigen der Fälle beobachtet werden und führt zum<br />
Rückzug von Hilfspersonen und Hilfseinrichtungen. Hier ist <strong>für</strong> viele die Grenze erreicht: in<br />
den eigenen Exkrementen zu leben, ist nicht menschenwürdig.<br />
3.1.4 Beweglichkeit reduziert<br />
Ähnlich vorstellbar als Ursache der Wohnungs-Verwahrlosung wären die körperlichen Reduzierungen<br />
der Beweglichkeit im Alter oder bei verschiedenen körperlichen Erkrankungen<br />
(Rheuma, degenerative Gelenkserkrankungen), die sich auf die „Aufräumfähigkeit“ oder die<br />
Frequenz der Müllbeseitigung negativ auswirken könnten.<br />
3.1.5 Überforderung (z. B. Herzinsuffizienz)<br />
Rein körperliche Überforderung von der allgemeinen Kraft und Leistungsfähigkeit her ohne<br />
Einschränkungen psychischer Art kommt wohl auch als Ursache der Wohnungs-<br />
Verwahrlosung nicht vor, denn normalerweise werden dann Sozialstationen oder andere Helfer/Hilfseinrichtungen<br />
wie Zivildienstleistende, Verwandte, Nachbarn engagiert.<br />
3.1.6 Depressive Antriebslosigkeit<br />
Eine einfache medizinische Erklärung bietet sich bei der Depression an. Durch das Symptom<br />
der Antriebsschwäche oder –losigkeit verwahrlost auch die Wohnung, vermüllt eventuell sogar.<br />
Bei Besserung der Erkrankung verschwindet das Symptom der Verwahrlosung rasch.<br />
Inwiefern bei senilen Verwahrlosungen auch die senile Pseudodemenz als Teil einer Depression<br />
gesehen werden muss und dann auch die Verwahrlosung aus der Depression und<br />
nicht aus der Senilität stammt, muss diskutiert werden. Hier ist es wohl so, dass nach Besserung<br />
der Depression die Fähigkeiten oft fehlen, die Verwahrlosung zu beseitigen und dann<br />
ist diese erst recht nicht mehr von der Verwahrlosung bei seniler Demenz zu unterscheiden.<br />
3.2 Lerntheoretische Erklärungsansätze<br />
3.2.1 Fehlendes Repertoire, Technik, Fertigkeit, Training<br />
Die lerntheoretische Art der Erklärung der Ursachen <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung lässt<br />
sich am besten auf die soziale Defizitverwahrlosung anwenden. Wenn von Kindheit an und<br />
von den Eltern her schon Repertoire <strong>für</strong> Aufräumverhalten, Techniken und Fertigkeiten der<br />
Beseitigung von Müll fehlen, dann fehlt auch Training.<br />
3.2.2 Psychosozialer Status<br />
Entsprechend dem psychosozialen Status, den Kindheitserfahrungen wird der verwahrloste<br />
Zustand einer Wohnung <strong>für</strong> normal gehalten, aufgeräumte Räume erzeugen ein Fremdheits-
46<br />
oder gar Angstgefühl. Es gibt Menschen, die Bremsspuren innerhalb der Toilettenschüssel<br />
<strong>für</strong> normal halten, da gehören sie ja hin.<br />
3.2.3 Kontinuierliche Attenuation<br />
Zusätzlich, und das gilt auch <strong>für</strong> andere Arten der Wohnungs-Verwahrlosung, tritt eine langsame<br />
Gewöhnung (kontinuierliche Attenuation) ein. Die Verwahrlosung schreitet oft sehr<br />
langsam voran, im Vergleich zu voriger Woche hat sich kaum etwas (zum schlechten) verändert,<br />
es muss daher nichts geschehen, Aufräumen, Entmüllen hat also noch Zeit.<br />
3.2.4 Fehlende Verstärkung <strong>für</strong> Aufräumen<br />
Durch Allein-Wohnen, „es lohnt sich ja nicht aufzuräumen“ fehlt Verstärkung <strong>für</strong> Aufräumen.<br />
3.2.5 Verstärkung durch „noch brauchen“ können<br />
Eine interne Verstärkung in die andere Richtung findet statt durch die Einstellung des „Noch-<br />
Brauchen-Könnens“. Besonders Personen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit scheinen damit<br />
belastet. Wenn dies wirklich ein wichtiger Faktor <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung sein<br />
sollte, müsste im Lauf der nächsten Jahre dieses Sammelsyndrom bzw. das Argument da<strong>für</strong><br />
langsam zurückgehen. Epidemiologisch müsste sich also im Spektrum der Arten der Wohnungs-Verwahrlosungssyndrome<br />
eine Auswirkung zeigen.<br />
3.2.6 Passive Vermeidung<br />
Weitere verhaltenstheoretische Mechanismen <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung ist die passive<br />
Vermeidung, wie sie bei Alkoholismus bzw. allgemein bei Sucht kennzeichnend ist:<br />
Nächste Woche fange ich an, aufzuräumen.<br />
3.2.7 Kurz-langfristige Problemlösung<br />
Ein Spezialfall der passiven Vermeidung als Hauptbewältigungsmechanismus <strong>für</strong> Probleme<br />
des Lebens ist der Unterschied zwischen kurzfristiger, sofort äußerst mühsamer Problemlösung<br />
und kurzfristiger, angenehmer Belassung des Zustands. Der langfristig angenehme<br />
Zustand kann nicht erreicht werden: jetzt gleich aufräumen ist so mühsam, dass die Aussicht<br />
auf langfristig angenehmen Zustand mich nicht genügend motiviert.<br />
3.2 Analytische Erklärungsansätze<br />
3.3.1 Angst, brauchbar und unbrauchbar nicht (nie) mehr trennen zu können<br />
Nach DETTMERING leiden die vom Vermüllungssyndrom befallenen Patienten an einer Unfähigkeit,<br />
wertvoll und wertlos, brauchbar und unbrauchbar zu trennen (in diesem Punkt unterscheiden<br />
sie sich prinzipiell vom Zwangsneurotiker, der diese Fähigkeit erworben hat, aber<br />
nun in einem vergeblichen Kampf gegen seine aggressiven Impulse steht, vor denen das<br />
„gute“ innere Objekt geschützt werden muss): Bei den Vermüllungspatienten sei das Stadium<br />
der Synthese verfehlt worden: normal wäre die endgültige stabile Objektbeziehung, bei<br />
der das Kind gute und schlechte Gefühle auseinanderhalten und zu synthetisieren lernt.<br />
DETTMERING hat dann zwei Gruppen in seinen Patienten erkannt: ältere jenseits von 50<br />
Jahren, die mit einem Partnerverlust nicht fertig werden und jüngere, die sich zu früh verselbständigt<br />
hatten, etwa aus Protest gegen das Elternhaus. In beiden Fällen könne man<br />
den sich in der Wohnung ausbreitenden Müll als gegenständliche Entsprechung zu der<br />
Trauer- und Trennungsarbeit, die eigentlich geleistet werden müsste, ansehen; nimmt man<br />
ihm nämlich die Arbeit ab (etwa bei der Entrümpelung), gerät er regelmäßig in Angst und<br />
Panik und reagiert, als sei unter dem Müll etwas Wertvolles verborgen, das ihm gewaltsam<br />
weggenommen werden soll. Diese Panik bezöge sich auf die nun gewaltsam zunichte gemachte<br />
Hoffnung, Gutes und Schlechtes – also letztlich auch die mit der Trauer- und Trennungsarbeit<br />
verbundenen guten und schlechten Gefühle - irgendwann noch „sortieren“ zu<br />
können und so zumindest potentiell zu einer inneren Ordnung zu gelangen.<br />
3.3.2 Verlustangst früher Objektrepräsentanzen: Trennung Eltern<br />
Weniger komplex als bei DETTMERING könnte auch einfach argumentiert werden, dass aus<br />
Angst aus dem traumatischen Verlust früher Objekte (Trennung, Tod der Eltern), Gegen-<br />
stände als Ersatz um sich herum festgehalten werden.
47<br />
3.3.3 Regression, anale Phase: nicht hergeben können, Verstopfung<br />
Vorstellbar wäre auch das Beharren in der bzw. Regredieren in die anale Phase: Verstopfen<br />
und nicht hergeben können.<br />
3.3.4 Überreaktion: Inkontinenz<br />
Wobei dann gerade bei Inkontinenz eine (Über-) Reaktionsbildung vorläge.<br />
3.3.5 Protest, neurotische Reaktion<br />
Im Sinne neurotischer Überreaktions- und Protesthaltung gegen das Über ich bzw. die Eltern<br />
wird wohl gerade die periodisch in der Adoleszenz oft beobachtbare (aber nicht im Gesundheitsamt<br />
gemeldete) Wohnungs-Verwahrlosung zu begründen sein.<br />
3.3.6 Angst vor Leere, Einsamkeit<br />
Kompensation der Einsamkeit durch möglichst große Nähe möglichst vieler Ersatzgegenstände<br />
wäre die weiter gedachte allgemeine analytische Begründung <strong>für</strong> viele Fälle der Wohnungs-Verwahrlosung.<br />
4. Maßnahmen: „Behandlungsmöglichkeiten“<br />
Die Versuche, eine Systematik in die Wohnungs-Verwahrlosungen zu bringen, wären rein<br />
akademisch, wenn sich nicht daraus auch handlungsleitende Konsequenzen ergäben. Wenn<br />
man weiß, welche Ursache einer Erkrankung zu Grunde liegt, kann man als Therapie diese<br />
Ursache beseitigen. Selbstverständlich sollte man dies tun, wenn die <strong>für</strong> die Verwahrlosung<br />
ursächliche Erkrankung bekannt ist.<br />
Leider ist es in der Sozialpsychiatrie oft der Fall, dass eine ursächliche Therapie (z.B. bei<br />
fortgeschrittener Alkoholabhängigkeit) aus vielerlei Gründen nicht möglich ist und rein „symptomatische“<br />
Therapien oder Maßnahmen ergriffen werden müssen, die wenigstens die psychosozialen<br />
Folgen der Erkrankung mindern. So kommt es speziell bei den Wohnungs-<br />
Verwahrlosungen vor, dass nur die Verwahrlosung beseitigt werden kann, der Rest des Problems<br />
jedoch bestehen bleibt. Daher sollten die Erfolgskriterien entsprechend formuliert sein:<br />
Es ist ein Erfolg, wenn die Wohnung so weit entmüllt werden kann, dass dem Alkoholiker<br />
nicht gekündigt und er nicht zwangsgeräumt wird, er aber dennoch Alkoholiker bleibt.<br />
Bis die Wohnung wieder „vollgelaufen“ ist, wird aber Zeit gewonnen und das ist oft schon<br />
gewonnene Lebenszeit. Einige Regeln der „Behandlung“ der Wohnungs-Verwahrlosung (ohne<br />
der selbstverständlich notwendigen und soweit möglichen Versuche der Behandlung der<br />
zugrunde liegende Erkrankung) seien hier genannt.<br />
4.1 Handlungsnotwendigkeiten<br />
ergeben sich<br />
• nach subjektiver Betroffenheit des Umfelds, des Helfers, gesellschaftlicher Maßstab<br />
• nach objektivierter Gefährdung der Betroffenen oder des Umfelds<br />
• nach Kriterien der Menschenwürde<br />
• nach Schwere und Behandelbarkeit der Grunderkrankung<br />
• nach den psychosozialen Hilfsmöglichkeiten<br />
• nach der Belastung, der Verweigerung, den finanziellen und Selbsthilfe-/Fremdhilfe-<br />
Möglichkeiten der Betroffenen.<br />
4.2 Beurteilungs-Kriterien <strong>für</strong> Maßnahmen<br />
4.2.1 Eigene Einstellung / subjektiver Maßstab<br />
In der Beurteilung und Beschreibung einer Wohnungs-Verwahrlosung sollte das eigene Milieu,<br />
die eigene Herkunft, die eigene Toleranz bedacht werden. Eine nüchterne Beurteilung
48<br />
mit großzügigem Maßstab muss möglich sein. „Hausfrauenmaßstäbe“ dürfen nicht angelegt<br />
werden. Eher schon die von Junggesellen mit großer Wohnung oder pubertierenden Jugendlichen<br />
in einer Protestphase.<br />
Letztendlich müssen wir aber zugeben, dass die Beurteilung, wann und welche Maßnahme<br />
erfolgen soll, immer nach gesellschaftlichen Maßstäben und nicht rational begründet ist (Die<br />
berühmten Maden vom fremden Balkon). Was besonders den sozialpsychiatrischen Dienst<br />
im öffentlichen Gesundheitswesen anbetrifft, so ist er auch den Nachbarn verpflichtet, die<br />
Maden oder den (vermeintlichen) Geruch ertragen müssen. Allein die Nachforschungen nach<br />
dem Geruch haben dabei oft schon eine deutliche Befriedungsfunktion: es kümmert sich jemand<br />
drum, und schon ist es fast wieder erträglich. Dabei muss bei paranoid-überordentlich<br />
beobachtenden Nachbarn eben etwas gebremst und bei einer ignorant-anonymen Mittelschicht-<br />
Umgebung an die tätige Hilfsbereitschaft appelliert werden.<br />
4.2.2 Objektiver Maßstab<br />
Tatsächliche Bedrohung, Gefahr, echter Gestank (der berühmte Verwesungsgeruch), echte<br />
Brandgefahr sind sehr selten. Eine Veränderung durch welche Maßnahme auch immer, ist<br />
nur dann notwendig, wenn gravierende Folgen zu be<strong>für</strong>chten sind:<br />
• Kündigung mit Vollstreckungsurteil einer Zwangsräumung und Bereitschaft des Vermieters,<br />
die Kosten von mehreren Tausend Euro vorzustrecken<br />
• tatsächliche lebensgefährliche Erkrankung<br />
• Durchbruch (Deckenlastgrenze 1000 Kg/qm bei Beton, 500 kg/qm bei Holzdecken<br />
beachten sowie andere Bauvorschriften, Papier ist bei 1 m Höhe pro Quadratmeter<br />
etwa 800 kg schwer)<br />
• Brand (Kaminkehrer = Schornsteinfeger müssen Zugang haben).<br />
Betreuungen zur Regelung der Wohnungsangelegenheiten sind eher zur Besänftigung der<br />
Vermieter als zur rigorosen Entmüllung nötig. Oft genügt es, die Funktionsräume Küche und<br />
Toilette auszuräumen, der Rest kann (wenigstens in Teilen) bleiben.<br />
4.2.3 Beurteilungskriterien bei Geruch<br />
Oft handelt es sich nur um den „Haut gout“ der Verwahrlosung = den Menschengeruch nach<br />
Schweiß von Leuten, die sich nie waschen, wie Milliarden von Menschen auf der Welt (vgl.<br />
subjektiver Maßstab).<br />
Es gibt nur sehr wenige tatsächlich und unmittelbar zum Erbrechen führende Gerüche, die<br />
meisten Reaktionen sind durch Verspannung, Angst und Einbildung eines neurotisch bedingten<br />
Ekelgefühls bedingt. Entspannung und die Vorstellung, dass der Betroffene offenbar<br />
schon seit Wochen oder Jahren in dieser Wohnung lebt, helfen ungemein. Ungünstig erweisen<br />
sich vor die Nase gehaltene Taschentücher, weil sie die Verspannung und neurotische<br />
Befangenheit verstärken und den Betroffenen das Ekelgefühl und die Abwehr gegen sie<br />
drastisch demonstrieren und eine Zusammenarbeit dann unwahrscheinlich wird. Zur Täuschung<br />
der Nase kann man sich schon vor dem Hausbesuch Eukalyptusöl oder Parfüm etc.<br />
unter die Nase reiben. Die Fenster zu öffnen hilft auch manchmal. Denken sie daran: Auspuffgase<br />
sind lebensgefährlich, Urin und Fäkalgeruch überhaupt nicht!<br />
4.2.4 Beurteilungskriterien bei Brandgefahr<br />
Echte Brandgefahr besteht nicht allein durch die Tatsache der senilen Demenz, sondern erst<br />
wenn diese dazu führt, bei abgestelltem Strom Kerzen anzuzünden, und zwar auf Leuchtern,<br />
die z.B. aus Holz bestehen und somit brennbar sind. Aus Metall?- kein Problem.
49<br />
Checkliste : Brand-, Explosionsgefahr<br />
keine Gewähr <strong>für</strong> Richtigkeit, Vollständigkeit oder Folgen<br />
Es besteht keine Brandgefahr, wenn nur die Be<strong>für</strong>chtung besteht, es könnte jemand etwas<br />
falsch machen! Ohne Fakten keine Aktion!<br />
Testfragen: Je ein Punkt <strong>für</strong> ja<br />
Gas im Haus?<br />
Wie oft schon Platte/Flamme vergessen? Für jedes Mal ein Punkt<br />
Umgang Streichhölzer, Zigaretten, Flamme anzünden, Platten schalten:<br />
gefährlich, behindert, leichtsinnig?<br />
Umgebung Herd brennbar? Verwahrlosung?<br />
Werkzeuggebrauch möglich, Fähigkeiten (Zange? Schlüssel?)<br />
Werkzeug vorhanden (Zange? Schlüssel?)<br />
Kerzen? Agebrannt? (Verstaubte Zierkerzen gelten nicht)<br />
Kerzen angebrannt auf brennbarem Kerzenhalter, Untergrund?<br />
Raucher?<br />
Bettraucher?<br />
Alkoholmissbrauch?<br />
Bettraucher + Alkoholmissbrauch<br />
Brandflecken Boden?<br />
Brandflecken Boden, Boden leicht brennbar (Teppich)?<br />
Brandflecken Tisch?<br />
Brandflecken Tisch, Tisch leicht brennbar (Decke)?<br />
Brandflecken Bett? (drei Punkte)<br />
Fluchtwege verstellt, versperrt?<br />
ja Nein<br />
Ab vier Punkte besteht latente Brandgefahr<br />
Ab acht Punkte akute Brandgefahr<br />
Diese Bewertung erfolgte nach Einschätzung und ist nicht wissenschaftlich validiert.<br />
Angaben ohne Gewähr <strong>für</strong> jegliche Folgen. Die Entscheidung <strong>für</strong> oder gegen Maßnahmen ist<br />
eine persönliche in eigener Verantwortung im konkreten Einzelfall!<br />
Gasexplosion<br />
Ohne Werkzeug kann man keine Gasexplosion herbeiführen.<br />
Alle Gasherde haben eine Zündsicherung, wenn jemand „den Gashahn aufdrehen“ will, ist<br />
genau zu fragen, wie er dies denn tun will. Die Gas-Hähne sind nämlich immer offen, denn<br />
sonst funktioniert kein Herd. Er könnte höchstens meinen, dass er das Gas mit dem Herdschalter<br />
aufdreht, ohne zu zünden. Dann aber strömt das Gas nur kurz aus und das Ventil<br />
schließt sich beim Loslassen des Herdschalters. Um eine Explosion durch das Ausströmen<br />
von Gas zu erzeugen, müsste also erst eine lange Zeit das Gas durch den festgehaltenen<br />
Herdschalter den Raum füllen und dann dürfte erst gezündet werden. Bei moderneren Gasherden<br />
mit elektrischer Zündung ist auch dies nicht möglich, da automatisch alle Sekunden<br />
ein Funke erzeugt wird. Die aktive, gezielte Energie und Initiative sowie das Wissen darum,<br />
mit Gas eine Explosion zu verursachen oder sich zu vergiften, fehlt den Betroffenen meist.<br />
Um Gas aus einem offenen Hahn ohne angeschlossenes Gerät ausströmen zu lassen, benötigt<br />
man eine Wasserpumpenzange oder einen großformatigen Schraubenschlüssel, denn<br />
der Anschluss des Gerätes muss erst einmal abgeschraubt werden.
