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Bayerisches Netzwerk Pflege - Bayerisches Staatsministerium für ...

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<strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong><br />

<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />

Familie und Frauen<br />

Angehörigenberatung e.V. Nürnberg<br />

Beratung und Unterstützung <strong>für</strong><br />

Angehörige von hilfebedürftigen<br />

älteren Menschen<br />

<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong><br />

Dokumentation der<br />

6. Bayerischen Fachtagung<br />

„Weiterentwicklung der Angehörigenarbeit“<br />

Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis<br />

am 18./19. September 2002<br />

in Stein bei Nürnberg


2<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Eröffnung und Einführung Seite 04<br />

H.D. Mückschel, Geschäftsführer der Angehörigenberatung e.V.<br />

Nürnberg<br />

Eingangsstatement Seite 06<br />

Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong><br />

Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen<br />

Referat 1<br />

Symptomatik bei <strong>Pflege</strong>bedürftigen und bei pflegenden Ange- Seite 08<br />

hörigen<br />

Dr. Wolf-Dietrich Braunwarth, Klinikum Nürnberg Nord<br />

Referat 2<br />

Besonderheiten bei der Einstufung gerontopsychiatrischer Seite 12<br />

Patienten in die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

Dr. Werner Haas, MdK-Bayern, Nürnberg<br />

Referat 3<br />

Umsetzung, Förderung, Weiterentwicklung der Versorgungs- Seite 23<br />

Strukturen, niederschwellige Betreuungsangebote, Modell-<br />

projekte<br />

Maria Weigand, Regierungsrätin im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong><br />

<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, München<br />

Anlagen: Vortragscharts Seite 29<br />

Referat 4<br />

Wohnungs-Verwahrlosung – Handlungsentscheidungen Seite 39<br />

zwischen Zwangsunterbringung und selbstbestimmten<br />

Lebensstil<br />

Dr. med. Lothar Linstedt, Leiter der Abt. Sozialpsychiatrie am<br />

Gesundheitsamt der Stadt Augsburg


Workshop 1<br />

Begleitung von Angehörigen bei der Begutachtung und dem Seite 60<br />

Widerspruch gerontopsychiatrisch Erkrankter (Fallbeispiele,<br />

praktische Übungen)<br />

Hans-Dieter Mückschel, Dipl. Sozialpädagoge/FH<br />

Konstanze Pilgrim, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung<br />

Nürnberg e.V.<br />

Workshop 2<br />

Methoden der Erwachsenenbildung bei der Schulung und<br />

Anleitung von ehrenamtlichen Helfer/innen Seite 66<br />

Gerlinde Dietl, Dipl. Sozialpädagogin, Beratzhausen<br />

Workshop 3<br />

Provokation und Humor in der Beratungsarbeit?! Seite 82<br />

Jürgen Escher, Dipl. Sozialpädagoge/FH, Coburg<br />

Workshop 4<br />

Aktivierung und Entspannung durch Bewegung in der Seite 84<br />

Gruppenarbeit<br />

Heide Reiser, Diplom-Tanztherapeutin, Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie am<br />

Klinikum Nürnberg Nord<br />

Barbara Kuhn, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung<br />

Nürnberg e.V.<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse und Abschluss der Seite 90<br />

Fachtagung<br />

Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong><br />

<strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, München<br />

3


Hans-Dieter Mückschel, Geschäftsführung Angehörigenberatung e.V. Nürnberg<br />

4<br />

Eröffnung und Einführung<br />

Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sehr geehrte Referentinnen und Referenten,<br />

ich begrüße Sie ganz herzlich im Namen des Vereins Angehörigenberatung zur 6. Fachtagung<br />

im Rahmen des Bayerischen <strong>Netzwerk</strong>s <strong>Pflege</strong>, die wir wieder gemeinsam mit dem<br />

Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen <strong>für</strong> Sie organisiert<br />

haben.<br />

Mein Name ist Hans-Dieter Mückschel, ich bin der neue und alte Geschäftsführer der Angehörigenberatung<br />

e.V. Nürnberg.<br />

Als Gründungsmitglied der Angehörigenberatung war ich seit 1986 bis zum Jahre 1996<br />

hauptamtlich und schließlich auch als Geschäftsführer <strong>für</strong> die Beratungsstelle tätig. Danach<br />

leitete ich bis zum Mai diesen Jahres den Bereich der klinischen Sozialarbeit in einer Rehabilitationsklinik,<br />

bevor ich sozusagen zur alten Arbeitsstätte zurückgekehrt bin.<br />

Meiner Vorgängerin Frau Gerlinde Dietl, die aus privaten Gründen Ende März diesen Jahres<br />

die Angehörigenberatung verlassen hat, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich <strong>für</strong> die<br />

hervorragende Arbeit danken und insbesondere <strong>für</strong> die gute Vorplanung unserer aktuellen<br />

Tagung. Ich freue mich sehr, dass Sie auch heute und morgen als Workshop-Moderatorin<br />

unter uns ist.<br />

Die große Resonanz scheint zu bestätigen, dass wir mit unserem Titelthema „Weiterentwicklung<br />

der Angehörigenarbeit - Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis“ und den angebotenen<br />

Fachreferaten und Workshops Ihr Interesse gefunden haben. Den aktuellen gesetzlichen<br />

Neuerungen durch das <strong>Pflege</strong>leistungsergänzungsgesetz tragen wir mit zwei Fachreferaten<br />

Rechnung und sind sicher alle besonders gespannt, was uns Frau Weigand am morgigen<br />

Tag zur Umsetzung in Bayern berichten wird.<br />

Wir hoffen, dass Sie in den zwei Tagen neue Anregungen und Informationen aufnehmen<br />

können und auch Zeit finden, sich mit Fachkollegen und Fachkolleginnen auszutauschen. In<br />

den Grundsatzreferaten werden wichtige alltagsrelevante Fragen der Beratungsarbeit angesprochen:<br />

die Themen Beratung bei Depressionen, Einstufung in die <strong>Pflege</strong>versicherung von<br />

gerontopsychiatrischen Patienten und Fragen der Zwangsunterbringung werden uns beschäftigen<br />

und sicher auch zur Diskussion anregen.<br />

Die Workshops spannen diesmal den fachlichen Bogen vom Informations- und Erfahrungsaustausch<br />

zur Bewegungsübung, Entspannung und dem Thema Humor in der Beratung.<br />

Wir haben bewusst <strong>für</strong> beide Tage das Workshop-Programm gleich gehalten, damit es Ihnen<br />

allen möglich sein kann, an zwei unterschiedlichen Workshops teilzunehmen.


5<br />

Organisation<br />

Bevor ich nun das Wort an den Vertreter des <strong>Staatsministerium</strong>s Herrn Ministerialrat Meinhard<br />

Loibl übergebe, möchte ich zum Schluss noch einige organisatorische Hinweise geben:<br />

Als Begleiter durch die Fachtagung stehe ich Ihnen gemeinsam mit meinen Kolleginnen Frau<br />

Barbara Kuhn, Frau Konstanze Pilgrim und Frau Barbara Schirmer <strong>für</strong> Fragen jederzeit zur<br />

Verfügung.<br />

In den Pausen kümmert sich Frau Schirmer um den Verkauf von Fachbroschüren. Diese<br />

sind an den Infotischen zu erhalten.<br />

Die Essenszeiten sind 12.00 <strong>für</strong> Mittagessen (Speisesaal), 18.00 Uhr Abendessen und 8.00<br />

Uhr Frühstück. Das Abendessen ist <strong>für</strong> alle Teilnehmerinnen bestellt und bezahlt.<br />

Wir bitten um Ihr Verständnis, dass wir uns möglichst genau an den Programmrahmen und<br />

an die angegebene Zeitplanung halten werden.<br />

Bitte tragen Sie sich nach den Impulsreferaten in der Kaffeepause <strong>für</strong> die Workshops ein. Sie<br />

finden die Listen draußen an der Stellwand vor dem Saal. Wir treffen uns dann alle im Plenum<br />

(großer Saal) wieder und Ihre Referentin bzw. Referent begleitet Sie von dort aus in den<br />

jeweiligen Raum. Bitte beachten Sie, dass die Teilnehmerzahl jeweils auf 20 Teilnehmerinnen<br />

beschränkt ist. Bitte darüber hinaus keine weiteren Anmeldungen machen. Am nächsten<br />

Tag besteht ja eine zweite Chance.<br />

Hinweisen möchte ich noch darauf, dass auf den Stühlen ein Rückmeldeblatt zur Tagungsauswertung<br />

liegt. Bitte geben Sie dies in den Karton hier im Raum ausgefüllt zurück. Außerdem<br />

möchten wir allen Teilnehmerinnen anbieten, dass wir Ihnen mit der Tagungsdokumentation<br />

eine Liste mit den Adressen und den jeweiligen Angeboten der Einrichtungen der Tagungsteilnehmerinnen<br />

zusenden (Kontaktbörse). Voraussetzung da<strong>für</strong> ist, dass Sie dazu die<br />

ausliegende Liste ausfüllen.<br />

Schlusswort<br />

Zum Schluss möchte ich uns noch ein kleines Tagungsmotto von Arthur Schnitzler mit auf<br />

den Weg geben:<br />

„Lebensklugheit bedeutet alle Dinge möglichst wichtig aber keines völlig ernst zu<br />

nehmen!“


Meinhard Loibl, Ministerialrat, <strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />

Familie und Frauen<br />

6<br />

Eingangsstatement<br />

Das Thema unserer diesjährigen Fachtagung handelt von der Weiterentwicklung der Angehörigenarbeit<br />

– Ziel unserer Tagung ist eine bessere Zurüstung <strong>für</strong> die beruflichen Vollzüge<br />

in diesem Arbeitsfeld. Lassen Sie mich einleitend zu „Weiterentwicklung“ einige grundsätzliche<br />

und perspektivische Ausführungen machen.<br />

• Der Standort und die Bedeutung der Angehörigenarbeit im gesellschaftlichen Hilfssystem<br />

<strong>für</strong> ältere Menschen, die der Unterstützung, der Hilfe, der <strong>Pflege</strong>, der tatsächlichen<br />

oder rechtlichen Betreuung, der Aufsicht und der Zuwendung bedürfen, ist immer<br />

noch zuwenig bestimmt, zu unsicher finanziert und, was das eingesetzte Personal<br />

sowie die eingesetzten Finanzmittel anbetrifft, im Verhältnis zu stationären <strong>Pflege</strong>angeboten<br />

immer noch marginal. Jedoch sind überall in Bayern in den vergangenen<br />

Jahren – auch mit Hilfe der Förderung im Rahmen des <strong>Netzwerk</strong>s <strong>Pflege</strong> – etliche<br />

Stellen geschaffen worden. Ein erfreulicher Anfang!<br />

•<br />

• Wichtige und gesellschaftlich sowie fachpolitisch allgemein akzeptierte Grundsätze<br />

im Bereich der Hilfe und <strong>Pflege</strong> <strong>für</strong> ältere Menschen sind<br />

•<br />

o ambulant vor teilstationär vor stationär<br />

o Prävention vor Behandlung und Rehabilitation vor <strong>Pflege</strong><br />

• Gleichstellung von psychisch Kranken mit körperlich Kranken.<br />

• Die konzeptionelle Arbeit zur Weiterentwicklung muss sich mit diesen Grundsätzen<br />

auseinandersetzen und eigene kreative Lösungsansätze entwickeln – einige Beispiele:<br />

• o Um die ambulante Arbeit zu stärken, sind neben den unverzichtbaren bezahlten<br />

• Kräften auch freiwillig Tätige anzuwerben, die alltagsweltliche Bezüge <strong>für</strong> das<br />

• Klientel in besonders flexibler Weise gewährleisten können.<br />

• Durch frühzeitige Beratung und günstige Beeinflussung der Lebensverhältnis-<br />

• se(z.B. Wohnen) können Hilfs- und <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit abgemildert und hinaus-<br />

• geschoben werden.<br />

o Der angemessene Umgang mit Demenzkranken muss entwickelt werden, die<br />

Angehörigenfachstellen haben hier ein hochbedeutsames Arbeitsfeld. Gerade<br />

das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz, mit dem wir uns auf dieser Tagung be-<br />

schäftigen werden, wird die Entwicklung in diesem Bereich beschleunigen.<br />

• Zu einer professionellen systemischen Sichtweise des familialen Hilfs- und <strong>Pflege</strong>systems<br />

mit Fokus auf den pflegenden Angehörigen gehört es auch, die Grenzen des<br />

Systems zu erkennen und abgestufte Entlastungs- und Betreuungsangebote zu organisieren<br />

(z.B. Erholung, Angehörigengruppen, Betreuungsgruppen, Tagespflege,<br />

Kurzzeitpflege). Auch eine stationäre Dauerunterbringung (Heim) muss professionell<br />

in die Wege geleitet werden, wenn das häusliche System trotz dieser Angebote auf<br />

Dauer überfordert ist. Es gilt hier, zukünftige <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit der <strong>Pflege</strong>personen<br />

zu vermeiden und dem pflegebedürftigen Menschen Lebensqualität zu bieten – dies<br />

erfordert aber qualitativ anspruchsvolle Angebote in den Heimen!


7<br />

• Die Herausforderungen der Angehörigenarbeit werden auch durch die demografischen<br />

Entwicklungen zunehmen, dazu einige Hinweise:<br />

o Die Zahl der älteren Menschen nimmt absolut und im Verhältnis zu den Jünge-<br />

ren zu,<br />

o damit ist auch mit einer weiteren Zunahme pflegebedürftiger Menschen zu<br />

rechnen, wobei diese Zahl abhängig ist vom präventiven Verhalten, von Fort-<br />

schritten der medizinischen Wissenschaft sowie von Verbesserungen im Ver-<br />

sorgungssystem, z.B. geriatrische Rehabilitation, und<br />

o die hochbetagten Menschen nehmen überproportional zu.<br />

Ab dem 80sten Lebensjahr steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, überproportional<br />

an. Die Folge - in Zusammenschau mit der überproportionalen Zunahme<br />

der Hochbetagten – ist, dass unsere Gesellschaft ein soziales und pflegerisches<br />

Problem bekommen wird, das weder schwerpunktmäßig durch die Angehörigen allein<br />

noch durch ein massiv ausgebautes, aber nicht bezahlbares Heimsystem bewältigt<br />

werden kann. Auf die Angehörigenfachstellen kommen weitere Aufgaben zu, die<br />

zusätzliche neue und andere Qualifikationen erfordern. Ich tippe hier nur Aufgaben an<br />

wie Wohnberatung, Aktivierung und Begleitung freiwilliger Helfer in bedeutend größerem<br />

Umfang als jetzt, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit, Entwicklung von Nachbarschaftsnetzen<br />

usw. Hier werden neue Angebote von Fort- und Weiterbildung gefragt<br />

sein.<br />

• Fachpolitisches Ziel ist es, die Angehörigenfachstellen zu umfassenden, professionellen<br />

Schaltstellen in der kommunalen Altenhilfe und Altenpflege weiterzuentwickeln.<br />

Ich wünsche Ihnen allen, dass die Tagung einen guten Verlauf nimmt, ich freue mich auf die<br />

Gespräche mit Ihnen.


Dr. W.-D. Braunwarth, Facharzt <strong>für</strong> Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt <strong>für</strong><br />

Neurologie, Oberarzt Klinikum Nürnberg Nord<br />

8<br />

Referat 1<br />

Beratung bei Depression, Symptomatik bei <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />

und bei pflegenden Angehörigen<br />

Mit einer Punktprävalenz von 2 – 7 % der Gesamtbevölkerung stellen Depressionen ein insgesamt<br />

häufiges Krankheitsbild dar. Dennoch liegt beispielsweise in allgemeinärztlichen<br />

Praxen die Erkennungsrate unter 50 %. Es ist deshalb von großer Bedeutung, allen Berufsgruppen,<br />

die eine hohe Wahrscheinlichkeit haben, auf depressive Personen zu treffen, Informationen<br />

zu diesem Krankheitsbild zur Verfügung zu stellen. Dies geschieht beispielsweise<br />

im Nürnberger Bündnis gegen Depressionen <strong>für</strong> viele verschiedene Berufsgruppen wie<br />

Allgemeinärzte, Seelsorger, Sozialpädagogen, Polizeibeamte und Altenpfleger.<br />

Eine häufig übersehene Krankheit:<br />

Depressionen werden häufig deshalb nicht als solche erkannt, weil auch die Betroffenen ihre<br />

körperlichen Beschwerden ganz in den Vordergrund stellen, oder weil Klagen über gedrückte<br />

Stimmung fälschlicherweise als normalpsychologische Befindlichkeitsstörung, nicht aber als<br />

Krankheitssymptom interpretiert werden. Darüber hinaus werden Depressionen, da sie sich<br />

„nur im Kopf abspielen“, nicht so ernst genommen wie körperliche Erkrankungen. Wohlgemeinte<br />

Ratschläge wie etwa der, sich einen Urlaub zu gönnen, sind eher schädlich als hilfreich,<br />

weil ein Depressiver während eines Urlaubes nur noch stärker mit seinen Symptomen<br />

Melancholie, Freudlosigkeit, sozialer Rückzug und Insuffizienzerleben konfrontiert wird.<br />

Vorurteile betreffen aber auch die Behandlungsmöglichkeiten, insbesondere die Therapie mit<br />

Antidepressiva. Diese werden immer noch mit suchterzeugenden Tranquilizern oder Drogen<br />

verwechselt.<br />

Die Erkrankung muss ernst genommen werden:<br />

Depressionen sind rezidivierende, phasenhaft verlaufende Erkrankungen. Eine durchschnittliche<br />

Phase dauert etwa 6 Monate. Leidet der Betroffene an einer rezidivierenden depressiven<br />

Störung, so wird er im statistischen Mittel während seines Lebens etwa 7 Krankheitsphasen<br />

durchmachen. Während dieser Phasen besteht ein ungemein hoher Leidensdruck,<br />

darüber hinaus ist in Anbetracht der Suizidrate von bis zu 15 % <strong>für</strong> schwere Depressionen<br />

von einer erheblichen Lebensbedrohung durch diese Erkrankung auszugehen.<br />

Hauptsymptome:<br />

Zentrales Symptom der Depression ist eine melancholische Stimmung. Diese sollte nicht mit<br />

einem Gefühl von Trauer oder Frustration verwechselt werden. Viel zutreffender ist das<br />

Schlagwort vom „Gefühl der Gefühllosigkeit“. Die Depression bedeutet in erster Linie einen<br />

Verlust der Fähigkeit, positive wie auch negative Gefühle zu empfinden. Dieser als ausgesprochen<br />

quälend zu beschreibende Zustand betrifft auch Gefühle, die die Betreffenden<br />

normalerweise ihren Angehörigen gegenüber haben. Der weitgehende Verlust des Gefühlslebens<br />

führt häufig zu Selbstvorwürfen der Betroffenen.<br />

Daneben führt eine Depression regelmäßig zu einem weitgehenden Verlust an Interesse an<br />

allen Dingen, die den Betreffenden sonst wichtig waren, sowie zu einer Unfähigkeit, Freude<br />

zu empfinden. Es kommt zu sozialem Rückzug, Aufgabe aller Hobbies, verlorener Genussfähigkeit,<br />

erlöschendem sexuellen Interesse und Einengung der Gedankenwelt bis hin zu


9<br />

einem unproduktiven Gedankenkreisen. Dieser Rückzug führt zu einem Ausbleiben der<br />

sonst gewohnten positiven Erlebnisse, sogenannter Verstärker, was seinerseits wieder zu<br />

einer Zunahme der depressiven Symptomatik führt (Psychologisches Modell des Verstärkerverlusts<br />

bei Depressionen).<br />

In der überwiegenden Mehrzahl der Betroffenen ist darüber hinaus ein Antriebsdefizit zu beobachten,<br />

das im Extremfall dazu führen kann, daß der Betroffene nicht einmal mehr in der<br />

Lage ist, das Bett zu verlassen. Dieser Antriebsmangel wird häufig auch körperlich als Kraftlosigkeit<br />

gespürt.<br />

Weitere Symptome:<br />

Bei Depressionen sind häufig Lebensbereiche, die mit der inneren Uhr des Organismus zusammen<br />

hängen, gestört. Viele Patienten berichten über Schlafstörungen mit charakteristischem<br />

Früherwachen gegen 02.00 Uhr, über eine Betonung ihrer depressiven Symptomatik<br />

in den Morgenstunden bei gleichzeitiger Besserung am Abend sowie eine Häufung depressiver<br />

Beschwerden zu bestimmten Jahreszeiten, besonders im Frühjahr und im Herbst.<br />

Depressionen führen meist auch zu vegetativen Beschwerden mit Appetit- und Gewichtsverlust<br />

sowie Obstipation.<br />

Das Denken ist von Besorgnis und Angst in Bezug auf die grundlegenden Fragen unserer<br />

Existenz bestimmt, nämlich die körperliche Gesundheit (Hypochondrie), die materielle Existenzgrundlage<br />

(Verarmungsängste) und die transzendente Existenz (Schuld- und Versündigungsgedanken).<br />

Die Mehrzahl der Patienten berichtet von Lebensüberdruß, ein beträchtlicher Anteil auch von<br />

manifesten Suizidgedanken.<br />

Verschiedene Verlaufsformen:<br />

Am häufigsten ist die rezidivierende depressive Störung, in deren Verlauf der Patient mehrmals<br />

im Leben abgegrenzte Depressionen erlebt, in den freien Intervallen dazwischen jedoch<br />

beschwerdefrei ist. Seltener sind die sogenannten bipolaren Verläufe, bei denen neben<br />

den wiederkehrenden Depressionen auch deren Spiegelbild, Manien, beobachtet werden.<br />

Manische Phasen sind von einem krankhaften Stimmungshoch mit Antriebssteigerung und<br />

Minderung des Kritikvermögens gekennzeichnet.<br />

Von den phasenhaften Verläufen abzugrenzen ist diejenige Patientengruppe, die quasi konstitutionell<br />

dauerhaft leicht depressiv ist, ohne einerseits jemals ganz beschwerdefrei zu sein,<br />

andererseits aber auch ohne unbedingt schwere depressive Phasen zu erleben. Diesen Verlauf<br />

bezeichnet man als Dysthymie, an anderer Stelle wird dieses Krankheitsbild auch als<br />

depressive Neurose oder depressive Persönlichkeitsstörung bezeichnet.<br />

Die Häufigkeit depressiver Störungen in der Altenbevölkerung<br />

Verschiedene Studien zeigen, daß depressive Störungen in der Altenbevölkerung mit einer<br />

Häufigkeit von 9,7 – 22,5 % auftreten. Schwere depressive Erkrankungen im Sinne des ICD-<br />

10 treten in der Altenbevölkerung je nach Studie in einer Häufigkeit von 1,2 – 3,7 % auf. Untersucht<br />

man besondere Populationen, wie die Bewohner von Alten- und <strong>Pflege</strong>heimen, so<br />

findet man noch einmal eine deutliche Zunahme der Depressivität. So sind einer Erhebung<br />

folgend 30 – 40 von 100 Heimbewohnern depressiv und 10 – 30 von 100 Demenzkranken<br />

leiden an Depressionen. Das Thema Depressivität im höheren Lebensalter wird dadurch<br />

noch einmal akzentuiert, daß sich zeigen läßt, dass die Suizidrate insbesondere bei Männern<br />

ab dem 70. Lebensjahr massiv ansteigt. Faktoren, die auf ein erhöhtes Depressionsrisiko im<br />

höheren Lebensalter hinweisen, sind Verlusterlebnisse, akute und chronische körperliche<br />

Erkrankungen sowie Behinderungen, Vereinsamung, Fehlen zufriedenstellender sozialer<br />

Beziehung, Verwitwung, Scheidung, ungünstige ökonomische Situationen, Heimaufenthalt,


10<br />

vorangegangene Depressionen, Frühstadien einer Demenz sowie eher zwanghafte introvertierte<br />

oder ängstlich vermeidende Persönlichkeitstypen.<br />

Demenz oder Depression<br />

Die Abgrenzung einer Depression gegen eine Demenz bereitet oft Probleme, wobei natürlich<br />

auch die Fälle zu berücksichtigen sind, bei denen Demenz und Depression zusammentreffen.<br />

Generell kann festgehalten werden, daß depressive Patienten spontan und oft verstärkt<br />

über subjektiv erlebte Defizite im Bereich von Merkfähigkeit und Konzentration klagen, während<br />

demente Patienten ihre objektiv vorhandenen kognitiven Einbußen häufig selbst wenig<br />

wahrnehmen. Generell wird bei dieser Fragestellung jedoch eine Abklärung durch den Psychiater<br />

und Nervenarzt empfohlen.<br />

Therapiemöglichkeiten<br />

Es gibt ein breites Spektrum von Behandlungswegen mit wissenschaftlich abgesicherter Effizienz.<br />

Am einfachsten zu erreichen und am raschesten zu realisieren ist eine Pharmakotherapie<br />

mit Antidepressiva, die jedoch eine gute Aufklärung und Motivation des Patienten und<br />

seiner Angehörigen voraussetzt. Dies ist deshalb umso wichtiger, weil der Effekt der Therapie<br />

nach frühestens drei Wochen Behandlung einsetzt und bei erfolgreicher Behandlung diese<br />

über 6 Monate fortgeführt werden muß, um den Therapieerfolg zu erhalten. Bei leichten<br />

und mittelschweren Depressionen ist die Psychotherapie der medikamentösen Therapie<br />

gleichwertig. Sie ist allerdings auch jetzt noch deutlich schwerer zu realisieren und meistens<br />

mit Wartezeiten von mehreren Monaten verbunden. Die Teilnahme an einer Psychotherapie<br />

setzt auch bzgl. Motivation, kognitiven Funktionen, Introspektionsfähigkeit und Verbalisationsfähigkeit<br />

Ansprüche, die nicht automatisch von jedem Patient erfüllt werden können. Die<br />

Kombination von Psychotherapie und antidepressiver Pharmakotherapie bringt in der kurzfristigen<br />

Behandlung der Depression wenig Gewinn, kann aber das langfristige Behandlungsergebnis<br />

günstig beeinflussen.<br />

Abgeleitet vom Verstärkerverlustmodell sind soziotherapeutische Maßnahmen, die dem Patienten<br />

soziale Kontakte und Erfolgserlebnisse ermöglichen, von großer Bedeutung. Die<br />

Wachtherapie bietet in 60 – 70 % der Fälle eine kurzfristige Linderung der Beschwerden, die<br />

jedoch nicht von Dauer ist. Die Lichttherapie ist nur indiziert, wenn eine echte, vom Psychiater<br />

zu diagnostizierende Winterdepression vorliegt, eine in unseren Breiten höchst seltene<br />

Erkrankung. Die heute nur noch selten eingesetzte Elektrokrampftherapie bietet dann noch<br />

eine Behandlungschance, wenn alle anderen Therapieverfahren versagt haben und die<br />

Schwere des Krankheitsbildes eine Behandlung notwendig macht. Bei therapieresistenten<br />

Fällen sind dann noch bei 80 % Besserung oder Heilung zu erreichen.<br />

Wie begegne ich Depressiven?<br />

Zunächst ist es von großer Bedeutung, das Beschwerdebild als Krankheit zu erkennen und<br />

anzusprechen. Da krankheitsbedingt dem Betroffenen die Fähigkeit zur Hoffnung auf Besserung<br />

und Genesung verlorengegangen ist, sollte der Gesprächspartner im Sinne der „stellvertretenden<br />

Hoffnung“ diese vorübergehend verlorengegangene Ich-Funktion ersetzen.<br />

Für das Gespräch mit Depressiven sind eine vertrauenschaffende Atmosphäre und ein möglichst<br />

großzügig bemessener Zeitrahmen von Bedeutung. Den Klagen des Erkrankten sollte<br />

Raum gegeben werden. Auf sachlicher Ebene können depressiv-verzerrte Sichtweisen des<br />

Betroffenen durchaus im Gespräch korrigiert werden. Dagegen sind gut gemeinte, oberflächliche<br />

Aufmunterungen wie „Kopf hoch“ oder „Das wird schon wieder“ fehl am Platz, da sie bei<br />

den Depressiven lediglich das Gefühl erzeugen, unverstanden zu sein und sein von Selbstvorwürfen<br />

geprägtes Erleben, ein „Versager“ zu sein, nur verstärken. Suizidäußerungen Depressiver<br />

sind stets ernst zu nehmen. Es ist durchaus erlaubt, diese auch aktiv zu erfragen,<br />

da in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich Lebensüberdruß oder Suizidgedanken vorliegen.<br />

Ist eine Behandlung in Gang gekommen, so sollten Betroffene wie Angehörige möglichst gut<br />

über das Wesen der Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten informiert werden. Den


11<br />

Angehörigen kommt häufig die Aufgabe zu, auf die regelmäßige Einnahme der Medikamente<br />

und auf die Wahrnehmung der Arztbesuche zu achten. Auch muß häufig da<strong>für</strong> Sorge getragen<br />

werden, daß depressive Patienten ausreichend Flüssigkeit und Kalorien zuführen. Körperliche<br />

Aktivität sollte gefördert werden, der Tagesablauf sollte behutsam strukturiert werden.<br />

Die Kontakte mit dem Patienten sollten <strong>für</strong> diesen planbar sein, Termine mit hoher Zuverlässigkeit<br />

eingehalten werden. Auch kleine Fortschritte des Patienten sollten gebührend<br />

gewürdigt werden, da sie das erwünschte, antidepressive Verhalten verstärken. Eine Überforderung<br />

des Patienten, dem auf dem Tiefpunkt seiner Depression schon kleinste Alltagsaktivitäten<br />

zuviel sein können, ist zu vermeiden.


Dr. Werner Haas MDK Bayern, Nürnberg<br />

12<br />

Referat 2<br />

Besonderheiten bei der Einstufung gerontopsychiatrischer Patienten<br />

in die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

Zahlen:<br />

Im ambulanten Bereich der sozialen <strong>Pflege</strong>versicherung beziehen bundesweit rd. 1,27 Mio.<br />

Versicherte Leistungen nach SGB XI, in Bayern werden 190.000 Menschen zu Hause gepflegt<br />

bei insgesamt 270 000 anerkannten <strong>Pflege</strong>bedürftigen.<br />

(Stand: 30.06.2001)<br />

Zuordnung zu den <strong>Pflege</strong>stufen:<br />

<strong>Pflege</strong>stufe I 695.852 = 54,7 %<br />

<strong>Pflege</strong>stufe II 447.348 = 35,1 %<br />

<strong>Pflege</strong>stufe III 129.739 = 10,2 %<br />

gesamt 1.272.939 = 100 %<br />

Die Leistungen im Überblick:<br />

Häusliche <strong>Pflege</strong><br />

<strong>Pflege</strong>sachleistung<br />

bis € monatlich<br />

<strong>Pflege</strong>geld<br />

€ monatlich<br />

<strong>Pflege</strong>stufe I <strong>Pflege</strong>stufe II <strong>Pflege</strong>stufe III<br />

Erheblich Schwerpflege- Schwerstpflege-<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftige bedürftige bedürftige/ (3+)<br />

384 921 1.432/ (1.918)<br />

205 410 665<br />

Übersicht über die zugelassenen <strong>Pflege</strong>einrichtungen nach dem SGB XI:<br />

(Statistik des VdAK ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Stand: 01.10.2001)<br />

Land<br />

Bayern<br />

ambulante teilstationäre Kurzzeitpflege-<br />

Einrichtungen Einrichtungen Einrichtungen<br />

1.841 412 554<br />

Vollstationäre<br />

Einrichtungen<br />

1.379<br />

Prävalenz gerontopsychiatrischer Erkrankungen in Mittelfranken:<br />

(Stand 31.12.1999)<br />

Gesamtbevölkerung: 1.683.282 Einwohner,<br />

davon über 65 Jahre: 275.440 Einwohner;<br />

Psychische Erkrankungen: 68.860 (= 25%)<br />

Demenz: 16.526 (= 6%)<br />

Schwere depressive Erkrankung: 5.509 (= 2%)<br />

Depressive Störungen insgesamt: 27.544 (= 10%)<br />

Schizophrenie: 1.377 (= 0,5%)<br />

Anhaltende wahnhafte Störungen: 27.544 (= 10%)<br />

Alkoholismus: 4.132 (= 1,5%)<br />

(Bayer. Landesamt <strong>für</strong> Statistik und Datenverarbeitung, Stand: 31.12.1999)


13<br />

Jährliche Umsätze aus der <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

1995: 9,72<br />

1996: 21,24<br />

1997: 29,61<br />

1998: 31,05<br />

1999: 31,32<br />

2000: 32,61<br />

2001: ~33,5 Milliarden DM<br />

Zufriedenheit:<br />

Dennoch bestand seit dem ersten Jahr nach Einführung des <strong>Pflege</strong>versicherungsgesetzes<br />

zunehmende Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Einstufung.<br />

Dies mag damit zusammenhängen, dass nicht vermittelt werden konnte, dass Leistungen<br />

nach dem <strong>Pflege</strong>versicherungsgesetz nie alle denkbar notwendigen oder gar erbrachten Leistungen<br />

und Belastungen entgelten können.<br />

Das Gesetz legt i.V.m. den BRi die wesentlichen Kriterien, die sog. "täglichen Verrichtungen"<br />

zur Bestimmung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit fest, woraus sich der Hilfebedarf und die Stufe der<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigkeit ergeben.<br />

I. Was ist der zu berücksichtigende Hilfebedarf?<br />

Maßstab <strong>für</strong> die Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit und die Zuordnung zu einer <strong>Pflege</strong>stufe<br />

ist der individuelle Hilfebedarf des Antragstellers bei den abschließend genannten gewöhnlichen<br />

und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen.<br />

Dieser <strong>für</strong> die Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit und die Zuordnung zu einer <strong>Pflege</strong>stufe<br />

maßgebliche Hilfebedarf ergibt sich nach Art, Häufigkeit, zeitlichem Umfang und Prognose<br />

aus<br />

• der individuellen Ausprägung von funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen<br />

durch Krankheit oder Behinderung,<br />

• der individuellen Lebenssituation (Wohnverhältnisse, soziales Umfeld),<br />

• der individuellen <strong>Pflege</strong>situation<br />

unter Zugrundelegung der Laienpflege.<br />

Es ist ausschließlich auf die Individualität des <strong>Pflege</strong>bedürftigen abzustellen. Die Individualität<br />

der <strong>Pflege</strong>person bzw. -personen werden nicht berücksichtigt.<br />

II. Formen der Hilfeleistung<br />

Bei den Formen der Hilfe werden die Unterstützung, die teilweise oder vollständige Übernahme<br />

der Verrichtung sowie die Beaufsichtigung und Anleitung unterschieden.<br />

Diese Individuellen Hilfeleistungen wiederum können dabei aus einer Kombination einzelner<br />

Hilfeformen zusammengesetzt sein oder im Tagesverlauf wechselnde Hilfeformen bedingen.<br />

Sie sind dann in ihrer Gesamtheit zu werten.<br />

Unterstützung bedeutet, noch vorhandene Fähigkeiten bei den Verrichtungen des täglichen<br />

Lebens zu erhalten und zu fördern sowie dem <strong>Pflege</strong>bedürftigen zu helfen, verloren gegangene<br />

Fähigkeiten wieder zu erlernen und nicht vorhandene zu entwickeln (aktivierende <strong>Pflege</strong>).<br />

Dazu gehört auch die Unterstützung bei der richtigen Nutzung der ihm überlassenen Hilfsmittel.


14<br />

Eine Unterstützung z. B. beim Waschen liegt dann vor, wenn eine bettlägerige Person sich<br />

zwar selbst waschen kann, aber das Waschwasser bereitgestellt, nach dem Waschen beseitigt<br />

oder ein Waschlappen angereicht werden muss. Weitere Beispiele sind die Auswahl geeigneter<br />

Kleidungsstücke im Rahmen des An- und Auskleidens, insbesondere bei geistig<br />

Behinderten oder die Hilfe bei der Überwindung von Hindernissen (Treppenstufen, Bordsteinschwellen)<br />

bei einem hinsichtlich der Fortbewegung ansonsten selbständigen Rollstuhlfahrer.<br />

Teilweise Übernahme bedeutet, dass die <strong>Pflege</strong>person den Teil der Verrichtungen des täglichen<br />

Lebens übernimmt, den der <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst nicht ausführen kann. Auch die<br />

teilweise Übernahme sollte im Sinne der aktivierenden <strong>Pflege</strong> erbracht werden.<br />

Eine teilweise Übernahme der Verrichtung liegt dann vor, wenn eine Hilfe zur Vollendung<br />

einer teilweise selbständig erledigten Verrichtung benötigt wird.<br />

Eine teilweise Übernahme des Waschens liegt z.B. dann vor, wenn Gesicht und Körper selbständig<br />

gewaschen werden, <strong>für</strong> das Waschen der Füße und Beine aber die Hilfe einer <strong>Pflege</strong>person<br />

benötigt wird. Auch wenn eine Verrichtung begonnen, aber z. B. wegen Erschöpfung<br />

abgebrochen wird, kann eine teilweise Übernahme der Verrichtung notwendig werden.<br />

Bei geistig Verwirrten oder psychisch Kranken kann eine teilweise Übernahme dann erforderlich<br />

werden, wenn der <strong>Pflege</strong>bedürftige von der eigentlichen Verrichtung wiederholt abschweift<br />

oder die Verrichtung trotz Anleitung zu langsam und umständlich ausführt. In einem<br />

solchen Fall muss z. B. das Waschen wegen der Gefahr des Auskühlens von der <strong>Pflege</strong>person<br />

durch eine teilweise Übernahme zu Ende gebracht werden.<br />

Die teilweise Übernahme kann Bestandteil der aktivierenden <strong>Pflege</strong> sein. Sie ist dann darauf<br />

gerichtet, verloren gegangene Fähigkeiten wieder zu erlernen oder nicht vorhandene Fähigkeiten<br />

zu entwickeln. Auch wenn diese Ziele z. B. bei rasch fortschreitenden Erkrankungen<br />

nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zu verwirklichen sind, soll der <strong>Pflege</strong>bedürftige die<br />

Verrichtungen des täglichen Lebens so weit wie möglich selbständig übernehmen.<br />

Drittens bedeutet vollständige Übernahme, dass die <strong>Pflege</strong>person alle Verrichtungen selbst<br />

ausführt, die der <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst nicht ausführen kann. Auch die vollständige Übernahme<br />

sollte im Sinne der aktivierenden <strong>Pflege</strong> erbracht werden.<br />

Eine vollständige Übernahme liegt dann vor, wenn die <strong>Pflege</strong>person die Verrichtung selbst<br />

ausführt und der <strong>Pflege</strong>bedürftige sich dabei passiv verhält, ohne einen eigenen Beitrag zur<br />

Vornahme der Verrichtung zu leisten. Die vollständige Übernahme mehrerer Verrichtungen<br />

ist bei der Mehrzahl der <strong>Pflege</strong>bedürftigen nicht erforderlich. Sie kommt vor allem bei bewusstseinseingeschränkten<br />

oder gelähmten Menschen in Betracht.<br />

Überversorgung ist auszuschließen.<br />

Schließlich: Die Hilfeformen der Anleitung und Beaufsichtigung kommen insbesondere bei<br />

geistig behinderten, psychisch kranken und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen in<br />

Betracht. Auch hier ist nur der Hilfebedarf in Form der Anleitung und Beaufsichtigung zu berücksichtigen,<br />

der bei den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlich ist.<br />

Anleitung bedeutet, dass die <strong>Pflege</strong>person bei einer konkreten Verrichtung den Ablauf der<br />

einzelnen Handlungsschritte oder den ganzen Handlungsablauf anregen, lenken oder demonstrieren<br />

muss.<br />

Dies kann insbesondere dann erforderlich sein, wenn der <strong>Pflege</strong>bedürftige trotz vorhandener<br />

motorischer Fähigkeiten eine konkrete Verrichtung nicht in einem sinnvollen Ablauf durchführen<br />

kann.


Zur Anleitung gehört auch die Motivierung des Antragstellers bzw. <strong>Pflege</strong>bedürftigen zur<br />

selbständigen Übernahme der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen<br />

Lebens.<br />

Bei der Beaufsichtigung steht einmal die Sicherheit beim konkreten Handlungsablauf der<br />

Verrichtungen im Vordergrund.<br />

15<br />

Z.B. ist Beaufsichtigung beim Rasieren erforderlich, wenn durch unsachgemäße Benutzung<br />

der Klinge oder des Stroms eine Selbstgefährdung gegeben ist.<br />

Zum anderen kann es um die Kontrolle darüber gehen, ob die betreffenden Verrichtungen in<br />

der erforderlichen Art und Weise durchgeführt werden.<br />

Eine Aufsicht, die darin besteht zu überwachen, ob die erforderlichen Verrichtungen des täglichen<br />

Lebens überhaupt ausgeführt werden, und lediglich dazu führt, dass gelegentlich zu<br />

bestimmten Handlungen aufgefordert werden muss, reicht nicht aus.<br />

Nur konkrete Anleitung, Überwachung und/oder Erledigungskontrollen sind zu berücksichtigen,<br />

die die <strong>Pflege</strong>person in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden wie bei<br />

unmittelbarer personeller Hilfe.<br />

Beaufsichtigung und Anleitung zielen darauf, dass die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen<br />

im Ablauf des täglichen Lebens nach § 14 Abs. 4 SGB XI in sinnvoller Weise vom<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen selbst durchgeführt werden. Beaufsichtigung und Anleitung bei diesen<br />

Verrichtungen richten sich auch darauf, körperliche, psychische und geistige Fähigkeiten zu<br />

fördern und zu erhalten (z. B. Orientierung zur eigenen Person und in der Umgebung),<br />

Selbst- oder Fremdgefährdung zu vermeiden (z. B. durch unsachgemäßen Umgang mit<br />

Strom, Wasser oder offenem Feuer), Ängste, Reizbarkeit oder Aggressionen abzubauen.<br />

Ein unabhängig von den in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen erforderlicher allgemeiner<br />

Aufsichts- und Betreuungsbedarf (z. B. eines geistig Behinderten) zur Vermeidung<br />

einer möglichen Selbst- oder Fremdgefährdung ist bei der Feststellung des Hilfebedarfs lt.<br />

BRi und Gesetz nicht zu berücksichtigen.<br />

III. Welche Besonderheiten bei der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Personen mit psychischen<br />

Erkrankungen und/oder geistigen Behinderungen gelten nun?<br />

Bei der Begutachtung von psychisch Kranken kann eine Reihe von Besonderheiten auftreten<br />

in Bezug darauf, dass psychisch kranke und geistig behinderte Menschen häufig in der Lage<br />

sind, die Verrichtungen des täglichen Lebens ganz oder teilweise selbst auszuführen. Krankheits-<br />

und behinderungsbedingt kann jedoch die Motivation zur Erledigung der Verrichtung<br />

fehlen, obwohl die Notwendigkeit grundsätzlich erkannt werden kann. Andere Kranke und<br />

Behinderte erkennen die Notwendigkeit der Verrichtung nicht, sind aber nach entsprechender<br />

Aufforderung zur selbständigen Erledigung in der Lage. Ohne die Hilfe einer <strong>Pflege</strong>person<br />

unterbleiben hier die Verrichtungen des täglichen Lebens.<br />

In wieder anderen Fällen werden die Verrichtungen des täglichen Lebens zwar begonnen,<br />

jedoch nicht zielgerecht zu Ende geführt. Die Verrichtung wird dann abgebrochen und entweder<br />

nicht oder erst nach Unterbrechung(en) beendet. Wiederum andere Menschen können<br />

die Verrichtungen zwar erledigen, gefährden sich jedoch hierbei im Umgang mit alltäglichen<br />

Gefahrenquellen, indem z. B. vergessen wird, den Herd oder fließendes Wasser abzustellen.<br />

Bei geistig behinderten, psychisch kranken und gerontopsychiatrisch veränderten<br />

Menschen kommen insbesondere die Hilfeformen der Anleitung und Beaufsichtigung in Betracht.


16<br />

Auch hier ist nur der Hilfebedarf in Form der Anleitung und Beaufsichtigung zu berücksichtigen,<br />

der bei den genannten Verrichtungen erforderlich ist.<br />

Aufgabe des Gutachters ist es, Art und Umfang der Hilfeleistungen "Beaufsichtigung" und<br />

"Anleitung" allein im Zusammenhang mit den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im<br />

Ablauf des täglichen Lebens nach § 14 Abs. 4 SGB XI zu ermitteln.<br />

In der Regel wird der Hilfebedarf von dem <strong>Pflege</strong>bedürftigen selbst nicht richtig wiedergegeben,<br />

wenn die Krankheitseinsicht fehlt, die tatsächlichen Hilfeleistungen nicht erinnert oder<br />

aus Scham verschwiegen werden. Nur die <strong>Pflege</strong>person selbst wird in der Regel hierzu in<br />

der Lage sein. <strong>Pflege</strong>dokumentationen oder längerfristige Aufzeichnungen des Hilfebedarfs<br />

(<strong>Pflege</strong>tagebuch) sind besonders geeignet, um objektive Feststellungen treffen zu können.<br />

Dabei muss der Zeitaufwand <strong>für</strong> Anleitung und Beaufsichtigung bei den einzelnen Verrichtungen<br />

in jedem Einzelfall individuell erhoben und in dem Gutachten bewertet werden.<br />

Beispiel: Bei der <strong>Pflege</strong>zeitbemessung ist die gesamte Zeit zu<br />

berücksichtigen, die <strong>für</strong> die Erledigung der Verrichtung benötigt wird.<br />

Entfernt sich z.B. ein unruhiger Demenzkranker beim Waschen aus dem<br />

Badezimmer, so ist auch die benötigte Zeit <strong>für</strong> ein beruhigendes<br />

Gespräch, das die Fortsetzung des Waschens ermöglicht, zu<br />

berücksichtigen.<br />

Die Begutachtung geistig behinderter oder psychisch kranker Antragsteller dauert in der Regel<br />

länger als die Begutachtung von Antragstellern mit körperlichen Erkrankungen.<br />

IV. Welche Krankheitsbilder sind bei diesen Überlegungen relevant?<br />

1. Hirnorganische Erkrankungen (Demenzen und organische Psychosen)<br />

Demenzkranke sind die weitaus größte Gruppe aller psychisch Erkrankten. Hier kann das<br />

manchmal unauffällige äußere Erscheinungsbild in der Begutachtungssituation Anlass zu<br />

Fehldeutungen geben. Die Antragsteller können, zumal in vertrauter Umgebung, bei der<br />

Kontaktaufnahme zunächst orientiert und unauffällig wirken, so dass die Einschränkung der<br />

seelisch-geistigen Leistungsfähigkeit nicht deutlich wird. Hier kann gezieltes Befragen, z.B.<br />

zur Krankheitsvorgeschichte und aktuellen Lebenssituation, dennoch Defizite aufzeigen.<br />

Bei Demenzkranken können Schwankungen im Tagesverlauf auftreten. Einige psychisch<br />

kranke <strong>Pflege</strong>bedürftige sind tagsüber nur relativ leicht gestört, während sie am späten<br />

Nachmittag und nachts unruhig und verwirrt sind. Da das Befinden und die kognitive Leistungsfähigkeit<br />

Schwankungen unterliegen können, sind die Angaben von Angehörigen und<br />

<strong>Pflege</strong>nden unentbehrlich.<br />

2. Geistige Behinderungen<br />

Die meisten der geringgradig geistig behinderten Personen erlangen durch Förderung eine<br />

weitgehende Unabhängigkeit in der Selbstversorgung und in praktischen und häuslichen<br />

Tätigkeiten. Bei mittelgradiger geistiger Behinderung werden tägliche Verrichtungen im<br />

Handlungsablauf oft nicht verstanden. Die Patienten müssen bei einigen Verrichtungen zeitweise<br />

angeleitet und beaufsichtigt werden.<br />

Schwere und schwerste geistige Behinderungen bedürfen eines hohen pflegerischen Aufwands<br />

und gehen häufig mit körperlich neurologischen Defiziten einher.


3. Schizophrene und manisch-depressive (sog. endogene) Psychosen<br />

17<br />

Bei Patienten mit schizophrenen Erkrankungen ist die sog. Minussymptomatik mit u. a. Antriebsschwäche,<br />

Ambivalenz, Mangel an Spontaneität, autistischen Zuständen, affektiven<br />

Störungen und Denkstörungen am häufigsten pflegebegründend.<br />

Beispiel: Vernachlässigung der Hygiene und eingeschränkte soziale Kompetenz sind häufig.<br />

Die Patienten können sich dann nicht mehr ausreichend selbst versorgen und sehen teilweise<br />

die Notwendigkeit der Verrichtungen selbst nicht. Umstimmungs- und Überzeugungsarbeit<br />

beim Aufstehen, Waschen, Anziehen, bei regelmäßiger Nahrungsaufnahme und anderen<br />

Verrichtungen erfordern oft erheblichen zeitlichen Aufwand.<br />

Psychosekranke können situationsabhängig und u. U. auch in der Begutachtungssituation<br />

wenig auffällig wirken. Auch hier ist die Befragung der Angehörigen oder anderer <strong>Pflege</strong>personen<br />

sehr wichtig.<br />

Für den Zeitaufwand der Grundpflege legt § 15 Abs. 3 SGB XI Mindestzeitwerte fest, die wöchentlich<br />

im Tagesdurchschnitt erreicht werden müssen.<br />

Zur Erinnerung:<br />

<strong>Pflege</strong>stufe Grundpflege<br />

I mehr als 45 Minuten<br />

II 120 Minuten<br />

III 240 Minuten<br />

Die genannten gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des<br />

täglichen Lebens sind gemäß Gesetz:<br />

5.1. Körperpflege<br />

Das Waschen<br />

Das Duschen<br />

Das Baden<br />

Die Zahnpflege<br />

Das Kämmen<br />

Das Rasieren<br />

Die Darm- und Blasenentleerung<br />

5.2. Ernährung<br />

Das mundgerechte Zubereiten der Nahrung<br />

Die Aufnahme der Nahrung<br />

5.3. Mobilität<br />

Das selbständige Aufstehen und Zubettgehen - Umlagern<br />

Das An- und Auskleiden<br />

Das Gehen<br />

Das Stehen<br />

Das Treppensteigen<br />

Das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung<br />

5.4 Hauswirtschaftliche Versorgung<br />

...<br />

Es ist richtig, dass <strong>Pflege</strong> aus mehr als den dort aufgeführten, allein körperbezogenen Verrichtungen<br />

besteht, eine Ausweitung darüber hinaus wurde jedoch vom Gesetzgeber im SGB<br />

XI ausdrücklich ausgeschlossen. Die <strong>Pflege</strong>versicherung sollte bekanntermaßen eine Teil-


18<br />

kasko-Versicherung sein und sie ist es nach dem Willen des Gesetzgebers auch nach den<br />

neuen Regelungen geblieben.<br />

Daher gilt zusammenfassend:<br />

Nur die in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten Verrichtungen der Bereiche Körperpflege, Ernährung,<br />

Mobilität und Hauswirtschaftliche Versorgung dürfen zur Bewertung von <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

herangezogen werden. Zwar muss der Hilfebedarf in diesen Bereichen auch bei Unterstützung,<br />

Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme<br />

berücksichtigt werden, aber eben nur, soweit er mit den konkreten Verrichtungen in Zusammenhang<br />

steht. Jedenfalls wurde eine "allgemeine Beaufsichtigung", die darüber hinausgeht,<br />

bei der Bemessung des Hilfebedarfs ausgeschlossen. Dies wurde bisher vom BSG in Urteilen<br />

zu diesem Problemkreis immer wieder bestätigt.<br />

MDK-eigene Untersuchungen<br />

Der MDK in Bayern war bereits im Jahr 1997 vom Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit<br />

und Sozialordnung, Frauen, Familie und Gesundheit um Prüfung gebeten worden, ob durch<br />

eine gesetzeskonforme, aber von den Richtlinien abweichende Begutachtung von Personengruppen<br />

mit bestimmten Diagnosen signifikante Veränderungen in der Einstufung dieser<br />

Personen zur <strong>Pflege</strong>versicherung zu erwarten sind. Hierbei sollten insbesondere die Gruppe<br />

der geistig und psychisch Behinderten Berücksichtigung finden. Schon damals erschienen<br />

"Anleitung und Beaufsichtigung" das Merkmal zu sein, das aufgrund einer vermeintlichen<br />

"Unterbewertung" auf das größte Unverständnis bei den Antragstellern stößt.<br />

Auch nach einer aktuellen Auswertung von Gutachten, die die Diagnose "Demenz" berücksichtigen,<br />

wurde bereits nach den bisher geltenden Richtlinien übereinstimmend das untersuchte<br />

Personenkollektiv in einem über dem allgemeinen Durchschnitt liegenden Maß in die<br />

höhere <strong>Pflege</strong>stufen eingruppiert, während die Zahl der Ablehnungen und der Zuerkennung<br />

von Stufe 1 unter dem allgemeinen Durchschnitt liegt.<br />

Aktuelle Situation<br />

Im Hinblick auf die demografischen Veränderungen wird sich die Situation in der Altenpflege<br />

verschärfen. Neben den rund 25.000 Mitarbeitern der ambulanten sozialpflegerischen Dienste<br />

im Freistaat Bayern werden die <strong>Pflege</strong>leistungen zum Großteil von den Angehörigen erbracht.<br />

Diese <strong>Pflege</strong> ist bekanntermaßen mit großen körperlichen und seelischen Belastungen,<br />

mit Verzicht und Entbehrungen verbunden.<br />

Bereits heute ist eine steigende Anzahl der <strong>Pflege</strong>bedürftigen multimorbid erkrankt und mit<br />

der Zunahme hochbetagter Menschen wird die Zahl derer, die an Demenz - vornehmlich an<br />