50<br />
Meist besteht also keine Gefahr. Beträchtliche Gefahr besteht jedoch, wenn eine Drohung<br />
mit diesen technischen Erläuterungen, evtl. auch dem Hinweis auf vorhandenes Werkzeug,<br />
vorliegt.<br />
Gasvergiftung<br />
Beim Suizidversuch durch Hineinstecken des Kopfes ins Backrohr wird der Herdschalter bei<br />
Eintreten der Bewusstlosigkeit bzw. beginnender Eintrübung losgelassen, das Ventil schließt<br />
sich rasch und der Betroffene erwacht wieder. Eine objektive Gefährdung durch Vergiftung<br />
ist also relativ unwahrscheinlich. Wenn jemand nur mit der Absicht, sich zu vergiften mit<br />
Werkzeug den Anschlusshahn öffnet, besteht natürlich auch Explosionsgefahr. Der erste,<br />
der einen elektrischen Schalter betätigt, löst die Explosion dann aus. Erst das Wissen um<br />
technische Vorgänge und das entsprechende Werkzeug machen die Sache also objektiv<br />
gefährlich.<br />
Brandgefahr<br />
Je nach realer Verhaltensweise beim Anzünden und durch die Umgebung des Herds muss<br />
die Brandgefährdung eingeschätzt werden. Es gibt auch noch weitere Kriterien wie die Kombination<br />
des Rauchens mit der Angewohnheit, im Bett zu rauchen. Vgl. Checkliste, wobei<br />
hier betont sei, dass die Punktzahlen nicht empirisch überprüft sind, sondern eine Einschätzung<br />
darstellen. Eine wissenschaftliche Überprüfung wäre wohl nur möglich, wenn man zählen<br />
würde, wie viele Brände tatsächlich ausbrechen und bei welcher Punktzahl dies der Fall<br />
war. Dazu sind die Fallzahlen in Augsburg glücklicherweise zu gering. Für umfangreiche Recherchen<br />
mit Befragungen, wie denn die Wohnung vorher aussah, fehlt die Kapazität. Die<br />
empirische Lage dürfte also auch in Zukunft dünn bleiben.<br />
4.2.5 Beurteilungskriterien bei Krankheitsgefahr, Hygienemängeln<br />
Hier muss zwischen der Krankheitsgefahr a) <strong>für</strong> den Betroffenen und b) die <strong>für</strong> das Umfeld<br />
unterschieden werden.<br />
a) Wir sahen auch bei Madenfällen relativ saubere Ulcera Cruris; mittlerweile werden ja<br />
schon medizinisch Maden zur schonenden Säuberung von Ulcera eingesetzt (Nicht von<br />
uns).<br />
Die Vergiftung durch verdorbene Speisen war auch noch nie zu beobachten. Erstaunlich ist<br />
auch, dass die oft beträchtlichen Schimmelkulturen in allen Farben nicht zu Vergiftungen<br />
führten, d.h. die Betroffenen offenbar regelmäßig tatsächlich die Schimmelkulturen bzw. die<br />
darunter liegenden Speisen, vermieden zu konsumieren (oder vertragen haben).<br />
Das nachherige Händewaschen sowie Gummihandschuhe sind meist nur aus psychologischen<br />
nicht jedoch aus logischen, hygienischen Gründen erforderlich.<br />
Die oft zitierte Lebensgefahr bei verschimmelten Lebensmitteln ist dennoch bei manchen<br />
Gerichten ein Argument, erstaunlicherweise haben wir noch nie Lebensmittelvergiftungen<br />
entdecken können.<br />
Die Betroffenen scheinen also meist nicht gefährdet. Erst, wenn auch von Infektion oder anderweitig<br />
bedingter Eintrübung (isst, trinkt nicht mehr) gesprochen werden kann, wäre Anlass<br />
<strong>für</strong> akutes Eingreifen.<br />
b) Seuchengefahr besteht regelmäßig nicht! Dies würde nämlich bedeuten, dass menschenpathogene<br />
Keime vorhanden sind, also eine Seuche wie Cholera, Amöbenruhr, Salmonellose<br />
zu be<strong>für</strong>chten wäre. Fremde und Besucher sind bei Wohnungs-Verwahrlosung und Bakterien,<br />
Geruch, Schimmel also regelmäßig erst recht nicht objektiv gefährdet.<br />
Vgl. auch die Auszüge zum Infektionsschutzgesetz auf der CD.
51<br />
Wenn man interpretiert, dass „Tatsachen festgestellt wurden, die zum Auftreten einer übertragbaren<br />
Krankheit führen können, oder ist anzunehmen, dass solche Tatsachen vorliegen“,<br />
kann man eingreifen und zumindest recherchieren (§16 InfSchG) und hat damit wohl auch<br />
die Rechtsgrundlage. Für Maßnahmen müssen dann meldepflichtige Erkrankungen konkret<br />
vorliegen (§ 17 InfSchG). Da setzt es dann aus. Ein weiterer Haken ist, dass die Behörde die<br />
Kosten da<strong>für</strong> übernehmen muss und schon bleibt alles beim alten.<br />
Ganz allgemein: Auch wenn hier die Gesetze zitiert werden. Das Bestreben sollte zunächst<br />
immer sein durch alle möglichen, kreativen und kooperativen Maßnahmen zu verhindern,<br />
dass es zur Anwendung von Gesetzen kommt, kommen muss.<br />
4.2.6 Beurteilungskriterien bei Ungeziefer<br />
Das weiter oben zum Geruch und den Ekelgefühlen Gesagte gilt weitgehend auch bei Ungeziefer<br />
in der verwahrlosten Wohnung. Eigene Einstellung, neurotische Haltungen, Herkunft,<br />
Erfahrungen beeinflussen die Reaktionen mehr als die tatsächlich vorhandenen Tierchen.<br />
Etwas wissenschaftliche Neugier und ein kleines Schraubgläschen mit Spiritus sowie eine<br />
Pinzette relativieren vieles. Wie sieht das Vieh aus? Wie viel Beine hat es? Welche Farbe<br />
und Größe? Vielleicht kann man auch eine kleine Sammlung anlegen. Adressen von Desinfektoren<br />
oder Kammerjägern stehen in jedem Telefonbuch, die räuchern die Sache nicht<br />
kostenlos und mit nicht ganz ungiftigen aber wirksamen Mitteln aus. Der Betroffene muss bis<br />
zur Entlüftung in Kurzzeitpflege, Pension, Obdachlosenunterkunft ausgelagert werden. Danach<br />
steht die Entrümpelung (und eigentliche Arbeit) immer noch an.<br />
Bei den Maden oder anderem Ungeziefer ist eine Entrümpelung nur über die Argumentation<br />
zu rechtfertigen, dass dem Betroffenen deswegen gekündigt werden könnte und zur Rettung<br />
der Wohnung (was er auf Grund seiner Erkrankung nicht einsehen kann) muss entsorgt werden.<br />
Eine anderweitige Gefährdung von Leib und Leben kann durch Ungeziefer wohl nicht<br />
ausreichend begründet werden. Übrigens, in der Literaturliste und auf der CD sind zwei Arbeiten<br />
über den medizinischen Einsatz von Maden aufgeführt (RUFLI und<br />
HINTERWIMMER). Die Vorgehensweise nach § 16 und 17 des neuen Infektionsschutzgesetzes<br />
(Text vgl. Anhang auf der CD) sollte einmal versucht werden. Erfahrungen damit bestehen<br />
nicht. Auch hier wird durch die Kosten einiges an Energie gehemmt, dann selbst<br />
wenn durch eine sogenannte Ersatzvornahme entrümpelt wird und die Kosten auf den Betroffenen<br />
umgelegt werden können, kann dieser oft nicht zahlen. Die Kosten bleiben also an<br />
der durchführenden Behörde hängen.<br />
4.3 Menschenwürde als Beurteilungskriterium<br />
Das Ende der Messlatte des subjektiven Maßstabs sollte da liegen, wo die Menschenwürde<br />
beeinträchtigt wird. Und die hört z.B. da auf, wo ein Mensch in den eigenen Exkrementen<br />
(wie ein Tier) lebt. Dabei ist es gleichgültig, ob er inkontinent aus senilen oder alkoholischen<br />
Gründen ist oder nur unfähig, die Toilette zu reinigen oder frei zu räumen. Es muss um der<br />
Menschenwürde willen etwas passieren. Wenn in einem solchen Fall der Betroffene sich<br />
weigern würde, eine Entrümpelung zuzulassen, wäre der Anlass gegeben, beim Vormundschaftsgericht<br />
eine Betreuung anzuregen. Bevor dieser Schritt erwogen wird, ist natürlich<br />
alles andere (ja nach eigener Arbeitskraft und Kreativität) weiter unten aufgeführte zu versuchen.<br />
In solchen Fällen mit der Entscheidungsfreiheit des Menschen zu argumentieren, gelingt<br />
meist nur Menschen, die sich fernab des Problems ohne konkreten Geruch und Wohnungsbesuch<br />
diesen armen Menschen verschließen. Leider ist dies auch die am meisten<br />
kosten- und arbeitssparende Einstellung, so dass oft der Verdacht aufkeimt, die Entscheidungsfreiheit<br />
des Menschen wird auf dem Kostenaltar geopfert.<br />
Neben der Forderung einer artgerechten Tierhaltung sollte es schon etwas Ähnliches <strong>für</strong><br />
Menschen geben: Recht auf menschenwürdige Umgebung und Lebensverhältnisse.
52<br />
5. Art der Maßnahmen<br />
Die immer wieder auftauchende Forderung von Nachbarn oder gar Angehörigen: „Der/Die<br />
muss weg“, legt nahe, dass eine Lösung des Problems der Wohnungs-Verwahrlosung sehr<br />
laienhaft oder wenig wohlwollend angestrebt wird. An „Zwangseinweisung“ ist in den seltensten<br />
Fällen zu denken, nur bei unmittelbarer Lebensgefahr <strong>für</strong> den Betroffenen oder das Umfeld.<br />
Dann steht jedoch nicht die Wohnungsverwahrlosung im Vordergrund, sondern die Erkrankung<br />
des Betroffenen. Selbst in diesem Extremfall muss dies nicht heißen, dass jemand<br />
auf Dauer untergebracht wird. Oft ist höchstens eine Kurzzeitpflege <strong>für</strong> die Dauer der Renovierungsmaßnahmen<br />
nötig, nach Entrümpelung kann der Betroffene wieder zurück.<br />
Eine gewisse Konfliktfähigkeit ist jedoch (auch und gerade im Interesse des Betroffenen)<br />
erforderlich. Leben ist Kampf, lieber täglich Kampf mit dem/des Betroffenen als die Ruhe in<br />
einer Satt- und Sauber-Einrichtung. Wobei nicht gesagt sein soll, dass der Verbleib in einer<br />
verwahrlosten Wohnung immer der bessere Weg ist. Gerade bei Überforderung und Leidensdruck<br />
kann nach Besichtigung einer Einrichtung und Probewohnen und bewusst vollgestelltem<br />
neuem Zimmer durchaus ein befriedigenderer Zustand des Betroffenen hergestellt<br />
werden. Aber das heißt eben: eine gewisse Freiwilligkeit und nicht Zwang.<br />
5.1 Interventionstest, Proberäumen<br />
Für die ersten Versuche der Reaktion auf eine Wohnungs-Verwahrlosung (nicht Therapie<br />
der Grunderkrankung, das ist ein anderes Kapitel und hier nicht Thema) schlagen wir vor,<br />
eine Probe-Intervention zu unternehmen. Dies besteht in einer Probensammlung, einem<br />
Proberäumen und Umfelderfahrungen, die schon beim ersten Hausbesuch unternommen<br />
werden sollen. In Anwesenheit des Betroffenen, nötigenfalls auch erst bei einem zweiten<br />
Hausbesuch, versucht man, durch sofortige Mitnahme der versifftesten oder wertlosesten<br />
Gegenstände die Reaktion auf eine spätere Entrümpelung zu testen. Daher empfiehlt es<br />
sich, stets Schutzhandschuhe und eine Mülltüte neben Eukalyptusöl und einem Spiritusfläschchen<br />
* 1 ) in der Hausbesuchstasche parat zu haben. Die Reaktion der Betroffenen auf<br />
die spontan angebotene Hilfe umfasst dankbare Mithilfe bis zu tätlicher Gegenwehr auch bei<br />
Entfernungsversuchen verfaulter Lebensmittelreste oder 10 Jahre alter Zeitungen. Sie gibt<br />
damit Hinweise auf später folgende Notwendigkeiten bei der Beseitigung der Wohnungs-<br />
Verwahrlosung: Wenn handfeste, tätliche Gegenwehr erfolgt, wird sich eine Betreuung kaum<br />
vermeiden lassen. falls die Entrümpelung tatsächlich unbedingt erforderlich ist. Falls nur Protest<br />
kommt, beobachten, ob der Müll wieder aus der Tonne geholt wird oder es beim Protest<br />
bleibt. Das zur Konfliktfähigkeit oben Gesagte gilt hier besonders.<br />
5.2 Fotografieren<br />
Zur Diagnostik <strong>für</strong> Demonstrations-, Lehr- und Beweiszwecke ist es erforderlich, Fotos zu<br />
machen. Der Betroffene muss zustimmen. Wobei eine Zulas-<br />
sung als Zustimmung zu werten ist. Wer schüchtern fragt, ob<br />
unter Umständen, eventuell und gnädigerweise erlaubt wird,<br />
zu fotografieren, wird natürlich ein nein hören. Wer bestimmt<br />
sagt, dass in diesem Fall Fotos notwendig sind („dann sehen<br />
Sie nachher den Erfolg deutlicher!“), erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />
<strong>für</strong> eine (stillschweigende) Zustimmung ungemein.<br />
Auch wenn Fotos erlaubt werden, ist eine zusätzliche schriftliche<br />
Dokumentation mit Beschreibung, ob unaufgeräumt, verschmutzt<br />
etc., vgl. oben, nötig.<br />
Es werden die Funktionsräume sowie ein Probe-Quadratmeter erfasst: also mindestens Toilette,<br />
Bad, Küche (Kochstelle), Schlafstelle und z.B. meist der Wohnzimmertisch (Probequadratmeter).<br />
1 Eukalyptusöl oder Tigerbalsam zum Verreiben unter der Nase, damit man nichts mehr riecht und das Spiritusfläschchen zum<br />
Einsammeln etwaiger Tierchen. Pinzette nicht vergessen.<br />
(Foto-) Checkliste<br />
Wohnungs-Verwahrlosung<br />
• Toilette<br />
• Bad, Wanne, Dusche<br />
• Küche<br />
• Wohnzimmertisch<br />
• Anhäufungen, Beschreibung<br />
von 10 Beispielteilen
53<br />
5.3 Schriftliche Dokumentation<br />
Auch <strong>für</strong> Angehörige und nicht nur <strong>für</strong> helfende Berufe ist es oft erforderlich, die Sachlage zu<br />
beschreiben. Sei es <strong>für</strong> den Vermieter oder das Vormundschaftsgericht oder den zu Hilfe<br />
gerufenen Sozialdienst.<br />
Die schriftliche Festhaltung der Umstände ist oft nur durch direkte Notierung vor Ort möglich.<br />
Die Funktionsräume werden beschrieben. Was sich alles auf dem Wohnzimmertisch bzw. im<br />
Probe-Quadratmeter befindet, ist oft, weil abstrus, nicht mehr erinnerlich. Es genügt dabei,<br />
die ersten besten 10 Gegenstände zu nennen (Verblüffend, dass PASTENACI 2000 S. 103<br />
in einer Beispielbeschreibung auch 10 Dinge aufzählt. Meist aber je nach Raum verschiedene<br />
Anzahlen).<br />
Beispiel:<br />
• Toilette: durch nasse Wäsche auf dem Boden, Badutensilien wie Rasierzeug, Flaschen,<br />
Sprays und mit Durchfallresten verschmutzte Kleidung nicht zugänglich, Wasser läuft<br />
ständig durch defekte Dichtung, Sinkkastenventil daher beim HB (Hausbesuch) zugedreht.<br />
• Bad: zugänglich durch Laufgraben zwischen Badutensilien wie Rasierzeug, Flaschen,<br />
Sprays und mit Durchfallresten verschmutzter Kleidung, noch erkennbarer Boden nässlich,<br />
braun, gelb, klebrig<br />
• Küche: alle Ablagen, der Tisch und die Stühle (bis auf einen) sowie der Boden sind bedeckt<br />
mit zerstreuten Lebensmittelresten, trocken. ~10 angebrochene H-Milchtüten, ~20<br />
Nescafedosen, z.T. auch Tütensuppen. 4 Nudelpakete, ein Korb weiß angeschimmelte<br />
Kartoffeln mit zahlreichen Trieben auf dem Fensterbrett, Herd bedeckt mit verschmutzt<br />
gestapeltem Geschirr und Besteck, bis 40 cm hoch, z.T. noch Wasser- oder Speisereste<br />
darin, kein Schimmel.<br />
• Schlafstelle durch Laufgräben etwa 60 cm breit erreichbar, hochgestellter Kopfkeil, vier<br />
Kopfkissen, Federbett ohne Bezug, braune Bremsspuren auch auf dem Laken und dem<br />
obersten Kopfkissen.<br />
• Probequadratmeter: Wohnzimmertisch nicht mehr unter einem Berg erkennbar: Oberfläche<br />
gebildet durch (mindestens 10 Gegenstände) Telefonbuch, Feuerzeug, Flasche Orangensaft(halb<br />
voll), Papiertüte mit halbem Hähnchen (grün verschimmelt),Gangstock,<br />
Fernsehzeitschrift, Flasche mit Ohrentropfen, Fernbedienung, Plastiktüte mit Feuerzeug,<br />
Zigaretten, Kamm, Tempotaschentüchern, Aschenbecher, ...<br />
Häufige Fehler beim Beschreiben sind unnötige Adjektive, Adverbien und abstrakte Beurteilung.<br />
Beispiele: Unmenge, zahlreich, intensiv, überall Nescafedosen, unerträglicher furchtbarer<br />
Gestank, starke Verschimmelung, völlig verwahrlost.<br />
Häufig wird auch von Kot gesprochen. Kot stammt jedoch von Tieren, bei Menschen heißt es<br />
Stuhlgang oder Exkremente. Der letztere Begriff hat auch den Vorteil, dass er gleichzeitig die<br />
flüssige und die feste Form bezeichnen kann.<br />
Besser (als mit drastisierenden Adjektiven) arbeitet man mit konkreter Beschreibung: nach<br />
überreifem Obst riechend, sattgrün-wolkiger Schimmel und mit Zählung: 46 Nescafedosen<br />
auf Fensterbrettern und der Küchenablage.<br />
5.4 Entrümpeln<br />
Manchmal hat man schneller und einfacher selbst entrümpelt als bis man eine Firma und<br />
vieles andere organisieren kann. Es kommt auch auf den persönlichen Stil an. Mit übergroßen<br />
Haushaltshandschuhen, (Gummi)Stiefeln, Overall, zahlreichen Müllsäcken, einer Unmenge<br />
Reinigungsmitteln, Bürsten, viel Wasser und einem Werkstatt-Staubsauger sowie<br />
einem bestellten Müllcontainer schafft man einiges weg. Auch hier: Eine Unterschrift <strong>für</strong> die<br />
Beauftragung der Aktion ist sehr hilfreich. Kosten nur <strong>für</strong> Material erheben. Wer Honorar ver-
54<br />
langt, kommt in des Teufels Küche sprich: gerät wegen Bereicherungsvorwürfen leicht in die<br />
Verwaltungsmühle. Dann lieber eine Firma beauftragen. Aber wie gesagt, nicht alle Menschen<br />
sind zum Entmüllen geboren.<br />
5.5 Organisation von Entrümpelungs- und Reinigungshilfen<br />
Als Hilfspersonen oder Durchführende sind Verwandte der Betroffenen ideal. Finanzielle Hilfen<br />
vom Sozialamt (Hilfe in besonderen Lebenslagen) sind möglich. Insbesondere, wenn<br />
auch eine Erkrankung vom Gesundheitsamt ärztlich bescheinigt wird. Adressen der Entrümpelungsfirmen<br />