Alzheimer - erkranken, dramatisch ansteigen. Daher muss sich die Gesellschaft auf das Risiko<br />

'Demenz' als einer verantwortlichen Gemeinschaftsaufgabe vorbereiten". Auch die Politik<br />

stellt sich dieser Herausforderung. Ministerin Stewens fordert dazu: "Damit die erkrankten<br />

Menschen möglichst lange im gewohnten Umfeld bleiben können, benötigen wir neben qualifizierten<br />

Fachkräften auch den Einsatz von Familienangehörigen und freiwilligen Helfern."<br />

Bereits vor Jahren hat die Bayerische Staatsregierung festgestellt, dass im Rahmen einer<br />

vorausschauenden Altenpolitik reagiert werden müsse. Es wurde erkannt, dass die verstärkte<br />

Einbindung der Gerontopsychiatrie in die Ausbildung der <strong>Pflege</strong>fachkräfte, die Entlastung<br />

der pflegenden Angehörigen und der Aufbau verbesserter Strukturen ambulanter gerontopsychiatrischer<br />

Versorgung notwendig sind.<br />

So gab es bereits seit 1998 die Förderung von Angehörigengruppen im Rahmen des Bayerischen<br />

<strong>Netzwerk</strong>es <strong>Pflege</strong> (Angehörigenarbeit). Derzeit können in Bayern 62 Angehörigen-


19<br />

Fachstellen, 87 Angehörigen-Gruppen und 42 Betreuungsgruppen zur Entlastung mit unterschiedlicher<br />

Standortdichte gezählt werden.<br />

Auch der MDK in Bayern ist im Rahmen interner Fortbildungen bestrebt, seine eigenen Gutachter<br />

auf dem Gebiet der Gerontopsychiatrie weiterzuqualifizieren und <strong>für</strong> diese spezielle<br />

Problematik zu sensibilisieren.<br />

Waren aus gutachterlicher Sicht Tagespflege, Betreuungsleistungen, ambulante Rehabilitation<br />

zu empfehlen, so musste bisher häufig festgestellt werden, dass die notwendige Infrastruktur<br />

da<strong>für</strong> nicht vorhanden war.<br />

Über diese politischen und gutachterlichen Aspekte hinaus sind aber auch verstärkt Anstrengungen<br />

zu unternehmen, um Verständnis und Solidarität der Gesellschaft einzufordern, um<br />

Selbständigkeit zu bewahren und ggf. die pflegenden Angehörigen zu entlasten.<br />

Seit Beginn der <strong>Pflege</strong>versicherung stellten sich somit zunehmend die Fragen:<br />

♦ Welche Möglichkeiten gibt es, die Versorgung pflegebedürftiger, insbesondere altersdementer,<br />

Menschen zu verbessern?<br />

♦ Wie lassen sich Diagnose- und Beratungsmöglichkeiten verbessern? Wer übernimmt die<br />

Kosten?<br />

Die Antwort darauf soll das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz - PflEG geben:<br />

Nach längerer Vor- und Abstimmungsarbeit wurde am 15. November 2001 das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz<br />

verabschiedet und zum 01.01.2002 in Kraft gesetzt. Leistungen<br />

sind seit dem 01.04.2002 abrechenbar. Dadurch sollen <strong>für</strong> die pflegenden Angehörigen zusätzliche<br />

Möglichkeiten zur dringend notwendigen Entlastung geschaffen werden, <strong>für</strong> die<br />

<strong>Pflege</strong>bedürftigen [in der Entlastungsphase der pflegenden Angehörigen] aktivierende und<br />

qualitätsgesicherte Betreuungsangebote zur Verfügung gestellt und strukturpolitisch sinnvolle<br />

Weichenstellungen vorgenommen werden.<br />

Berechtigter Personenkreis<br />

Der berechtigte Personenkreis umfasst nach dem Gesetz <strong>Pflege</strong>bedürftige der Stufen I, II, III<br />

mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen oder psychischen<br />

Erkrankungen (= Eingrenzung auf bestimmte Diagnosen), bei denen der Medizinische Dienst<br />

gemäß Gesetz dauerhafte Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens in Form<br />

von erheblicher Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt hat.<br />

Die Maßnahmen im Einzelnen<br />

Bei häuslicher <strong>Pflege</strong> besteht durch das <strong>Pflege</strong>leistungsergänzungsgesetz ein zusätzlicher<br />

Leistungsanspruch <strong>für</strong> "<strong>Pflege</strong>bedürftige mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung<br />

und Betreuung". Danach kann dieser Personenkreis zusätzliche finanzielle Hilfen der<br />

<strong>Pflege</strong>versicherung im Wert bis zu 460 € (900 DM) pro Kalenderjahr <strong>für</strong> qualitätsgesicherte<br />

Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen.<br />

Die Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> „demente" <strong>Pflege</strong>bedürftige<br />

wird gefördert mit zwei ineinander greifenden Komponenten:<br />

a. Förderung niedrigschwelliger Betreuungsangebote, ergänzt durch<br />

oder kombiniert mit der<br />

b. Förderung von Modellprojekten.


Als zusätzliche Betreuungsleistungen (1) können nach dem Gesetz bspw. als Tages-<br />

/Nachtpflege, Kurzzeitpflege, Betreuungsleistungen zugelassener <strong>Pflege</strong>dienste niedrigschwelliger<br />

Betreuungsangebote in Anspruch genommen werden.<br />

20<br />

Unter niedrigschwelligen Betreuungsangeboten sind zu verstehen:<br />

Tagesbetreuung in Kleinstgruppen,<br />

Nachtcafes,<br />

Betreuungsgruppen durch gerontopsychiatrische Zentren<br />

Fachberatung,<br />

Familienentlastende Dienste<br />

Helferinnenkreise.<br />

Es handelt sich dabei um reine Sachleistungen, die mit der Kasse abgerechnet werden, Gelder<br />

werden nicht ausgezahlt.<br />

Der Aufbau der neuen Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen (2) wird anteilig<br />

durch die soziale und private <strong>Pflege</strong>versicherung einerseits, sowie durch Länder und/oder<br />

Kommunen andererseits in Höhe von insgesamt 20 Mio. € jährlich finanziert.<br />

Auf das Bundesland Bayern entfallen dabei nach einer bestimmten Berechnungsgrundlage<br />

insgesamt 2,9 Mio. € <strong>für</strong> die Förderungen der niedrigschwelligen Betreuungsangebote und<br />

die Modellprojekte.<br />

Neu geregelt werden auch die Beratungseinsätze gemäß § 37 SGB XI, wonach bei Stufe I<br />

und II einmal halbjährlich, nach Stufe III einmal vierteljährlich ein Einsatz abgerufen und bescheinigt<br />

werden muss. Die Einsätze werden von der <strong>Pflege</strong>kasse mit bis zu 16 oder 26 €<br />

beglichen.<br />

Personen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung dürfen diese<br />

Einsätze in diesen Zeiträumen zweimal in Anspruch nehmen.<br />

Nicht in Anspruch genommene Beträge aus dem Jahres-Budget können ins Folgejahr übernommen<br />

werden.<br />

Das Gesetz steht dabei weiterhin eindeutig unter dem engen Finanzierungsmantel des bisher<br />

gültigen 1,7%igen Beitragssatzes. Dieser wird auch nicht geändert. In der Begründung<br />

des Gesetzes heißt es dazu:<br />

"Aufgrund dieser bestehenden finanziellen Rahmenbedingungen ist es nicht<br />

möglich, mit diesem Gesetz die Demenzproblematik durchgreifend zu lösen,<br />

der Teilsicherungscharakter der <strong>Pflege</strong>versicherung wird grundsätzlich<br />

auch in diesem Bereich nicht verändert werden können".<br />

Damit wird zum wiederholten Male deutlich ausgesprochen, dass die <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

eine Teilkaskoversicherung ist und bleibt, die an verschiedenen Stellen Entlastung bzw. einen<br />

Zuschuss bietet, nicht mehr und nicht weniger. Sie steht unter dem gesellschaftlichen<br />

Finanzierungsvorbehalt.<br />

KOMMENTAR:<br />

Grundsätzlich sieht das Bundesministerium vorrangig im ambulanten Bereich Handlungsbedarf,<br />

um demenzkranke <strong>Pflege</strong>bedürftige besser zu versorgen und pflegende Angehörige zu<br />

entlasten.<br />

Im stationären Bereich könnten entstehende Aufwendungen <strong>für</strong> den besonderen Hilfe- und<br />

Betreuungsbedarf dementiell erkrankter <strong>Pflege</strong>bedürftiger ja bereits jetzt aufgrund des ge-


21<br />

setzlichen Anspruchs von Heimträgern auf eine leistungsgerechte Vergütung in den Heimentgelten<br />

berücksichtigt werden.<br />

Verordnung zur Ausführung des PflEG - AVPflEG<br />

Zur länderspezifischen Umsetzung des Gesetzes hat die Bayerische Staatsregierung dazu<br />

die Ausführungsverordnung auf den Weg gebracht. Die Verordnung ist am 01.04.2002 in<br />

Kraft getreten.<br />

Als zuständige Behörde ist das <strong>Bayerisches</strong> Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung<br />

in Bayreuth (Hegelstrasse 2) <strong>für</strong> die Anerkennung, die Rücknahme und den Widerruf<br />

von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten nach § 45b Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 vom Bayerischen<br />

<strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen eingeschaltet.<br />

Von dort werden als niedrigschwellige Betreuungsangebote auf Antrag anerkannt:<br />

• Betreuungsgruppen <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong>bedürftige mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen,<br />

geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen,<br />

• ehrenamtliche Helferinnen- und Helferkreise zur Entlastung der pflegenden Angehörigen<br />

in Gruppen oder in Einzelbetreuung,<br />

• familienentlastende Dienste und schließlich<br />

• Dienste, die Leistungen der Familienpflege und Dorfhilfe erbringen, sowie<br />

• niedrigschwellige Betreuungsangebote <strong>für</strong> Menschen mit erheblichem Bedarf an allgemeiner<br />

Beaufsichtigung und Betreuung.<br />

Voraussetzungen <strong>für</strong> die Anerkennung sind ein nachvollziehbares Konzept, ausreichender<br />

Versicherungsschutz, Verpflichtung zur Erstellung eines Tätigkeitsberichts und Auskunftspflicht<br />

über Zahl und Art der Betreuungen und Kräfte.<br />

Gefordert wird im Einzelnen <strong>für</strong> Betreuungsgruppen i. S. des § 2 Nr. 1, dass<br />

• die Leitung durch eine Fachkraft mit psychiatrischer, gerontopsychiatrischer oder heilpädagogischer<br />

Erfahrung sichergestellt ist,<br />

• die Durchführung unter Mitwirkung von fachlich geschulten und angeleiteten ehrenamtlichen<br />

Helferinnen (<strong>für</strong> 1 bis 3 Betreute) erfolgt<br />

• durchschnittlich mindestens vier Hilfebedürftige durch die Gruppe betreut werden und<br />

• angemessene Räumlichkeiten zur Verfügung stehen.<br />

Die Betreuungsgruppen sollen in mindestens 14-tägigem Rhythmus angeboten werden, von<br />

den <strong>Pflege</strong>kassen wird ein wöchentlicher Turnus angestrebt.<br />

Die Ausbildung der Helferinnen soll 40 Unterrichtseinheiten zu je 45' umfassen und danach<br />

eine kontinuierliche Begleitung sichergestellt werden können.<br />

Angestrebt wird von der Bayer. Staatsregierung der Aufbau von gemeinwesenorientierten<br />

gerontopsychiatrischen Verbundsystemen, wie sie bereits in Schwaben oder Würzburg<br />

(HALMA) bestehen.<br />

Die erklärten Ziele dieser Aktivitäten sind:<br />

- der Erhalt der eigenen Häuslichkeit<br />

- ressourcenorientierter Hilfeansatz<br />

- Vollversorgung unter der Prämisse "ambulant vor stationär"<br />

- Vernetzung der Hilfeanbieter<br />

Umsetzung<br />

Der Medizinische Dienst hat in diesem Verfahren im Rahmen der Begutachtung zu bewerten,<br />

ob dauerhafte Auswirkungen auf die Aktivitäten des täglichen Lebens in Form von erheblicher<br />

Einschränkung der Alltagskompetenz vorliegen.


22<br />

Die Begutachtungsrichtlinien sind dahingehend ergänzt worden.<br />

Dabei sollen<br />

� Eigen- und Fremdgefährdung,<br />

� soziales Verhalten,<br />

� Eigenantrieb, Stimmung, Wahrnehmung, Erleben sowie der<br />

� Tag-Nacht-Rhythmus<br />

berücksichtigt werden.<br />

Dies bedeutet <strong>für</strong> den Patienten [oder die Angehörigen], bei der zuständigen <strong>Pflege</strong>kasse im<br />

Rahmen des normalen Antrags- und Einstufungsverfahren die Einschränkung der Alltagskompetenz<br />

feststellen zu lassen. Patienten, die bereits eingestuft sind, können [und müssen]<br />

einen zusätzlichen Antrag stellen. Diese Konstellation wurde <strong>für</strong> die Bearbeitung bisher als<br />

"Altfall" bezeichnet. Diese Regelung wird zum 30.09.2002 auslaufen.<br />

Im Rahmen der regulären Begutachtung wird zunächst ein sogenanntes "Screening" im Bereich<br />

der psychischen Fähigkeitsstörungen durchgeführt, das im Falle von einer Auffälligkeit<br />

durch das eigentliche "Assessment" erweitert wird. Das Assessment enthält 13 Positionen in<br />

zwei unterschiedlich gewichteten Blöcken und ist positiv, wenn wenigstens in zwei unterschiedlichen<br />

Bereichen wenigstens einmal dauerhafte und regelmäßige Schädigungen festgestellt<br />

werden.<br />

Das Gesetz regelt außerdem, dass auf Antrag regelmäßig mit Hilfe dieses Assessmentverfahrens<br />

die Begutachtung im häuslichen Bereich durchgeführt wird. Nur ausnahmsweise und<br />

nur vorübergehend war bei bereits anerkannten <strong>Pflege</strong>bedürftigen, den sog. "Altfällen" eine<br />

Begutachtung nach Aktenlage möglich.<br />

Ausblick und Anstöße<br />

... In diesem Sinne ist die Feststellung im Gesetzesentwurf zu verstehen, dass "bürgerschaftliches<br />

Engagement ... eine unverzichtbare Bedingung <strong>für</strong> den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />

..." ist, eine Aussage, die den Leitgedanken der <strong>Pflege</strong>versicherung zur Verbesserung<br />

der <strong>Pflege</strong>kultur in Deutschland unterstreicht.<br />

Quelle:<br />

<strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz BRi<br />

Fr. M. Weigand, Regierungsrätin, Bayer. Sozialministerium (19.09.02)


23<br />

Maria Weigand, Regierungsrätin im <strong>Bayerisches</strong> <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />

Familie und Frauen<br />

Referat 3<br />

<strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz:<br />

Umsetzung, Förderung, Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen, - niederschwellige<br />

Betreuungsangebote, Modellprojekte<br />

Verfahrensstand<br />

Anfang des Jahres, als das Programm <strong>für</strong> diese Fachtagung aufgestellt wurde, bin ich davon<br />

ausgegangen, dass bis September die zweite Ausführungs-Verordnung zum <strong>Pflege</strong>leistungs-<br />

Ergänzungsgesetz vorliegt und ich Ihnen hier die Inhalte darlegen kann. Da war ich allerdings<br />

etwas zu optimistisch.<br />

Vor dem Erlass der Ausführungs-Verordnung durch die Länder hat der Gesetzgeber die<br />

Empfehlungen der Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen mit dem Verband der privaten Krankenversicherung<br />

e.V. auf Bundesebene gesetzt. Und die befinden sich zur Zeit im Zustimmungsverfahren;<br />

d.h., die Länder und das BMG müssen diesen Empfehlungen zustimmen.<br />

Dann können die Länder auf der Grundlage des PflEG und dieser Empfehlungen die Ausführungs-Verordnung<br />

erlassen. Bayern hat letzte Woche zugestimmt.<br />

Nachdem wir zumindest schon einen Entwurf <strong>für</strong> die Ausführungs-Verordnung auf die Beine<br />

gestellt haben – in den anderen Bundesländern gibt es m.W. noch nicht viel - kann ich Ihnen<br />

schon mal berichten, wohin der Weg wohl gehen wird.<br />

Versorgungsprobleme<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />

so viel zum aktuellen Verfahrensstand - um was geht es aber inhaltlich? Sicher trage ich in<br />

diesem Kreis Eulen nach Athen – aber man kann es einfach nicht oft genug wiederholen: Die<br />

ambulante Versorgung von Personen mit Demenz, psychischen Erkrankungen und geistigen<br />

Behinderungen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf ist nach wie vor unbefriedigend.<br />

Die pflegenden Angehörigen sind ganz besonderen Belastungen ausgesetzt. Neben<br />

den psychischen Belastungen, durch das Erleben und den Umgang mit psychischen Störungen<br />

eines lieben Menschen, dem Partner, der Mutter oder des Vaters, besteht das größte<br />

Problem in der Notwendigkeit, den dementen Menschen ständig zu beaufsichtigen, <strong>für</strong> ihn<br />

jeden Augenblick des Tages zu strukturieren, ihn nie allein lassen zu können. Aufgaben im<br />

Haushalt, Einkauf, Behörden- oder eigene Arztbesuche erfordern so organisatorische<br />

Höchstleistungen.<br />

<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong><br />

Bayern hat neben verschiedenen, leider zum Scheitern verurteilten, Bundesratsinitiativen zur<br />

besseren Berücksichtigung von altersverwirrten Menschen in der <strong>Pflege</strong>versicherung alles<br />

unternommen, um wenigstens im eigenen Land Verbesserungen zu erzielen. So haben wir<br />

1998 mit dem Aufbau von Fachstellen <strong>für</strong> pflegende Angehörige und der Förderung von Angehörigengruppen<br />

begonnen. Nach dem Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist es die Aufgabe<br />

der Angehörigenfachstellen, die <strong>Pflege</strong>bereitschaft und die <strong>Pflege</strong>fähigkeit der pflegenden<br />

Angehörigen zu erhalten. Gerade auch altersverwirrte Menschen haben ein Recht darauf,<br />

solange wie möglich in der eigenen Häuslichkeit zu bleiben.


24<br />

Ich bin sehr stolz, dass es trotz der allgemein knappen Haushaltslage bei Trägern und<br />

Kommunen innerhalb von vier Jahren gelungen ist, 62 Angehörigenfachstellen zu installieren.<br />

Auch wenn wir von unserem Ziel, pro 100.000 Einwohner eine Angehörigenfachkraft,<br />

noch weit entfernt sind, ist dies doch beachtlich. Immerhin haben wir in Mittelfranken und<br />

Schwaben bereits einen Versorgungsgrad von knapp über bzw. unter 50 % erreicht. In den<br />

übrigen Regierungsbezirken liegt der Versorgungsgrad bei ca. 1/3. Geförderte Angehörigengruppen<br />

gibt es in ganz Bayern stolze 87. Hier hinken Niederbayern, Ober- und Unterfranken<br />

der allgemeinen Entwicklung noch etwas hinterher. Betreuungsgruppen, zur stundenweisen<br />

Entlastung der pflegenden Angehörigen, die erstmals in diesem Jahr mit einer<br />

Pauschale von 2.000 € staatlich gefördert werden, gibt es immerhin schon 42. In diesem<br />

Jahr werden da<strong>für</strong> insgesamt, also <strong>für</strong> Angehörigenfachstellen, Angehörigengruppen und<br />

Betreuungsgruppen, rund 1 Mio. € ausgereicht.<br />

Das ist also die Basis, auf der wir aufbauen können.<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />

das <strong>Pflege</strong>leistungs-Ergänzungsgesetz ist sicherlich in vielen Punkten unzureichend, insbesondere<br />

was die von Bayern immer wieder geforderte Verbesserung der Einstufungsmöglichkeiten<br />

bei der <strong>Pflege</strong>versicherung <strong>für</strong> altersverwirrtn Menschen betrifft. Der § 45c SGB XI<br />

greift jedoch die in Bayern erprobten und geförderten Ansätze zur Stärkung der ambulanten<br />

<strong>Pflege</strong> und zur Unterstützung der pflegenden Angehörigen auf.<br />

Der Ansatz ist gut. Ziel des Gesetzes ist es, konzentriert Maßnahmen zur Stärkung der häuslichen<br />

<strong>Pflege</strong> von <strong>Pflege</strong>bedürftigen mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf zu fördern.<br />

Allerdings ist das Gesetz gesetzestechnisch ziemlich unausgegoren und bereitet uns in<br />

der praktischen Umsetzung doch erhebliche Probleme.<br />

Das Gesetz sieht Leistungen sowohl <strong>für</strong> die Seite der Nachfrager, also die Familien, als auch<br />

<strong>für</strong> die Seite der Anbieter, also <strong>für</strong> die Verbesserung der Versorgungsstrukturen vor. Der begünstigte<br />

Personenkreis ist allerdings nicht ganz identisch. Darauf werde ich später noch<br />

näher eingehen.<br />

Zusätzliche Betreuungsleistung 460 €<br />

Auf der einen Seite gewährt die <strong>Pflege</strong>versicherung <strong>für</strong> Personen mit eingeschränkter Alltagskompetenz<br />

pro Jahr zusätzlich 460 €, die zweckgebunden <strong>für</strong> qualitätsgesicherte<br />

Betreuungsleistungen zur Verfügung stehen. Diese Leistung kann seit 01.04.2002 in Anspruch<br />

genommen werden. Es werden Aufwendungen erstattet, die entstehen im Zusammenhang<br />

mit<br />

⇒ Tages- oder Nachtpflege,<br />

⇒ Kurzzeitpflege,<br />

⇒ Leistungen zugelassener <strong>Pflege</strong>dienste <strong>für</strong> besondere Angebote der allgemeinen Anleitung<br />

und Betreuung sowie <strong>für</strong><br />

⇒ anerkannte niedrigschwellige Betreuungsangebote.<br />

Die Ausführungs-Verordnung zum PflEG, die das Anerkennungsverfahren <strong>für</strong> diese niedrigschwelligen<br />

Betreuungsangebote regelt, wurde am 19. März diesen Jahres erlassen und<br />

konnte so rechtzeitig zum 1. April in Kraft treten. Zuständig <strong>für</strong> die Anerkennung ist das Bayerische<br />

Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung in Bayreuth.<br />

Diese zusätzlichen Betreuungsleistungen, also die 460 €, erhalten nur <strong>Pflege</strong>bedürftige der<br />

<strong>Pflege</strong>stufen I, II oder III mit demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, mit geistigen Behinderungen<br />

oder psychischen Erkrankungen, mit einer vom MDK festgestellten erheblichen Einschränkung<br />

der Alltagskompetenz.


Verbesserung der Versorgungsstruktur<br />

25<br />

Der zweite Ansatz des PflEG betrifft die Anbieterseite. Das Angebot an spezifischen Hilfen<br />

soll weiter ausgebaut werden, um damit eine Entlastung der <strong>Pflege</strong>personen zu erreichen.<br />

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Weiterentwicklung von Versorgungsstrukturen<br />

und Versorgungskonzepte gefördert werden.<br />

Die <strong>Pflege</strong>kassen stellen da<strong>für</strong> pro Jahr bundesweit 10 Mio. € zur Verfügung. Diese Mittel<br />

werden nach dem sog. Königsteiner Schlüssel auf die Länder verteilt. Auf den Freistaat Bayern<br />

entfallen danach rund 1,45 Mio. €. Dazu kommen Mittel des Landes oder der Kommunen<br />

in gleicher Höhe. D.h., die Mittel der <strong>Pflege</strong>versicherung kommen nur zur Auszahlung, wenn<br />

vom Land oder den Kommunen Gelder in gleicher Höhe fließen. Im Idealfall stehen so <strong>für</strong><br />

Bayern 2,9 Mio. € zur Verfügung. Die kommunalen Spitzenverbände haben allerdings bereits<br />

signalisiert, dass sich die Kommunen nicht beteiligen werden, so dass die gesamte Förderung<br />

nun auf den Schultern des Staates lastet. Im Entwurf des Staatshaushalts 2003/2004<br />

sind <strong>für</strong> diesen Zweck 500.000 bzw. 1 Mio. € .eingeplant.<br />

Für was können diese Mittel nun verwendet werden?<br />

Erst mal ist damit der Auf- und Ausbau von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten zu fördern.<br />

Dies sind im wesentlichen die Betreuungsgruppen und die ehrenamtlichen Helfer, sog.<br />

Helferkreise zur stundenweisen Entlastung der pflegenden Angehörigen. Evtl. wird auch die<br />

Förderung der Angehörigengruppen in diese neue Förderung nach dem PflEG integriert.<br />

Die im Gesetz genannten Vermittlungsagenturen gibt es in Bayern nicht. Dies wurde uns<br />

auch bei einer Besprechung mit den Verbänden bestätigt. Wenn jemand ein Konzept <strong>für</strong> so<br />

eine Vermittlungsagentur entwickeln würde, wäre es sinnvoll, dies erst mal modellhaft zu<br />

erproben.<br />

Betreuungsgruppen<br />

Die Betreuungsgruppen werden voraussichtlich wie bisher mit einem Pauschalbetrag unterstützt.<br />

Nur wird dieser Zuschuss künftig je zur Hälfte von der <strong>Pflege</strong>versicherung und dem<br />

Freistaat Bayern aufgebracht. Verfahrenstechnisch wird es wohl so laufen, dass das Bayerische<br />

Landesamt <strong>für</strong> Versorgung und Familienförderung –wie bisher- die Anträge prüft, das<br />

Einvernehmen der Arbeitsgemeinschaft der <strong>Pflege</strong>kassenverbände in Bayern einholt und<br />

dann das Bundesversicherungsamt über die Entscheidung informiert. Ob dann das Bundesversicherungsamt<br />

seine Zahlungen direkt an den Träger leistet oder an das Landesamt, das<br />

dann die Auszahlung zusammen vornimmt, muss noch geklärt werden. Ich gehe davon aus,<br />

dass es auch nur einen Verwendungsnachweis geben wird. Das Gleiche gilt natürlich auch<br />

<strong>für</strong> die Förderung der ehrenamtlichen Helfer oder die Angehörigengruppen.<br />

Die Voraussetzungen <strong>für</strong> die Förderung von Betreuungsgruppen werden die gleichen sein,<br />

wie <strong>für</strong> die Anerkennung.<br />

1. Es muss also eine Fachkraft mit psychiatrischer, gerontopsychiatrischer, sozialpädagogischer<br />

oder heilpädagogischer Erfahrung mit der fachlichen Leitung betraut sein (Gedacht<br />

ist hier an Altenpflegerinnen und Altenpfleger, Krankenschwestern und Krankenpfleger,<br />

Heilerziehungspflegerinnen und Heilerziehungspfleger, Heilpädagoginnen und Heilpädagogen,<br />

Dipl. Sozialpädagoginnen und Dipl. Sozialpädagogen oder vergleichbare Qualifikationen<br />

mit mindestens zweijähriger einschlägiger Berufserfahrung).<br />

2. Die Durchführung muss unter Mitwirkung von fachlich geschulten und angeleiteten ehrenamtlichen<br />

Helferinnen und Helfern erfolgen (Dabei bestimmt sich die notwendige Zahl<br />

der ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer nach der Zahl der Betreuten, dem Schweregrad<br />

der Erkrankung der Betreuten und dem notwendigen Betreuungsumfang. Denkbar<br />

ist ein Verhältnis von einem ehrenamtlichen Helfer bzw. einer ehrenamtlichen Helferin <strong>für</strong>


26<br />

drei Hilfebedürftige bis hin zu einem Verhältnis von eins zu eins <strong>für</strong> Hilfebedürftige mit intensivem<br />

Betreuungsbedarf).<br />

3. Durchschnittlich müssen mindestens vier Hilfebedürftige durch die Gruppe betreut werden.<br />

4. Außerdem müssen angemessene räumliche Voraussetzungen <strong>für</strong> die Betreuung gegeben<br />

sein (Es sollte ein möglichst heller, angemessen großer Raum, möglichst mit Teeküche<br />

vorhanden sein).<br />

Im Rahmen der Förderung im Bayerischen <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong> ist ein mindestens 14-tägiges<br />

Angebot Voraussetzung <strong>für</strong> die Förderung. Die Empfehlungen der Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen<br />

zum PflEG sprechen von „anzustreben ist mindestens einmal in der Woche“. Ich<br />

kann mir auch vorstellen, zwei Förderpauschalen <strong>für</strong> ein wöchentliches und ein 14-tägiges<br />

Angebot anzusetzen. Damit würden neue und nur 14-tägige Angebote nicht ganz ausgeschlossen,<br />

aber gleichzeitig ein finanzieller Anreiz <strong>für</strong> ein wöchentliches Angebot geschaffen.<br />

Ehrenamtliche Helfer<br />

Für die Förderung der ehrenamtlichen Helfer ist Voraussetzung, dass sie eine angemessene<br />

fachbezogene Schulung erhalten. Die Schulung muss sich am künftigen Betätigungsfeld orientieren.<br />

In der Regel sind 40 Unterrichtseinheiten á 45 Minuten oder eine gleichwertige<br />

Vorbereitung ausreichend.<br />

Die Förderung der ehrenamtlichen Helferkreise wird sich unterteilen in einen Pauschbetrag<br />

� <strong>für</strong> die kontinuierliche fachliche Begleitung und Vermittlung einschließlich Aufwandsentschädigungen<br />

<strong>für</strong> jeden ehrenamtlichen Helfer und<br />

� <strong>für</strong> die Förderung von Schulungsmaßnahmen.<br />

Hier werden wir uns an den üblichen Förderungen von Fortbildungsmaßnahmen in der Altenhilfe<br />

orientieren. Dort werden, soweit ausreichend Haushaltsmittel zur Verfügung stehen,<br />

45 € je Unterrichtseinheit bei mindestens 8 Teilnehmern gewährt.<br />

Für die Förderung aller niedrigschwelligen Betreuungsangebote ist Voraussetzung, dass<br />

� ein Konzept zur Qualitätssicherung vorgelegt wird,<br />

� ein ausreichender Versicherungsschutz vorliegt und<br />

� ein jährlicher Tätigkeitsbericht vorgelegt wird.<br />

Modelle<br />

Der zweite sehr interessante Ansatz des PflEG auf der Anbieterseite ist die Förderung von<br />

Modellvorhaben zur Erprobung neuer Versorgungskonzepte und Versorgungsstrukturen,<br />

insbesondere <strong>für</strong> demenzkranke <strong>Pflege</strong>bedürftige. Dabei ist an Modellvorhaben im ambulanten<br />

Bereich gedacht. Nur unter dem Aspekt der Vernetzung ist es denkbar, auch stationäre<br />

Angebote einzubeziehen.<br />

Nach den Empfehlungen sollen vor allem Möglichkeiten einer stärker integrativ ausgerichteten<br />

Versorgung <strong>Pflege</strong>bedürftiger ausgeschöpft und in einzelnen Regionen Möglichkeiten<br />

einer wirksamen Vernetzung aller <strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>bedürftigen erforderlichen Hilfen erprobt werden.<br />

Auch hier haben wir bekanntlich schon was vorzuweisen. Ich denke an Halma e.V., ein gerontopsychiatrisches<br />

Verbundnetz in Würzburg, das schon zur festen Einrichtung geworden<br />

ist, und den gerontopsychiatrischen Verbund in Schwaben, der gerade seinen Abschlussbericht<br />

vorgelegt hat. Der Träger ist z.Zt. dabei, die Finanzierung nach der Modellphase sicherzustellen.<br />

Ich bin ganz optimistisch, dass dies zusammen mit den Leistungen des Freistaates


Bayern <strong>für</strong> die Angehörigenarbeit, den Kassen und dem Bezirk Schwaben auch gelingen<br />

wird.<br />

27<br />

Unser Ziel ist es, mit Unterstützung der Mittel aus dem Ausgleichsfond der <strong>Pflege</strong>versicherung<br />

in ganz Bayern <strong>Netzwerk</strong>e im Sinne von gemeinwesenorientierten Verbundsystemen zu<br />

schaffen. Wir können dabei auf den Erfahrungen in Würzburg und Schwaben aufbauen und<br />

sie unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen Gegebenheit nutzen und umsetzen. Es<br />

geht um den Aufbau einer bedarfsgerechten gerontopsychiatrischen Basisversorgung mit<br />

den Zielen<br />

⇒ die eigene Häuslichkeit so lange wie möglich zu erhalten,<br />

⇒ einen personenorientierten Hilfeansatz zu etablieren<br />

⇒ eine Vollversorgung unter der Prämisse ambulant vor stationär sicherzustellen und<br />

⇒ alle Hilfeanbieter zu vernetzen.<br />

Die Angehörigenfachstellen mit den Betreuungsgruppen, den Angehörigengruppen und den<br />

Helferkreisen werden dabei ein ganz wesentliches Element, um nicht zu sagen, das Kernelement<br />

bilden. In dieses <strong>Netzwerk</strong> müssen aber auch die niedergelassene Ärzteschaft, die<br />

Sozialstationen, Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtungen usw. integriert werden. Das hört<br />

sich einfach an. Aber ich denke, es ist einfacher, Gesetze zu erlassen oder Förderprogramme<br />

aufzulegen, als Menschen dazu zu bringen, unter Zurückstellung von Eigeninteressen<br />

zusammenzuarbeiten. Unzureichende Kommunikations- und Kooperationsstrukturen sind<br />

häufig die Ursache, dass trotz größtmöglichen finanziellen und personellen Aufwands ältere<br />

Menschen nicht optimal versorgt werden. Probleme in der berufs- und institutionsübergreifenden<br />

Zusammenarbeit entstehen u.a. als Folge von Machtunterschieden und unausgeglichenen<br />

Abhängigkeitsverhältnissen sowie aufgrund unterschiedlicher Situationswahrnehmungen,<br />

Prioritätensetzungen und Interessen.<br />

Ich möchte an jeden einzelnen von Ihnen appellieren, seinen Beitrag zu leisten, seinen Einfluss<br />

geltend zu machen und so im Rahmen dieser Modellprojekte zum Aufbau von funktionsfähigen<br />

Versorgungsnetzwerken beizutragen.<br />

Vielleicht ist es ein Traum. Aber ich denke, wir hatten noch nie so viele Möglichkeiten, so<br />

gute Rahmenbedingungen wie jetzt, um die Prämisse ambulant vor stationär auch <strong>für</strong> altersverwirrte<br />

Menschen mit Leben zu füllen. Diese Chance müssen wir nutzen!<br />

<strong>Pflege</strong>stufe O<br />

Gestatten Sie mir noch einige ergänzende Anmerkungen:<br />

Im Gegensatz zu den zusätzlichen Betreuungsleistungen nach § 45b PflEG (460 €) können<br />

die geförderten niedrigschwelligen Betreuungsangebote durchaus auch <strong>Pflege</strong>bedürftige der<br />

sog. <strong>Pflege</strong>stufe 0 mit einem erheblichen allgemeinen Betreuungsbedarf betreuen. Der Kostenbeitrag<br />

muss dann privat aufgebracht werden.<br />

Inkrafttreten<br />

Ich gehe davon aus, dass die Ausführungs-Verordnung zur Förderung von niedrigschwelligen<br />

Betreuungsangeboten und Modellprojekten rechtzeitig zum 01.01.2003 in Kraft treten<br />

wird und mit der Förderung begonnen werden kann.<br />

Mittelverteilung<br />

Ich denke, die Frage, wie viele Mittel in die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten<br />

fließen werden und wie viele in die Förderung von Modellprojekten, wird sich wie bei<br />

kommunizierenden Röhren regeln. Jetzt wo noch nicht so viele niedrigschwellige Betreuungsangebote<br />

zur Verfügung stehen, werden mehr Modelle gefördert werden können. Spä-


28<br />

ter, wenn eine flächendeckende Versorgung aufgebaut sein wird, werden alle oder zumindest<br />

die meisten Mittel in die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten fließen.<br />

<strong>Pflege</strong>kurse<br />

Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der zwar nicht das PflEG betrifft, aber <strong>für</strong> die<br />

pflegenden Angehörigen eine große Hilfe darstellt. Ich meine die von den <strong>Pflege</strong>kassen finanzierten<br />

<strong>Pflege</strong>kurse. Wir haben gemeinsam mit dem Institut <strong>für</strong> Gerontologische Forschung<br />

München-Berlin ein neues Handbuch zur Kursgestaltung entwickelt. Dieses Kurskonzept<br />

legt die Grundlage <strong>für</strong> eine stärkere Beachtung des psychosozialen Bereichs, des<br />

richtigen Umgangs mit Dementen. Die Arbeitsgemeinschaft der <strong>Pflege</strong>kassenverbände in<br />

Bayern hat mit Schreiben vom 19.03.01 an die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege<br />

dieses <strong>Pflege</strong>kurskonzept begrüßt und gebeten, bei der Planung und Gestaltung der <strong>Pflege</strong>kurse<br />

darauf zurückzugreifen.<br />

Das Handbuch ist <strong>für</strong> <strong>Pflege</strong>kursleiter kostenlos beim Bayerischen Landesamt <strong>für</strong> Versorgung<br />

und Familienförderung erhältlich (Tel. 089/38604-750). Draußen liegt ein Ansichtsexemplar<br />

und eine Bestellliste.<br />

Staatlich geförderte Kursleiterseminare auf der Basis dieses Kurskonzeptes werden von der<br />

Kath. Akademie Regensburg, dem DBfK München und dem Caritasverband Augsburg angeboten.<br />

Schluss<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />

<strong>für</strong> mich steht der Wunsch der meisten alten Menschen, solange wie möglich in der vertrauten<br />

häuslichen Umgebung zu bleiben, im Vordergrund. Unser Ziel muss es sein, die notwendigen<br />

Rahmenbedingungen zu schaffen, um auch den altersverwirrten Menschen möglichst<br />

lange ein weitgehend selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu ermöglichen. Wenn es<br />

uns gelingt, die ambulanten Strukturen zu verbessern und so den demografisch bedingten<br />

Druck auf die stationären Einrichtungen zu reduzieren, dann wird dies ganz bestimmt<br />

zugleich auch zu einer Verbesserung der Qualität in der stationären Versorgung beitragen.<br />

Es gibt also viele Gründe, die Umsetzung des PflEG beherzt anzupacken.


29<br />

<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />

Ergänzungsgesetz –<br />

Maria Weigand<br />

Umsetzung,<br />

Förderung, Weiterentwicklung der<br />

Versorgungsstrukturen


30<br />

<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />

Ergänzungsgesetz –<br />

� Die ambulante Versorgung von Personen<br />

mit Demenz, psychischen Erkrankungen<br />

und geistigen Behinderungen<br />

mit erheblichem allgemeinen<br />

Betreuungsbedarf ist nach wie vor<br />

unbefriedigend.<br />

� Die pflegenden Angehörigen sind<br />

ganz besonderen Belastungen ausgesetzt.<br />

Maria Weigand


62 Angehörigenfachstellen<br />

Maria Weigand<br />

31<br />

<strong>Bayerisches</strong> <strong>Netzwerk</strong><br />

<strong>Pflege</strong><br />

-Angehörigenarbeit-<br />

87 Angehörigengruppen<br />

42 Betreuungsgruppen


32<br />

<strong>Pflege</strong>leistungs-<br />

Ergänzungsgesetz<br />

� Ziel: Förderung von Maßnahmen zur<br />

Stärkung der häuslichen <strong>Pflege</strong> von <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />

mit erheblichem allgemeinem<br />

Betreuungsbedarf<br />

zusätzliche Betreuungsleistung<br />

460 €<br />

Maria Weigand<br />

Verbesserung der<br />

Versorgungsstrukturen<br />

(1,45 Mio. € <strong>Pflege</strong>versicherung)<br />

niedrigschwellige<br />

Betreuungsangebote<br />

(1,45 Mio. €<br />

Land/Kommunen) <br />

Modellprojekte


Niedrigschwellige Betreuungsangebote<br />

33<br />

� Betreuungsgruppen<br />

� Ehrenamtliche Helferkreise<br />

� Angehörigengruppen<br />

Maria Weigand


Fördervoraussetzungen <strong>für</strong><br />

Betreuungsgruppen<br />

34<br />

� Leitung durch Fachkraft mit psychiatrischer,<br />

gerontopsychiatrischer, sozialpädagogischer<br />

oder heilpädagogischer<br />

Erfahrung<br />

� Fachlich geschulte und angeleitete ehrenamtliche<br />

Helfer<br />

� Durchschnittlich mindestens vier Teilnehmer<br />

� Angemessene räumliche Voraussetzungen<br />

Maria Weigand


Fördervoraussetzungen<br />

<strong>für</strong> ehrenamtliche Helfer<br />

35<br />

� Angemessene fachbezogene<br />

Schulung<br />

(in der Regel: 40 Unterrichtseinheiten<br />

á 45 Minuten)<br />

� Kontinuierliche fachliche Begleitung<br />

und Unterstützung<br />

Maria Weigand


Allgemeine Fördervoraus-<br />

setzungen<br />

� Konzept zur Qualitätssicherung<br />

� Ausreichender Versicherungsschutz<br />

� Jährlicher Tätigkeitsbericht<br />

Maria Weigand<br />

36


Förderung der niedrigschwelligen<br />

Betreuungsangebote<br />

37<br />

Pauschale <strong>für</strong><br />

� Betreuungsgruppe wöchentlich<br />

� Betreuungsgruppe 14-tägig<br />

� Begleitung und Vermittlung einschließlich<br />

Aufwandsentschädigung je ehrenamtlichem<br />

Helfer mit mindestens 35 Einsätzen<br />

� je Unterrichtseinheit <strong>für</strong> die Schulung und<br />

Fortbildung von ehrenamtlichen Helfern<br />

(mindestens 8 Teilnehmer)<br />

� Angehörigengruppen<br />

Maria Weigand


38<br />

Modellvorhaben zur Erprobung<br />

neuer Versorgungskonzepte und<br />

Versorgungsstrukturen, insbesondere<br />

<strong>für</strong> Demenzkranke<br />

� Aufbau von gemeinwesenorientierten<br />

gerontopsychiatrischen Verbundsystemen<br />

� Ziele:<br />

Erhalt der eigenen Häuslichkeit<br />

personenorientierter Hilfeansatz<br />

Vollversorgung unter der Prämisse<br />

ambulant vor stationär<br />

Vernetzung aller Hilfeanbieter<br />

Maria Weigand


39<br />

Dr. med. Lothar Linstedt, Dipl.-Psychologe, Leiter der Sozialpsychiatrie am Gesundheitsamt<br />

der Stadt Augsburg<br />

Referat 4<br />

Wohnungsverwahrlosung<br />

Handlungsentscheidungen zwischen Zwangsunterbringung und<br />

selbstbestimmten Lebensstil<br />

1 Einleitung: Aspektiv- konzentrische Annäherung<br />

Wir nähern uns dem Thema vom Umfeld her: Für ordentliche Hausfrauen sind sie unvorstellbar,<br />

<strong>für</strong> die meisten unbekannt, <strong>für</strong> Polizei und öffentlichen Gesundheitsdienst Alltag: verwahrloste<br />

Wohnungen. Entsetzte Nachbarn und „besorgte“ Vermieter be<strong>für</strong>chten Seuchen<br />

oder Explosionen, schwelgen in Ekelgefühlen oder in Drohungen den Ämtern gegenüber, die<br />

schleunigst geordnete Verhältnisse herbeiführen sollen. Polizeimeldungen mit Fotos versuchen<br />

den ÖGD ebenfalls zu aktivieren.<br />

Vormundschaftsgerichte postulieren arbeitssparend ein Recht auf Verwahrlosung, weil die<br />

Betroffenen dies „so wollen“, es jedoch klugerweise tunlichst vermeiden selbst die Wohnung<br />

zu betreten.<br />

Angehörige versuchen Räumaktionen zwischen Wagemut und Verzweiflung, die wiederholt<br />

werden müssen wie bei Sysiphus.<br />

Ängstliche Betroffene vermeiden schamhaft jeden Kontakt, kündigen Räumaktionen an, machen<br />

sie aber nicht wahr.<br />

All dies sind Aspekte der Wohnungs-Verwahrlosung, die hier zusammenfassend und einführend<br />

dargestellt werden sollen.<br />

2 Definition<br />

Es wird versucht, die bisher beschriebenen Merkmale der Wohnungs-Verwahrlosung zusammenzufassen<br />

und zu systematisieren. Ziel ist jedoch nicht eine Einordnung in die ICD 10<br />

als Krankheitseinheit, sondern eine Differenzierungsmöglichkeit der verschiedenen Arten der<br />

Wohnungs-Verwahrlosungen bei verschiedenen Grunderkrankungen, so dass eine „handlungsrelevante<br />

Diagnose“ im Hinblick auf mögliche Maßnahmen erstellt werden kann.<br />

2.1 Merkmale<br />

Bei Wohnungs-Verwahrlosung handelt es sich nicht um ein eigenständiges Krankheitsbild,<br />

sondern um ein Symptom, das bei verschiedenen Erkrankungen vorkommt und das einen<br />

Zustand des Lebensumfelds, meist der Wohnung, bezeichnet, ...<br />

• der in hohem Maße gesellschaftlich anerkannten Maßstäben nicht mehr entspricht,<br />

• der mit verschiedenen psychischen und/oder körperlichen Erkrankungen verbunden ist,<br />

• der mit der Unfähigkeit oder dem Unwillen verbunden ist, mit eigener Kraft oder eigenem<br />

Willen einen gesellschaftlich tolerierten Zustand der Wohnung oder des Umfelds herbeizuführen,<br />

• der nicht in jedem Fall beseitigt werden muss,<br />

• der häufig verbunden ist mit Nicht-Anerkennung des gesellschaftlich nicht akzeptierten<br />

Zustands der Wohnung und der Verweigerung von Hilfen, aber auch mit Scham und dem<br />

sozialen Rückzug wegen des Zustands.


Merkmale nach WILLIAMS:<br />

40<br />

(Journal of Intellectual Disability Research, 1998: Diogenes` syndrome in patients with intellectual<br />

disability: a rose by any other name? Psychiatry of learning Disability, Thomas Guy<br />

House, Guy`s Hospital London, England)<br />

Diogenes Syndrom bei geistig behinderten Patienten: “Eine Rose unter irgendeinem anderen<br />

Namen?” Dasselbe Ding mit neuem Namen? Neuer Wein in alten Schläuchen? Des Kaisers<br />

neue Kleider?<br />

„Das Diogenes Syndrom ist charakterisiert durch ausgeprägte Selbstvernachlässigung,<br />

häusliches Elend und Verwahrlosung, sozialen Rückzug und Sammeln von Müll<br />

(Syllogomania). Das Syndrom wurde von CLARKE et al. (1975) nach dem griechischen<br />

Philosophen Diogenes benannt, der bekannt war <strong>für</strong> sein Streben nach Unabhängigkeit/Selbständigkeit,<br />

materielle Bindungslosigkeit und seine Missachtung von häuslichem<br />

Komfort und gesellschaftlichen Nettigkeiten. Das Syndrom wird auch als “Syndrom des senilen<br />

Abbaus” (senile breakdown syndrome) bezeichnet (MACMILLAN & SHAW 1996) und<br />

“senile Zurückgezogenheit” (senile recluse) (POST 1982), aber es beschränkt sich nicht nur<br />

auf die ältere Bevölkerung (BERLYNE 1975; VOSTAINS & DEAN 1992; COONEY & HAMID<br />

1995; DRUMMOND et al. 1997).“<br />

2.2 Differenzierungen, Unterscheidungen, Abgrenzungen<br />

2.2.1 Abgrenzung von seelischer Verwahrlosung<br />

Die Wohnungs-Verwahrlosung sollte von der Verwahrlosung im seelischen Sinne (des "Charakters",<br />

„verwahrloste“ Jugendliche) unterschieden werden. Bei der Literatursuche fällt<br />

nämlich auf, dass sich dieser Begriff bisher und meist ausschließlich auf den seelischen Bereich<br />

bezieht. Daher empfiehlt es sich, den Begriff Verwahrlosung möglichst in Verbindung<br />

mit „Wohnungs“-Verwahrlosung zu verwenden. Es wird dadurch auch deutlich gemacht,<br />

dass nicht der betroffene Mensch (seelisch) verwahrlost ist, sondern die Wohnung. Damit<br />

wird auch ein Stück Diskriminierung und Be- oder gar Abwertung verhindert.<br />

KÜNZEL (S. 205) lehnt diesen Begriff gänzlich ab: der Begriff sei nicht nur rechtlich, sondern<br />

auch im Hinblick auf gewandelte gesellschaftliche Vorstellungen über die Selbstbestimmung<br />

der Bürger unangemessen und veraltet. Sie verwendet ihn jedoch nur im Sinne der seelischen<br />

Verwahrlosung, bei ihr wären die Menschen verwahrlost („verwahrlost umschreibt offenbar<br />

eine bestimmte Gruppe von älteren Menschen, die sich in einigen Bereichen ihres<br />

Alltagslebens deutlich unterhalb der in unserer Gesellschaft üblichen Standards bewegen“;<br />

als Titel eines Beitrags von ihr in Sozial extra: „Verwahrloste ältere Menschen“). In der hier<br />

vorliegenden Definition sind schon von der Bezeichnung her nicht die Menschen verwahrlost,<br />

sondern die Wohnung! Außerdem stellt Wohnungs-Verwahrlosung nicht nur auf ältere Menschen<br />

ab, sie kann auch bei jüngeren Menschen vorkommen.<br />

2.2.2 Differenzierung Vermüllungssyndrom nein, Vermüllung ja<br />

Eine weitere Unterscheidung und Differenzierung sollte zum Vermüllungssyndrom getroffen<br />

werden. Dieser seit DETTMERING in der deutschen Literatur verwendete Ausdruck entspricht<br />

dem in der amerikanischen Literatur als Diogenes Syndrom bezeichneten. Dort wird<br />

es auch als extreme self-neglect, senile self-neglect, social breakdown (REIFLER) bezeichnet.<br />

Nach RENELT handelt es sich dabei nicht um ein durch eine Grunderkrankung bedingtes<br />

Verhalten, sondern eine isolierte Störung, die sich nur auf den Zustand der Wohnung bezieht,<br />

was bedeuten würde, es handle sich um eine eigene, neue Krankheit. Da dies wohl ein<br />

bisschen gewagt erscheint, wurde der Begriff der Wohnungs-Verwahrlosung geprägt, die bei<br />

verschiedenen Erkrankungen als Begleitphänomen (Begleitsymptom?) auftritt. Wenn keine<br />

andere Erkrankung zu finden ist, hat man eben nicht genau genug gesucht bzw. es handelt


41<br />

sich um Messies. So entstand auch die weiter unten stehende Aufteilung in die Wohnungs-<br />

Verwahrlosung bei ... : und dann kommen eben die verschiedenen Diagnosen bzw. die fehlende<br />

Diagnose „Wohnungs-Verwahrlosung bei nicht erkennbarer psychischer Erkrankung“.<br />

Im deutschen Sprachgebrauch sollte der Begriff Vermüllungssyndrom nicht mehr verwendet<br />

werden (Vielen Dank <strong>für</strong> den Anstoß, die Sache neu zu überdenken an Fr. Englert aus Neuruppin).<br />

Begründung:<br />

Es handelt sich nämlich a) weder um Müll noch b) um ein Syndrom!<br />

a) Es werden in den Wohnungen oft (auch) andere Dinge als Müll gesammelt. Müll bedeutet<br />

ja Verbrauchtes, Defektes, Überreste, nicht einmal Verpackungen zählen offiziell zum Müll,<br />

sondern wurden zum Wertstoff erklärt. Oft werden neue oder gebrauchte, aber funktionsfähige<br />

Dinge angehäuft, die man eben nicht als Müll bezeichnen kann. Vermüllung als Teilbereich<br />

der Wohnungs-Verwahrlosungen trifft also nur dann zu, wenn tatsächlich Müll gesammelt<br />

wird.<br />

b) Syndrom bedeutet eine Ansammlung von Symptomen, die sich zu einem Krankheitsbild<br />

verdichten (Pschyrembel: Symptomenkomplex; Gruppe von gleichzeitig zusammen auftretenden<br />

Krankheitszeichen). Dies trifft beim Begriff „Vermüllungssyndrom“ jedoch nicht zu.<br />

Falls die Bezeichnung zuträfe, würde die Wohnungs-Verwahrlosung eine eigene Krankheit<br />

(mit ICD Nummer) darstellen und verschiedenste Symptome (welche?) umfassen. Wenn dagegen<br />

die Kombination Wohnungs-Verwahrlosung plus irgendeine Erkrankung ein Syndrom<br />

darstellen soll, ist es ja keine Ansammlung von Krankheitszeichen, sondern eine Ansammlung<br />

einer Erkrankung und eines seltenen Phänomens, nämlich eines beobachtbaren bestimmten<br />

Zustands einer Wohnung. Der Begriff Vermüllungssyndrom stimmt also „hinten und<br />

vorn nicht“.<br />

Lassen wir diesen Begriff also weg.<br />

Kleinlaut muss ich anmerken: Der Haken ist, als Suchstichwort muss man Vermüllungssyndrom<br />

immer noch verwenden, da ja die alte Literatur es so bezeichnet und viele auch<br />

weiter genau damit suchen. Daher kommt das Vermüllungssyndrom im Untertitel dieser<br />