(nicht ganz billig) stehen im Telefonbuch. Oft gibt es Arbeitsprojekte oder<br />
Kleinstfirmen (in den Kleinanzeigen, nicht ganz so teuer) <strong>für</strong> besonders harte Fälle. Vorbesprechungen<br />
über Termin und Hinweise auf den Umgang mit dem Betroffenen, sofern dieser<br />
nicht ausgelagert wird, sind erforderlich, evtl. muss jemand bei den Aktionen dabei sein<br />
(Geld versteckt? Wertvolle Möbel, Bilder vorhanden?). Eine konkrete Finanzierung muss<br />
vorher klar sein, Kostenvoranschlag (schriftlich, drei Firmen) <strong>für</strong> das Sozialamt ist nötig. Bei<br />
Möglichkeit der Selbstzahlung Vorauskasse bzw. unterschriebener Auftrag nötig: „Hiermit<br />
kann die Firma Saubermann und Söhne von meinem VIP-Konto 123456 bei der Fürst Fugger<br />
Bank die Summe von 1700.- € <strong>für</strong> die Entrümpelung der 2-Zimmerwohnung abbuchen.<br />
Unterschrift, Datum.“<br />
5.6 Hilfs-Dauer-Dienste organisieren<br />
Das große Wehklagen setzt ein, wenn die Wohnung rasch wieder vollläuft. Daher ist von Anfang<br />
an die Möglichkeit einer resoluten Putzfrau oder ähnlichem zu prüfen. Bezahlung, Einweisung,<br />
Einführung, Gewöhnung, Training, gute Bezahlung mit Ekel- und Resolutheitszuschlag<br />
und die Möglichkeit der Rückfragen bei schwierigen Situationen sind zu bieten.<br />
Man kann auch halbjährliche Wiederholungsaktionen akzeptieren.<br />
5.7 Gesprächsführung<br />
Bei der persönlichen Begegnung mit den Menschen, deren Wohnung verwahrlost ist, muss<br />
deren Scham und Angst vor dem „Urteil“ der Umgebung berücksichtigt werden. Die menschliche<br />
Begegnung, Achtung und Rücksicht wird jedoch nicht dadurch spürbar, dass man so<br />
viel Mitgefühl zeigt, dass die Verwahrlosung nicht angesprochen wird. Noch schlechter wäre<br />
der zwar höfliche Umgang mit den Betroffenen, jedoch aus Ekelgefühlen kurzen Besuchen<br />
und aus Sensationslust herumposaunte Einzelheiten, wie schlimm es doch mit dieser Wohnung<br />
stünde. Der sachliche Umgang mit dem Problem, der Tatsache, dass es so nicht weiter<br />
gehen kann und auch die Mitteilung dieser Tatsache ist erforderlich. Eine eingehende Therapie<br />
oder Beratung mit Förderung der Selbständigkeit und Eingehen auf die Probleme der<br />
Betroffenen ist oft erst nach der Entrümpelung möglich, vorher will gar niemand in die Wohnung<br />
hinein, schon gar nicht diejenigen, die vornehm und humanistisch orientiert von Akzeptanz<br />
und Achtung der Würde und Integrität des Betroffenen und ihrem „selbstgewählten Lebensstil“<br />
reden. Das ganze kann anders beurteilt werden, wenn die Betroffenen in der Lage<br />
sind, Gesprächstermine in der Einrichtung, im Amt wahrzunehmen. Falls der mitgebrachte<br />
Geruch nicht allzu viele (neurotisch bedingte) Ekelgefühle beim Berater auslöst, kann hier<br />
tatsächlich der Versuch mit langfristiger Motivation und Akzeptanz und Eigeninitiative des<br />
Betroffenen gemacht werden, sofern der Vermieter und das Gericht mit der Räumungsklage<br />
nicht schneller sind oder andere Gründe zu schnellerem Handeln zwingen.<br />
Beispiele und Handlungsanweisungen <strong>für</strong> die beraterische, therapeutische, individuelle,<br />
sozialpädagogische, psychologische Gesprächsführung sind und können nicht<br />
Anliegen dieser Handreichung sein. Daher hier nur einige Textbeispiele, die sich direkt<br />
auf die Verwahrlosung beziehen.<br />
„Nicht gerade sehr sauber bei Ihnen. Wie würden Sie denn selbst den Zustand der Wohnung<br />
bezeichnen? Wenn Sie sich genieren, dass ihre Wohnung nicht geknipst werden darf, können<br />
wir Ihnen helfen. Helfen bei der Reinigung. Es ist aber nicht ganz einfach jemanden zu<br />
finden. Ob das überhaupt geht? Wir wissen da eine billige Firma, die kostet nur etwa 1700.-
55<br />
€ <strong>für</strong> Ihre ganze, schöne große 2-Zimmer-Wohnung. Es wird wieder ganz schön und hell in<br />
Ihrer Wohnung, da können wir Sie öfter (oder je nach Wunsch des Betroffenen: da brauchen<br />
wir sie nie mehr) besuchen. Es hilft ihnen doch, wenn sie in der Wohnung bleiben dürfen,<br />
weil sie eine Entrümpelung zulassen.“<br />
Irgendwelche Versprechungen, nächste Woche, übermorgen oder bald werde aufgeräumt,<br />
sind Schall und Rauch. Sie werden nur scheinbar beachtet, damit man Argumente hat:<br />
„Sie haben es mir schon drei mal in den letzten Monaten versprochen, nächste Woche aufzuräumen.<br />
Jetzt haben sie mein Vertrauen missbraucht. Sie haben Ihr Versprechen gebrochen.<br />
Sie können mein Vertrauen nur wieder gewinnen, wenn sie die Firma Saubermann<br />
und Söhne aufräumen lassen und so lange in der Sammelunterkunft wohnen. Ich habe mein<br />
Versprechen gehalten, dass ich jede Woche nachschaue, ob sie aufgeräumt haben. Wie lautet<br />
Ihre Kontonummer? Wenn sie hier mal den Auftrag <strong>für</strong> die Firma Saubermann und Söhne<br />
unterschreiben. Nur € 1700 <strong>für</strong> ihre große 2-Zimmerwohnung.“<br />
5.8 Reihenfolge der Maßnahmen<br />
5.8.1 Kontaktaufnahme<br />
• Einladung, mehrfache Einladung, anrufen<br />
• Schriftliche Ankündigung Hausbesuch<br />
• Telefonische Ankündigung Hausbesuch<br />
• unangemeldeter Hausbesuch<br />
• unangemeldeter Hausbesuch zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen<br />
Wochentagen mit Tesafilmkontrolle* 2<br />
• Klingeln, Klopfen, auch Nachbarn fragen, befrieden, Verständnis <strong>für</strong> beide Seiten<br />
zeigen.<br />
5.8.2 Motivationsphase<br />
Vgl. Ausführungen oben zu :<br />
• regelmäßige Kontakte, Gesprächsführung<br />
• Proberäumen<br />
• Vereinbarungen zu Fristen und Zeiten, Auslagerungsmöglichkeiten, Finanzierung,<br />
Firma<br />
• nötigenfalls Betreuung nach Betreuungsgesetz anregen.<br />
5.8.3 Entscheidungsphase<br />
• Welche Maßnahmen werden warum (nicht) ergriffen?<br />
• Welche<br />
- Kriterien<br />
- Indikationen<br />
- Interessenlagen<br />
- Einstellungen<br />
- Maßstäbe<br />
liegen vor?<br />
Wer wird durchführen (Helferkonferenz, Planung: Kosten, gesetzliche Grundlage)?<br />
In welcher Reihenfolge (Zeitplan, auch langfristig, resolute Putzfrau, Nachsorge, regelmäßige<br />
Räumung, Kontrollbesuche)?<br />
2 Ein Streifen Tesa unauffällig! an einer Ecke der Wohnungstür zum Rahmen oder zur Schwelle geklebt,<br />
verrät beim nächsten Hausbesuch, ob die Wohnungstür geöffnet wurde.
56<br />
5.8.4 Aktionsphase<br />
• Ohne oder mit Betreuung nach Betreuungsgesetz<br />
• durch Betreuer, SPD, Helfer, Verwandte oder Firma<br />
• Auslagerung des Betroffenen oder je nach dem:<br />
• Gemeinsames Räumen, mithelfen<br />
• Kontrolle der Firma, der Helfer, der Verwandten<br />
• Sicherung von Akten, Papieren, Antiquitäten, Finanzen.<br />
5.8.5 Konsolidierungsphase<br />
• Vollräumen mit Leerkartons<br />
• resolute Putzfrau engagieren<br />
• dauerhafte Finanzierung (Dauerauftrag) sichern<br />
• Zugang sichern<br />
• regelmäßige Kontrollen (Kaffeetrink-Besuche) vereinbaren<br />
• halbjährliche Wiederholungen fest einplanen<br />
• über den Verlust trösten.<br />
5.9 Maßnahmen und Fehler<br />
Maßnahme Kriterium, warum ergriffen Durchführungstipps häufige Fehler<br />
Meldung<br />
akzeptieren<br />
Hausbesuch <br />
ProbepackenEntscheidungsuchen<br />
cave Erbschleicher, Eigentümer,<br />
paranoide<br />
Nachbarn<br />
an-, unangemeldet<br />
Zeitvorgaben, Vertrauensbildende<br />
Maßnahmen,<br />
Schuldgefühle durch nicht<br />
gehaltene Versprechen,<br />
aufzuräumen<br />
Verweigerung? Gegen-<br />
wehr zu be<strong>für</strong>chten?<br />
Eigene Maßstäbe, die der<br />
Nachbarn, des Eigentümers,<br />
des Betroffenen<br />
Planung Helferkonferenz, Konsens,<br />
bewusst gegen Willen?<br />
Betreuung<br />
nach<br />
Betreu-<br />
ungsgesetz<br />
Räumung,<br />
Entrümpelung<br />
Voraussetzungen § 1841<br />
BGB<br />
keine andere Möglichkeit<br />
zulässig, erträglich, akzeptabel<br />
ignorieren, auf Schriftlichkeit<br />
bestehen, weiterverweisen,<br />
auf rechtliche<br />
Folgen hinweisen<br />
feste Schuhe, Handschuhe,<br />
Fenster auf, Umhängetasche,<br />
Zitronenöl unter<br />
die Nase, Fotos Funktionsräume<br />
Mülltüten, Handschuhe<br />
dabei<br />
Gefährdung,Hilfe abfragen<br />
kein eigenes Bild<br />
gemacht<br />
wegen Ekel, Abwehr<br />
nicht genau<br />
und liebevoll beobachtet<br />
konfliktscheu<br />
nur reden, nicht<br />
handeln (Briefe<br />
schreiben ist han-<br />
deln)<br />
schriftlicher Plan Widerstände nicht<br />
eingerechnet,<br />
Grunderkrankung<br />
Voraussetzungen konkret<br />
und einzeln darstellen:<br />
psychisch krank, kann xy<br />
nicht besorgen<br />
Firmenliste, schriftliche<br />
Kostenklärung, Anwesenheit<br />
bei Räumung,<br />
Unterschrift erlangen<br />
gerät in Hintergrund<br />
weiche Fakten, Angebot,<br />
das man ablehnen<br />
kann<br />
alles leer räumen,<br />
verkahlen, zu viel<br />
räumen
57<br />
5.10 Maßnahmeprinzipien: Bei welcher Störung welcher Weg?<br />
5.10.1 Strategien bei verschiedenen Diagnosen<br />
Alkoholabhängigkeit Passive Vermeidung und Konfliktunfähigkeit ausnutzen,<br />
Primärerkrankung angehen<br />
senile Demenz Schwerpunkt Hilfspersonen, da Überforderung, äußeres Re-<br />
servat der inneren Unordnung sichern<br />
psychosoziale Desintegrati- Training, Kontrollen, gemeinsames Räumen, Belohnung, Sozionotherapie,<br />
Krisenintervention, lebenslange Begleitung<br />
Paranoia (Sammelsyndrom) lange Dauer bis zum Vertrauen und zur Motivation<br />
Kontaktmangelparanoid? Regelmäßige weitere Kontakte nötig<br />
schizophrene Psychose Falls kein Kontakt möglich, Betreuung anregen, Primärerkrankung<br />
angehen, cave Schadensersatzforderungen, Querulantenwahn<br />
Neurose, Messies-Syndrom Training, Konfrontation mit Folgen des Verhaltens,<br />
Depression, Wohnungs-<br />
Verwahrlosung ohne erkennbare<br />
Erkrankung, (Diogenes<br />
Syndrom),<br />
Lernerfahrungen ermöglichen, Primärerkrankung angehen<br />
Nach Entrümpelung kann Nachbetreuung eventuell wegfallen,<br />
Hilfe zur Selbsthilfe,<br />
5.10.2 Vertrauen, Kontakt, Gewöhnung, prozesshaftes Vorgehen<br />
Bei der Kontaktaufnahme stößt man zunächst auf Ablehnung. Regelmäßigkeit und Beharrlichkeit<br />
ist nötig, die Normalität sollte betont werden: ich komme nächste Woche wieder, vielleicht<br />
ist es dann besser. Auch dann, wenn man weiß, dass natürlich nächste Woche nichts<br />
besser sein wird. Die persönliche Autonomie und Integration der Betroffenen sollte so weit<br />
möglich geachtet werden, Partizipation hilft langfristig besser als kurze Gewaltaktionen.<br />
Frustrationstoleranz muss selbstverständlich sein, denn die Wohnungs-Verwahrlosung<br />
kommt meist wieder, es sei denn, es finden gravierende Ortswechsel statt. Selbst während<br />
stationären Aufenthalten wurden schon neue Sammlungen entdeckt.<br />
5.10.3 Hilfe, Finanzen, Initiative<br />
Ist man so weit, dass die Wohnung besichtigt werden kann, dann ist ein Probesammeln nötig<br />
und gemeinsame Aktivität falls möglich. Müllsäcke mitbringen, oft ist deren Fehlen schon das<br />
erste Hindernis <strong>für</strong> Betroffene. Eine kontinuierliche Füllung der Tonnen oder Abtransport im<br />
Dunkeln oder auch ansonsten unauffällig ist anzustreben. Kostenvoranschläge, Anträge zur<br />
Unterstützung („Kartei der Not“, Stiftungen) müssen gestellt werden.<br />
5.10.4 Druck, Drohung, Probeaktionen<br />
Bei echter Brandgefahr (Papierhaufen neben dem Gasherd, Rauchen im Bett im betrunkenen<br />
Zustand mit Brandflecken im Bett, vgl. Checkliste Brandgefahr), bei schon erfolgten Beschlüssen<br />
des Gerichts zur Zwangsräumung, bei schweren körperlichen Erkrankungen muss<br />
auch gegen den Willen der Betroffenen vorgegangen werden. Die jeweiligen Unterbringungsgesetze<br />
der Länder und das Betreuungsrecht bieten dazu die Möglichkeit. Darauf einzugehen<br />
geht jedoch über den Rahmen dieser Handreichung hinaus. Wer denkt aber dann<br />
schon an die Betreuung und das Auffangen nach der Entrümpelung? Noch nie gelungen ist<br />
uns die Möglichkeit des Vollstellens mit Leer-Kartons, so dass der volle Eindruck bleibt, jedoch<br />
ohne die Gefährdung durch umstürzende Stapel, verderbende Fleisch- oder Gemüsevorräte.<br />
5.10.5 Wenn nichts mehr geht<br />
Wenn Vormundschaftsgericht oder Rechtsanwälte einen Strich durch die Rechnung bzw. die<br />
Bemühungen um Entrümpelung machen:
58<br />
- Regelmäßige Berichte und Weiterleitungen neuer Beschwerden und Meldungen an<br />
die blockierenden Stellen<br />
- direkter Verweis der Beschwerdeführer an die blockierende Einrichtung<br />
- Überprüfen, ob es Möglichkeiten nach<br />
• Tierschutzgesetz<br />
• Bauvorschriften<br />
• Abfallgesetz<br />
• Infektionsschutzgesetz<br />
• Strafgesetzbuch (Aussetzen einer hilflosen Person § 223 StGB)<br />
(vgl. CD, beim Verfasser <strong>für</strong> 10 Euro zu bestellen) gibt.<br />
Gesteigerte Möglichkeiten sind, das ... :<br />
... Zusenden von Geruchsproben (oder zunächst die Drohung damit),<br />
… Zusenden von Zeitungsberichten mit fatalem Ausgang ähnlicher Fälle (verbrannt,<br />
verhungert, bestohlen, beraubt) oder die<br />
... Drohung mit direktem Herangehen an die Öffentlichkeit.<br />
Wenn nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten gar nichts mehr geht, bleibt nur noch das letzte<br />
Kapitel:<br />
5.10.6 Toleranz, Laissez-faire, gute Nerven<br />
Für die meisten von uns kostet eine rasche, entschlossene und gründliche Entrümpelung<br />
weniger Nervenkraft als die Frage, die gestellt werden muss (und oft viel Arbeit erspart): Was<br />
passiert, wenn nichts passiert? Mit Toleranz und Gewähren lassen, kann so manches Problem<br />
auch gelöst werden. Ansonsten wünschen wir uns doch genau dies. Die Entscheidung<br />
<strong>für</strong> das bewusste und verantwortete Nichts-Tun muss selbstverständlich begründet werden.<br />
Wenn niemand gefährdet, keine Geruchsbelästigung vorhanden und Be<strong>für</strong>chtungen vor Maden,<br />
die durch die Steckdose kommen unbegründet sind und keine menschenunwürdigen<br />
Umstände vorliegen – warum soll man dann räumen (lassen)?<br />
Keine Hilfe <strong>für</strong> unsere Patienten stellt es jedoch dar, wenn sie durch ignorante Toleranz (wie<br />
sie oft von Gerichten mit dem Hinweis auf „Freiwilligkeit“ und „Entfaltung der Persönlichkeit“<br />
bewiesen wird) obdachlos werden. Die Alternativen zwischen „gewähren lassen“ und „vor<br />
Obdachlosigkeit bewahren“, muss stets gegeneinander abgewogen werden. Ein Mittelweg ist<br />
gegeben durch minimal invasive Intervention (beim Entrümpeln) bei maximal extensiver<br />
Befriedungsfunktion (z.B. mit den Nachbarn oder dem Vermieter).<br />
Es gibt also zwei Möglichkeiten, dass nichts getan wird:<br />
a) alle Möglichkeiten ausgeschöpft aber erfolglos, verweigert, juristisch ausgebremst<br />
b) bewusste Entscheidung, dass nicht notwendig.<br />
Wenn nach Ausschöpfen aller oben genannter Möglichkeiten alles beim Alten bleibt und keine<br />
Möglichkeit / Notwendigkeit <strong>für</strong> eine Intervention besteht, so bedeutet dies keine Niederlage,<br />
sondern ist als nicht zu ändernde Realität zu betrachten. Und Sie haben die Befriedigung<br />
und die Sicherheit, dass Sie nicht hilflos vor einem Problem gestanden sind, sondern<br />
eine Wohnungs-Verwahrlosung nach den „Regeln der Kunst“ und nach dem derzeitigen wissenschaftlichen<br />
Standard behandelt haben.<br />
6. Anhang<br />
6.1 Internetadressen<br />
Info: (verwahrlosungsspezifisch, übernommen von Fr. Prof. KÜNZEL-SCHÖN)<br />
http://www.femmessies.de<br />
(Förderverein zur Erforschung des Messie - Syndroms FEM<br />
Tegerstr. 5, 32 825 Blomberg, Tel 05236 888 795, email femmessies@t-online.de
http://members.aol.com/amessie/welcome.htm<br />
anonyme messies Berlin<br />
http://www.messies.com/aboutus.html<br />
Sandra Felton`s Messies Anonymous<br />
59<br />
6.2 Literaturhinweis<br />
Beim Verfasser:<br />
Bestellung per fax, Lieferung zwei Seiten per fax.<br />
Bestellung dieser Handreichung in EDV Form auf einer CD mit Dateien im rtf und pdf Format<br />
mit Bildern, Folien und Literatursammlung z.T. mit gescannten Artikeln bei:<br />
Gesundheitsamt der Stadt Augsburg<br />
Abt. IV Sozialpsychiatrie<br />
Dr. Lothar Lindstedt<br />
Karmelitengasse 11<br />
86 152 Augsburg<br />
Am einfachsten per fax 0821 324 2018 bestellen.<br />
10.- € einschl. Porto. Lieferzeit drei Wochen.<br />
Die Druckversion kann nicht bestellt werden, da sehr aufwendig und teuer. Bitte benötigte<br />
Teile selbst drucken.