Handreichung dennoch vor.<br />

In älteren Auflagen dieser vorliegenden Handreichung wurde der Begriff Vermüllungssyndrom<br />

noch als Untergruppe der Verwahrlosungssyndrome verwendet und neben das<br />

Sammelsyndrom, die Defizit-Verwahrlosungen und andere gestellt. Er wurde nur <strong>für</strong> die<br />

Wohnungen verwendet, bei denen keine Erkrankung der Bewohner festgestellt werden konnte.<br />

Es war gedacht als Restkategorie, „als das eigentliche Vermüllungssyndrom als Erkrankung<br />

mit den Symptomen verschiedener gesammelter Dinge ohne weitere psychische Erkrankung“.<br />

Nur hier<strong>für</strong> hätte man also eine neue ICD 10 Nummer definieren können.<br />

Aus den obengenannten Gründen muss als Fortsetzung der Denktätigkeit gegenüber den<br />

alten Auflagen der Begriff jedoch völlig abgelehnt werden.<br />

Die Restkategorie der Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung<br />

wird jetzt als solche (nämlich „Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische<br />

Erkrankung“) bezeichnet und nicht mehr als Vermüllungssyndrom.<br />

Wie beim alten Vermüllungssyndrom muss bei der neuen Bezeichnung „Wohnungs-<br />

Verwahrlosung ohne erkennbare Erkrankung“ auch genau unterschieden werden, ob Gegenstände<br />

bzw. in diesem Fall Müll von außen in die Wohnung gebracht wurden („externe<br />

Wohnungs-Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung, Unterkategorie Vermüllung“)<br />

oder ob sich durch (bestimmungsgemäße) Verwendung von Gegenständen des


42<br />

Alltagsgebrauchs (Über-)Reste = Müll angesammelt haben („interne Wohnungs-<br />

Verwahrlosungen ohne erkennbare psychische Erkrankung, Unterkategorie Vermüllung“).<br />

Nur dann, wenn jemand Gegenstände sammelt, die man tatsächlich als Müll bezeichnen<br />

könnte, Speisereste, Verdorbenes, Defektes, Versifftes, kann man von einer Vermüllung<br />

sprechen, auch von einer Wohnungsvermüllung, nicht jedoch von einem Vermüllungssyndrom!<br />

Zusammenfassung:<br />

Vermüllungssyndrom ist out, Vermüllung gibt es weiterhin, auch vermüllte Wohnungen, aber<br />

dann muss es sich auch wirklich um Müll im Sinne von Restmüll handeln.<br />

2.2.3 Wohnungs-Verwahrlosung und Messies<br />

Seit wenigen Jahren (seit Anfang der 80er Jahre in den USA Sandra FELTON) gibt es zusätzlich<br />

in der Laienpresse und mittlerweile auch als Selbsthilfegruppenthema die sogenannten<br />

Messies (40 Gruppen in der BRD mit 3000 Rundbrief-Beziehern). Es handelt sich dabei<br />

um Menschen, die oft noch in ihrem Beruf leistungsfähig sind, deren Wohnung aber so verwahrlost<br />

ist, dass sie z.B. keinen Besuch einladen können. Zitate aus einem Faltblatt einer<br />

Messies-Selbsthilfegruppe im Kasten unten. Wie weit Unterschiede oder Parallelen zum<br />

Wohnungs-Verwahrlosungssyndrom, zum Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (vgl. Artikel in<br />

der MMW) bestehen oder ob es sich nur um eine „Modeerkrankung“ handelt, kann noch<br />

nicht gesagt werden. Immerhin passt es ganz gut in unsere Aufstellung der Wohnungs-<br />

Verwahrlosungssyndrome.<br />

Messies, anonyme Messies, AM<br />

Definition<br />

Messies sind eine Gemeinschaft von Menschen, die mit Unordnung, Desorganisation und<br />

der Anhäufung von nutzlosem Krempel kämpfen. Ihr Ziel ist es, mit Würde und Selbstachtung<br />

zu leben und ihre Lebensaufgabe zu erfüllen<br />

Eigenschaften<br />

Sie räumen Dinge, die sie benutzen, nicht wieder weg, bewahren zu viele Dinge auf und haben<br />

ein schlechtes Zeitgefühl. Ablenkbarkeit, Vergeßlichkeit, Perfektionismus, eingeschränkte<br />

visuelle Orientierung, mangelnde Fähigkeiten Grenzen zu setzen, Wegwerfschwierigkeiten.<br />

Trotz angestrengten Bemühens ist der Haushalt außer Kontrolle, ein Gefühl der Überforderung<br />

besteht.<br />

Geschichte<br />

Seit Anfang der 80 er Jahre in den USA durch Sandra FELTON begründet<br />

Bedeutung<br />

40 Gruppen in der BRD mit 3000 Rundbrief-Beziehern (1999),<br />

beliebt in der Laienpresse und mittlerweile auch in anderen Medien<br />

unterteilt in die...<br />

Horter (heben alles auf - Papierberge, Klamotten, Nippes, Müll)<br />

Zeitmessies (sind chronisch unpünktlich, verwechseln Termine)<br />

Chaosarbeiter (verwüsten das Büro, nehmen zu viele Aufträge an)


43<br />

Auch hier besteht noch Unsicherheit mit der Definition. Die Messies bestehen darauf, nicht<br />

als psychisch krank zu gelten, sondern nur eine isolierte Auffälligkeit, eine auffällige Variante<br />

der Wohnung zu haben. Wie weit hier Neurosen und andere Erkrankungen z.B. das Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom<br />

im Erwachsenenalter zugrunde liegen, ist nur im Einzelfall zu<br />

entscheiden, zumindest sind die Messies eine Sondergruppe, welche die Wohnungs-<br />

Verwahrlosung selbst erkennen und als zu verändernd anerkennen und oft noch arbeitsfähig<br />

sind. Im internen Gebrauch bezeichnen wir alle Menschen in verwahrlosten Wohnungen, die<br />

noch arbeiten, zunächst einmal als Messies, erst wenn zusätzlich z.B. Alkohol hinzukommt,<br />

wird eine Wohnungs-Verwahrlosung bei Alkoholismus daraus.<br />

2.3 Arten: Wohnungs-Verwahrlosung bei ...<br />

Es kann also unterschieden werden:<br />

Wohnungs-Verwahrlosung bei ....<br />

1. Abhängigkeit (Alkohol)<br />

2. seniler Demenz Defizitverwahrlosungen<br />

3. psychosozialer Desintegration<br />

4. Paranoia (Sammelsyndrom)<br />

5. schizophrene Psychose<br />

6. Depression, Manie<br />

7. Neurose<br />

8. Messies-Syndrom<br />

9. nicht erkennbarer / nicht vorhandener psychischer Erkrankung<br />

Bei jeder dieser Formen der Wohnungs-Verwahrlosungen kann die Wohnung vermüllt sein,<br />

meist aber sind es Ansammlungen von Haushaltsgegenständen, Kleidung, Zeitungen etc.<br />

also keine Vermüllungen.<br />

Ob es speziell Formen der Wohnungs-Verwahrlosung bei Borderline-Störungen oder bei<br />

Persönlichkeitsstörungen gibt, mag dahingestellt sein. Am einfachsten wird es sein, die jeweils<br />

bekannt gewordene Wohnungs-Verwahrlosung einer bekannten, schon vorhandener<br />

Diagnose mit ICD 10 Nummer zuzuordnen.<br />

Wir haben damit eine „gemeinsame Endstrecke“ verschiedener psychischer Erkrankungen<br />

vor uns, ein wohl gesellschaftlich bedingtes Symptom als Auswirkung bei gewissen Einschränkungen<br />

des Lebensvollzugs bei psychischen Erkrankungen.<br />

Ziel wäre es, die Wohnungs-Verwahrlosung so unterscheiden zu können, dass die Erkrankung<br />

daraus erkennbar ist: Zeige mir ein Bild der Wohnung und ich sage Dir, woran der darin<br />

lebende Mensch leidet.<br />

Die Zuordnung der vorfindlichen Wohnungs-Verwahrlosung zu den möglichen Diagnosen ist<br />

zwar in der obigen Schematisierung eindeutig, in der Realität aber deswegen schwierig, weil<br />

es Übergänge, Doppeldiagnosen und zeitliche Veränderungen gibt.<br />

Abbildung 1 stellt die zeitliche Entwicklung schematisch dar, es stehen keine empirischen<br />

Daten dahinter.


Ausprägung, Schwere der W-V<br />

44<br />

Abb. 1 Zeitlicher Verlauf der Wohnungs-Verwahrlosung<br />

Protest,<br />

Neurose<br />

Alkohol<br />

psychosoz.Desinte-gration, geistige<br />

Behinderung<br />

Messies<br />

Paranoia<br />

20J 30J 40J 50J 60J 70J 80J<br />

senile Demenz<br />

• Neurose: als Protestreaktion verstanden, blüht sie in jungen Jahren und bessert sich später;<br />

verkehrt sich sogar ins Gegenteil, zwanghaftes Aufräumen.<br />

• Psychosoziale Desintegration: schon immer ein bisschen verwahrlost, steigt der Ausprägungsgrad<br />

der Wohnungs-Verwahrlosung im Leben stetig, aber nur sachte an.<br />

• Messies-Syndrom: In wechselnden Phasen Aufräumversuche aber insgesamt doch Steigerung,<br />

meist ohne stabilen, aufgeräumten Zustand<br />

• Alkoholabhängigkeit: Zunächst nur langsam, dann rasche zunehmende Verwahrlosung<br />

bis zum Zusammenbruch<br />

• Paranoia (Sammelsyndrom): Bei Beginn der Paranoia, des Sammelns rasche Zunahme<br />

bis der Sättigungsgrad der Wohnung erreicht = die Wohnung voll ist. Dann nur noch geringe<br />

weitere Füllung, z.B. in die Höhe oder ausgelagerte Nebenstellen: Garagen, Gartenhäuser.<br />

• Schizophrene Psychose: Bei Beginn der Grunderkrankung rasche Zunahme, dann weitere<br />

Steigerung nur noch langsam.<br />

• Vermüllungssyndrom: stetiges, kontinuierliches weiter vollaufen der Wohnung, egal wie<br />

voll sie bereits ist, bis an die Decke. Keine Außenstellen!<br />

• Senile Demenz: langsamer Anstieg, Nicht-Bemerken und Nicht-Reagieren.<br />

Kompliziert wird es bei Doppeldiagnosen oder Kombinationen. Bei Inkontinenz wird eine senile<br />

Wohnungs-Verwahrlosung sich der eines chronisch mehrfach geschädigten Alkoholabhängigen<br />

nähern. Bei Paranoia, die erst im Alter beginnt, ist zwischen beginnendem hirnorganischem<br />

Psychosyndrom bzw. einer Persönlichkeits-Entdifferenzierung bei seniler Demenz<br />

nur sehr schwer zu unterscheiden und selbstverständlich sehen die Wohnungs-<br />

Verwahrlosungen dann auch sehr ähnlich aus.<br />

Zudem gibt es auch verschiedene Stadien der Verwahrlosung, die sich bei den verschiedenen<br />

Erkrankungen je nach Dauer von der Unordnung im zeitlichen Verlauf über die Verschmutzung<br />

zur malignen Verwahrlosung unter menschenunwürdigen Umständen oder gar<br />

Gefährdung von Leib und Leben entwickeln.<br />

3. Ursachen, Erklärungsansätze<br />

Je nach Art der beteiligten Professionen sind die unten folgenden Erklärungsansätze möglich.<br />

Sie können bei den verschiedenen Formen der Wohnungs-Verwahrlosung oft gleichzeitig<br />

plausibel erscheinen, andere Formen bleiben weiterhin erklärungsbedürftig.


45<br />

3.1 Biologisch, lebenspraktisch, medizinisch<br />

Bei der Überlegung zu den körperlichen Ursachen einer Wohnungs-Verwahrlosung können<br />

diese nur als Kofaktoren angesehen werden. Als Alleinursache ohne anderweitige Defizite<br />

konnten wir sie bisher nicht beobachten. Speziell bei den senilen Demenzen liegen diese<br />

Kofaktoren als Ursache <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung nahe. Wer den Abfall und den<br />

Schmutz nicht mehr sieht und riecht, wird weniger Eigenmotivation verspüren, aufzuräumen<br />

oder zu putzen.<br />

3.1.1 Reduzierte Sehfähigkeit<br />

Wie ein vermehrter Putzdrang von Hausfrauen nach Staroperation bekannt ist, weil sie den<br />

Dreck bzw. Staub wieder sehen, wäre eine reduzierte Sehfähigkeit (grauer Star, Makuladegeneration)<br />

als Ursache der verwahrlosenden Wohnung gut vorstellbar.<br />

3.1.2 Geruchsfähigkeit reduziert<br />

Auch die im Alter sicher verringerte Geruchsfähigkeit konnte als Ursache einer Verwahrlosung<br />

nicht isoliert beobachtet werden. Jemand, der nicht mehr wahrnehmen kann, wie es in<br />

seiner verwahrlosten Wohnung riecht, wird auch weniger Anlass haben, daran etwas zu ändern.<br />

3.1.3 Inkontinenz<br />

Eine Inkontinenz wirkt sich erst recht negativ auf den Zustand der Wohnung aus. Bei Mangel<br />

an Therapie, Windeln oder Krankenpflege kann dies zu unüberseh- und riechbaren Folgen in<br />

einer Wohnung führen. Dies konnte in einigen der Fälle beobachtet werden und führt zum<br />

Rückzug von Hilfspersonen und Hilfseinrichtungen. Hier ist <strong>für</strong> viele die Grenze erreicht: in<br />

den eigenen Exkrementen zu leben, ist nicht menschenwürdig.<br />

3.1.4 Beweglichkeit reduziert<br />

Ähnlich vorstellbar als Ursache der Wohnungs-Verwahrlosung wären die körperlichen Reduzierungen<br />

der Beweglichkeit im Alter oder bei verschiedenen körperlichen Erkrankungen<br />

(Rheuma, degenerative Gelenkserkrankungen), die sich auf die „Aufräumfähigkeit“ oder die<br />

Frequenz der Müllbeseitigung negativ auswirken könnten.<br />

3.1.5 Überforderung (z. B. Herzinsuffizienz)<br />

Rein körperliche Überforderung von der allgemeinen Kraft und Leistungsfähigkeit her ohne<br />

Einschränkungen psychischer Art kommt wohl auch als Ursache der Wohnungs-<br />

Verwahrlosung nicht vor, denn normalerweise werden dann Sozialstationen oder andere Helfer/Hilfseinrichtungen<br />

wie Zivildienstleistende, Verwandte, Nachbarn engagiert.<br />

3.1.6 Depressive Antriebslosigkeit<br />

Eine einfache medizinische Erklärung bietet sich bei der Depression an. Durch das Symptom<br />

der Antriebsschwäche oder –losigkeit verwahrlost auch die Wohnung, vermüllt eventuell sogar.<br />

Bei Besserung der Erkrankung verschwindet das Symptom der Verwahrlosung rasch.<br />

Inwiefern bei senilen Verwahrlosungen auch die senile Pseudodemenz als Teil einer Depression<br />

gesehen werden muss und dann auch die Verwahrlosung aus der Depression und<br />

nicht aus der Senilität stammt, muss diskutiert werden. Hier ist es wohl so, dass nach Besserung<br />

der Depression die Fähigkeiten oft fehlen, die Verwahrlosung zu beseitigen und dann<br />

ist diese erst recht nicht mehr von der Verwahrlosung bei seniler Demenz zu unterscheiden.<br />

3.2 Lerntheoretische Erklärungsansätze<br />

3.2.1 Fehlendes Repertoire, Technik, Fertigkeit, Training<br />

Die lerntheoretische Art der Erklärung der Ursachen <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung lässt<br />

sich am besten auf die soziale Defizitverwahrlosung anwenden. Wenn von Kindheit an und<br />

von den Eltern her schon Repertoire <strong>für</strong> Aufräumverhalten, Techniken und Fertigkeiten der<br />

Beseitigung von Müll fehlen, dann fehlt auch Training.<br />

3.2.2 Psychosozialer Status<br />

Entsprechend dem psychosozialen Status, den Kindheitserfahrungen wird der verwahrloste<br />

Zustand einer Wohnung <strong>für</strong> normal gehalten, aufgeräumte Räume erzeugen ein Fremdheits-


46<br />

oder gar Angstgefühl. Es gibt Menschen, die Bremsspuren innerhalb der Toilettenschüssel<br />

<strong>für</strong> normal halten, da gehören sie ja hin.<br />

3.2.3 Kontinuierliche Attenuation<br />

Zusätzlich, und das gilt auch <strong>für</strong> andere Arten der Wohnungs-Verwahrlosung, tritt eine langsame<br />

Gewöhnung (kontinuierliche Attenuation) ein. Die Verwahrlosung schreitet oft sehr<br />

langsam voran, im Vergleich zu voriger Woche hat sich kaum etwas (zum schlechten) verändert,<br />

es muss daher nichts geschehen, Aufräumen, Entmüllen hat also noch Zeit.<br />

3.2.4 Fehlende Verstärkung <strong>für</strong> Aufräumen<br />

Durch Allein-Wohnen, „es lohnt sich ja nicht aufzuräumen“ fehlt Verstärkung <strong>für</strong> Aufräumen.<br />

3.2.5 Verstärkung durch „noch brauchen“ können<br />

Eine interne Verstärkung in die andere Richtung findet statt durch die Einstellung des „Noch-<br />

Brauchen-Könnens“. Besonders Personen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit scheinen damit<br />

belastet. Wenn dies wirklich ein wichtiger Faktor <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung sein<br />

sollte, müsste im Lauf der nächsten Jahre dieses Sammelsyndrom bzw. das Argument da<strong>für</strong><br />

langsam zurückgehen. Epidemiologisch müsste sich also im Spektrum der Arten der Wohnungs-Verwahrlosungssyndrome<br />

eine Auswirkung zeigen.<br />

3.2.6 Passive Vermeidung<br />

Weitere verhaltenstheoretische Mechanismen <strong>für</strong> die Wohnungs-Verwahrlosung ist die passive<br />

Vermeidung, wie sie bei Alkoholismus bzw. allgemein bei Sucht kennzeichnend ist:<br />

Nächste Woche fange ich an, aufzuräumen.<br />

3.2.7 Kurz-langfristige Problemlösung<br />

Ein Spezialfall der passiven Vermeidung als Hauptbewältigungsmechanismus <strong>für</strong> Probleme<br />

des Lebens ist der Unterschied zwischen kurzfristiger, sofort äußerst mühsamer Problemlösung<br />

und kurzfristiger, angenehmer Belassung des Zustands. Der langfristig angenehme<br />

Zustand kann nicht erreicht werden: jetzt gleich aufräumen ist so mühsam, dass die Aussicht<br />

auf langfristig angenehmen Zustand mich nicht genügend motiviert.<br />

3.2 Analytische Erklärungsansätze<br />

3.3.1 Angst, brauchbar und unbrauchbar nicht (nie) mehr trennen zu können<br />

Nach DETTMERING leiden die vom Vermüllungssyndrom befallenen Patienten an einer Unfähigkeit,<br />

wertvoll und wertlos, brauchbar und unbrauchbar zu trennen (in diesem Punkt unterscheiden<br />

sie sich prinzipiell vom Zwangsneurotiker, der diese Fähigkeit erworben hat, aber<br />

nun in einem vergeblichen Kampf gegen seine aggressiven Impulse steht, vor denen das<br />

„gute“ innere Objekt geschützt werden muss): Bei den Vermüllungspatienten sei das Stadium<br />

der Synthese verfehlt worden: normal wäre die endgültige stabile Objektbeziehung, bei<br />

der das Kind gute und schlechte Gefühle auseinanderhalten und zu synthetisieren lernt.<br />

DETTMERING hat dann zwei Gruppen in seinen Patienten erkannt: ältere jenseits von 50<br />

Jahren, die mit einem Partnerverlust nicht fertig werden und jüngere, die sich zu früh verselbständigt<br />

hatten, etwa aus Protest gegen das Elternhaus. In beiden Fällen könne man<br />

den sich in der Wohnung ausbreitenden Müll als gegenständliche Entsprechung zu der<br />

Trauer- und Trennungsarbeit, die eigentlich geleistet werden müsste, ansehen; nimmt man<br />

ihm nämlich die Arbeit ab (etwa bei der Entrümpelung), gerät er regelmäßig in Angst und<br />

Panik und reagiert, als sei unter dem Müll etwas Wertvolles verborgen, das ihm gewaltsam<br />

weggenommen werden soll. Diese Panik bezöge sich auf die nun gewaltsam zunichte gemachte<br />

Hoffnung, Gutes und Schlechtes – also letztlich auch die mit der Trauer- und Trennungsarbeit<br />

verbundenen guten und schlechten Gefühle - irgendwann noch „sortieren“ zu<br />

können und so zumindest potentiell zu einer inneren Ordnung zu gelangen.<br />

3.3.2 Verlustangst früher Objektrepräsentanzen: Trennung Eltern<br />

Weniger komplex als bei DETTMERING könnte auch einfach argumentiert werden, dass aus<br />

Angst aus dem traumatischen Verlust früher Objekte (Trennung, Tod der Eltern), Gegen-<br />

stände als Ersatz um sich herum festgehalten werden.


47<br />

3.3.3 Regression, anale Phase: nicht hergeben können, Verstopfung<br />

Vorstellbar wäre auch das Beharren in der bzw. Regredieren in die anale Phase: Verstopfen<br />

und nicht hergeben können.<br />

3.3.4 Überreaktion: Inkontinenz<br />

Wobei dann gerade bei Inkontinenz eine (Über-) Reaktionsbildung vorläge.<br />

3.3.5 Protest, neurotische Reaktion<br />

Im Sinne neurotischer Überreaktions- und Protesthaltung gegen das Über ich bzw. die Eltern<br />

wird wohl gerade die periodisch in der Adoleszenz oft beobachtbare (aber nicht im Gesundheitsamt<br />

gemeldete) Wohnungs-Verwahrlosung zu begründen sein.<br />

3.3.6 Angst vor Leere, Einsamkeit<br />

Kompensation der Einsamkeit durch möglichst große Nähe möglichst vieler Ersatzgegenstände<br />

wäre die weiter gedachte allgemeine analytische Begründung <strong>für</strong> viele Fälle der Wohnungs-Verwahrlosung.<br />

4. Maßnahmen: „Behandlungsmöglichkeiten“<br />

Die Versuche, eine Systematik in die Wohnungs-Verwahrlosungen zu bringen, wären rein<br />

akademisch, wenn sich nicht daraus auch handlungsleitende Konsequenzen ergäben. Wenn<br />

man weiß, welche Ursache einer Erkrankung zu Grunde liegt, kann man als Therapie diese<br />

Ursache beseitigen. Selbstverständlich sollte man dies tun, wenn die <strong>für</strong> die Verwahrlosung<br />

ursächliche Erkrankung bekannt ist.<br />

Leider ist es in der Sozialpsychiatrie oft der Fall, dass eine ursächliche Therapie (z.B. bei<br />

fortgeschrittener Alkoholabhängigkeit) aus vielerlei Gründen nicht möglich ist und rein „symptomatische“<br />

Therapien oder Maßnahmen ergriffen werden müssen, die wenigstens die psychosozialen<br />

Folgen der Erkrankung mindern. So kommt es speziell bei den Wohnungs-<br />

Verwahrlosungen vor, dass nur die Verwahrlosung beseitigt werden kann, der Rest des Problems<br />

jedoch bestehen bleibt. Daher sollten die Erfolgskriterien entsprechend formuliert sein:<br />

Es ist ein Erfolg, wenn die Wohnung so weit entmüllt werden kann, dass dem Alkoholiker<br />

nicht gekündigt und er nicht zwangsgeräumt wird, er aber dennoch Alkoholiker bleibt.<br />

Bis die Wohnung wieder „vollgelaufen“ ist, wird aber Zeit gewonnen und das ist oft schon<br />

gewonnene Lebenszeit. Einige Regeln der „Behandlung“ der Wohnungs-Verwahrlosung (ohne<br />

der selbstverständlich notwendigen und soweit möglichen Versuche der Behandlung der<br />

zugrunde liegende Erkrankung) seien hier genannt.<br />

4.1 Handlungsnotwendigkeiten<br />

ergeben sich<br />

• nach subjektiver Betroffenheit des Umfelds, des Helfers, gesellschaftlicher Maßstab<br />

• nach objektivierter Gefährdung der Betroffenen oder des Umfelds<br />

• nach Kriterien der Menschenwürde<br />

• nach Schwere und Behandelbarkeit der Grunderkrankung<br />

• nach den psychosozialen Hilfsmöglichkeiten<br />

• nach der Belastung, der Verweigerung, den finanziellen und Selbsthilfe-/Fremdhilfe-<br />

Möglichkeiten der Betroffenen.<br />

4.2 Beurteilungs-Kriterien <strong>für</strong> Maßnahmen<br />

4.2.1 Eigene Einstellung / subjektiver Maßstab<br />

In der Beurteilung und Beschreibung einer Wohnungs-Verwahrlosung sollte das eigene Milieu,<br />

die eigene Herkunft, die eigene Toleranz bedacht werden. Eine nüchterne Beurteilung


48<br />

mit großzügigem Maßstab muss möglich sein. „Hausfrauenmaßstäbe“ dürfen nicht angelegt<br />

werden. Eher schon die von Junggesellen mit großer Wohnung oder pubertierenden Jugendlichen<br />

in einer Protestphase.<br />

Letztendlich müssen wir aber zugeben, dass die Beurteilung, wann und welche Maßnahme<br />

erfolgen soll, immer nach gesellschaftlichen Maßstäben und nicht rational begründet ist (Die<br />

berühmten Maden vom fremden Balkon). Was besonders den sozialpsychiatrischen Dienst<br />

im öffentlichen Gesundheitswesen anbetrifft, so ist er auch den Nachbarn verpflichtet, die<br />

Maden oder den (vermeintlichen) Geruch ertragen müssen. Allein die Nachforschungen nach<br />

dem Geruch haben dabei oft schon eine deutliche Befriedungsfunktion: es kümmert sich jemand<br />

drum, und schon ist es fast wieder erträglich. Dabei muss bei paranoid-überordentlich<br />

beobachtenden Nachbarn eben etwas gebremst und bei einer ignorant-anonymen Mittelschicht-<br />

Umgebung an die tätige Hilfsbereitschaft appelliert werden.<br />

4.2.2 Objektiver Maßstab<br />

Tatsächliche Bedrohung, Gefahr, echter Gestank (der berühmte Verwesungsgeruch), echte<br />

Brandgefahr sind sehr selten. Eine Veränderung durch welche Maßnahme auch immer, ist<br />

nur dann notwendig, wenn gravierende Folgen zu be<strong>für</strong>chten sind:<br />

• Kündigung mit Vollstreckungsurteil einer Zwangsräumung und Bereitschaft des Vermieters,<br />

die Kosten von mehreren Tausend Euro vorzustrecken<br />

• tatsächliche lebensgefährliche Erkrankung<br />

• Durchbruch (Deckenlastgrenze 1000 Kg/qm bei Beton, 500 kg/qm bei Holzdecken<br />

beachten sowie andere Bauvorschriften, Papier ist bei 1 m Höhe pro Quadratmeter<br />

etwa 800 kg schwer)<br />

• Brand (Kaminkehrer = Schornsteinfeger müssen Zugang haben).<br />

Betreuungen zur Regelung der Wohnungsangelegenheiten sind eher zur Besänftigung der<br />

Vermieter als zur rigorosen Entmüllung nötig. Oft genügt es, die Funktionsräume Küche und<br />

Toilette auszuräumen, der Rest kann (wenigstens in Teilen) bleiben.<br />

4.2.3 Beurteilungskriterien bei Geruch<br />

Oft handelt es sich nur um den „Haut gout“ der Verwahrlosung = den Menschengeruch nach<br />

Schweiß von Leuten, die sich nie waschen, wie Milliarden von Menschen auf der Welt (vgl.<br />

subjektiver Maßstab).<br />

Es gibt nur sehr wenige tatsächlich und unmittelbar zum Erbrechen führende Gerüche, die<br />

meisten Reaktionen sind durch Verspannung, Angst und Einbildung eines neurotisch bedingten<br />

Ekelgefühls bedingt. Entspannung und die Vorstellung, dass der Betroffene offenbar<br />

schon seit Wochen oder Jahren in dieser Wohnung lebt, helfen ungemein. Ungünstig erweisen<br />

sich vor die Nase gehaltene Taschentücher, weil sie die Verspannung und neurotische<br />

Befangenheit verstärken und den Betroffenen das Ekelgefühl und die Abwehr gegen sie<br />

drastisch demonstrieren und eine Zusammenarbeit dann unwahrscheinlich wird. Zur Täuschung<br />

der Nase kann man sich schon vor dem Hausbesuch Eukalyptusöl oder Parfüm etc.<br />

unter die Nase reiben. Die Fenster zu öffnen hilft auch manchmal. Denken sie daran: Auspuffgase<br />

sind lebensgefährlich, Urin und Fäkalgeruch überhaupt nicht!<br />

4.2.4 Beurteilungskriterien bei Brandgefahr<br />

Echte Brandgefahr besteht nicht allein durch die Tatsache der senilen Demenz, sondern erst<br />

wenn diese dazu führt, bei abgestelltem Strom Kerzen anzuzünden, und zwar auf Leuchtern,<br />

die z.B. aus Holz bestehen und somit brennbar sind. Aus Metall?- kein Problem.


49<br />

Checkliste : Brand-, Explosionsgefahr<br />

keine Gewähr <strong>für</strong> Richtigkeit, Vollständigkeit oder Folgen<br />

Es besteht keine Brandgefahr, wenn nur die Be<strong>für</strong>chtung besteht, es könnte jemand etwas<br />

falsch machen! Ohne Fakten keine Aktion!<br />

Testfragen: Je ein Punkt <strong>für</strong> ja<br />

Gas im Haus?<br />

Wie oft schon Platte/Flamme vergessen? Für jedes Mal ein Punkt<br />

Umgang Streichhölzer, Zigaretten, Flamme anzünden, Platten schalten:<br />

gefährlich, behindert, leichtsinnig?<br />

Umgebung Herd brennbar? Verwahrlosung?<br />

Werkzeuggebrauch möglich, Fähigkeiten (Zange? Schlüssel?)<br />

Werkzeug vorhanden (Zange? Schlüssel?)<br />

Kerzen? Agebrannt? (Verstaubte Zierkerzen gelten nicht)<br />

Kerzen angebrannt auf brennbarem Kerzenhalter, Untergrund?<br />

Raucher?<br />

Bettraucher?<br />

Alkoholmissbrauch?<br />

Bettraucher + Alkoholmissbrauch<br />

Brandflecken Boden?<br />

Brandflecken Boden, Boden leicht brennbar (Teppich)?<br />

Brandflecken Tisch?<br />

Brandflecken Tisch, Tisch leicht brennbar (Decke)?<br />

Brandflecken Bett? (drei Punkte)<br />

Fluchtwege verstellt, versperrt?<br />

ja Nein<br />

Ab vier Punkte besteht latente Brandgefahr<br />

Ab acht Punkte akute Brandgefahr<br />

Diese Bewertung erfolgte nach Einschätzung und ist nicht wissenschaftlich validiert.<br />

Angaben ohne Gewähr <strong>für</strong> jegliche Folgen. Die Entscheidung <strong>für</strong> oder gegen Maßnahmen ist<br />

eine persönliche in eigener Verantwortung im konkreten Einzelfall!<br />

Gasexplosion<br />

Ohne Werkzeug kann man keine Gasexplosion herbeiführen.<br />

Alle Gasherde haben eine Zündsicherung, wenn jemand „den Gashahn aufdrehen“ will, ist<br />

genau zu fragen, wie er dies denn tun will. Die Gas-Hähne sind nämlich immer offen, denn<br />

sonst funktioniert kein Herd. Er könnte höchstens meinen, dass er das Gas mit dem Herdschalter<br />

aufdreht, ohne zu zünden. Dann aber strömt das Gas nur kurz aus und das Ventil<br />

schließt sich beim Loslassen des Herdschalters. Um eine Explosion durch das Ausströmen<br />

von Gas zu erzeugen, müsste also erst eine lange Zeit das Gas durch den festgehaltenen<br />

Herdschalter den Raum füllen und dann dürfte erst gezündet werden. Bei moderneren Gasherden<br />

mit elektrischer Zündung ist auch dies nicht möglich, da automatisch alle Sekunden<br />

ein Funke erzeugt wird. Die aktive, gezielte Energie und Initiative sowie das Wissen darum,<br />

mit Gas eine Explosion zu verursachen oder sich zu vergiften, fehlt den Betroffenen meist.<br />

Um Gas aus einem offenen Hahn ohne angeschlossenes Gerät ausströmen zu lassen, benötigt<br />

man eine Wasserpumpenzange oder einen großformatigen Schraubenschlüssel, denn<br />

der Anschluss des Gerätes muss erst einmal abgeschraubt werden.


50<br />

Meist besteht also keine Gefahr. Beträchtliche Gefahr besteht jedoch, wenn eine Drohung<br />

mit diesen technischen Erläuterungen, evtl. auch dem Hinweis auf vorhandenes Werkzeug,<br />

vorliegt.<br />

Gasvergiftung<br />

Beim Suizidversuch durch Hineinstecken des Kopfes ins Backrohr wird der Herdschalter bei<br />

Eintreten der Bewusstlosigkeit bzw. beginnender Eintrübung losgelassen, das Ventil schließt<br />

sich rasch und der Betroffene erwacht wieder. Eine objektive Gefährdung durch Vergiftung<br />

ist also relativ unwahrscheinlich. Wenn jemand nur mit der Absicht, sich zu vergiften mit<br />

Werkzeug den Anschlusshahn öffnet, besteht natürlich auch Explosionsgefahr. Der erste,<br />

der einen elektrischen Schalter betätigt, löst die Explosion dann aus. Erst das Wissen um<br />

technische Vorgänge und das entsprechende Werkzeug machen die Sache also objektiv<br />

gefährlich.<br />

Brandgefahr<br />

Je nach realer Verhaltensweise beim Anzünden und durch die Umgebung des Herds muss<br />

die Brandgefährdung eingeschätzt werden. Es gibt auch noch weitere Kriterien wie die Kombination<br />

des Rauchens mit der Angewohnheit, im Bett zu rauchen. Vgl. Checkliste, wobei<br />

hier betont sei, dass die Punktzahlen nicht empirisch überprüft sind, sondern eine Einschätzung<br />

darstellen. Eine wissenschaftliche Überprüfung wäre wohl nur möglich, wenn man zählen<br />

würde, wie viele Brände tatsächlich ausbrechen und bei welcher Punktzahl dies der Fall<br />

war. Dazu sind die Fallzahlen in Augsburg glücklicherweise zu gering. Für umfangreiche Recherchen<br />

mit Befragungen, wie denn die Wohnung vorher aussah, fehlt die Kapazität. Die<br />

empirische Lage dürfte also auch in Zukunft dünn bleiben.<br />

4.2.5 Beurteilungskriterien bei Krankheitsgefahr, Hygienemängeln<br />

Hier muss zwischen der Krankheitsgefahr a) <strong>für</strong> den Betroffenen und b) die <strong>für</strong> das Umfeld<br />

unterschieden werden.<br />

a) Wir sahen auch bei Madenfällen relativ saubere Ulcera Cruris; mittlerweile werden ja<br />

schon medizinisch Maden zur schonenden Säuberung von Ulcera eingesetzt (Nicht von<br />

uns).<br />

Die Vergiftung durch verdorbene Speisen war auch noch nie zu beobachten. Erstaunlich ist<br />

auch, dass die oft beträchtlichen Schimmelkulturen in allen Farben nicht zu Vergiftungen<br />

führten, d.h. die Betroffenen offenbar regelmäßig tatsächlich die Schimmelkulturen bzw. die<br />

darunter liegenden Speisen, vermieden zu konsumieren (oder vertragen haben).<br />

Das nachherige Händewaschen sowie Gummihandschuhe sind meist nur aus psychologischen<br />

nicht jedoch aus logischen, hygienischen Gründen erforderlich.<br />

Die oft zitierte Lebensgefahr bei verschimmelten Lebensmitteln ist dennoch bei manchen<br />

Gerichten ein Argument, erstaunlicherweise haben wir noch nie Lebensmittelvergiftungen<br />

entdecken können.<br />

Die Betroffenen scheinen also meist nicht gefährdet. Erst, wenn auch von Infektion oder anderweitig<br />

bedingter Eintrübung (isst, trinkt nicht mehr) gesprochen werden kann, wäre Anlass<br />

<strong>für</strong> akutes Eingreifen.<br />

b) Seuchengefahr besteht regelmäßig nicht! Dies würde nämlich bedeuten, dass menschenpathogene<br />

Keime vorhanden sind, also eine Seuche wie Cholera, Amöbenruhr, Salmonellose<br />

zu be<strong>für</strong>chten wäre. Fremde und Besucher sind bei Wohnungs-Verwahrlosung und Bakterien,<br />

Geruch, Schimmel also regelmäßig erst recht nicht objektiv gefährdet.<br />

Vgl. auch die Auszüge zum Infektionsschutzgesetz auf der CD.


51<br />

Wenn man interpretiert, dass „Tatsachen festgestellt wurden, die zum Auftreten einer übertragbaren<br />

Krankheit führen können, oder ist anzunehmen, dass solche Tatsachen vorliegen“,<br />

kann man eingreifen und zumindest recherchieren (§16 InfSchG) und hat damit wohl auch<br />

die Rechtsgrundlage. Für Maßnahmen müssen dann meldepflichtige Erkrankungen konkret<br />

vorliegen (§ 17 InfSchG). Da setzt es dann aus. Ein weiterer Haken ist, dass die Behörde die<br />

Kosten da<strong>für</strong> übernehmen muss und schon bleibt alles beim alten.<br />

Ganz allgemein: Auch wenn hier die Gesetze zitiert werden. Das Bestreben sollte zunächst<br />

immer sein durch alle möglichen, kreativen und kooperativen Maßnahmen zu verhindern,<br />

dass es zur Anwendung von Gesetzen kommt, kommen muss.<br />

4.2.6 Beurteilungskriterien bei Ungeziefer<br />

Das weiter oben zum Geruch und den Ekelgefühlen Gesagte gilt weitgehend auch bei Ungeziefer<br />

in der verwahrlosten Wohnung. Eigene Einstellung, neurotische Haltungen, Herkunft,<br />

Erfahrungen beeinflussen die Reaktionen mehr als die tatsächlich vorhandenen Tierchen.<br />

Etwas wissenschaftliche Neugier und ein kleines Schraubgläschen mit Spiritus sowie eine<br />

Pinzette relativieren vieles. Wie sieht das Vieh aus? Wie viel Beine hat es? Welche Farbe<br />

und Größe? Vielleicht kann man auch eine kleine Sammlung anlegen. Adressen von Desinfektoren<br />

oder Kammerjägern stehen in jedem Telefonbuch, die räuchern die Sache nicht<br />

kostenlos und mit nicht ganz ungiftigen aber wirksamen Mitteln aus. Der Betroffene muss bis<br />

zur Entlüftung in Kurzzeitpflege, Pension, Obdachlosenunterkunft ausgelagert werden. Danach<br />

steht die Entrümpelung (und eigentliche Arbeit) immer noch an.<br />

Bei den Maden oder anderem Ungeziefer ist eine Entrümpelung nur über die Argumentation<br />

zu rechtfertigen, dass dem Betroffenen deswegen gekündigt werden könnte und zur Rettung<br />

der Wohnung (was er auf Grund seiner Erkrankung nicht einsehen kann) muss entsorgt werden.<br />

Eine anderweitige Gefährdung von Leib und Leben kann durch Ungeziefer wohl nicht<br />

ausreichend begründet werden. Übrigens, in der Literaturliste und auf der CD sind zwei Arbeiten<br />

über den medizinischen Einsatz von Maden aufgeführt (RUFLI und<br />

HINTERWIMMER). Die Vorgehensweise nach § 16 und 17 des neuen Infektionsschutzgesetzes<br />

(Text vgl. Anhang auf der CD) sollte einmal versucht werden. Erfahrungen damit bestehen<br />

nicht. Auch hier wird durch die Kosten einiges an Energie gehemmt, dann selbst<br />

wenn durch eine sogenannte Ersatzvornahme entrümpelt wird und die Kosten auf den Betroffenen<br />

umgelegt werden können, kann dieser oft nicht zahlen. Die Kosten bleiben also an<br />

der durchführenden Behörde hängen.<br />

4.3 Menschenwürde als Beurteilungskriterium<br />

Das Ende der Messlatte des subjektiven Maßstabs sollte da liegen, wo die Menschenwürde<br />

beeinträchtigt wird. Und die hört z.B. da auf, wo ein Mensch in den eigenen Exkrementen<br />

(wie ein Tier) lebt. Dabei ist es gleichgültig, ob er inkontinent aus senilen oder alkoholischen<br />

Gründen ist oder nur unfähig, die Toilette zu reinigen oder frei zu räumen. Es muss um der<br />

Menschenwürde willen etwas passieren. Wenn in einem solchen Fall der Betroffene sich<br />

weigern würde, eine Entrümpelung zuzulassen, wäre der Anlass gegeben, beim Vormundschaftsgericht<br />

eine Betreuung anzuregen. Bevor dieser Schritt erwogen wird, ist natürlich<br />

alles andere (ja nach eigener Arbeitskraft und Kreativität) weiter unten aufgeführte zu versuchen.<br />

In solchen Fällen mit der Entscheidungsfreiheit des Menschen zu argumentieren, gelingt<br />

meist nur Menschen, die sich fernab des Problems ohne konkreten Geruch und Wohnungsbesuch<br />

diesen armen Menschen verschließen. Leider ist dies auch die am meisten<br />

kosten- und arbeitssparende Einstellung, so dass oft der Verdacht aufkeimt, die Entscheidungsfreiheit<br />

des Menschen wird auf dem Kostenaltar geopfert.<br />

Neben der Forderung einer artgerechten Tierhaltung sollte es schon etwas Ähnliches <strong>für</strong><br />

Menschen geben: Recht auf menschenwürdige Umgebung und Lebensverhältnisse.


52<br />

5. Art der Maßnahmen<br />

Die immer wieder auftauchende Forderung von Nachbarn oder gar Angehörigen: „Der/Die<br />

muss weg“, legt nahe, dass eine Lösung des Problems der Wohnungs-Verwahrlosung sehr<br />

laienhaft oder wenig wohlwollend angestrebt wird. An „Zwangseinweisung“ ist in den seltensten<br />

Fällen zu denken, nur bei unmittelbarer Lebensgefahr <strong>für</strong> den Betroffenen oder das Umfeld.<br />

Dann steht jedoch nicht die Wohnungsverwahrlosung im Vordergrund, sondern die Erkrankung<br />

des Betroffenen. Selbst in diesem Extremfall muss dies nicht heißen, dass jemand<br />

auf Dauer untergebracht wird. Oft ist höchstens eine Kurzzeitpflege <strong>für</strong> die Dauer der Renovierungsmaßnahmen<br />

nötig, nach Entrümpelung kann der Betroffene wieder zurück.<br />

Eine gewisse Konfliktfähigkeit ist jedoch (auch und gerade im Interesse des Betroffenen)<br />

erforderlich. Leben ist Kampf, lieber täglich Kampf mit dem/des Betroffenen als die Ruhe in<br />

einer Satt- und Sauber-Einrichtung. Wobei nicht gesagt sein soll, dass der Verbleib in einer<br />

verwahrlosten Wohnung immer der bessere Weg ist. Gerade bei Überforderung und Leidensdruck<br />

kann nach Besichtigung einer Einrichtung und Probewohnen und bewusst vollgestelltem<br />

neuem Zimmer durchaus ein befriedigenderer Zustand des Betroffenen hergestellt<br />

werden. Aber das heißt eben: eine gewisse Freiwilligkeit und nicht Zwang.<br />

5.1 Interventionstest, Proberäumen<br />

Für die ersten Versuche der Reaktion auf eine Wohnungs-Verwahrlosung (nicht Therapie<br />

der Grunderkrankung, das ist ein anderes Kapitel und hier nicht Thema) schlagen wir vor,<br />

eine Probe-Intervention zu unternehmen. Dies besteht in einer Probensammlung, einem<br />

Proberäumen und Umfelderfahrungen, die schon beim ersten Hausbesuch unternommen<br />

werden sollen. In Anwesenheit des Betroffenen, nötigenfalls auch erst bei einem zweiten<br />

Hausbesuch, versucht man, durch sofortige Mitnahme der versifftesten oder wertlosesten<br />

Gegenstände die Reaktion auf eine spätere Entrümpelung zu testen. Daher empfiehlt es<br />

sich, stets Schutzhandschuhe und eine Mülltüte neben Eukalyptusöl und einem Spiritusfläschchen<br />

* 1 ) in der Hausbesuchstasche parat zu haben. Die Reaktion der Betroffenen auf<br />

die spontan angebotene Hilfe umfasst dankbare Mithilfe bis zu tätlicher Gegenwehr auch bei<br />

Entfernungsversuchen verfaulter Lebensmittelreste oder 10 Jahre alter Zeitungen. Sie gibt<br />

damit Hinweise auf später folgende Notwendigkeiten bei der Beseitigung der Wohnungs-<br />

Verwahrlosung: Wenn handfeste, tätliche Gegenwehr erfolgt, wird sich eine Betreuung kaum<br />

vermeiden lassen. falls die Entrümpelung tatsächlich unbedingt erforderlich ist. Falls nur Protest<br />

kommt, beobachten, ob der Müll wieder aus der Tonne geholt wird oder es beim Protest<br />

bleibt. Das zur Konfliktfähigkeit oben Gesagte gilt hier besonders.<br />

5.2 Fotografieren<br />

Zur Diagnostik <strong>für</strong> Demonstrations-, Lehr- und Beweiszwecke ist es erforderlich, Fotos zu<br />

machen. Der Betroffene muss zustimmen. Wobei eine Zulas-<br />

sung als Zustimmung zu werten ist. Wer schüchtern fragt, ob<br />

unter Umständen, eventuell und gnädigerweise erlaubt wird,<br />

zu fotografieren, wird natürlich ein nein hören. Wer bestimmt<br />

sagt, dass in diesem Fall Fotos notwendig sind („dann sehen<br />

Sie nachher den Erfolg deutlicher!“), erhöht die Wahrscheinlichkeit<br />

<strong>für</strong> eine (stillschweigende) Zustimmung ungemein.<br />

Auch wenn Fotos erlaubt werden, ist eine zusätzliche schriftliche<br />

Dokumentation mit Beschreibung, ob unaufgeräumt, verschmutzt<br />

etc., vgl. oben, nötig.<br />

Es werden die Funktionsräume sowie ein Probe-Quadratmeter erfasst: also mindestens Toilette,<br />

Bad, Küche (Kochstelle), Schlafstelle und z.B. meist der Wohnzimmertisch (Probequadratmeter).<br />

1 Eukalyptusöl oder Tigerbalsam zum Verreiben unter der Nase, damit man nichts mehr riecht und das Spiritusfläschchen zum<br />

Einsammeln etwaiger Tierchen. Pinzette nicht vergessen.<br />

(Foto-) Checkliste<br />

Wohnungs-Verwahrlosung<br />

• Toilette<br />

• Bad, Wanne, Dusche<br />

• Küche<br />

• Wohnzimmertisch<br />

• Anhäufungen, Beschreibung<br />

von 10 Beispielteilen


53<br />

5.3 Schriftliche Dokumentation<br />

Auch <strong>für</strong> Angehörige und nicht nur <strong>für</strong> helfende Berufe ist es oft erforderlich, die Sachlage zu<br />

beschreiben. Sei es <strong>für</strong> den Vermieter oder das Vormundschaftsgericht oder den zu Hilfe<br />

gerufenen Sozialdienst.<br />

Die schriftliche Festhaltung der Umstände ist oft nur durch direkte Notierung vor Ort möglich.<br />

Die Funktionsräume werden beschrieben. Was sich alles auf dem Wohnzimmertisch bzw. im<br />

Probe-Quadratmeter befindet, ist oft, weil abstrus, nicht mehr erinnerlich. Es genügt dabei,<br />

die ersten besten 10 Gegenstände zu nennen (Verblüffend, dass PASTENACI 2000 S. 103<br />

in einer Beispielbeschreibung auch 10 Dinge aufzählt. Meist aber je nach Raum verschiedene<br />

Anzahlen).<br />

Beispiel:<br />

• Toilette: durch nasse Wäsche auf dem Boden, Badutensilien wie Rasierzeug, Flaschen,<br />

Sprays und mit Durchfallresten verschmutzte Kleidung nicht zugänglich, Wasser läuft<br />

ständig durch defekte Dichtung, Sinkkastenventil daher beim HB (Hausbesuch) zugedreht.<br />

• Bad: zugänglich durch Laufgraben zwischen Badutensilien wie Rasierzeug, Flaschen,<br />

Sprays und mit Durchfallresten verschmutzter Kleidung, noch erkennbarer Boden nässlich,<br />

braun, gelb, klebrig<br />

• Küche: alle Ablagen, der Tisch und die Stühle (bis auf einen) sowie der Boden sind bedeckt<br />

mit zerstreuten Lebensmittelresten, trocken. ~10 angebrochene H-Milchtüten, ~20<br />

Nescafedosen, z.T. auch Tütensuppen. 4 Nudelpakete, ein Korb weiß angeschimmelte<br />

Kartoffeln mit zahlreichen Trieben auf dem Fensterbrett, Herd bedeckt mit verschmutzt<br />

gestapeltem Geschirr und Besteck, bis 40 cm hoch, z.T. noch Wasser- oder Speisereste<br />

darin, kein Schimmel.<br />

• Schlafstelle durch Laufgräben etwa 60 cm breit erreichbar, hochgestellter Kopfkeil, vier<br />

Kopfkissen, Federbett ohne Bezug, braune Bremsspuren auch auf dem Laken und dem<br />

obersten Kopfkissen.<br />

• Probequadratmeter: Wohnzimmertisch nicht mehr unter einem Berg erkennbar: Oberfläche<br />

gebildet durch (mindestens 10 Gegenstände) Telefonbuch, Feuerzeug, Flasche Orangensaft(halb<br />

voll), Papiertüte mit halbem Hähnchen (grün verschimmelt),Gangstock,<br />

Fernsehzeitschrift, Flasche mit Ohrentropfen, Fernbedienung, Plastiktüte mit Feuerzeug,<br />

Zigaretten, Kamm, Tempotaschentüchern, Aschenbecher, ...<br />

Häufige Fehler beim Beschreiben sind unnötige Adjektive, Adverbien und abstrakte Beurteilung.<br />

Beispiele: Unmenge, zahlreich, intensiv, überall Nescafedosen, unerträglicher furchtbarer<br />

Gestank, starke Verschimmelung, völlig verwahrlost.<br />

Häufig wird auch von Kot gesprochen. Kot stammt jedoch von Tieren, bei Menschen heißt es<br />

Stuhlgang oder Exkremente. Der letztere Begriff hat auch den Vorteil, dass er gleichzeitig die<br />

flüssige und die feste Form bezeichnen kann.<br />

Besser (als mit drastisierenden Adjektiven) arbeitet man mit konkreter Beschreibung: nach<br />

überreifem Obst riechend, sattgrün-wolkiger Schimmel und mit Zählung: 46 Nescafedosen<br />

auf Fensterbrettern und der Küchenablage.<br />

5.4 Entrümpeln<br />

Manchmal hat man schneller und einfacher selbst entrümpelt als bis man eine Firma und<br />

vieles andere organisieren kann. Es kommt auch auf den persönlichen Stil an. Mit übergroßen<br />

Haushaltshandschuhen, (Gummi)Stiefeln, Overall, zahlreichen Müllsäcken, einer Unmenge<br />

Reinigungsmitteln, Bürsten, viel Wasser und einem Werkstatt-Staubsauger sowie<br />

einem bestellten Müllcontainer schafft man einiges weg. Auch hier: Eine Unterschrift <strong>für</strong> die<br />

Beauftragung der Aktion ist sehr hilfreich. Kosten nur <strong>für</strong> Material erheben. Wer Honorar ver-


54<br />

langt, kommt in des Teufels Küche sprich: gerät wegen Bereicherungsvorwürfen leicht in die<br />

Verwaltungsmühle. Dann lieber eine Firma beauftragen. Aber wie gesagt, nicht alle Menschen<br />

sind zum Entmüllen geboren.<br />

5.5 Organisation von Entrümpelungs- und Reinigungshilfen<br />

Als Hilfspersonen oder Durchführende sind Verwandte der Betroffenen ideal. Finanzielle Hilfen<br />

vom Sozialamt (Hilfe in besonderen Lebenslagen) sind möglich. Insbesondere, wenn<br />

auch eine Erkrankung vom Gesundheitsamt ärztlich bescheinigt wird. Adressen der Entrümpelungsfirmen<br />

(nicht ganz billig) stehen im Telefonbuch. Oft gibt es Arbeitsprojekte oder<br />

Kleinstfirmen (in den Kleinanzeigen, nicht ganz so teuer) <strong>für</strong> besonders harte Fälle. Vorbesprechungen<br />

über Termin und Hinweise auf den Umgang mit dem Betroffenen, sofern dieser<br />

nicht ausgelagert wird, sind erforderlich, evtl. muss jemand bei den Aktionen dabei sein<br />

(Geld versteckt? Wertvolle Möbel, Bilder vorhanden?). Eine konkrete Finanzierung muss<br />

vorher klar sein, Kostenvoranschlag (schriftlich, drei Firmen) <strong>für</strong> das Sozialamt ist nötig. Bei<br />