H.D. Mückschel, Dipl. Sozialpädagoge/FH und<br />
Konstanze Pilgrim, Dipl. Sozial-pädagogin/FH, Angehörigenberatung Nürnberg e.V.<br />
60<br />
Workshop 1<br />
Begleitung von Angehörigen bei der Begutachtung durch den MDK bzw. beim Widerspruch<br />
gegen ablehnende Bescheide der <strong>Pflege</strong>kasse<br />
Im Workshop wurde an beiden Tagen zu Beginn folgende Frage gestellt:<br />
Wo haben die Workshop-Teilnehmer und Teilnehmerinnen Kontakt mit dem Medizinischen<br />
Dienst der Krankenkassen, bei welchen Gelegenheiten unterstützen sie Klienten und Klientinnen,<br />
damit diese Leistungen der <strong>Pflege</strong>versicherung erhalten?<br />
Es zeigte sich, dass alle Teilnehmer/innen ihren Klienten/innen das Angebot machen, bei der<br />
Begutachtung durch den Medizinischen Dienst dabei zu sein oder zumindest zum Thema<br />
<strong>Pflege</strong>versicherung zu beraten. Dies traf sowohl <strong>für</strong> die Mitarbeiter/innen von ambulanten<br />
Diensten zu als auch <strong>für</strong> die von Beratungsstellen. Bei den Beratungsstellenmitarbeitern/innen<br />
gibt es zusätzlich noch das Angebot der Begleitung bei Widerspruchsverfahren.<br />
Die Kollegen/innen bei ambulanten Diensten können dieses Angebot nicht machen, da die<br />
Kranken- und <strong>Pflege</strong>kassen ihnen unterstellen, dass sie nicht objektiv sein können. Denn sie<br />
sind als Anbieter von Leistungen, die von den Kassen bezahlt werden, gleichzeitig Nutznießer<br />
einer etwaigen Ein- oder Höherstufung.<br />
Zu Beginn wurde die Frage geklärt, wer denn eigentlich Leistungen der <strong>Pflege</strong>kasse beantrage<br />
und dadurch mit der Kasse in ein Rechtsverhältnis trete.<br />
Dies macht eigentlich nicht der Angehörige, sondern der oder die Versicherte, also der oder<br />
die <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst. In Fällen, in denen diese Person dement ist und sich mit der<br />
<strong>Pflege</strong>versicherung und dem Antragswesen nicht auskennt, müsste eigentlich eine Betreuung<br />
eingerichtet werden, damit ein/e bestellte/r Betreuer/in sich <strong>für</strong> die pflegebedürftige demente<br />
Person um diese Dinge kümmern kann. Doch in der Realität ist es oft so, dass die<br />
Sachbearbeiter/innen bei den <strong>Pflege</strong>kassen stillschweigend akzeptieren, dass Angehörige<br />
<strong>für</strong> ihre demenzkranken Familienmitglieder Anträge stellen und sogar Bescheiden widersprechen.<br />
Bei der Einstufung gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen gibt es immer wieder Probleme<br />
(wobei es hier weniger um Schwierigkeiten mit einzelnen Mitarbeitern/innen des MDK<br />
geht, sondern um Probleme durch Krankheitssymptome oder Verhalten der Angehörigen).<br />
Diese wurden gemeinsam erarbeitet und gesammelt.<br />
1. Die erkrankte Person vermittelt den Eindruck, keinen <strong>Pflege</strong>bedarf zu haben. Sie<br />
wirkt während des Begutachtungstermins körperlich und geistig rege und fit (‚Vorführeffekt’).<br />
Generell gilt, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) den <strong>Pflege</strong>bedarf der<br />
betreffenden Person ermitteln muss.
61<br />
Grundsätze bei der Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />
gerontopsychiatrischer Patienten durch den MDK<br />
Der zu berücksichtigende Hilfebedarf ergibt sich aus:<br />
• der individuellen Ausprägung von funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen<br />
durch Krankheit und Behinderung<br />
• der individuellen Lebenssituation<br />
• zugrundegelegt werden muss die Laienpflege<br />
• es darf ausschließlich die Individualität des <strong>Pflege</strong>bedürftigen berücksichtigt werden.<br />
Maßgebend ist die Einschränkung der Fähigkeit, die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen<br />
ohne fremde Hilfe vornehmen zu können.<br />
Hilfebedarf ist gegeben, wenn<br />
• die Verrichtungen wegen motorischer Einschränkungen nicht ausgeübt werden können,<br />
• die motorischen Fähigkeiten zwar vorhanden sind, die Notwendigkeit aber nicht eingesehen<br />
wird,<br />
• die Notwendigkeit zwar gesehen, aber nicht in sinnvolles Handeln umgesetzt werden<br />
kann,<br />
• eine teilweise Übernahme erforderlich ist,<br />
• eine Beaufsichtigung während der Handlung erfolgen muss,<br />
• es einer teilweisen bzw. kontinuierlichen Anleitung bedarf.<br />
Zur Ermittlung dienen Angaben, die möglichst klare Aussagen machen über den <strong>Pflege</strong>- und<br />
Hilfsbedarf der betreffenden Person. Eine bewährte Methode hier<strong>für</strong> ist das Führen eines<br />
<strong>Pflege</strong>tagebuches.<br />
Problematisch kann sein, dass Angehörige diese Tagebücher teilweise als kompliziert betrachten<br />
oder auch be<strong>für</strong>chten, keine Zeit zum Ausfüllen zu haben. Zur Erleichterung können<br />
sie auch einfach eine Strichliste führen, bei der sie nur die Häufigkeit aller Verrichtungen des<br />
täglichen Lebens dokumentieren und dabei nicht auf die Uhr schauen müssen. Für die Ermittlung<br />
des Zeitwertes der einzelnen Verrichtung kann entweder der vorgesehene Zeitkorridor<br />
(s. Tabelle 1) eingesetzt werden oder, falls Erschwernisfaktoren (s. Tabelle 2) eine Rolle<br />
spielen, jeweils die tatsächlich benötigte Minutenzahl.
62<br />
Tabelle 1: Zeitkorridore (Beispiele)<br />
1. Körperpflege Ganzkörperwäsche 20 - 25 Minuten<br />
Duschen 15 - 20 Minuten<br />
Zahnpflege 5 Minuten<br />
Kämmen 1 - 3 Minuten<br />
Rasieren 5 - 10 Minuten<br />
Wasserlassen 2 - 3 Minuten<br />
Stuhlgang 3 - 6 Minuten<br />
2. Ernährung Mundgerechte Zubereitung einer<br />
Hauptmahlzeit<br />
3 - 6 Minuten<br />
Nahrungsaufnahme (3 Hauptmahlzeiten)<br />
je 15 - 20 Minuten<br />
3. Mobilität Aufstehen/Zubettgehen 1 - 2 Minuten<br />
Ankleiden 8 - 10 Minuten<br />
Entkleiden 4 - 6 Minuten<br />
Tabelle 2: Allgemeine Erschwernis- und Erleichterungsfaktoren<br />
Erschwernisfaktoren: erleichternde Faktoren:<br />
- Körpergewicht über 80 kg - Körpergewicht unter 40 kg<br />
- Kontrakturen/steife Gelenke - pflegeerleichternde räuml. Verhältnisse<br />
- Halbseitenlähmung/Lähmung beider - Hilfsmitteleinsatz<br />
Arme oder Beine<br />
- unkontrollierte Bewegungen<br />
- Fehlstellungen von Extremitäten<br />
- eingeschränkte Belastbarkeit infolge<br />
schwerer Herzerkrankung<br />
- Abwehrverhalten mit Behinderung der<br />
Übernahme (z.B. bei Dementen, die sich<br />
Wehren)<br />
- stark eingeschränkte<br />
Sinneswahrnehmung<br />
- pflegebehindernde räumliche<br />
Verhältnisse<br />
Für Demenzkranke kommt vor allem der Erschwernisfaktor‚ Abwehrverhalten mit Behinderung<br />
der Übernahme in Frage. Des Weiteren muss bedacht werden, dass gerontopsychiatrisch<br />
Erkrankte oftmals noch andere Erkrankungen haben (Multimorbidität), die eventuell<br />
zu einer weiteren Erschwernis der <strong>Pflege</strong> führen können.
Für die Berechnung der Zeitwerte spielt außerdem die Form der Hilfeleistung eine Rolle:<br />
63<br />
Unterschiedliche Hilfeformen<br />
1. Beaufsichtigung: Die <strong>Pflege</strong>person achtet bei der Durchführung der<br />
Verrichtung auf die Sicherheit der/des <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />
(z.B. beim Rasieren, dass sie/er sich nicht schneidet).<br />
2. Anleitung: Die motorische Fähigkeit zur Durchführung der<br />
Verrichtung ist noch gegeben, sie kann aber nicht ohne<br />
Hilfe zur Ende geführt werden (z.B. bei Demenzkranken,<br />
die zwar die körperliche Fähigkeit sich zu waschen noch<br />
haben, aber die einzelnen Handlungsabläufe nicht mehr<br />
verstehen).<br />
3. Unterstützung: Noch vorhandene Fähigkeiten bei den Verrichtungen<br />
werden zu erhalten und fördern versucht, verloren-<br />
gegangene wieder zu erlangen und nicht vorhandene zu<br />
entwickeln.<br />
4. Übernahme: Die <strong>Pflege</strong>person übernimmt den Teil der Verrichtungen,<br />
den die <strong>Pflege</strong>bedürftige nicht mehr selbst ausführen<br />
kann.<br />
Bei aktivierender <strong>Pflege</strong>, also wenn Angehörige versuchen, die Erkrankten soviel wie möglich<br />
selbst machen zu lassen, sie dabei anleiten, beaufsichtigen und unterstützen, können<br />
die Zeitwerte eingesetzt werden, die die Angehörigen tatsächlich benötigen. Voraussetzung<br />
ist, dass sie auch wirklich während der gesamten Verrichtung anwesend sind. Bei den Hilfeformen‚<br />
Übernahme der Tätigkeit und Teilübernahme können im Gegensatz dazu nur die<br />
Zeitkorridore bzw. nur ein Bruchteil des Zeitkorridors zur Errechnung herangezogen werden.<br />
Falls bereits ein ambulanter Dienst bei der gerontopsychiatrisch erkrankten Person tätig ist,<br />
sollte auch die von diesem geführte <strong>Pflege</strong>dokumentation bereitgelegt werden. Eine Teilnehmerin<br />
des Workshops wies darauf hin, dass es sinnvoll sein kann, dem MDK die entsprechenden<br />
Seiten in Kopie mitzugeben, da ihm dies eine Einarbeitung der Fakten in das<br />
Gutachten erleichtert.<br />
Objektive Aussagen über den Zustand der erkrankten Person ermöglichen auch Arztberichte.<br />
Diese erläutern die Krankheit, die der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit zugrunde liegt oder diese zumindest<br />
negativ beeinflusst. Daher sollte der behandelnde Haus- und Facharzt darum gebeten<br />
werden, einen Bericht <strong>für</strong> die Einstufung durch den Medizinischen Dienst zu erstellen.<br />
Zusammenfassend zur gesamten Fragestellung, wie einem falschen Eindruck über den Hilfs-<br />
und <strong>Pflege</strong>bedarf bei gerontopsychiatrisch erkrankten Menschen entgegenzuwirken ist, kann<br />
also festgehalten werden, dass zu diesem Zweck möglichst viele (möglichst) objektive Daten<br />
erhoben werden sollten. Es ist also wichtig, dass die Angehörigen entsprechend vorbereitet<br />
sind. Diese Vorbereitung kann die Aufgabe von Angehörigenberatungsstellen oder auch ambulanten<br />
Diensten sein. Es kann sich auch als günstig erweisen, dass der/die Berater/in zusätzlich<br />
zur Vorbereitung auch das Angebot der Anwesenheit bei dem Begutachtungstermin<br />
macht.
64<br />
Vorbereitung auf den Besuch des Medizinischen Dienstes<br />
- Führen eines <strong>Pflege</strong>tagebuchs<br />
- <strong>Pflege</strong>dokumentation des ambulanten Dienstes,<br />
der die betreffende Person bereits pflegt, bereitlegen<br />
- ärztliche Unterlagen besorgen, die<br />
Auskunft geben über die Krankheit/en und ihre Folgen<br />
<strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />
- eine Vertrauensperson/<strong>Pflege</strong>kraft vom ambulanten Dienst zum<br />
Begutachtungstermin hinzu bitten<br />
2. Ferner beschäftigen sich die Teilnehmer/innen des Workshops noch mit einem weiteren<br />
Problem, das besonders bei der Begutachtung demenzkranker Menschen eine<br />
Rolle spielt:<br />
Angehörige sind gehemmt, im Beisein eines demenzkranken Familienmitgliedes über dessen<br />
Hilfsbedarf zu sprechen. Sie verschweigen deshalb womöglich ihre täglich zu erbringenden<br />
Hilfestellungen.<br />
Generell gilt, dass es eine Verpflichtung gibt, bei der Ermittlung des <strong>Pflege</strong>- und Hilfebedarf<br />
mitzuwirken. Angehörige haben aber auch das Recht, auf einer Befragung durch den MDK in<br />
Abwesenheit des Betroffenen zu bestehen. Einige Teilnehmerinnen erzählten, dass sie oft<br />
auf dem Weg zum Auto des/der Gutachters/in diesem/dieser noch manches erzählten, was<br />
zur Vollständigkeit des Bildes beitrüge. Es ist aber auch möglich, dass Angehörige einen telefonischen<br />
Termin mit dem MDK ausmachen, um frei über den Hilfebedarf ihres Familienmitgliedes<br />
sprechen zu können.<br />
Dennoch muss es dem/der Gutachter/in ermöglicht werden, die erkrankte Person auch in<br />
ihrem häuslichen Umfeld persönlich zu befragen.<br />
3. Widerspruchsverfahren:<br />
Auf den Widerspruch wurde nur kurz eingegangen. Dabei wurde dargelegt, wie Berater und<br />
Beraterinnen Angehörige hier unterstützen können.<br />
Widerspruchsverfahren<br />
Ablehnungsbescheid der <strong>Pflege</strong>kasse<br />
�<br />
Gutachten vom Medizinischen Dienst zuschicken lassen<br />
�<br />
Bis spätestens 4 Wochen nach Erhalt des Ablehnungsbescheides<br />
Widerspruch einlegen und ausführlich begründen<br />
�<br />
Entweder neuerlicher Hausbesuch durch den Medizinischen Dienst<br />
oder Entscheidung nach Aktenlage<br />
� �<br />
bei Anerkennung: bei Abweisen des Widerspruchs:<br />
rückwirkende Leistungen Klage vor Sozialgericht
65<br />
Besonders hilfreich sind <strong>für</strong> die Erstellung einer Widerspruchsbegründung die Richtlinien der<br />
Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen zur Begutachtung von <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit nach dem XI.<br />
Buch des Sozialgesetzbuches ∗ und hier insbesondere das 5. Kapitel, Bestimmung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />
(III. 6. Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Personen mit psychischen<br />
Erkrankungen).<br />
5. Thema war im Workshop am ersten Tag außerdem das <strong>Pflege</strong>leistungsergän-<br />
zungsgesetz.<br />
Da zu diesem Thema ein ausführlicher Vortrag von Frau Weigand stattfand, wird hier auf<br />
Erläuterungen verzichtet.<br />
∗ Im Internet zu finden unter www.vdak.de unter <strong>Pflege</strong>versicherung - Begutachtungs-Richtlinien
66<br />
Gerlinde Dietl, Dipl. Pädagogin, Beratzhausen<br />
Workshop 2<br />
Methoden der Erwachsenenbildung bei der Schulung und Anleitung<br />
von ehrenamtlichen Helfer/innen<br />
Teil 1: Theoretische Einführung<br />
1.1 Begriffsklärung<br />
Was heißt Didaktik?<br />
Stammt aus dem Griechischen und heißt wörtlich „Lehre“<br />
Didaktik ist die Kunst Allen Alles ganz zu lehren!<br />
„Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und<br />
zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr<br />
lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrschen, da<strong>für</strong> mehr<br />
Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt.“<br />
Comenius, 1628, Didactica magna<br />
Was heißt Methodik?<br />
Stammt aus dem Griechischen und heißt wörtlich „Weg nach“<br />
Das aus der gleichen Sprachwurzel stammende Wort „methodeía“ lautet „List“ oder „Trug"
67<br />
1.2 Welchen Sinn hat es, über die Auswahl der Didaktik und Methodik nachzudenken?<br />
Zwei Jungen streiften durch die Wiesen und Felder ihrer Heimat und gelangten an einen<br />
Bach, der so breit war, dass sie beim besten Willen nicht hinüberkommen konnten. Da warf<br />
der eine Junge seine Mütze über den Bach und der andere seine hinterher. Nun blieb ihnen<br />
nichts anderes übrig, als doch noch einen Weg zu finden, hinüberzukommen.<br />
- Die beiden Jungen suchen einen Weg<br />
- Möglicherweise überschätzen sie die Schwierigkeiten<br />
- Sie haben sich eine Aufgabe gesetzt, deren Lösung sie herausfordert<br />
- Sie haben sich selbst überlistet, aber motiviert.<br />
Was passiert nun, wenn der „Lehrer“ kommt?<br />
Er hätte die Jungen vermutlich sofort in ein Gespräch verwickelt, er hätte die Tiefe, Strömung<br />
und Breite des Flusses abgeschätzt; er hätte nach einem umgekippten Baumstamm Ausschau<br />
gehalten, er hätte ein Führungsseil gespannt, um die Risiken zu verringern; vielleicht<br />
hätte er auch nur geschimpft und die Jungen daran gehindert, weiter zu versuchen, zu ihrer<br />
Mütze zu kommen.<br />
ïNoch so intensive Lehrbemühungen sind wenig wert, wenn sie nicht irgendwann zum<br />
selbständigen Handeln der Schüler führen.<br />
1.3 Welche Bedingungen der Erwachsenenbildung müssen bedacht werden?<br />
Alle institutionalisierten Lehrveranstaltungen sind künstliche Lernsituationen!<br />
In der Schule, im Seminar, im Workshop, im Vortrag, ist es der Lehrer, der die „Mütze über<br />
den Bach wirft“ und dann aber erwartet, dass die Schüler, Teilnehmer oder Zuhörer sich darüber<br />
freuen und nichts anderes im Kopf haben, als ihre Mütze auf die andere Seite des Baches<br />
zu holen.<br />
Wer als Schüler, Teilnehmer oder Zuhörer hier nicht mitmacht, fällt auf und wird zum Störer!<br />
„Wo Fremdorganisation ist, soll Selbstorganisation werden!<br />
Und: An die Stelle von Lehre soll Lernen treten!!<br />
(Arnold/Krämer-Stürzl 1996)<br />
1.4 Erkenntnisse zum Lernen von Erwachsenen<br />
� Lernen ist eine aktive, biografisch verankerte Konstruktion von Wirklichkeiten.<br />
� Lernen ist strukturdeterminiert, d.h. wir verarbeiten das, was in unser kognitives System<br />
passt, <strong>für</strong> das wir kognitiv und emotional aufgeschlossen sind, was uns sinnvoll und<br />
brauchbar erscheint.<br />
� Neue Lerninhalte müssen anschlussfähig sein, sie müssen sich verknüpfen lassen mit<br />
vorhandenen Erfahrungen und Wissensbeständen. Isoliertes, auswendig gelerntes Wissen<br />
bleibt äußerlich.<br />
� Der Lernende entscheidet selber, was er lernen will. Er hört das, was er hört und was ihm<br />
verständlich ist.<br />
Deshalb brauchen wir<br />
1. Eine Ermöglichungsdidaktik<br />
2. Methoden als helfende Verfahrungsweisen.
68<br />
Teil 2: Planungshilfen <strong>für</strong> Maßnahmen in der Erwachsenenbildung<br />
Planung des Workshops als Beispiel:<br />
1. Zielgruppe - Teilnehmende?<br />
2. Grobziele - Lernziele?<br />
3. Rahmenbedingungen?<br />
4. Institution?<br />
5. Methoden?<br />
1. Zielgruppe - Teilnehmende?<br />
� <strong>Pflege</strong>fachkräfte und Sozialpädagoginnen, die in der Beratung und Begleitung von pflegenden<br />
Angehörigen im ambulanten Bereich tätig sind.<br />
� Vorerfahrungen im Umgang mit Gruppen von Erwachsenen sind wahrscheinlich.<br />
� Alle haben gleiche Aufgabenstellungen: Gewinnung von Ehrenamtlichen und deren Ausbildung<br />
und Begleitung.<br />
� Wahrscheinlich möchten die Teilnehmer Planungshilfen im Workshop erhalten, wie kann<br />
ich eine Schulung durchführen?<br />
� Eigene Erfahrung mit unterschiedlichen Methoden kann vorausgesetzt werden.<br />
� Eigene Lehrerfahrung evtl. auch z. B. <strong>Pflege</strong>kurse, Anleitung zur Benutzung von <strong>Pflege</strong>hilfsmitteln<br />
oder Hilfestellung bei der Beantragung von Leistungen, etc.<br />
� Höchstteilnehmerzahl 20 wahrscheinlich 12 bis 16 Personen.<br />
2. Grobziele - Lernziele?<br />
� Einsicht in die Bedingungen des Lernens von Erwachsenen gewinnen können.<br />
� Die Schulung hinsichtlich der Richtlinien organisieren können.<br />
� Die Grobziele in Lernziele umsetzen können.<br />
� Das eigene Verhalten als Leiterin einer Gruppe bewußt reflektieren können.<br />
� Erwartungen der Teilnehmer berücksichtigen können.<br />
� Für passende Rahmenbedingungen sorgen können.
69<br />
� Methoden der Erwachsenenbildung kennenlernen und beurteilen, was wann sinnvoll eingesetzt<br />
werden kann.<br />
� Interesse an dem Thema so fördern, dass Teilnehmer ihre Kompetenzen zukünftig weiter<br />
ausbauen.<br />
3. Rahmenbedingungen?<br />
� Mit wie vielen Teilnehmern rechne ich?<br />
� Welchen Raum habe ich zur Verfügung? Wie bereite ich den Raum vor (Sitzordnung;<br />
Heizung; Verdunkelung, ...)?<br />
� Welche Medien werden benötigt?<br />
� Welche Materialien muss ich bereitstellen (Papier, Schere, Stifte, Plakate,...)?<br />
� Wann findet die Schulung statt (in der biologischen Ruhephase oder in einer Aktivitätszeit?<br />
� Wieviel Zeit steht zur Verfügung?<br />
4. Institution?<br />
� Veranstalter der Fachtagung sind das Bayerische Sozialministerium und die Angehörigenberatung<br />
e. V. Nürnberg.<br />
� Die Fachtagung findet nun zum sechsten Mal statt.<br />
� Die Fachtagung hat keine politische oder weltanschauliche Orientierung, sie ist auf das<br />
Aufgabengebiet im Bayerischen <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong> bezogen.<br />
� Die Teilnehmer erwarten sicher eine fundierte Wissensvermittlung, möchten aber auch<br />
Raum <strong>für</strong> den Austausch eigener Erfahrungen haben.<br />
� Das Wissen sollte möglichst praxisnah auf ihr Aufgabengebiet zugeschnitten sein.<br />
5. Methoden?<br />
Die ausgewählten Methoden sollen folgendes leisten:<br />
1. Kennenlernen der Teilnehmer hinsichtlich ihrer Motivation <strong>für</strong> die Teilnahme an diesem<br />
Workshop.<br />
2. Eine angenehme und anregende Atmosphäre schaffen.<br />
3. Möglichkeit der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit der zukünftigen Aufgabe.<br />
4. Austausch von Erfahrungen, die schon da sind.<br />
5. Anknüpfen an eigenen Erfahrungen als Lernende und Lehrende ermöglichen.<br />
6. Informieren über Didaktik und Methodik der Erwachsenenbildung.<br />
Teil 3: Methoden im Überblick<br />
� Methoden mit darbietendem Charakter<br />
� Stofforientierte Methoden<br />
� Kommunikativ, gestalterisch oder spielerisch orientierte Methoden<br />
3.1 Methoden mit darbietendem Charakter<br />
- Vortrag, Vorlesung, Referat<br />
- Podiumsdiskussion<br />
- Lehrgespräch<br />
- Vier-Stufen-Methode<br />
3.2 Stofforientierte Methoden<br />
- Textarbeit<br />
- Brainstorming<br />
- Moderationstechnik<br />
- Projektmethode
3.3 Kommunikativ, gestalterisch oder spielerisch orientierte Methoden<br />
- Moderierte Diskussion; Podiumsdiskussion<br />
- Pro- und Contra- Erörterung<br />
- Rollenspiel<br />
- Zukunftswerkstatt / Planspiel<br />
- Arbeit mit Bildern oder Fotos<br />
- Collagen<br />
- Texte schreiben<br />
- Metapher-Meditation<br />
- Phantasiereisen<br />
- Blitzlicht<br />
- Motorinspektion<br />
- Bilanz-Frage<br />
- Kennenlernspiele<br />
- Paarinterview<br />
- Pantomime und Lebendes Bild<br />
- usw.<br />
Teil 4: Leifragen zur Medienauswahl<br />
1. Ergibt sich aus der Zielvorstellung die Affinität <strong>für</strong> ein bestimmtes Medium?<br />
70<br />
2. Erfordert die Auswahl eines bestimmten Unterrichtsgegenstandes die Verwendung bestimmter<br />
Medien?<br />
3. Ergibt sich aus der Vorauswahl bestimmter Methoden ein Hinweis auf notwendig einzusetzende<br />
Medien?<br />
4. Verlangen bestimmte individuelle oder organisatorische Voraussetzungen die Verwendung<br />
bestimmter Medien?<br />
5. Welche Auswirkungen und Rückwirkungen auf das Unterrichtsgeschehen ergeben sich<br />
aus der Verwendung eines bestimmten Mediums?
71<br />
Teil 5: Planung des Workshops als Beispiel<br />
Lernziel Lerninhalt Methode Zeit Material<br />
Einführung und<br />
Aktivierung <strong>für</strong><br />
das Thema<br />
Einführung des<br />
Themas in der<br />
Gruppe<br />
Die Gruppenmitglieder<br />
lernen sich<br />
kennen<br />
Themenzentriertes<br />
Arbeiten<br />
Für Abwechslung<br />
und<br />
entspannte<br />
Atmosphäre<br />
sorgen können<br />
Hinweise <strong>für</strong><br />
eine sinnvolle<br />
Weiterarbeit<br />
Die Gruppen-<br />
dynamik und<br />
den Verlauf<br />
erfassen<br />
1. Begriffe Didaktik und Methodik kennenlernen<br />
2. Die Lernvoraussetzungen im Erwac h-<br />
senenalter bewußt wahrnehmen<br />
1. Den Zusammenhang von Methode und<br />
Didaktik mit Lernzielen, Teilnehmerbedürfnissen,<br />
Leitungsverhalten und<br />
Rahmenbedingungen kennenlernen.,<br />
am Beispiel der Planung dieses Workshops.<br />
2. Einen Überblick zu verschiedenen<br />
Methoden bekommen. Die Methoden im<br />
Zusammenhang mit den Lerninhalten<br />
zuordnen können.<br />
3. Planungshilfen <strong>für</strong> die Auswahl von<br />
Medien kennenlernen<br />
4. Die Struktur einer Planungshilfe <strong>für</strong> eine<br />
Schulungseinheit kennenlernen<br />
Methoden <strong>für</strong> den Anfang kennenlernen und<br />
ausprobieren<br />
Einführung in das Thema – Begrüßung –<br />
Ablauf<br />
1.1 Verschiedene Formen <strong>für</strong> eine<br />
Zufallsauswahl kennen und anwenden<br />
können<br />
1.2 Kennenlernen zu Zweit<br />
1.3. Kennenlernen in Kleingruppen<br />
1.4. Vorstellungsgruppen mit inhaltlichem<br />
Zentrum<br />
1.5. Erwartungsinventar<br />
1.6. Geleitete Phantasie „Mein Weg hierher“<br />
1.7. Paßfoto<br />
Methoden zur Erschließung von Inhalten<br />
kennenlernen und anwenden können<br />
1. Kleingruppenarbeit (z. B. Nachbarschaftsgruppen,<br />
Vierergruppen, Wahlgruppen)<br />
Methoden <strong>für</strong> Auflockerung und Aktivierung<br />
kennenlernen und einsetzen können.<br />
Stuhlkreisspiele zum Kennenlernen<br />
Stuhlkreisspiele mit Bewegung<br />
Wettermassage zur Entspannung<br />
Methoden der Zusammenfassung und Darbietung<br />
sinnvoll einsetzen können<br />
Als Beispiel wird die Metapher-Meditation<br />
eingesetzt:<br />
<strong>Pflege</strong>n zu Hause ist wie ....<br />
An Gedächtnisstörungen zu leiden ist w ie ....<br />
Als weiteres Beispiel die Pro- und Contra-<br />
Methode<br />
Angehörige sollen solange als möglich zu<br />
Hause gepflegt werden, ...<br />
Methoden zum Aufdecken der Stellung der<br />
Gruppenmitglieder in der Gruppe und zum<br />
Thema kennenlernen und anwenden können<br />
1. Blitzlicht – Methode<br />
2. Motorinspektion<br />
3. Nacharbeit mit Bilanz-Waage<br />
Kurzvortrag mit Folien 10 Minuten OHP-Projektor, Folien,<br />
Wand oder Leinwand<br />
Lehrvortrag als Einführung<br />
1.1 Datumsmethode, Puzzlemethode,<br />
Wollfadenmethode<br />
1.2 Paarinterview (Wer bin ich und<br />
was reizt mich an diesem Kurs?)<br />
1.3 Siehe Paarinterview, aber mit<br />
Blumenplakat<br />
1.4 Ich bin... zum Thema des Kurses<br />
bringe ich mit... mich lockt an diesem<br />
Kurs. Gruppe schreibt ein<br />
Stichwort, Motto, eine These auf<br />
und teilt das dem Plenum mit<br />
1.5 Jeder notiert seine Erwartungen<br />
und tauscht sich dann aus, später<br />
wird das besonders wichtige auf<br />
einer Wandzeitung festgehalten,<br />
die während des gesamten Kur-<br />
ses hängen bleibt.<br />
Arbeitsaufträge zum Zusammenhang<br />
von Methoden mit<br />
- Teilnehmern<br />
- Leiter /Leiterin<br />
- Zielen<br />
- Inhalten<br />
Fassen Sie Ihre Überlegungen in drei<br />
Aussagen, Thesen, Regeln zusammen<br />
Zipp-Zapp-Spiel<br />
Ich sitze im Grünen und wünsche mir...<br />
Obstsalat<br />
Rückenmassage mit Ansage<br />
Plenumsgespräch mit Impulsfragetechnik:<br />
„Wie können die Ergebnisse eines<br />
Referats, oder Vortrags gesichert<br />
werden – welche sinnv ollen Methoden<br />
fallen Ihnen dazu ein?<br />
1. Was nehme ich augenblicklich an<br />
mir wahr? (innerlich, äußerlich?)<br />
Was erwarte ich von der heutigen<br />
Veranstaltung? Wie habe ich die<br />
vergangene Sitzung erlebt und<br />
wie fühle ich mich jetzt? Was hat<br />
mich heute geärgert, was hat<br />
mich gefreut?<br />
2. Ich lege hier in die Mitte des<br />
Raumes dieses Buch. Das stellt<br />
unser gemeinsames Thema dar.<br />
Bitte suchen sie nun einen Platz<br />
im Raum...<br />
15 Minuten OHP-Projektor, Folien,<br />
Wand oder Leinwand<br />
20 Minuten Kärtchen, Plakate mit<br />
Blumen, Wollfäden, Memory<br />
Spiel, Tesacrepp, oder<br />
Pinnnadeln<br />
30 Minuten<br />
Kleingruppenarbeit<br />
20 Minuten <strong>für</strong><br />
die Vorstellung<br />
der Ergebnisse<br />
im Plenum<br />
10 Minuten Stuhlkreis<br />
Plakate oder Flipchartblock<br />
<strong>für</strong> die Thesen, großer<br />
Folienschreiber<br />
15 Minuten Stuhlkreis, Flipchart zum<br />
Festhalten<br />
20 Minuten Buch, Stuhlkreis, Folien als<br />
Beispiele <strong>für</strong> Arbeitsblätter
Anhang zum Teil 5 – Erläuterung zu einigen Methoden, die verwendet wurden:<br />
72<br />
Methoden zur Paarauswahl:<br />
Bändergruppen: Es werden verschieden lange Bänder oder Wollfäden so geschnitten, dass<br />
immer zwei dieser Bänder gleich lang sind. Jede(r) zieht eines dieser Bänder und findet seinen<br />
Partner / ihre Partnerin.<br />
Puzzlemethode: z. B. werden 10 Postkarten in je zwei Teile zerschnitten. Jede(r) zieht einen<br />
Teil aus einem Körbchen und sucht den Partner/in. Oder Sprichwortkarten werden zerschnitten.<br />
Blumenpaar: Am Anfang erhält jede(r) eine Blume. Die Leiterin hat je zwei Blumen gleich<br />
ausgewählt.<br />
Textbeispiel <strong>für</strong> eine angeleitete Phantasiereise:<br />
„Bitte setzen Sie sich so bequem hin, dass Sie einige Zeit in dieser Stellung bleiben können.<br />
Achten Sie darauf, dass Ihr Atem frei fließen kann, dass weder Brustraum noch Bauch eingeengt<br />
sind. Ich werde Sie gleich bitten, die Augen zu schließen. Das soll Ihnen helfen, einige<br />
Situationen der letzten Zeit deutlicher zu sehen.... Bitte schließen Sie jetzt die Augen und<br />
erinnern Sie sich daran, als Sie zum ersten Mal von dieser Veranstaltung hörten oder das<br />
Thema lasen ... Welche Gedanken und Empfindungen hatten Sie ... ? Wann faßten Sie den<br />
Entschluß, sich anzumelden ... ? (Evtl. Dann kam die Anmeldebestätigung ...). Inzwischen<br />
verging einige Zeit, und heute morgen war es soweit. Als Sie aufwachten, was ging Ihnen da<br />
durch den Sinn ... ? Als Sie dann aufstanden und ihre morgendlichen Verrichtungen machten,<br />
wie war es Ihnen da, was dachten Sie ... ? Dann gingen Sie aus dem Haus, machten<br />
sich auf den Weg hierher mit allerlei Einfällen ... Sie kamen hier an, sahen das Haus ... Dann<br />
sahen Sie die anderen Teilnehmer ... Was war da in Ihnen ... ? Schließlich betraten Sie den<br />
Raum, sahen den Stuhlkreis, setzten sich ... Was waren da Ihre Empfindungen, Ihre Gedanken<br />
... Schließlich die ersten Worte von mir, die Begrüßung, der Anfang ... bis jetzt, bis zu<br />
dieser Stelle ... Sie sind nun wieder hier, öffnen langsam die Augen, sehen den Raum und<br />
die anderen ... (Nach einiger Pause:) Es wäre schön, wenn Sie nun etwas von dem, was in<br />
Ihnen aufstieg, hier einbringen könnten ...“<br />
Fachtexte, die themenbezogen zu diesem Workshop <strong>für</strong> die Kleingruppenarbeit verwendet<br />
wurden:<br />
Gruppe 1: Methoden und Gruppe<br />
1) Generelle Zielgruppenbestimmung<br />
Fragestellungen<br />
Wer soll mit einem bestimmten Themenbereich überhaupt angesprochen werden? An wen richtet sich das Angebot?<br />
2) Lebens- und Alltagssituation der Zielgruppe<br />
Fragestellung<br />
Was ist <strong>für</strong> das Angebot bedeutsam im Blick auf<br />
- Alter<br />
- Familienstand<br />
- Berufstätigkeit<br />
- Freizeit<br />
3) Situatio n der Zielgruppe in Bezug auf das Thema<br />
Fragestellung<br />
1. Was ist an allgemeinen Erwartungen, Einstellungen und Interessen vorhanden?<br />
2. Welche speziellen Schwierigkeiten oder Defizite machen den Leuten zu schaffen?<br />
3. Welche speziellen Fragen beschäftigen sie?<br />
4. Welche Lernbedürfnisse haben sie in diesem Zusammenhang?<br />
5. Welche Erfahrungen und Kenntnisse können vorausgesetzt werden?<br />
4) Situation der Zielgruppe in Bezug auf „Lernen“ und „Methoden der Erwachsenenbildung“<br />