Möglichkeit der Selbstzahlung Vorauskasse bzw. unterschriebener Auftrag nötig: „Hiermit<br />

kann die Firma Saubermann und Söhne von meinem VIP-Konto 123456 bei der Fürst Fugger<br />

Bank die Summe von 1700.- € <strong>für</strong> die Entrümpelung der 2-Zimmerwohnung abbuchen.<br />

Unterschrift, Datum.“<br />

5.6 Hilfs-Dauer-Dienste organisieren<br />

Das große Wehklagen setzt ein, wenn die Wohnung rasch wieder vollläuft. Daher ist von Anfang<br />

an die Möglichkeit einer resoluten Putzfrau oder ähnlichem zu prüfen. Bezahlung, Einweisung,<br />

Einführung, Gewöhnung, Training, gute Bezahlung mit Ekel- und Resolutheitszuschlag<br />

und die Möglichkeit der Rückfragen bei schwierigen Situationen sind zu bieten.<br />

Man kann auch halbjährliche Wiederholungsaktionen akzeptieren.<br />

5.7 Gesprächsführung<br />

Bei der persönlichen Begegnung mit den Menschen, deren Wohnung verwahrlost ist, muss<br />

deren Scham und Angst vor dem „Urteil“ der Umgebung berücksichtigt werden. Die menschliche<br />

Begegnung, Achtung und Rücksicht wird jedoch nicht dadurch spürbar, dass man so<br />

viel Mitgefühl zeigt, dass die Verwahrlosung nicht angesprochen wird. Noch schlechter wäre<br />

der zwar höfliche Umgang mit den Betroffenen, jedoch aus Ekelgefühlen kurzen Besuchen<br />

und aus Sensationslust herumposaunte Einzelheiten, wie schlimm es doch mit dieser Wohnung<br />

stünde. Der sachliche Umgang mit dem Problem, der Tatsache, dass es so nicht weiter<br />

gehen kann und auch die Mitteilung dieser Tatsache ist erforderlich. Eine eingehende Therapie<br />

oder Beratung mit Förderung der Selbständigkeit und Eingehen auf die Probleme der<br />

Betroffenen ist oft erst nach der Entrümpelung möglich, vorher will gar niemand in die Wohnung<br />

hinein, schon gar nicht diejenigen, die vornehm und humanistisch orientiert von Akzeptanz<br />

und Achtung der Würde und Integrität des Betroffenen und ihrem „selbstgewählten Lebensstil“<br />

reden. Das ganze kann anders beurteilt werden, wenn die Betroffenen in der Lage<br />

sind, Gesprächstermine in der Einrichtung, im Amt wahrzunehmen. Falls der mitgebrachte<br />

Geruch nicht allzu viele (neurotisch bedingte) Ekelgefühle beim Berater auslöst, kann hier<br />

tatsächlich der Versuch mit langfristiger Motivation und Akzeptanz und Eigeninitiative des<br />

Betroffenen gemacht werden, sofern der Vermieter und das Gericht mit der Räumungsklage<br />

nicht schneller sind oder andere Gründe zu schnellerem Handeln zwingen.<br />

Beispiele und Handlungsanweisungen <strong>für</strong> die beraterische, therapeutische, individuelle,<br />

sozialpädagogische, psychologische Gesprächsführung sind und können nicht<br />

Anliegen dieser Handreichung sein. Daher hier nur einige Textbeispiele, die sich direkt<br />

auf die Verwahrlosung beziehen.<br />

„Nicht gerade sehr sauber bei Ihnen. Wie würden Sie denn selbst den Zustand der Wohnung<br />

bezeichnen? Wenn Sie sich genieren, dass ihre Wohnung nicht geknipst werden darf, können<br />

wir Ihnen helfen. Helfen bei der Reinigung. Es ist aber nicht ganz einfach jemanden zu<br />

finden. Ob das überhaupt geht? Wir wissen da eine billige Firma, die kostet nur etwa 1700.-


55<br />

€ <strong>für</strong> Ihre ganze, schöne große 2-Zimmer-Wohnung. Es wird wieder ganz schön und hell in<br />

Ihrer Wohnung, da können wir Sie öfter (oder je nach Wunsch des Betroffenen: da brauchen<br />

wir sie nie mehr) besuchen. Es hilft ihnen doch, wenn sie in der Wohnung bleiben dürfen,<br />

weil sie eine Entrümpelung zulassen.“<br />

Irgendwelche Versprechungen, nächste Woche, übermorgen oder bald werde aufgeräumt,<br />

sind Schall und Rauch. Sie werden nur scheinbar beachtet, damit man Argumente hat:<br />

„Sie haben es mir schon drei mal in den letzten Monaten versprochen, nächste Woche aufzuräumen.<br />

Jetzt haben sie mein Vertrauen missbraucht. Sie haben Ihr Versprechen gebrochen.<br />

Sie können mein Vertrauen nur wieder gewinnen, wenn sie die Firma Saubermann<br />

und Söhne aufräumen lassen und so lange in der Sammelunterkunft wohnen. Ich habe mein<br />

Versprechen gehalten, dass ich jede Woche nachschaue, ob sie aufgeräumt haben. Wie lautet<br />

Ihre Kontonummer? Wenn sie hier mal den Auftrag <strong>für</strong> die Firma Saubermann und Söhne<br />

unterschreiben. Nur € 1700 <strong>für</strong> ihre große 2-Zimmerwohnung.“<br />

5.8 Reihenfolge der Maßnahmen<br />

5.8.1 Kontaktaufnahme<br />

• Einladung, mehrfache Einladung, anrufen<br />

• Schriftliche Ankündigung Hausbesuch<br />

• Telefonische Ankündigung Hausbesuch<br />

• unangemeldeter Hausbesuch<br />

• unangemeldeter Hausbesuch zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen<br />

Wochentagen mit Tesafilmkontrolle* 2<br />

• Klingeln, Klopfen, auch Nachbarn fragen, befrieden, Verständnis <strong>für</strong> beide Seiten<br />

zeigen.<br />

5.8.2 Motivationsphase<br />

Vgl. Ausführungen oben zu :<br />

• regelmäßige Kontakte, Gesprächsführung<br />

• Proberäumen<br />

• Vereinbarungen zu Fristen und Zeiten, Auslagerungsmöglichkeiten, Finanzierung,<br />

Firma<br />

• nötigenfalls Betreuung nach Betreuungsgesetz anregen.<br />

5.8.3 Entscheidungsphase<br />

• Welche Maßnahmen werden warum (nicht) ergriffen?<br />

• Welche<br />

- Kriterien<br />

- Indikationen<br />

- Interessenlagen<br />

- Einstellungen<br />

- Maßstäbe<br />

liegen vor?<br />

Wer wird durchführen (Helferkonferenz, Planung: Kosten, gesetzliche Grundlage)?<br />

In welcher Reihenfolge (Zeitplan, auch langfristig, resolute Putzfrau, Nachsorge, regelmäßige<br />

Räumung, Kontrollbesuche)?<br />

2 Ein Streifen Tesa unauffällig! an einer Ecke der Wohnungstür zum Rahmen oder zur Schwelle geklebt,<br />

verrät beim nächsten Hausbesuch, ob die Wohnungstür geöffnet wurde.


56<br />

5.8.4 Aktionsphase<br />

• Ohne oder mit Betreuung nach Betreuungsgesetz<br />

• durch Betreuer, SPD, Helfer, Verwandte oder Firma<br />

• Auslagerung des Betroffenen oder je nach dem:<br />

• Gemeinsames Räumen, mithelfen<br />

• Kontrolle der Firma, der Helfer, der Verwandten<br />

• Sicherung von Akten, Papieren, Antiquitäten, Finanzen.<br />

5.8.5 Konsolidierungsphase<br />

• Vollräumen mit Leerkartons<br />

• resolute Putzfrau engagieren<br />

• dauerhafte Finanzierung (Dauerauftrag) sichern<br />

• Zugang sichern<br />

• regelmäßige Kontrollen (Kaffeetrink-Besuche) vereinbaren<br />

• halbjährliche Wiederholungen fest einplanen<br />

• über den Verlust trösten.<br />

5.9 Maßnahmen und Fehler<br />

Maßnahme Kriterium, warum ergriffen Durchführungstipps häufige Fehler<br />

Meldung<br />

akzeptieren<br />

Hausbesuch <br />

ProbepackenEntscheidungsuchen<br />

cave Erbschleicher, Eigentümer,<br />

paranoide<br />

Nachbarn<br />

an-, unangemeldet<br />

Zeitvorgaben, Vertrauensbildende<br />

Maßnahmen,<br />

Schuldgefühle durch nicht<br />

gehaltene Versprechen,<br />

aufzuräumen<br />

Verweigerung? Gegen-<br />

wehr zu be<strong>für</strong>chten?<br />

Eigene Maßstäbe, die der<br />

Nachbarn, des Eigentümers,<br />

des Betroffenen<br />

Planung Helferkonferenz, Konsens,<br />

bewusst gegen Willen?<br />

Betreuung<br />

nach<br />

Betreu-<br />

ungsgesetz<br />

Räumung,<br />

Entrümpelung<br />

Voraussetzungen § 1841<br />

BGB<br />

keine andere Möglichkeit<br />

zulässig, erträglich, akzeptabel<br />

ignorieren, auf Schriftlichkeit<br />

bestehen, weiterverweisen,<br />

auf rechtliche<br />

Folgen hinweisen<br />

feste Schuhe, Handschuhe,<br />

Fenster auf, Umhängetasche,<br />

Zitronenöl unter<br />

die Nase, Fotos Funktionsräume<br />

Mülltüten, Handschuhe<br />

dabei<br />

Gefährdung,Hilfe abfragen<br />

kein eigenes Bild<br />

gemacht<br />

wegen Ekel, Abwehr<br />

nicht genau<br />

und liebevoll beobachtet<br />

konfliktscheu<br />

nur reden, nicht<br />

handeln (Briefe<br />

schreiben ist han-<br />

deln)<br />

schriftlicher Plan Widerstände nicht<br />

eingerechnet,<br />

Grunderkrankung<br />

Voraussetzungen konkret<br />

und einzeln darstellen:<br />

psychisch krank, kann xy<br />

nicht besorgen<br />

Firmenliste, schriftliche<br />

Kostenklärung, Anwesenheit<br />

bei Räumung,<br />

Unterschrift erlangen<br />

gerät in Hintergrund<br />

weiche Fakten, Angebot,<br />

das man ablehnen<br />

kann<br />

alles leer räumen,<br />

verkahlen, zu viel<br />

räumen


57<br />

5.10 Maßnahmeprinzipien: Bei welcher Störung welcher Weg?<br />

5.10.1 Strategien bei verschiedenen Diagnosen<br />

Alkoholabhängigkeit Passive Vermeidung und Konfliktunfähigkeit ausnutzen,<br />

Primärerkrankung angehen<br />

senile Demenz Schwerpunkt Hilfspersonen, da Überforderung, äußeres Re-<br />

servat der inneren Unordnung sichern<br />

psychosoziale Desintegrati- Training, Kontrollen, gemeinsames Räumen, Belohnung, Sozionotherapie,<br />

Krisenintervention, lebenslange Begleitung<br />

Paranoia (Sammelsyndrom) lange Dauer bis zum Vertrauen und zur Motivation<br />

Kontaktmangelparanoid? Regelmäßige weitere Kontakte nötig<br />

schizophrene Psychose Falls kein Kontakt möglich, Betreuung anregen, Primärerkrankung<br />

angehen, cave Schadensersatzforderungen, Querulantenwahn<br />

Neurose, Messies-Syndrom Training, Konfrontation mit Folgen des Verhaltens,<br />

Depression, Wohnungs-<br />

Verwahrlosung ohne erkennbare<br />

Erkrankung, (Diogenes<br />

Syndrom),<br />

Lernerfahrungen ermöglichen, Primärerkrankung angehen<br />

Nach Entrümpelung kann Nachbetreuung eventuell wegfallen,<br />

Hilfe zur Selbsthilfe,<br />

5.10.2 Vertrauen, Kontakt, Gewöhnung, prozesshaftes Vorgehen<br />

Bei der Kontaktaufnahme stößt man zunächst auf Ablehnung. Regelmäßigkeit und Beharrlichkeit<br />

ist nötig, die Normalität sollte betont werden: ich komme nächste Woche wieder, vielleicht<br />

ist es dann besser. Auch dann, wenn man weiß, dass natürlich nächste Woche nichts<br />

besser sein wird. Die persönliche Autonomie und Integration der Betroffenen sollte so weit<br />

möglich geachtet werden, Partizipation hilft langfristig besser als kurze Gewaltaktionen.<br />

Frustrationstoleranz muss selbstverständlich sein, denn die Wohnungs-Verwahrlosung<br />

kommt meist wieder, es sei denn, es finden gravierende Ortswechsel statt. Selbst während<br />

stationären Aufenthalten wurden schon neue Sammlungen entdeckt.<br />

5.10.3 Hilfe, Finanzen, Initiative<br />

Ist man so weit, dass die Wohnung besichtigt werden kann, dann ist ein Probesammeln nötig<br />

und gemeinsame Aktivität falls möglich. Müllsäcke mitbringen, oft ist deren Fehlen schon das<br />

erste Hindernis <strong>für</strong> Betroffene. Eine kontinuierliche Füllung der Tonnen oder Abtransport im<br />

Dunkeln oder auch ansonsten unauffällig ist anzustreben. Kostenvoranschläge, Anträge zur<br />

Unterstützung („Kartei der Not“, Stiftungen) müssen gestellt werden.<br />

5.10.4 Druck, Drohung, Probeaktionen<br />

Bei echter Brandgefahr (Papierhaufen neben dem Gasherd, Rauchen im Bett im betrunkenen<br />

Zustand mit Brandflecken im Bett, vgl. Checkliste Brandgefahr), bei schon erfolgten Beschlüssen<br />

des Gerichts zur Zwangsräumung, bei schweren körperlichen Erkrankungen muss<br />

auch gegen den Willen der Betroffenen vorgegangen werden. Die jeweiligen Unterbringungsgesetze<br />

der Länder und das Betreuungsrecht bieten dazu die Möglichkeit. Darauf einzugehen<br />

geht jedoch über den Rahmen dieser Handreichung hinaus. Wer denkt aber dann<br />

schon an die Betreuung und das Auffangen nach der Entrümpelung? Noch nie gelungen ist<br />

uns die Möglichkeit des Vollstellens mit Leer-Kartons, so dass der volle Eindruck bleibt, jedoch<br />

ohne die Gefährdung durch umstürzende Stapel, verderbende Fleisch- oder Gemüsevorräte.<br />

5.10.5 Wenn nichts mehr geht<br />

Wenn Vormundschaftsgericht oder Rechtsanwälte einen Strich durch die Rechnung bzw. die<br />

Bemühungen um Entrümpelung machen:


58<br />

- Regelmäßige Berichte und Weiterleitungen neuer Beschwerden und Meldungen an<br />

die blockierenden Stellen<br />

- direkter Verweis der Beschwerdeführer an die blockierende Einrichtung<br />

- Überprüfen, ob es Möglichkeiten nach<br />

• Tierschutzgesetz<br />

• Bauvorschriften<br />

• Abfallgesetz<br />

• Infektionsschutzgesetz<br />

• Strafgesetzbuch (Aussetzen einer hilflosen Person § 223 StGB)<br />

(vgl. CD, beim Verfasser <strong>für</strong> 10 Euro zu bestellen) gibt.<br />

Gesteigerte Möglichkeiten sind, das ... :<br />

... Zusenden von Geruchsproben (oder zunächst die Drohung damit),<br />

… Zusenden von Zeitungsberichten mit fatalem Ausgang ähnlicher Fälle (verbrannt,<br />

verhungert, bestohlen, beraubt) oder die<br />

... Drohung mit direktem Herangehen an die Öffentlichkeit.<br />

Wenn nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten gar nichts mehr geht, bleibt nur noch das letzte<br />

Kapitel:<br />

5.10.6 Toleranz, Laissez-faire, gute Nerven<br />

Für die meisten von uns kostet eine rasche, entschlossene und gründliche Entrümpelung<br />

weniger Nervenkraft als die Frage, die gestellt werden muss (und oft viel Arbeit erspart): Was<br />

passiert, wenn nichts passiert? Mit Toleranz und Gewähren lassen, kann so manches Problem<br />

auch gelöst werden. Ansonsten wünschen wir uns doch genau dies. Die Entscheidung<br />

<strong>für</strong> das bewusste und verantwortete Nichts-Tun muss selbstverständlich begründet werden.<br />

Wenn niemand gefährdet, keine Geruchsbelästigung vorhanden und Be<strong>für</strong>chtungen vor Maden,<br />

die durch die Steckdose kommen unbegründet sind und keine menschenunwürdigen<br />

Umstände vorliegen – warum soll man dann räumen (lassen)?<br />

Keine Hilfe <strong>für</strong> unsere Patienten stellt es jedoch dar, wenn sie durch ignorante Toleranz (wie<br />

sie oft von Gerichten mit dem Hinweis auf „Freiwilligkeit“ und „Entfaltung der Persönlichkeit“<br />

bewiesen wird) obdachlos werden. Die Alternativen zwischen „gewähren lassen“ und „vor<br />

Obdachlosigkeit bewahren“, muss stets gegeneinander abgewogen werden. Ein Mittelweg ist<br />

gegeben durch minimal invasive Intervention (beim Entrümpeln) bei maximal extensiver<br />

Befriedungsfunktion (z.B. mit den Nachbarn oder dem Vermieter).<br />

Es gibt also zwei Möglichkeiten, dass nichts getan wird:<br />

a) alle Möglichkeiten ausgeschöpft aber erfolglos, verweigert, juristisch ausgebremst<br />

b) bewusste Entscheidung, dass nicht notwendig.<br />

Wenn nach Ausschöpfen aller oben genannter Möglichkeiten alles beim Alten bleibt und keine<br />

Möglichkeit / Notwendigkeit <strong>für</strong> eine Intervention besteht, so bedeutet dies keine Niederlage,<br />

sondern ist als nicht zu ändernde Realität zu betrachten. Und Sie haben die Befriedigung<br />

und die Sicherheit, dass Sie nicht hilflos vor einem Problem gestanden sind, sondern<br />

eine Wohnungs-Verwahrlosung nach den „Regeln der Kunst“ und nach dem derzeitigen wissenschaftlichen<br />

Standard behandelt haben.<br />

6. Anhang<br />

6.1 Internetadressen<br />

Info: (verwahrlosungsspezifisch, übernommen von Fr. Prof. KÜNZEL-SCHÖN)<br />

http://www.femmessies.de<br />

(Förderverein zur Erforschung des Messie - Syndroms FEM<br />

Tegerstr. 5, 32 825 Blomberg, Tel 05236 888 795, email femmessies@t-online.de


http://members.aol.com/amessie/welcome.htm<br />

anonyme messies Berlin<br />

http://www.messies.com/aboutus.html<br />

Sandra Felton`s Messies Anonymous<br />

59<br />

6.2 Literaturhinweis<br />

Beim Verfasser:<br />

Bestellung per fax, Lieferung zwei Seiten per fax.<br />

Bestellung dieser Handreichung in EDV Form auf einer CD mit Dateien im rtf und pdf Format<br />

mit Bildern, Folien und Literatursammlung z.T. mit gescannten Artikeln bei:<br />

Gesundheitsamt der Stadt Augsburg<br />

Abt. IV Sozialpsychiatrie<br />

Dr. Lothar Lindstedt<br />

Karmelitengasse 11<br />

86 152 Augsburg<br />

Am einfachsten per fax 0821 324 2018 bestellen.<br />

10.- € einschl. Porto. Lieferzeit drei Wochen.<br />

Die Druckversion kann nicht bestellt werden, da sehr aufwendig und teuer. Bitte benötigte<br />

Teile selbst drucken.


H.D. Mückschel, Dipl. Sozialpädagoge/FH und<br />

Konstanze Pilgrim, Dipl. Sozial-pädagogin/FH, Angehörigenberatung Nürnberg e.V.<br />

60<br />

Workshop 1<br />

Begleitung von Angehörigen bei der Begutachtung durch den MDK bzw. beim Widerspruch<br />

gegen ablehnende Bescheide der <strong>Pflege</strong>kasse<br />

Im Workshop wurde an beiden Tagen zu Beginn folgende Frage gestellt:<br />

Wo haben die Workshop-Teilnehmer und Teilnehmerinnen Kontakt mit dem Medizinischen<br />

Dienst der Krankenkassen, bei welchen Gelegenheiten unterstützen sie Klienten und Klientinnen,<br />

damit diese Leistungen der <strong>Pflege</strong>versicherung erhalten?<br />

Es zeigte sich, dass alle Teilnehmer/innen ihren Klienten/innen das Angebot machen, bei der<br />

Begutachtung durch den Medizinischen Dienst dabei zu sein oder zumindest zum Thema<br />

<strong>Pflege</strong>versicherung zu beraten. Dies traf sowohl <strong>für</strong> die Mitarbeiter/innen von ambulanten<br />

Diensten zu als auch <strong>für</strong> die von Beratungsstellen. Bei den Beratungsstellenmitarbeitern/innen<br />

gibt es zusätzlich noch das Angebot der Begleitung bei Widerspruchsverfahren.<br />

Die Kollegen/innen bei ambulanten Diensten können dieses Angebot nicht machen, da die<br />

Kranken- und <strong>Pflege</strong>kassen ihnen unterstellen, dass sie nicht objektiv sein können. Denn sie<br />

sind als Anbieter von Leistungen, die von den Kassen bezahlt werden, gleichzeitig Nutznießer<br />

einer etwaigen Ein- oder Höherstufung.<br />

Zu Beginn wurde die Frage geklärt, wer denn eigentlich Leistungen der <strong>Pflege</strong>kasse beantrage<br />

und dadurch mit der Kasse in ein Rechtsverhältnis trete.<br />

Dies macht eigentlich nicht der Angehörige, sondern der oder die Versicherte, also der oder<br />

die <strong>Pflege</strong>bedürftige selbst. In Fällen, in denen diese Person dement ist und sich mit der<br />

<strong>Pflege</strong>versicherung und dem Antragswesen nicht auskennt, müsste eigentlich eine Betreuung<br />

eingerichtet werden, damit ein/e bestellte/r Betreuer/in sich <strong>für</strong> die pflegebedürftige demente<br />

Person um diese Dinge kümmern kann. Doch in der Realität ist es oft so, dass die<br />

Sachbearbeiter/innen bei den <strong>Pflege</strong>kassen stillschweigend akzeptieren, dass Angehörige<br />

<strong>für</strong> ihre demenzkranken Familienmitglieder Anträge stellen und sogar Bescheiden widersprechen.<br />

Bei der Einstufung gerontopsychiatrisch erkrankter Menschen gibt es immer wieder Probleme<br />

(wobei es hier weniger um Schwierigkeiten mit einzelnen Mitarbeitern/innen des MDK<br />

geht, sondern um Probleme durch Krankheitssymptome oder Verhalten der Angehörigen).<br />

Diese wurden gemeinsam erarbeitet und gesammelt.<br />

1. Die erkrankte Person vermittelt den Eindruck, keinen <strong>Pflege</strong>bedarf zu haben. Sie<br />

wirkt während des Begutachtungstermins körperlich und geistig rege und fit (‚Vorführeffekt’).<br />

Generell gilt, dass der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) den <strong>Pflege</strong>bedarf der<br />

betreffenden Person ermitteln muss.


61<br />

Grundsätze bei der Feststellung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

gerontopsychiatrischer Patienten durch den MDK<br />

Der zu berücksichtigende Hilfebedarf ergibt sich aus:<br />

• der individuellen Ausprägung von funktionellen Einschränkungen und Fähigkeitsstörungen<br />

durch Krankheit und Behinderung<br />

• der individuellen Lebenssituation<br />

• zugrundegelegt werden muss die Laienpflege<br />

• es darf ausschließlich die Individualität des <strong>Pflege</strong>bedürftigen berücksichtigt werden.<br />

Maßgebend ist die Einschränkung der Fähigkeit, die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen<br />

ohne fremde Hilfe vornehmen zu können.<br />

Hilfebedarf ist gegeben, wenn<br />

• die Verrichtungen wegen motorischer Einschränkungen nicht ausgeübt werden können,<br />

• die motorischen Fähigkeiten zwar vorhanden sind, die Notwendigkeit aber nicht eingesehen<br />

wird,<br />

• die Notwendigkeit zwar gesehen, aber nicht in sinnvolles Handeln umgesetzt werden<br />

kann,<br />

• eine teilweise Übernahme erforderlich ist,<br />

• eine Beaufsichtigung während der Handlung erfolgen muss,<br />

• es einer teilweisen bzw. kontinuierlichen Anleitung bedarf.<br />

Zur Ermittlung dienen Angaben, die möglichst klare Aussagen machen über den <strong>Pflege</strong>- und<br />

Hilfsbedarf der betreffenden Person. Eine bewährte Methode hier<strong>für</strong> ist das Führen eines<br />

<strong>Pflege</strong>tagebuches.<br />

Problematisch kann sein, dass Angehörige diese Tagebücher teilweise als kompliziert betrachten<br />

oder auch be<strong>für</strong>chten, keine Zeit zum Ausfüllen zu haben. Zur Erleichterung können<br />

sie auch einfach eine Strichliste führen, bei der sie nur die Häufigkeit aller Verrichtungen des<br />

täglichen Lebens dokumentieren und dabei nicht auf die Uhr schauen müssen. Für die Ermittlung<br />

des Zeitwertes der einzelnen Verrichtung kann entweder der vorgesehene Zeitkorridor<br />

(s. Tabelle 1) eingesetzt werden oder, falls Erschwernisfaktoren (s. Tabelle 2) eine Rolle<br />

spielen, jeweils die tatsächlich benötigte Minutenzahl.


62<br />

Tabelle 1: Zeitkorridore (Beispiele)<br />

1. Körperpflege Ganzkörperwäsche 20 - 25 Minuten<br />

Duschen 15 - 20 Minuten<br />

Zahnpflege 5 Minuten<br />

Kämmen 1 - 3 Minuten<br />

Rasieren 5 - 10 Minuten<br />

Wasserlassen 2 - 3 Minuten<br />

Stuhlgang 3 - 6 Minuten<br />

2. Ernährung Mundgerechte Zubereitung einer<br />

Hauptmahlzeit<br />

3 - 6 Minuten<br />

Nahrungsaufnahme (3 Hauptmahlzeiten)<br />

je 15 - 20 Minuten<br />

3. Mobilität Aufstehen/Zubettgehen 1 - 2 Minuten<br />

Ankleiden 8 - 10 Minuten<br />

Entkleiden 4 - 6 Minuten<br />

Tabelle 2: Allgemeine Erschwernis- und Erleichterungsfaktoren<br />

Erschwernisfaktoren: erleichternde Faktoren:<br />

- Körpergewicht über 80 kg - Körpergewicht unter 40 kg<br />

- Kontrakturen/steife Gelenke - pflegeerleichternde räuml. Verhältnisse<br />

- Halbseitenlähmung/Lähmung beider - Hilfsmitteleinsatz<br />

Arme oder Beine<br />

- unkontrollierte Bewegungen<br />

- Fehlstellungen von Extremitäten<br />

- eingeschränkte Belastbarkeit infolge<br />

schwerer Herzerkrankung<br />

- Abwehrverhalten mit Behinderung der<br />

Übernahme (z.B. bei Dementen, die sich<br />

Wehren)<br />

- stark eingeschränkte<br />

Sinneswahrnehmung<br />

- pflegebehindernde räumliche<br />

Verhältnisse<br />

Für Demenzkranke kommt vor allem der Erschwernisfaktor‚ Abwehrverhalten mit Behinderung<br />

der Übernahme in Frage. Des Weiteren muss bedacht werden, dass gerontopsychiatrisch<br />

Erkrankte oftmals noch andere Erkrankungen haben (Multimorbidität), die eventuell<br />

zu einer weiteren Erschwernis der <strong>Pflege</strong> führen können.