Fragestellungen<br />
1. Welche Erfahrungen mit „Bildung“ und „Lernen“ sind vorauszusetzen?<br />
2. Welche Erfahrungen mit „Methoden der Erwachsenenbildung“ sind vorhanden?
73<br />
Konsequenzen <strong>für</strong> die Auswahl der Methoden<br />
1. Methoden sollen der jeweiligen Zielgruppe angemessen sein, das heißt an deren Merkmale anknüpfen.<br />
2. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Zielgruppe fixiert werden soll (z. B. „Die Leute sind Gruppenarbeit nicht gewöhnt, deshalb nehmen<br />
wir lieber ein Referat“)<br />
3. Andererseits dürfen Zumutung und Leistbarkeit nicht auseinanderfallen. Die dadurch entstehende Spannung kann zu Widerstand oder<br />
Resignation führen. Sie wird bei Teilnehmenden und Leitung manchmal auch so bewältigt, dass der Methode die Schuld gegeben wird.<br />
(„So etwas geht eben bei uns nicht.“)<br />
4. Die Methoden sollen vielmehr in dem, was sie fordern einen Schritt weiter sein als die augenblickliche Situation der Zielgruppe. In<br />
diesem situationsüberschreitenden Anspruch liegt das spezifische Anforderungsniveau einer Methode. Es läßt sich nur im Zusammenhang<br />
mit der jeweiligen Ziel- und Teilnehmerorientierung bestimmen.<br />
5. Das Anforderungsniveau soll gerade so groß sein, dass die Teilnehmenden bei der konkreten Veranstaltung den gewünschten Schritt<br />
noch (wenn auch möglicherweise mit Anstrengung) gehen können.<br />
6. Die Methodenwahl soll also mit Vorsicht geschehen. Vorsichtig heißt: weder forsch noch ängstlich, sonder aus einer Verbindung von<br />
Verstand und Einfühlung.<br />
Arbeitsauftrag: Formulieren Sie drei Thesen, die Ihren Standpunkt zum Thema Methodenauswahl in Bezug zur Gruppe der Teilnehmenden<br />
zusammenfassen. Notieren Sie Ihre Thesen auf ein Plakat!<br />
Gruppe 2: Methoden und Leiter/in<br />
Gesichtspunkte und Fragestellungen zur Erfassung der Situation des Leiters / der Leiterin<br />
1) Bestimmung der Aufgaben der Leitung<br />
Fragestellung<br />
Welche Aufgabe besteht<br />
- im Zusammenhang mit der geplanten Veranstaltung<br />
- speziell im Blick auf die Auswahl und Anwendung von Methoden?<br />
Welche Empfindungen und Stimmungen löst diese Aufgabe in der eigenen Person oder Leitungsgruppe aus?<br />
2) Situation in Bezug auf die Zielgruppe<br />
Fragestellung<br />
Wie sieht die Beziehung zur Zielgruppe aus?<br />
Welche eigenen Bedürfnisse und Wünsche sind im Blick auf die Zielgruppe vorhanden?<br />
3) Situation in Bezug auf das Thema<br />
Fragestellungen<br />
Was ist das eigene Interesse? Was möchte ich selber im Zusammenhang mit dem Thema lernen?<br />
Welche eigenen Erfahrungen und Kenntnisse sind vorhanden?<br />
4) Situation in Bezug auf „Lernen und Methoden der Erwachsenenbildung“<br />
Fragestellungen<br />
Welche eigenen Erfahrungen mit Bildung und Lernen sind vorhanden?<br />
Welche Methoden sind bereits bekannt? (Durch eigenes Erleben, eigene Praxis, Literatur)<br />
Welche Einstellungen bestehen gegenüber Methoden? Was spricht mich an einer Methode an bzw. was mißfällt mir daran?<br />
Gegenüber welchen Methoden besteht eine Vorliebe, gegenüber welchen eine Distanz?<br />
Welche Methode gibt Sicherheit, welche macht unsicher?<br />
Konsequenzen <strong>für</strong> die Auswahl von Methoden<br />
1. Selbstwahrnehmung üben und auf die innere Übereinstimmung mit einer ausgewählten Methode achten.<br />
2. Die Methode soll dem Leiter Sicherheit gewähren, wenn die Sicherheit verloren geht, dann kann der Leiter<br />
- die Methode ändern (wenn dazu Zeit ist und eine Variation einfällt)<br />
- die Methode beibehalten und durch inneres Entspannen wieder zur Gelassenheit zurückfinden<br />
- den Zwiespalt offen ansprechen und die Teilnehmer zum Ausprobieren und gemeinsamen Reflektieren ermutigen<br />
3. Vorarbeit im Gespräch leisten, Be<strong>für</strong>chtungen und Phantasien mit Kollegen durchsprechen<br />
4. Nacharbeit leisten anhand der folgenden Fragen oder und im Gespräch mit Kollegen:<br />
- Was fällt mir zuerst ein? (Eine Szene, ein Vorgang, ein Verhalten von mir oder anderen ..)<br />
- Was hat mich gestört? (Möglichst konkret ...)<br />
- Wie war die Reihenfolge des Geschehens? ( Die wichtigsten Situationen ...)<br />
- Wo setzt meine Erinnerung aus? (Was fehlt, was fällt mir nicht mehr ein ...)<br />
- An welchen Stellen war ich besonders beteiligt und engagiert? An welchen Stellen war ich eher zurückhaltend und evtl. unsicher?<br />
- An welchen Stellen waren die Teilnehmer nach meiner Wahrnehmung besonders beteiligt und engagiert ? An welchen Stellen waren<br />
die anderen eher zurückhaltend?<br />
- Wenn ich auf die Veranstaltung zurückblicke, was würde ich im nachhinein anders machen?<br />
Arbeitsauftrag: Formulieren Sie drei Thesen, die Ihren Standpunkt zum Thema Methodenauswahl in Bezug zur Persönlichkeit und<br />
Aufgabenstellung der Leiterin zusammenfassen. Notieren Sie Ihre Thesen auf ein Plakat!
74<br />
Gruppe 3: Methoden und Ziele<br />
Bei Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung soll immer etwas erreicht werden, <strong>für</strong> die Teilnehmenden oder und <strong>für</strong> die Veranstalter oder<br />
und ganz allgemein <strong>für</strong> die Gemeinschaft bzw. Öffentlichkeit. Diese Ziele müssen sich nicht decken. So können Sie z. B. eine Schulung<br />
planen um Ehrenamtliche <strong>für</strong> den Einsatz in ihrer Institution zu gewinnen, die Teilnehmenden aber das Ziel verfolgen, mehr Informationen<br />
zu einem <strong>für</strong> sie interessanten Thema zu erhalten, ihr Träger wiederum verfolgt mit der Veranstaltung das Ziel, die Öffentlichkeitsarbeit zu<br />
verbessern.<br />
Die allgemeinen Ziele der Schulung von ehrenamtlichen Helfern sind (Landesverordnung):<br />
- Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder, Schwerpunkt Demenz<br />
- Situation pflegender Angehöriger<br />
- Einführung in relevante Rechtsbereiche (<strong>Pflege</strong>versicherung, Betreuungsrecht)<br />
- Umgang mit Betroffenen<br />
- Kommunikation und Gesprächsführung<br />
- Grundpflege<br />
Sollen die Teilnehmer hier Faktenwissen lernen, oder Handlungskompetenz erwerben, oder eigene Kenntnisse und Erfahrungen vertiefen<br />
können, oder ...?<br />
Arbeitsauftrag:<br />
Formulieren Sie in Ihrer Gruppe zu jedem Grobziel ein Lernziel , das genau beschreibt, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie nach Abschluss<br />
der Schulung von den Teilnehmenden genau erwarten! Schreiben Sie Ihre Ergebnisse auf ein Plakat in Form einer Tabelle:<br />
Grobziel<br />
Lernziel<br />
Gerontopsychiatrisches Krankheitsbild Verhaltensweisen von Demenzerkrankten besser einordnen und<br />
verstehen können. Vorausschauend Handeln können, Über- oder<br />
Unterforderung im Umgang vermeiden können, ...<br />
Gruppe 4: Methoden und Inhalte<br />
Die Probleme und Fragen, mit denen sich Menschen in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung beschäftigen, sind sehr unterschiedlich – je<br />
nach der Art des Gegenstandes. Erziehungsfragen haben einen anderen sachlichen Gehalt als etwa die Darstellung einer bestimmten kunstgeschichtlichen<br />
Epoche, oder das Lernen einer Fremdsprache, oder eine Einführung in EDV.<br />
Um dieses je Eigene, das die Gegenstandsbereiche voneinander unterscheidbar macht, erfassen zu können, wird der Begriff Lerninhalt eingeführt.<br />
Er meint die innere Eigenheit, den unverwechselbaren Charakter eines bestimmten Inhalts.<br />
Eine spezifische Sachstruktur erfordert auch eine spezifische Form des Angehens, d. h. eine angemessene Methode.<br />
Bitte überprüfen Sie, ob Ihnen die Zuordnung von Methoden zu Lerninhalten in diesen Beispielen einleuchten:<br />
Lerninhalte Methoden<br />
Lerninhalt aus dem Bereich der täglichen Erfahrung, z. B: „Die Rolle<br />
der Kinder bei der <strong>Pflege</strong> der Eltern“<br />
Gespräch in Kleingruppen mit anregenden Fragestellungen<br />
Politische Inhalte, z. B. „Die alternde Gesellschaft – ein Problem <strong>für</strong><br />
die Sozialpolitik“<br />
Fachwissenschaftliche Inhalte, z. B.: „Gerontopsychiatrische Erkrankungen<br />
– Symptomatik, Diagnostik, Therapie“<br />
Arbeit an einschlägigen Texten, Analyse von Massenmedien, Befragung<br />
von Sachverständigen<br />
Einzelarbeit in Literaturauszügen und anschließend im Rundgespräch<br />
Bezug auf die eigenen Erfahrungen<br />
Für die Schulung von Ehrenamtlichen in der Laienpflege sind in der Landesverordnung folgende Grobziele festgelegt:<br />
- Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder, Schwerpunkt Demenz<br />
- Situation pflegender Angehöriger<br />
- Einführung in relevante Rechtsbereiche (<strong>Pflege</strong>versicherung, Betreuungsrecht)<br />
- Umgang mit Betroffenen<br />
- Kommunikation und Gesprächsführung<br />
- Grundpflege<br />
Arbeitsauftrag:<br />
Überlegen Sie in Ihrer Gruppe, welche Methoden den jeweiligen Themengebieten angemessen sind und halten Sie Ihre Ergebnisse<br />
auf einem Plakat in Form einer Tabelle fest:<br />
Lerninhalt Methoden<br />
z. B. Situation pflegender Angehöriger Textarbeit mit einem Fallbeispiel, Rundgespräch
75<br />
Erläuterung zu einigen Stuhlkreisspielen, z.B. zum Kennenlernen oder als Auflockerung:<br />
- Ich sitze im Grünen: Alle Teilnehmer sitzen im Stuhlkreis, ein Stuhl ist frei. Der freie<br />
Stuhl wird durch schnelles Nachrücken besetzt, wobei man sagt: „Ich sitze“, der wiederum<br />
freigewordene Stuhl wird durch den nächsten Spieler in der Reihe besetzt mit „im<br />
Grünen“ und der nächste Nachrücker kann sich mit „und wünsche mir ... (Name)“ irgendeinen<br />
Teilnehmer aus der Gruppe auf den Stuhl wünschen. Alles beginnt von vorne.<br />
- Zipp/Zapp-Spiel: Ein Stuhl ist zu wenig im Stuhlkreis. Die Angesprochene muss bei Zipp<br />
den Namen der linken Nachbarin nennen, bei Zapp den rechten Nachbarn. Wer einen<br />
Fehler macht, muss seinen Stuhl <strong>für</strong> den in der Mitte stehenden Spieler freimachen. Außerdem<br />
kann das Kommando Zipp-Zapp gegeben werden, dabei müssen alle Mitspieler<br />
die Plätze tauschen.<br />
- Obstsalat: Vier verschiedene Obstsorten werden namentlich auf die Mitspieler im Stuhlkreis<br />
verteilt. Eine Mitspielerin versucht selbst einen Stuhl zu ergattern, indem sie verschiedene<br />
Obstsorten aufruft, die dann ihre Plätze tauschen müssen. Beim Ruf Obstsalat<br />
müssen alle Mitspieler ihre Plätze tauschen.<br />
- Wettermassage: Es werden Dreiergruppen gebildet. Eine/r in der Mitte in die Stützbeuge,<br />
auf seinem Rücken werden Nebel, Hagel, Regen, Wind und Sonne nachgeahmt.<br />
- Gordischer Knoten: Die Mitspielerinnen bewegen sich mit geschlossenen Augen und<br />
erhobenen Händen aus dem Kreis auf den Kreismittelpunkt zu, und ergreifen mit ihren<br />
Händen je eine Hand eines Mitspielers. Nachdem alle Hände vergeben sind, Augen auf,<br />
und versuchen den entstandenen Knoten zu lösen.<br />
Erläuterungen zu einigen Methoden der Bilanzierung bzw. Aufdecken der Stellung der<br />
einzelnen Gruppenmitglieder zum Thema und oder zur Gruppe:<br />
- Motorinspektion: „Ich lege hier in die Mitte des Raumes dieses Buch. Das stellt unser<br />
gemeinsames Thema dar. Bitte suchen Sie nun einen Platz im Raum, der zwei Dinge<br />
zugleich ausdrückt: Ihre augenblickliche Nähe oder Ferne zum Thema – und Ihre Nähe<br />
oder Ferne zu anderen Personen. Ich weiß, das ist schwer, aber probieren Sie es einmal<br />
... Sprechen Sie dabei nicht, sondern konzentrieren Sie sich nur auf sich.“ Nach einiger<br />
Zeit pendeln sich die Standorte erfahrungsgemäß ein. Dann sollte nochmals ein neuer<br />
Impuls gesetzt werden: „Bitte überprüfen Sie bei sich selber: Bin ich zufrieden mit meinem<br />
Standort oder möchte ich ihn lieber verändern oder neu suchen?“ Wenn sich auch<br />
diese Bewegung ausgependelt hat, erfolgt die Aufforderung: „Bitte schauen Sie sich um,<br />
nehmen Sie dieses Bild in sich auf.“<br />
- Blitzlichtmethode: Leitung und Teilnehmende nehmen rundum mit einem oder zwei<br />
Sätzen zu einer einzelnen Frage Stellung. Es soll nicht nachgefragt, kritisiert oder kommentiert<br />
werden. Die Einzeläußerungen sollen wirklich kurz sein (wie ein Blitzlicht) und<br />
die subjektive und persönliche Sicht des Teilnehmers betreffen. Auf diese Weise erhält<br />
jeder einen offenen Einblick in die augenblickliche Befindlichkeit aller (auch der Schweiger<br />
– und nicht nur die Dominanten reden). Ein Blitzlicht kann beliebig oft vorgeschlagen<br />
werden, insbesondere vor und nach bestimmten Abschnitten oder wenn Unlust, Desinteresse<br />
oder Aggression zu spüren sind. Bewährte Themen <strong>für</strong> das Blitzlicht sind z. B.:<br />
„Was nehme ich im Augenblick an mir wahr (innerlich, äußerlich)?“, „Was erwarte ich von<br />
der heutigen Sitzung?“, „Wie habe ich die vergangene Sitzung erlebt, und wie fühle ich<br />
mich jetzt?“, „Was hat mich heute geärgert, was hat mich heute gefreut?“<br />
- Bilanz-Frage: Aus der Erfahrung heraus, dass jede Veranstaltung sowohl ansprechende<br />
als auch schwierige Elemente enthält und dass von beidem Wirkungen ausgehen können,<br />
formuliert die Kursleiterin <strong>für</strong> das abschließende Rundgespräch eine Fragestellung,<br />
die den Rückblick in die Polarität „positiv – negativ“ fasst und damit zugleich den Blick
76<br />
nach vorn verbindet: „Was hat mir dieser Kurs gegeben, was hat mir daran eingeleuchtet?<br />
Was war schwierig oder mühsam? Was geht mit mir mit – als Ergebnis, als Frage,<br />
als Impuls?“<br />
- Oder die Bilanzierung wird mit einem Formblatt gemacht, das anonym der Kursleitung<br />
zurückgegeben werden kann, die dadurch eine Rückmeldung über den Verlauf erhält.<br />
Teil 6: Ergebnisse aus den Workshops der beiden Tage<br />
6.1 Ergebnisse aus der Kleingruppenarbeit<br />
Zum Thema: Zusammenhang von Methodenauswahl in Hinblick auf die Teilnehmergruppe:<br />
Gruppe 1 (18.09.02) Gruppe 2 (19.09.02)<br />
- Bei der Auswahl von Methoden muss<br />
- die Zusammensetzung der Gruppe<br />
berücksichtigt werden und<br />
- die Inhalte der Schulung bzw. das jeweilige<br />
Thema und<br />
- was der Zweck, bzw. das Ziel der<br />
Schulung <strong>für</strong> die Gruppe ist.<br />
- Wenn man unsicher ist, mit der eigenen<br />
Methodenauswahl kann sollte man sich<br />
mit Kollegen im Vorfeld besprechen.<br />
- Langjährige Gruppenmitglieder übernehmen<br />
die Methodenauswahl mit.<br />
- Die Beratung durch Gleichbetroffene (=<br />
peer counselling) ist fruchtbar und hilfreich.<br />
Zum Thema: Methodenauswahl in Bezug zur Persönlichkeit der Leiterin:<br />
Gruppe 1 (18.09.02) Gruppe 2 (19.09.02)<br />
- Methoden sollen dem Leiter Sicherheit<br />
gewähren<br />
- Die Methoden müssen zur Persönlichkeit<br />
des Leiters passen<br />
- Eine gute Vorbereitung ist das A & O<br />
Zum Thema: Auswahl von Methoden in Hinblick auf die Lernziele<br />
Gruppe 1 (18.09.02)<br />
Lerninhalt<br />
Krankheitsbild Demenz<br />
Situation pflegender Angehöriger<br />
Umgang mit Betroffenen<br />
Einführung in relevante Rechtsbereiche<br />
Kommunikation und Gesprächsführung<br />
Grundpflege<br />
- Die Leiterin soll authentisch sein (sich<br />
wohlfühlen mit der gewählten Methode)<br />
- Muss sich seiner/ihrer Leitungsrolle bewußt<br />
sein („Wille zur Leitung, definieren<br />
der Rolle“)<br />
- Der eigene Bezug zum Thema muss geklärt<br />
werden und die Methode entsprechend<br />
auswählen. (z. B. bei zu starker Involvierung<br />
– Co-Leitung?!)<br />
Methode<br />
Video mit Fallbeispielen; Impulsreferat mit<br />
Diskussion<br />
Brainstorming mit Clustering, anschließend<br />
Fallarbeit in der Gruppe<br />
Fachreferat mit Podiumsdiskussion<br />
Rollenspiele<br />
Praktische Beispiele; 4-Stufen-Methode
Gruppe 2 (19.09.02)<br />
Lerninhalt<br />
Situation pflegender Angehöriger<br />
77<br />
Methode<br />
Einschlägiger Text – Sachinfos im Plenum<br />
Fallbeispiel eines Betroffenen<br />
Kleingruppe: „Wie können Sie zur Entlastung<br />
beitragen?“<br />
Vorstellung und Überprüfung im Plenum<br />
Ziel formulieren (Praxisauftrag)<br />
Zum Thema: Formulierung von Lerninhalten aus Grobzielen der Schulung<br />
Gruppe 1 (18.09.02)<br />
Grobziel der Schulung<br />
Lerninhalt<br />
-<br />
Gerontopsychiatrisches Krankheitsbild<br />
Situation pflegender Angehöriger - Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen<br />
erkennen und akzeptieren<br />
- Mythen und Vorurteile auflösen<br />
- Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten<br />
erkennen<br />
- Leistungen der <strong>Pflege</strong>versicherung ken-<br />
Einführung in relevante Rechtsgebiete nen<br />
- Wissen: Was ist Betreuung? Und: Wie<br />
kommt sie zustande?<br />
- Was ist eine Vorsorgevollmacht?<br />
- Kennen von wichtigen Krankheitsbildern<br />
Umgang mit den Betroffenen<br />
- Zugangsmöglichkeiten wissen<br />
- Reflektiertes Handeln<br />
- Beschäftigungsmöglichkeiten beherrschen
Gruppe 2 (19.09.02)<br />
Grobziel der Schulung<br />
Situation pflegender Angehöriger<br />
Einführung in relevante Rechtsgebiete<br />
Umgang mit den Betroffenen<br />
Kommunikation und Gesprächsführung<br />
Grundpflege<br />
78<br />
6.2 Ergebnisse aus der assoziativen Methode<br />
Methoden auswählen <strong>für</strong> eine Schulung ist wie ...<br />
Gruppe 1 (18.09.02)<br />
- einen Blumenstrauß zusammenstellen<br />
- ein Geschenk auswählen<br />
- einen Anzug maßschneidern<br />
- ein bekömmliches Menü zusammenstellen<br />
Gruppen zu leiten ist wie ...<br />
Gruppe 2 (19.09.02)<br />
- nackt auf dem Marktplatz stehen<br />
- der Dompteur im Zirkus<br />
- einen Sack Flöhe zusammenhalten<br />
- ein Sonnenaufgang<br />
Lerninhalt<br />
- Belastungsfaktoren kennen:<br />
- Isolation _ Überlastung<br />
- Finanzielle Probleme<br />
- Schuldgefühle<br />
- = Verständnis <strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>nden<br />
- <strong>Pflege</strong>versicherung:<br />
- Einstufungen<br />
- Formen und Umfang der Leistungen<br />
- Betreuungsrecht:<br />
- Welche Bereiche gibt es<br />
- Wissen über weitergehende<br />
Beratungsmöglichkeiten<br />
- Haftpflicht:<br />
- Wann und wie ist der Ehrenamtliche<br />
versichert<br />
- Begriffsdefination von grob-<br />
fahrlässiger Fehlhandlung<br />
- Sensibilität und Einfühlungsvermögen<br />
verstärken<br />
- Konfliktlösungs- und Entspannungsstrategien<br />
- Einstiegsmöglichkeiten in die Welt der zu<br />
<strong>Pflege</strong>nden<br />
- Zuhören können<br />
- Entspannte Atmosphäre schaffen<br />
- Zeit haben – klare Zeitangaben<br />
- Klare Vereinbarung über Umfang und<br />
Leistungen<br />
- Infos geben bei Bedarf auf Anfrage<br />
- Hebetechniken<br />
- Ggf. An- und Ausziehtechniken<br />
- Lagerungen
79<br />
6.3 Ergebnisse aus der Bilanzierung mit der Gruppe 2 (19.09.02)<br />
Gruppe 2 (19.09.02)<br />
Was ich mitnehme<br />
- Es war ein guter Abriss<br />
- Reflektion der eigenen Methoden<br />
- Lebendigkeit<br />
- Auch Lehrer sind Menschen<br />
- Gute Anregungen<br />
Was mir Mühe machte<br />
- Arbeitsaufträge waren teilweise unklar
7. Resümee der Referentin<br />
80<br />
Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben den sensiblen Zusammenhang von Methodenauswahl<br />
in Bezug zur Person der Leiterin, der Zusammensetzung der Lerngruppe,<br />
den Rahmenbedingungen des Lernens und den Lernzielen erkannt!
Literaturverzeichnis<br />
81<br />
Kurs- und Seminarmethoden, Ein Trainingsbuch zur Gestaltung von Kursen und<br />
Seminaren, Arbeits- und Gesprächskreisen, Jörg Knoll, 1992 Weinheim und Basel<br />
Dozentenleitfaden, Planung und Unterrichtsvorbereitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung,<br />
Arnold . Krämer-Stürzl . Siebert, 1999, Berlin<br />
Lehren und Trainieren in der Weiterbildung, Ein praxisorientiertes Lehrbuch,<br />
Klaus W. Döring / Bettina Ritter-Mamczek, 2001 Weinheim<br />
Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung, Didaktik aus konstruktivistischer<br />
Sicht, Horst Siebert, 2000, Neuwied<br />
Unterrichtsmethoden, I: Theorieband, Hilbert Meyer, 1987, Berlin<br />
Overheadprojektor und Folien, Mit den Augen lernen 4, Hermann Will, 1994,<br />
Weinheim und Basel<br />
Lerntexte und Teilnehmerunterlagen, Mit den Augen lernen 2, Steffen-Peter Ballstaedt,<br />
1994 Weinheim und Basel
Jürgen Escher, Dipl. Sozialpädagoge/FH, Bankkaufmann, Kommunikationstrainer,<br />
Coburg<br />
82<br />
Workshop 3<br />
Provokation und Humor in der Beratungsarbeit?!<br />
Am Workshop nahmen insgesamt 38 Personen teil.<br />
Beide Veranstaltungen waren gekennzeichnet von viel mitgebrachter Neugierde, Offenheit,<br />
voller Konzentration. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit „etwas anderen“ Methoden<br />
zeigte sich in den engagierten Diskussionen.<br />
Die Teilnehmer/innen (TN) erhielten zunächst eine Einführung über die Entwicklung von Provokativen<br />
Beratungsmethoden (Carl Rogers, Frank Farrelly, Dr. Eleonore Höfner) bzw. der<br />
Entstehung der Provokativen Therapie.<br />
Die Unterschiede zwischen Klientenzentrierter Vorgehensweise und Provokativer Beratungsarbeit<br />
demonstrierte der Moderator am Beispiel einer Frau / Angehörigen, die mit Depressionen<br />
in die Beratung kommt.<br />
Er stellte die Provokative Beratung als Zusatzinstrumentarium zu den bei Beratern in aller<br />
Regel sehr gut funktionierenden „normalen“ Gesprächstechniken heraus.<br />
Wichtige Grundregeln sind dabei:<br />
- Nur provokativ beraten, wenn der sog. „Gute Draht“ zum anderen besteht.<br />
- Provokative Beratung muss solide erlernt und geübt werden. Allein mit den Erfahrungen<br />
dieses Workshops sollte nicht provokativ gearbeitet werden (Infos über Ausbildung<br />
und Literatur: www.provokativ.com).<br />
- Der Berater sitzt am „Längeren Hebel“ und führt das Gespräch.<br />
- Ziel ist es, den Gesprächspartner aus seiner Situation „herauszuholen“, um ihm eine<br />
Draufsicht auf seine Problematik zu ermöglichen, um ihm innerlich etwas Abstand zu<br />
verschaffen, um lachen zu ermöglichen.<br />
Nach theoretischer Einführung, Demonstration der Methode, Auseinandersetzung, Hinterfragung,<br />
Diskussion übten die TN in 2-er Gruppen (Klient/in und Berater/in) folgende Methoden:<br />
• Begeistere dich <strong>für</strong> die Probleme / Symptome des anderen (beide<br />
Workshops)<br />
• Idiotische Vorschläge lösen deine Probleme (nur Mittwochs-Workshop)<br />
• Absichtliches Mißverstehen, Sich-„Dumm“-stellen (nur Donnerstags-Workshop).<br />
Kurz angerissen wurde auch das „Generalsieren“ (arbeiten mit Klischees, Vorurteilen ...).<br />
Die Mitwirkenden ließen sich wirklich sehr gut auf die vorgeschlagenen Übungen ein, sowohl<br />
in der Klienten- als auch in der Berater/innen-Rolle. Der im Titel des Workshops genannte<br />
„Humor“ wurde in diesen Beratungssitzungen einfach gelebt. Bei Provokativer Beratung passiert<br />
Humor von alleine, Mann/Frau muss da<strong>für</strong> nichts gesondert tun. Die Mehrzahl der TN<br />
erfuhr dies direkt in den Übungen.<br />
Nach jeder Übungssitzung fand ein intensiver Erfahrungsaustausch / eine ausführliche Reflexion<br />
statt. Die TN sammelten unterschiedliche Erfahrungen – in beiden Rollen. Einigen fiel
83<br />
es schwer, aus ihren bisherigen Kommunikationsmustern herauszukommen, andere „fanden<br />
gut rein“ in die Provokative Beratung und spürten auch die Wirkungsweise. Einige hatten<br />
einen „Volltreffer“ und entsprechend leuchtende Augen.<br />
Nach jeweils 2 Stunden wurde der Workshop beendet. Wache, nachdenkliche und<br />
diskutierende TN suchten wieder den Weg ins Plenum.<br />
Literatur:<br />
Frank Farrelly: Provokative Therapie<br />
Eleonore Höfner: Die Kunst der Ehezerrüttung<br />
Das wäre doch gelacht<br />
Jürgen Wippich:<br />
Ingrid Derra-Wippich: Lachen lernen – Einführung in die provokative Therapie<br />
Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein
H. Reiser, Dipl. Tanztherapeutin, Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie am Klinikum Nürnberg Nord<br />
Barbara Kuhn, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung Nürnberg e.V.<br />
84<br />
Workshop 4<br />
Aktivierung und Entspannung durch Bewegung in der Gruppenarbeit<br />
Der Workshop befasste sich mit dem Einsatz von Bewegung in der Arbeit mit Angehörigen-<br />
und Betreuungsgruppen und richtete sich an den interessierten Bewegungslaien, um Anregungen<br />
und Beispiele zu geben, wie ein Zugang zur Bewegung (sowohl <strong>für</strong> den Gruppenleiter<br />
als auch <strong>für</strong> den Teilnehmer) gefunden werden kann.<br />
Bewegung an sich kann vielfältige positive physiologische Auswirkungen auf den Menschen<br />
haben, vor allem aber ermöglicht freies Bewegen in der Gruppe nonverbale soziale<br />
und emotionale Erfahrungen, selbst, wenn körperliche Funktionen eingeschränkt sind.<br />
Trotz dieser positiven und vielfältigen Auswirkung von Bewegung scheuen sich oftmals<br />
Gruppenleiter Bewegungsangebote in ihre Arbeit zu integrieren, da der Einsatz von Bewegung<br />
nicht nur <strong>für</strong> den Gruppenteilnehmer, sondern auch <strong>für</strong> den Gruppenleiter schnell zu<br />
Leistungsdruck oder Hemmungen führen kann. Die eigenen Erfahrungen, die im Laufe des<br />
Lebens mit rein funktionalisierter Bewegung gemacht worden sind, können ein Grund <strong>für</strong> die<br />
Barrieren sein, Bewegung einzusetzen, selbst wenn die Motivation dazu da ist.<br />
Unter dem Dach „Bewegung“ kann sowohl eine gymnastische Übung als auch vielfältige,<br />
teils strukturierte, teils spontane Bewegungen zu Musik, Geschichten, Gedichten, sowie<br />
Tänze und Entspannungsübungen gefasst werden.<br />
Zur Aktivierung zählen hier Angebote, die die Aufmerksamkeit anregen und zur Kontaktaufnahme<br />
in der Gruppe führen; zur Entspannung zählen Angebote, die zur eigenen Person<br />
zurückführen.<br />
1. Angehörigengruppen<br />
Der <strong>Pflege</strong>alltag bringt viel Stress und Aufregung mit sich. Die Angehörigen stehen häufig<br />
unter großer Anspannung. In den Gesprächsgruppen <strong>für</strong> pflegende Angehörige hat der Angehörige<br />
die Chance, etwas davon im Gedankenaustausch mit anderen Betroffenen loszuwerden.<br />
Dabei kann ein Bewegungsangebot in einer Angehörigengruppe ein zusätzliches<br />
Element sein, das zum einen die Struktur der Gruppe auflockert, zum anderen hilft, soziale<br />
oder emotionale Spannungen abzubauen.<br />
Entspannungsübungen beispielsweise können das Bewusstsein der <strong>Pflege</strong>nden auf eine<br />
andere Seinsebene lenken. Bewegung bewegt, der <strong>Pflege</strong>nde kann vielleicht einmal loslassen,<br />
an etwas anders denken, den „normalen Alltag“ vergessen und sich selbst Aufmerksamkeit<br />
schenken.<br />
Bewegung als Element in der Gruppenarbeit mit Angehörigen heißt, neben dem Kopf auch<br />
Körper und Seele / Gefühle anzusprechen und somit die Selbst<strong>für</strong>sorge anzuregen.<br />
1.1 Ziele der Bewegungsförderung in Angehörigengruppen<br />
• Förderung der Gruppenzusammengehörigkeit, sich kennen lernen<br />
• Förderung der Körpererfahrung/des Körperbewusstseins<br />
• Förderung der Selbst<strong>für</strong>sorge<br />
• Abbau von Stress und Spannungen
• Ausgleich zur „Kopfarbeit“ der Gespräche in den Angehörigengruppen<br />
• Förderung des Wohlbefindens<br />
• Distanz zum Alltag gewinnen.<br />
1.2 Methodische Aspekte<br />
85<br />
1.2.1 Rahmenbedingungen:<br />
• Bewegungsübungen können als ein regelmäßiges Angebot bei jedem Treffen oder<br />
als spontanes Angebot (je nach aktueller Gruppensituation) durchgeführt werden.<br />
• Je nach räumlichen Möglichkeiten und Verfassung der Gruppenteilnehmer kann das<br />
Angebot am Tisch, im Stuhlkreis, sitzend oder stehend oder im Freien stattfinden.<br />
• Bewegungsangebote sind nicht geeignet <strong>für</strong> offene Gruppen, in denen die Teilnehmer<br />
sich nicht kennen und keine verbindliche Teilnahme besteht. Ein Mindestmaß an<br />
Regelmäßigkeit und Vertrauen ist <strong>für</strong> das Einlassen auf Bewegungsangebote nötig.<br />
1.2.2 Mögliche Probleme:<br />
• Schwierigkeiten <strong>für</strong> Angehörige: Hemmungen, da ungewohntes Angebot, Ablehnung,<br />
Angst vor Blamage.<br />
• Schwierigkeiten <strong>für</strong> Anleiter: Hemmungen sich in Bewegung zu zeigen, Unsicherheit,<br />
Leistungsdruck.<br />
1.2.3 Angebotsstruktur:<br />
• Die Angebote sollten (sowohl <strong>für</strong> Anleiter als auch Gruppenmitglied) unkompliziert<br />
und leicht nachvollziehbar sein.<br />
• Bewegungen sollen klare, einfache und wiederholbare Strukturen haben.<br />
• Angebote, die Bewegung und Vorstellungsbilder (z.B. Bewegungsgedichte, Qi Gong<br />
Übungen) verbinden, können einen Zugang zur Bewegung ermöglichen, der Leistungsdruck<br />
und Hemmungen umgeht.<br />
1.2.4 Verhalten des Anleiters<br />
• Der /die Anleiter/in macht die Übungen vor und mit.<br />
• Blickkontakt herstellen.<br />
• Bewegungen ausprobieren und sich zunächst selbst aneignen.<br />
• Das anbieten, worin man sich selbst sicher fühlt.<br />
• Bewegungsangebote finden, die einem selbst Spaß machen.<br />
• Bewegungsunsicherheiten vor der Gruppe zugeben, Fehler akzeptieren.<br />
• Beobachten was macht der Gruppe Spaß und Freude, was kommt an, was nicht.<br />
• Angebotsdauer richtet sich nach der Gruppe und deren Aufmerksamkeitsspanne.<br />
• Mit den Angehörigen je nach Angebot eine Auswertung machen: Wie ist es mir ergangen.<br />
1.3 Praxisbeispiele:<br />
1.3.1 Aktivierende Angebote<br />
Einfache <strong>für</strong> Laien nachvollziehbare aktivierende Tänze finden sich auf der CD: Tänze <strong>für</strong> die<br />
Gruppe (vgl. CD und Literaturliste)<br />
Beispiel :Begrüßungstanz:<br />
Tanz : " Biserka" CD: Tänze <strong>für</strong> die Gruppe<br />
Elemente : Wiegeschritte am Platz, Wiegeschritte nach vorne und nach hinten, Hüpfer, Drehungen<br />
mit Partner
86<br />
Tanzanleitung<br />
Einfache Version: Kreis (mit oder ohne Handfassung)<br />
• 16 x auf der Stelle wiegen.<br />
• 4 Schritte re-li-re-li zur Kreismitte (Kreis rückt enger zusammen).<br />
• 4 Wiegeschritte am Platz.<br />
• 4 Schritte rückwärts (re-li-re-li ) zurück (Kreis wird wieder größer).<br />
• 4 Wiegeschritte am Platz.<br />
Wdh. bis Ende der Musik<br />
1.3.2 Entspannende Angebote<br />
Gut eignen sich z.B. Elemente aus dem Qi Gong. Die langsamen und harmonischen Bewegungen,<br />
die mit Vorstellungsbildern gekoppelt werden, erleichtern zum einen den Zugang zur<br />
Bewegung und zum anderen wirken sie beruhigend und zentrierend.<br />
Gerade in Angehörigengruppen kann der Schwerpunkt zunächst auf entspannenden Angeboten<br />
liegen. Sich selbst wieder spüren zu können ist die Voraussetzung, um wieder in Kontakt<br />
zu anderen gehen zu können.<br />
Beispiel: "Wecke das Chi"<br />
� Hüftbreit stehen<br />
� Knie weich, leicht gebeugt, Arme hängen nach unten.<br />
� Die Handgelenke treiben nach oben, bis die Arme auf Schulterhöhe ankommen (dabei<br />
einatmen und die Knie leicht strecken); Hände hängen locker wie Bärentatzen nach unten.<br />
� Ellenbogen zum Körper heranziehen, Hände richten sich auf.<br />
� Hände sinken nach unten, gleichzeitig beugen sich die Knie.<br />
� Mehrmals wiederholen.<br />
Da die Übungen schwer aus Büchern zu erlernen sind, ist es ratsam sich die Übungen in<br />
einem Qi Gong Kurs anzueignen oder sich <strong>für</strong> die Gruppe eine Qi Gong Lehrerin einzuladen.<br />
2. Betreuungsgruppen<br />
„Demenzkranke sind nicht mehr in der Lage, <strong>für</strong> ein anregungsreiches Umfeld und die Gestaltung<br />
ihrer Lebensbedingungen zu sorgen, deshalb müssen die Anregungen aus dem (therapeutischen)<br />
Umfeld kommen “ Eisenburger, Alzheimer Info 2/2002.<br />
Eine mögliche Anregung <strong>für</strong> die Gruppenarbeit mit demenzkranken Menschen ist die Bewegungsförderung.<br />
Die Workshop-Leiterinnen haben mit ihren Bewegungsangeboten in Gruppen<br />
- sowohl mit leicht, als auch mit schwer demenzkranken Menschen – gute Erfahrungen<br />
gemacht.<br />
Die Ziele dieser Bewegungsangebote haben einen anderen Schwerpunkt wie in den Angehörigengruppen.<br />
2.1 Ziele der Bewegungsförderung in Betreuungsgruppen<br />
• Förderung des Wohlbefindens und Selbstwertgefühls (ich kann etwas).<br />
• Soziale Erfahrung ermöglichen: sich kennen lernen, wir machen etwas miteinander,<br />
Spaß in der Gruppe, Kontaktaufnahme untereinander.<br />
• Möglichkeit, sich nonverbal ausdrücken zu können (besonders entlastend <strong>für</strong> Demenzkranke<br />
mit Sprachstörungen).<br />
• Abbau von Spannungen/Aggression<br />
• Möglichkeit zum Gefühlsausdruck<br />
• Erhaltung und Förderung der Beweglichkeit<br />
• Förderung von Körpererfahrung zur Erhaltung von Identität<br />
• Stärkung eines positiven Selbstbildes.
2.2 Methodische Aspekte:<br />
2.2.1 Rahmenbedingungen: vgl. 1.2.1<br />
87<br />
2.2.2 Mögliche Probleme:<br />
• Die Gruppenmitglieder haben unterschiedliche Einschränkungen, z.B. in ihrer körperli-<br />
• chen Beweglichkeit oder Auffassungsgabe.<br />
• Leistungsdruck schafft Stress und Versagensgefühle.<br />
• Anleiter ist zu ehrgeizig und überfordert Gruppenmitglieder.<br />
2.2.3 Mögliche Angebote:<br />
• Geschichtentänze: Die Anleiterin erzählt eine Geschichte und die Teilnehmer bewegen<br />
sich dazu. Selbst wenn die Anleiterin die Bewegungen vorgibt, ist noch genügend<br />
Spielraum <strong>für</strong> die eigene Ausführung der Bewegung im Rahmen der körperlichen Mög-<br />
lichkeiten. Durch die Geschichte wird der Fokus auf die Vorstellung und nicht auf das<br />
"Richtig machen" der Bewegungen gelegt.<br />
2.3 Verhalten des Anleiters<br />
• Vom strukturierten zum spontanen Ausdruck führen.<br />
• Nonverbale Impulse verstärken.<br />
• Kein Leistungsdruck, keine Korrektur einzelner.<br />
• Unterschiedliche körperliche Grenzen akzeptieren, Bewegungen den Möglichkeiten<br />
der Teilnehmer anpassen.<br />
• Verschiedene Leistungslevel akzeptieren, jeder macht so mit, wie er kann, individuel-<br />
les Ausführen erlauben.<br />
• Chaos zulassen<br />
• Anleiterin gibt eigene Schwächen zu.<br />
• Den angebotenen Energielevel der Gruppe annehmen und langsam verändern.<br />
• Anleiter/in erklärt die Übung mit wenigen Worten, macht Übungen vor und mit.<br />
• Bewegungen sollen klare, einfache und wiederholbare Strukturen haben.<br />
• Bewegung mit Text begleiten, Anleiter spricht/summt/singt dazu langsam, laut und<br />
deutlich, viele Wiederholungen, wenige Übungen.<br />
• Einfache Anweisungen geben, z.B. einen Arm hoch, jetzt den anderen Arm hoch (nicht<br />
rechter Arm, linker Arm, keine Korrektur).<br />
• Mit Bildern arbeiten, z.B. einen Baum darstellen, einen Vogel nachmachen.<br />
• Aufgreifen spontaner Bewegungen, Rhythmen der Gruppenmitglieder.<br />
• Gefühlsausdruck verstärken.<br />
• Gruppenleiter nimmt aktiv Kontakt auf (Blick, Haltung zugewandt).<br />
• Spaß und Kommunikation anregen.<br />
2.4 Praxisbeispiele<br />
2.4.1 Aufwärmen<br />
Aufwärmen mit Gelenkbewegungen:<br />
Gelenke sind die "Tore <strong>für</strong> die Energie". Begonnen werden kann mit den Gelenkbewegungen<br />
der äußersten Extremitäten (Händen und Füßen), da diese bei vielen Teilnehmerinnen am<br />
wenigsten in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind und somit sofort Erfolgserlebnisse vermitteln.<br />
Daran anschließen sollten sich weitere Gelenkbewegungen (Ellenbogen, Schulter,<br />
Fußgelenke, Knie, Hüfte), um den Körper im Ganzen durchzulockern, den Energiefluss und<br />
die Atmung anzuregen.
88<br />
Aufwärmen mit Gesang:<br />
Die weiteren Angebote können in einem Lied gesungen werden, um den Spaß an der Bewegung<br />
und damit den Spaß am Ausdruck zu wecken.<br />
Musikbeispiel: Lilli Marleen, Ein Freund ein guter Freund oder Gymnastiklied<br />
Bewegungsanleitung und MC: Harms/Dreischulte, Musik erleben und gestalten mit alten<br />
Menschen.<br />
Allgemein sollten die Bewegungsfolgen zum einen alle Körperbereiche durchgehen und nicht<br />
zu einseitig sein, zum anderen sollten die Bewegungswechsel nicht zu schnell aufeinander<br />
folgen.<br />
Die Erfahrung möglichst vieler verschiedener Bewegungsunterschiede oder Bewegungsqualitäten<br />
vermittelt Bewegungsfreiheit und Bewegungskompetenz.<br />
Das Wiedererinnern der Lieder vermittelt Freude und führt oftmals auch zum spontanen<br />
Ausdruck und zur Kontaktaufnahme in der Gruppe. Hier kann die Anleiterin den spontanen<br />
Impulsen der Gruppe folgen, indem sie die Bewegungen aus der Gruppe aufgreift.<br />
2.4.2 Geschichtentanz „Spaziergang im Herbst“<br />
Musik: CD Yüan Dao : Elefantenschwung<br />
Inhalt: verschiedene Bewegungsqualitäten<br />
Art: Sitztanz<br />
Alle Sequenzen auf 8 Zählzeiten (langsames Gehen)<br />
� Gehen: Berg rauf gehen (anstrengend)<br />
� Berg wieder runter (leicht)<br />
� Sitzen auf der Parkbank und in alle Richtungen den Kopf bewegen (schauen).<br />
� Begrüßen anderer Spaziergänger mit winken oder Hut heben.<br />
� Bäume wiegen sich im Herbstwind.<br />
� Blätter fallen herab, auf den Kopf bis auf die Füße (Arme sind unten, Oberkörper nach<br />
unten gebeugt).<br />
� Sonne geht auf und Sonnenstrahlen leuchten durch die Bäume (Arme von unten nach<br />
oben aufsteigen lassen 2 x).<br />
� Sonne wärmt die Erde und wärmt mich.<br />
� Kinder wirbeln Laub auf.<br />
� Bewerfen sich gegenseitig.<br />
� Gärtner kommt und schiebt das Laub zusammen.<br />
� Der Mond geht auf am Himmel.<br />
� Mond schaut nach rechts und links.<br />
� Wir gehen nach Hause.<br />
� Die Tiere legen sich schlafen und die Vögel stecken den Kopf unter das Gefieder.<br />
2.4.3 Geschichtentanz „Gewittertanz“<br />
Musik: Buch und MC Musik erleben und gestalten mit alten Menschen<br />
Inhalt: verschiedene Stimmungen und Bewegungsqualitäten von leicht bis kräftig, Bewegung<br />
aller Gelenke, bietet Möglichkeiten zum Abreagieren von Spannung.<br />
Art: Sitztanz<br />
Zuerst werden die einzelnen Sequenzen des Gewitters in einen Bewegungsausdruck umgesetzt:<br />
Wind, Wolken, Regen, Platzregen, Donner, Blitz, Regenbogen.
89<br />
Auf die Musik werden die Gesten nacheinander umgesetzt z.B.<br />
Regen/Wind: - Hände über den Kopf halten und die Finger bewegen. Oberkörper im<br />
Rhythmus hin und her bewegen.<br />
- In verschiedenen Ebenen regnen lassen.<br />
- Einen Platzregen auf die Arme machen.<br />
Blitz: In die Hände klatschen, zu anderen klatschen, im oder gegen den<br />
Rhythmus der Musik.<br />
Donner: Mit den Händen auf die Oberschenkel klatschen, mit den Füßen stampfen.<br />
Regenbogen: Nach oben schauen und die Arme nach oben führen. Gestreckte Arme<br />
nach unten führen.<br />
2.4.4 Entspannende Angebote: wie 1.3.2<br />
Weitere Angebote:<br />
Bewegung nach Gedichten aus dem Qi Gong<br />
Als gute Möglichkeit erweist sich hier auch das gemeinsame Gestalten von Gedichten.<br />
Beispiel: "Ein Mönch wollte spazieren gehen"<br />
• Ein Mönch wollte spazieren gehen: Hände auf den Rücken legen.<br />
• Er setzt den ersten Schritt: Rechter Fuß wird mit der Ferse aufgestellt.<br />
• Er entdeckt eine Blume: Blick zum rechten Fuß.<br />
• Er wendet sich ihr zu: Oberkörper zum rechten Fuß beugen, Arme vorstrecken.<br />
• Er nimmt ihren Duft auf: Oberkörper richtet sich auf, Hände werden zum Herzen geführt.<br />
• Und schenkt ihn der Welt: Arme werden nach vorne geöffnet und ausgebreitet.<br />
• Wdh. nach links.<br />
Die genannten Praxisbeispiele verstehen sich als Anregungen.<br />
2.5 CD und Literaturliste<br />
� Tänze <strong>für</strong> die Gruppe: 12 Gruppentänze von B. Weiser/ Arbeitsgemeinschaft <strong>für</strong> Gruppen-Beratung<br />
mit Tanzanleitung<br />
� Yüan Dao, Der runde Weg, CD<br />
� Musik erleben und gestalten mit alten Menschen, Harms/Dreischulte<br />
(G.Fischer Verlag) und dazu passende MC<br />
Zu beziehen bei: Dieter Balsies Versand und Verlag , Eckernförder Straße 341, D-24107<br />
Kiel, Tel: 0431-563459
90<br />
Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />
Familie und Frauen<br />
Zusammenfassung der Ergebnisse und Abschluss der Fachtagung<br />
Zu den Ergebnissen:<br />
Das Thema der diesjährigen Fachtagung „Weiterentwicklung in der Angehörigenarbeit –<br />
Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis“ ist meiner Meinung gut und differenziert abgehandelt<br />
worden. Ich konnte in vielen Gesprächen „am Rande der Tagung“ große Zufriedenheit feststellen.<br />
Lassen Sie mich zu einzelnen Elementen kurze Anmerkungen machen, ohne dass<br />
ich hierbei eine umfassende Sichtweise anstrebe.<br />
Zu den Referaten:<br />
• Referat Dr. Braunwarth: Eine angenehm praxisnahe Hinführung zu gerontopsychiatrischen<br />
Sachverhalten. Ich räume <strong>für</strong> zukünftige Fachtagungen (auch <strong>für</strong> einschlägige<br />
Fortbildungsangebote) der Beschäftigung mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen<br />
- nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch Versorgungs-, Planungsfragen,<br />
neue pflegerische Ansätze sowie Austausch differenzierter Praxiserfahrungen - eine<br />
hohe Priorität ein.<br />
• Referat Frau Weigand/StMAS: Schon die zahlreichen Nachfragen haben die Aktualität<br />
ihrer Ausführungen bewiesen. Da das Pflegleistungs-Ergänzungsgesetz in der<br />
Zukunft – trotz seiner Mängel – <strong>für</strong> die Weiterentwicklung der ambulanten <strong>Pflege</strong> sehr<br />
wichtig ist, schlage ich <strong>für</strong> die nächste Fachtagung eine nochmalige Beschäftigung<br />
vor. Die jetzt noch nicht vollständig vorliegenden Umsetzungsregularien liegen dann<br />
vor und man kann sich dann darüber austauschen.<br />
• Referat Dr. Lindstedt: Für mich war faszinierend die Fülle des Materials einschließlich<br />
der typisierenden Ordnungskategorien, die Anschaulichkeit der Präsentation und die<br />
durchaus bedeutsamen und <strong>für</strong> die Praxis immer wichtiger werdenden ethischen Fragestellungen<br />
(Vergleiche auch die Forderung nach einer „Enquête der Heime“ beim<br />
Deutschen Bundestag (Uni Bielefeld).<br />
Die Workshops boten bunte Themen und gute Anregungen, die Vielfalt im Arbeitsfeld Angehörigenarbeit<br />
spiegelt sich wieder. Die Methode der Duplizität des Angebots ist günstig<br />
und sollte beibehalten bleiben.<br />
Vorschläge <strong>für</strong> die nächste(n) Fachtagung(en):<br />
• Den Fachkräften in der Angehörigenarbeit sollte eine moderne umfassende seniorenpolitische<br />
Sichtweise geboten werden, um ihr Arbeitsfeld und seinen Stellenwert<br />
insgesamt besser einschätzen zu können – auch <strong>für</strong> Argumentationen vor Ort (trägerintern,<br />
gegenüber der Kommune). Im Sozialministerium wird derzeit ein „Seniorenpolitisches<br />
Konzept“ erarbeitet. Darüber könnte nächstes Jahr referiert werden.<br />
• Ein Internetauftritt der Angehörigenarbeit – unter Einbeziehung des Internetauftritts<br />
des Sozialministeriums zum „<strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong>“ oder ggf. unter dessen Federführung<br />
– wäre unter vielen Nutzungsperspektiven aber auch hinsichtlich der Selbstdarstellung<br />
günstig. Wie und wo kann ein gutes und <strong>für</strong> die Praxis hilfreiches Konzept erarbeitet<br />
werden?<br />
• Workshops/knappe Fortbildungsangebote zu Teilthemen wie z.B. <strong>Pflege</strong>leistungs-<br />
Ergänzungsgesetz, Leitung von Angehörigengruppen und von Betreuungsgruppen,<br />
systematische Einwerbung und Begleitung von ehrenamtlichen Mitarbeitern usw.
91<br />
Zum Abschluss der Fachtagung eine persönliche Erklärung:<br />
Ich habe an der diesjährigen Fachtagung noch teilgenommen, obwohl ich mich beruflich verändert<br />
habe (im Ministerium ein anderes Referat: Bürgerschaftliches Engagement , Tarifwesen,<br />
Heimarbeitsausschüsse); ich wollte <strong>für</strong> die diesjährige Fachtagung im Sinne der Kontinuität<br />
noch einmal Mitverantwortung tragen und mich auch von Ihnen, den Tagungsteilnehmerinnen<br />
und –teilnehmern verabschieden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die berufliche<br />
Chance hatte, in den vergangenen acht Jahren an wichtiger Stelle meinen Beitrag zu leisten,<br />
die Angehörigenarbeit aufzubauen. Es war eine spannende und sehr befriedigende Aufgabe,<br />
das Engagement hatte immer eine enge Bindung zum eigenen Leben und zu alltäglichen<br />
Erfahrungen. Der Sinnbezug des eigenen beruflichen Tuns war also immer gegeben. Und<br />
unsere Fachtagungen habe ich sehr geschätzt, ermöglichten sie uns Ministerialen doch, einen<br />
wichtigen Kontakt zur Praxis zu finden und zu halten. Ich habe bei diesen Fachtagungen<br />
immer gelernt, nicht nur von den Fachbeiträgen, sondern insbesondere aus den vielen informellen<br />
Gespräche mit Ihnen auf gleicher Augenhöhe. Ich möchte Ihnen danken <strong>für</strong> diesen<br />
angenehmen und selbstverständlichen Umgang. Ich fühle derzeit ein gewisses Gefühl der<br />
Wehmut beim Abschiednehmen. Aber zum Älterwerden, zum Reifen gehören das Weitergehen<br />
und gleichzeitig das Loslassen. Ich muss mich nun auf neue Aufgaben konzentrieren<br />
und bisheriges Engagement zurückstellen. Ich denke mit Freude zurück - es war eine befriedigende<br />
Aufgabe und eine schöne Zeit mit guten menschlichen Begegnungen. Noch mal<br />
herzlichen Dank und auf Wiedersehen!