Für die Berechnung der Zeitwerte spielt außerdem die Form der Hilfeleistung eine Rolle:<br />

63<br />

Unterschiedliche Hilfeformen<br />

1. Beaufsichtigung: Die <strong>Pflege</strong>person achtet bei der Durchführung der<br />

Verrichtung auf die Sicherheit der/des <strong>Pflege</strong>bedürftigen<br />

(z.B. beim Rasieren, dass sie/er sich nicht schneidet).<br />

2. Anleitung: Die motorische Fähigkeit zur Durchführung der<br />

Verrichtung ist noch gegeben, sie kann aber nicht ohne<br />

Hilfe zur Ende geführt werden (z.B. bei Demenzkranken,<br />

die zwar die körperliche Fähigkeit sich zu waschen noch<br />

haben, aber die einzelnen Handlungsabläufe nicht mehr<br />

verstehen).<br />

3. Unterstützung: Noch vorhandene Fähigkeiten bei den Verrichtungen<br />

werden zu erhalten und fördern versucht, verloren-<br />

gegangene wieder zu erlangen und nicht vorhandene zu<br />

entwickeln.<br />

4. Übernahme: Die <strong>Pflege</strong>person übernimmt den Teil der Verrichtungen,<br />

den die <strong>Pflege</strong>bedürftige nicht mehr selbst ausführen<br />

kann.<br />

Bei aktivierender <strong>Pflege</strong>, also wenn Angehörige versuchen, die Erkrankten soviel wie möglich<br />

selbst machen zu lassen, sie dabei anleiten, beaufsichtigen und unterstützen, können<br />

die Zeitwerte eingesetzt werden, die die Angehörigen tatsächlich benötigen. Voraussetzung<br />

ist, dass sie auch wirklich während der gesamten Verrichtung anwesend sind. Bei den Hilfeformen‚<br />

Übernahme der Tätigkeit und Teilübernahme können im Gegensatz dazu nur die<br />

Zeitkorridore bzw. nur ein Bruchteil des Zeitkorridors zur Errechnung herangezogen werden.<br />

Falls bereits ein ambulanter Dienst bei der gerontopsychiatrisch erkrankten Person tätig ist,<br />

sollte auch die von diesem geführte <strong>Pflege</strong>dokumentation bereitgelegt werden. Eine Teilnehmerin<br />

des Workshops wies darauf hin, dass es sinnvoll sein kann, dem MDK die entsprechenden<br />

Seiten in Kopie mitzugeben, da ihm dies eine Einarbeitung der Fakten in das<br />

Gutachten erleichtert.<br />

Objektive Aussagen über den Zustand der erkrankten Person ermöglichen auch Arztberichte.<br />

Diese erläutern die Krankheit, die der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit zugrunde liegt oder diese zumindest<br />

negativ beeinflusst. Daher sollte der behandelnde Haus- und Facharzt darum gebeten<br />

werden, einen Bericht <strong>für</strong> die Einstufung durch den Medizinischen Dienst zu erstellen.<br />

Zusammenfassend zur gesamten Fragestellung, wie einem falschen Eindruck über den Hilfs-<br />

und <strong>Pflege</strong>bedarf bei gerontopsychiatrisch erkrankten Menschen entgegenzuwirken ist, kann<br />

also festgehalten werden, dass zu diesem Zweck möglichst viele (möglichst) objektive Daten<br />

erhoben werden sollten. Es ist also wichtig, dass die Angehörigen entsprechend vorbereitet<br />

sind. Diese Vorbereitung kann die Aufgabe von Angehörigenberatungsstellen oder auch ambulanten<br />

Diensten sein. Es kann sich auch als günstig erweisen, dass der/die Berater/in zusätzlich<br />

zur Vorbereitung auch das Angebot der Anwesenheit bei dem Begutachtungstermin<br />

macht.


64<br />

Vorbereitung auf den Besuch des Medizinischen Dienstes<br />

- Führen eines <strong>Pflege</strong>tagebuchs<br />

- <strong>Pflege</strong>dokumentation des ambulanten Dienstes,<br />

der die betreffende Person bereits pflegt, bereitlegen<br />

- ärztliche Unterlagen besorgen, die<br />

Auskunft geben über die Krankheit/en und ihre Folgen<br />

<strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

- eine Vertrauensperson/<strong>Pflege</strong>kraft vom ambulanten Dienst zum<br />

Begutachtungstermin hinzu bitten<br />

2. Ferner beschäftigen sich die Teilnehmer/innen des Workshops noch mit einem weiteren<br />

Problem, das besonders bei der Begutachtung demenzkranker Menschen eine<br />

Rolle spielt:<br />

Angehörige sind gehemmt, im Beisein eines demenzkranken Familienmitgliedes über dessen<br />

Hilfsbedarf zu sprechen. Sie verschweigen deshalb womöglich ihre täglich zu erbringenden<br />

Hilfestellungen.<br />

Generell gilt, dass es eine Verpflichtung gibt, bei der Ermittlung des <strong>Pflege</strong>- und Hilfebedarf<br />

mitzuwirken. Angehörige haben aber auch das Recht, auf einer Befragung durch den MDK in<br />

Abwesenheit des Betroffenen zu bestehen. Einige Teilnehmerinnen erzählten, dass sie oft<br />

auf dem Weg zum Auto des/der Gutachters/in diesem/dieser noch manches erzählten, was<br />

zur Vollständigkeit des Bildes beitrüge. Es ist aber auch möglich, dass Angehörige einen telefonischen<br />

Termin mit dem MDK ausmachen, um frei über den Hilfebedarf ihres Familienmitgliedes<br />

sprechen zu können.<br />

Dennoch muss es dem/der Gutachter/in ermöglicht werden, die erkrankte Person auch in<br />

ihrem häuslichen Umfeld persönlich zu befragen.<br />

3. Widerspruchsverfahren:<br />

Auf den Widerspruch wurde nur kurz eingegangen. Dabei wurde dargelegt, wie Berater und<br />

Beraterinnen Angehörige hier unterstützen können.<br />

Widerspruchsverfahren<br />

Ablehnungsbescheid der <strong>Pflege</strong>kasse<br />

�<br />

Gutachten vom Medizinischen Dienst zuschicken lassen<br />

�<br />

Bis spätestens 4 Wochen nach Erhalt des Ablehnungsbescheides<br />

Widerspruch einlegen und ausführlich begründen<br />

�<br />

Entweder neuerlicher Hausbesuch durch den Medizinischen Dienst<br />

oder Entscheidung nach Aktenlage<br />

� �<br />

bei Anerkennung: bei Abweisen des Widerspruchs:<br />

rückwirkende Leistungen Klage vor Sozialgericht


65<br />

Besonders hilfreich sind <strong>für</strong> die Erstellung einer Widerspruchsbegründung die Richtlinien der<br />

Spitzenverbände der <strong>Pflege</strong>kassen zur Begutachtung von <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit nach dem XI.<br />

Buch des Sozialgesetzbuches ∗ und hier insbesondere das 5. Kapitel, Bestimmung der <strong>Pflege</strong>bedürftigkeit<br />

(III. 6. Besonderheiten der Ermittlung des Hilfebedarfs bei Personen mit psychischen<br />

Erkrankungen).<br />

5. Thema war im Workshop am ersten Tag außerdem das <strong>Pflege</strong>leistungsergän-<br />

zungsgesetz.<br />

Da zu diesem Thema ein ausführlicher Vortrag von Frau Weigand stattfand, wird hier auf<br />

Erläuterungen verzichtet.<br />

∗ Im Internet zu finden unter www.vdak.de unter <strong>Pflege</strong>versicherung - Begutachtungs-Richtlinien


66<br />

Gerlinde Dietl, Dipl. Pädagogin, Beratzhausen<br />

Workshop 2<br />

Methoden der Erwachsenenbildung bei der Schulung und Anleitung<br />

von ehrenamtlichen Helfer/innen<br />

Teil 1: Theoretische Einführung<br />

1.1 Begriffsklärung<br />

Was heißt Didaktik?<br />

Stammt aus dem Griechischen und heißt wörtlich „Lehre“<br />

Didaktik ist die Kunst Allen Alles ganz zu lehren!<br />

„Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren und<br />

zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr<br />

lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrschen, da<strong>für</strong> mehr<br />

Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt.“<br />

Comenius, 1628, Didactica magna<br />

Was heißt Methodik?<br />

Stammt aus dem Griechischen und heißt wörtlich „Weg nach“<br />

Das aus der gleichen Sprachwurzel stammende Wort „methodeía“ lautet „List“ oder „Trug"


67<br />

1.2 Welchen Sinn hat es, über die Auswahl der Didaktik und Methodik nachzudenken?<br />

Zwei Jungen streiften durch die Wiesen und Felder ihrer Heimat und gelangten an einen<br />

Bach, der so breit war, dass sie beim besten Willen nicht hinüberkommen konnten. Da warf<br />

der eine Junge seine Mütze über den Bach und der andere seine hinterher. Nun blieb ihnen<br />

nichts anderes übrig, als doch noch einen Weg zu finden, hinüberzukommen.<br />

- Die beiden Jungen suchen einen Weg<br />

- Möglicherweise überschätzen sie die Schwierigkeiten<br />

- Sie haben sich eine Aufgabe gesetzt, deren Lösung sie herausfordert<br />

- Sie haben sich selbst überlistet, aber motiviert.<br />

Was passiert nun, wenn der „Lehrer“ kommt?<br />

Er hätte die Jungen vermutlich sofort in ein Gespräch verwickelt, er hätte die Tiefe, Strömung<br />

und Breite des Flusses abgeschätzt; er hätte nach einem umgekippten Baumstamm Ausschau<br />

gehalten, er hätte ein Führungsseil gespannt, um die Risiken zu verringern; vielleicht<br />

hätte er auch nur geschimpft und die Jungen daran gehindert, weiter zu versuchen, zu ihrer<br />

Mütze zu kommen.<br />

ïNoch so intensive Lehrbemühungen sind wenig wert, wenn sie nicht irgendwann zum<br />

selbständigen Handeln der Schüler führen.<br />

1.3 Welche Bedingungen der Erwachsenenbildung müssen bedacht werden?<br />

Alle institutionalisierten Lehrveranstaltungen sind künstliche Lernsituationen!<br />

In der Schule, im Seminar, im Workshop, im Vortrag, ist es der Lehrer, der die „Mütze über<br />

den Bach wirft“ und dann aber erwartet, dass die Schüler, Teilnehmer oder Zuhörer sich darüber<br />

freuen und nichts anderes im Kopf haben, als ihre Mütze auf die andere Seite des Baches<br />

zu holen.<br />

Wer als Schüler, Teilnehmer oder Zuhörer hier nicht mitmacht, fällt auf und wird zum Störer!<br />

„Wo Fremdorganisation ist, soll Selbstorganisation werden!<br />

Und: An die Stelle von Lehre soll Lernen treten!!<br />

(Arnold/Krämer-Stürzl 1996)<br />

1.4 Erkenntnisse zum Lernen von Erwachsenen<br />

� Lernen ist eine aktive, biografisch verankerte Konstruktion von Wirklichkeiten.<br />

� Lernen ist strukturdeterminiert, d.h. wir verarbeiten das, was in unser kognitives System<br />

passt, <strong>für</strong> das wir kognitiv und emotional aufgeschlossen sind, was uns sinnvoll und<br />

brauchbar erscheint.<br />

� Neue Lerninhalte müssen anschlussfähig sein, sie müssen sich verknüpfen lassen mit<br />

vorhandenen Erfahrungen und Wissensbeständen. Isoliertes, auswendig gelerntes Wissen<br />

bleibt äußerlich.<br />

� Der Lernende entscheidet selber, was er lernen will. Er hört das, was er hört und was ihm<br />

verständlich ist.<br />

Deshalb brauchen wir<br />

1. Eine Ermöglichungsdidaktik<br />

2. Methoden als helfende Verfahrungsweisen.


68<br />

Teil 2: Planungshilfen <strong>für</strong> Maßnahmen in der Erwachsenenbildung<br />

Planung des Workshops als Beispiel:<br />

1. Zielgruppe - Teilnehmende?<br />

2. Grobziele - Lernziele?<br />

3. Rahmenbedingungen?<br />

4. Institution?<br />

5. Methoden?<br />

1. Zielgruppe - Teilnehmende?<br />

� <strong>Pflege</strong>fachkräfte und Sozialpädagoginnen, die in der Beratung und Begleitung von pflegenden<br />

Angehörigen im ambulanten Bereich tätig sind.<br />

� Vorerfahrungen im Umgang mit Gruppen von Erwachsenen sind wahrscheinlich.<br />

� Alle haben gleiche Aufgabenstellungen: Gewinnung von Ehrenamtlichen und deren Ausbildung<br />

und Begleitung.<br />

� Wahrscheinlich möchten die Teilnehmer Planungshilfen im Workshop erhalten, wie kann<br />

ich eine Schulung durchführen?<br />

� Eigene Erfahrung mit unterschiedlichen Methoden kann vorausgesetzt werden.<br />

� Eigene Lehrerfahrung evtl. auch z. B. <strong>Pflege</strong>kurse, Anleitung zur Benutzung von <strong>Pflege</strong>hilfsmitteln<br />

oder Hilfestellung bei der Beantragung von Leistungen, etc.<br />

� Höchstteilnehmerzahl 20 wahrscheinlich 12 bis 16 Personen.<br />

2. Grobziele - Lernziele?<br />

� Einsicht in die Bedingungen des Lernens von Erwachsenen gewinnen können.<br />

� Die Schulung hinsichtlich der Richtlinien organisieren können.<br />

� Die Grobziele in Lernziele umsetzen können.<br />

� Das eigene Verhalten als Leiterin einer Gruppe bewußt reflektieren können.<br />

� Erwartungen der Teilnehmer berücksichtigen können.<br />

� Für passende Rahmenbedingungen sorgen können.


69<br />

� Methoden der Erwachsenenbildung kennenlernen und beurteilen, was wann sinnvoll eingesetzt<br />

werden kann.<br />

� Interesse an dem Thema so fördern, dass Teilnehmer ihre Kompetenzen zukünftig weiter<br />

ausbauen.<br />

3. Rahmenbedingungen?<br />

� Mit wie vielen Teilnehmern rechne ich?<br />

� Welchen Raum habe ich zur Verfügung? Wie bereite ich den Raum vor (Sitzordnung;<br />

Heizung; Verdunkelung, ...)?<br />

� Welche Medien werden benötigt?<br />

� Welche Materialien muss ich bereitstellen (Papier, Schere, Stifte, Plakate,...)?<br />

� Wann findet die Schulung statt (in der biologischen Ruhephase oder in einer Aktivitätszeit?<br />

� Wieviel Zeit steht zur Verfügung?<br />

4. Institution?<br />

� Veranstalter der Fachtagung sind das Bayerische Sozialministerium und die Angehörigenberatung<br />

e. V. Nürnberg.<br />

� Die Fachtagung findet nun zum sechsten Mal statt.<br />

� Die Fachtagung hat keine politische oder weltanschauliche Orientierung, sie ist auf das<br />

Aufgabengebiet im Bayerischen <strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong> bezogen.<br />

� Die Teilnehmer erwarten sicher eine fundierte Wissensvermittlung, möchten aber auch<br />

Raum <strong>für</strong> den Austausch eigener Erfahrungen haben.<br />

� Das Wissen sollte möglichst praxisnah auf ihr Aufgabengebiet zugeschnitten sein.<br />

5. Methoden?<br />

Die ausgewählten Methoden sollen folgendes leisten:<br />

1. Kennenlernen der Teilnehmer hinsichtlich ihrer Motivation <strong>für</strong> die Teilnahme an diesem<br />

Workshop.<br />

2. Eine angenehme und anregende Atmosphäre schaffen.<br />

3. Möglichkeit der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit der zukünftigen Aufgabe.<br />

4. Austausch von Erfahrungen, die schon da sind.<br />

5. Anknüpfen an eigenen Erfahrungen als Lernende und Lehrende ermöglichen.<br />

6. Informieren über Didaktik und Methodik der Erwachsenenbildung.<br />

Teil 3: Methoden im Überblick<br />

� Methoden mit darbietendem Charakter<br />

� Stofforientierte Methoden<br />

� Kommunikativ, gestalterisch oder spielerisch orientierte Methoden<br />

3.1 Methoden mit darbietendem Charakter<br />

- Vortrag, Vorlesung, Referat<br />

- Podiumsdiskussion<br />

- Lehrgespräch<br />

- Vier-Stufen-Methode<br />

3.2 Stofforientierte Methoden<br />

- Textarbeit<br />

- Brainstorming<br />

- Moderationstechnik<br />

- Projektmethode


3.3 Kommunikativ, gestalterisch oder spielerisch orientierte Methoden<br />

- Moderierte Diskussion; Podiumsdiskussion<br />

- Pro- und Contra- Erörterung<br />

- Rollenspiel<br />

- Zukunftswerkstatt / Planspiel<br />

- Arbeit mit Bildern oder Fotos<br />

- Collagen<br />

- Texte schreiben<br />

- Metapher-Meditation<br />

- Phantasiereisen<br />

- Blitzlicht<br />

- Motorinspektion<br />

- Bilanz-Frage<br />

- Kennenlernspiele<br />

- Paarinterview<br />

- Pantomime und Lebendes Bild<br />

- usw.<br />

Teil 4: Leifragen zur Medienauswahl<br />

1. Ergibt sich aus der Zielvorstellung die Affinität <strong>für</strong> ein bestimmtes Medium?<br />

70<br />

2. Erfordert die Auswahl eines bestimmten Unterrichtsgegenstandes die Verwendung bestimmter<br />

Medien?<br />

3. Ergibt sich aus der Vorauswahl bestimmter Methoden ein Hinweis auf notwendig einzusetzende<br />

Medien?<br />

4. Verlangen bestimmte individuelle oder organisatorische Voraussetzungen die Verwendung<br />

bestimmter Medien?<br />

5. Welche Auswirkungen und Rückwirkungen auf das Unterrichtsgeschehen ergeben sich<br />

aus der Verwendung eines bestimmten Mediums?


71<br />

Teil 5: Planung des Workshops als Beispiel<br />

Lernziel Lerninhalt Methode Zeit Material<br />

Einführung und<br />

Aktivierung <strong>für</strong><br />

das Thema<br />

Einführung des<br />

Themas in der<br />

Gruppe<br />

Die Gruppenmitglieder<br />

lernen sich<br />

kennen<br />

Themenzentriertes<br />

Arbeiten<br />

Für Abwechslung<br />

und<br />

entspannte<br />

Atmosphäre<br />

sorgen können<br />

Hinweise <strong>für</strong><br />

eine sinnvolle<br />

Weiterarbeit<br />

Die Gruppen-<br />

dynamik und<br />

den Verlauf<br />

erfassen<br />

1. Begriffe Didaktik und Methodik kennenlernen<br />

2. Die Lernvoraussetzungen im Erwac h-<br />

senenalter bewußt wahrnehmen<br />

1. Den Zusammenhang von Methode und<br />

Didaktik mit Lernzielen, Teilnehmerbedürfnissen,<br />

Leitungsverhalten und<br />

Rahmenbedingungen kennenlernen.,<br />

am Beispiel der Planung dieses Workshops.<br />

2. Einen Überblick zu verschiedenen<br />

Methoden bekommen. Die Methoden im<br />

Zusammenhang mit den Lerninhalten<br />

zuordnen können.<br />

3. Planungshilfen <strong>für</strong> die Auswahl von<br />

Medien kennenlernen<br />

4. Die Struktur einer Planungshilfe <strong>für</strong> eine<br />

Schulungseinheit kennenlernen<br />

Methoden <strong>für</strong> den Anfang kennenlernen und<br />

ausprobieren<br />

Einführung in das Thema – Begrüßung –<br />

Ablauf<br />

1.1 Verschiedene Formen <strong>für</strong> eine<br />

Zufallsauswahl kennen und anwenden<br />

können<br />

1.2 Kennenlernen zu Zweit<br />

1.3. Kennenlernen in Kleingruppen<br />

1.4. Vorstellungsgruppen mit inhaltlichem<br />

Zentrum<br />

1.5. Erwartungsinventar<br />

1.6. Geleitete Phantasie „Mein Weg hierher“<br />

1.7. Paßfoto<br />

Methoden zur Erschließung von Inhalten<br />

kennenlernen und anwenden können<br />

1. Kleingruppenarbeit (z. B. Nachbarschaftsgruppen,<br />

Vierergruppen, Wahlgruppen)<br />

Methoden <strong>für</strong> Auflockerung und Aktivierung<br />

kennenlernen und einsetzen können.<br />

Stuhlkreisspiele zum Kennenlernen<br />

Stuhlkreisspiele mit Bewegung<br />

Wettermassage zur Entspannung<br />

Methoden der Zusammenfassung und Darbietung<br />

sinnvoll einsetzen können<br />

Als Beispiel wird die Metapher-Meditation<br />

eingesetzt:<br />

<strong>Pflege</strong>n zu Hause ist wie ....<br />

An Gedächtnisstörungen zu leiden ist w ie ....<br />

Als weiteres Beispiel die Pro- und Contra-<br />

Methode<br />

Angehörige sollen solange als möglich zu<br />

Hause gepflegt werden, ...<br />

Methoden zum Aufdecken der Stellung der<br />

Gruppenmitglieder in der Gruppe und zum<br />

Thema kennenlernen und anwenden können<br />

1. Blitzlicht – Methode<br />

2. Motorinspektion<br />

3. Nacharbeit mit Bilanz-Waage<br />

Kurzvortrag mit Folien 10 Minuten OHP-Projektor, Folien,<br />

Wand oder Leinwand<br />

Lehrvortrag als Einführung<br />

1.1 Datumsmethode, Puzzlemethode,<br />

Wollfadenmethode<br />

1.2 Paarinterview (Wer bin ich und<br />

was reizt mich an diesem Kurs?)<br />

1.3 Siehe Paarinterview, aber mit<br />

Blumenplakat<br />

1.4 Ich bin... zum Thema des Kurses<br />

bringe ich mit... mich lockt an diesem<br />

Kurs. Gruppe schreibt ein<br />

Stichwort, Motto, eine These auf<br />

und teilt das dem Plenum mit<br />

1.5 Jeder notiert seine Erwartungen<br />

und tauscht sich dann aus, später<br />

wird das besonders wichtige auf<br />

einer Wandzeitung festgehalten,<br />

die während des gesamten Kur-<br />

ses hängen bleibt.<br />

Arbeitsaufträge zum Zusammenhang<br />

von Methoden mit<br />

- Teilnehmern<br />

- Leiter /Leiterin<br />

- Zielen<br />

- Inhalten<br />

Fassen Sie Ihre Überlegungen in drei<br />

Aussagen, Thesen, Regeln zusammen<br />

Zipp-Zapp-Spiel<br />

Ich sitze im Grünen und wünsche mir...<br />

Obstsalat<br />

Rückenmassage mit Ansage<br />

Plenumsgespräch mit Impulsfragetechnik:<br />

„Wie können die Ergebnisse eines<br />

Referats, oder Vortrags gesichert<br />

werden – welche sinnv ollen Methoden<br />

fallen Ihnen dazu ein?<br />

1. Was nehme ich augenblicklich an<br />

mir wahr? (innerlich, äußerlich?)<br />

Was erwarte ich von der heutigen<br />

Veranstaltung? Wie habe ich die<br />

vergangene Sitzung erlebt und<br />

wie fühle ich mich jetzt? Was hat<br />

mich heute geärgert, was hat<br />

mich gefreut?<br />

2. Ich lege hier in die Mitte des<br />

Raumes dieses Buch. Das stellt<br />

unser gemeinsames Thema dar.<br />

Bitte suchen sie nun einen Platz<br />

im Raum...<br />

15 Minuten OHP-Projektor, Folien,<br />

Wand oder Leinwand<br />

20 Minuten Kärtchen, Plakate mit<br />

Blumen, Wollfäden, Memory<br />

Spiel, Tesacrepp, oder<br />

Pinnnadeln<br />

30 Minuten<br />

Kleingruppenarbeit<br />

20 Minuten <strong>für</strong><br />

die Vorstellung<br />

der Ergebnisse<br />

im Plenum<br />

10 Minuten Stuhlkreis<br />

Plakate oder Flipchartblock<br />

<strong>für</strong> die Thesen, großer<br />

Folienschreiber<br />

15 Minuten Stuhlkreis, Flipchart zum<br />

Festhalten<br />

20 Minuten Buch, Stuhlkreis, Folien als<br />

Beispiele <strong>für</strong> Arbeitsblätter


Anhang zum Teil 5 – Erläuterung zu einigen Methoden, die verwendet wurden:<br />

72<br />

Methoden zur Paarauswahl:<br />

Bändergruppen: Es werden verschieden lange Bänder oder Wollfäden so geschnitten, dass<br />

immer zwei dieser Bänder gleich lang sind. Jede(r) zieht eines dieser Bänder und findet seinen<br />

Partner / ihre Partnerin.<br />

Puzzlemethode: z. B. werden 10 Postkarten in je zwei Teile zerschnitten. Jede(r) zieht einen<br />

Teil aus einem Körbchen und sucht den Partner/in. Oder Sprichwortkarten werden zerschnitten.<br />

Blumenpaar: Am Anfang erhält jede(r) eine Blume. Die Leiterin hat je zwei Blumen gleich<br />

ausgewählt.<br />

Textbeispiel <strong>für</strong> eine angeleitete Phantasiereise:<br />

„Bitte setzen Sie sich so bequem hin, dass Sie einige Zeit in dieser Stellung bleiben können.<br />

Achten Sie darauf, dass Ihr Atem frei fließen kann, dass weder Brustraum noch Bauch eingeengt<br />

sind. Ich werde Sie gleich bitten, die Augen zu schließen. Das soll Ihnen helfen, einige<br />

Situationen der letzten Zeit deutlicher zu sehen.... Bitte schließen Sie jetzt die Augen und<br />

erinnern Sie sich daran, als Sie zum ersten Mal von dieser Veranstaltung hörten oder das<br />

Thema lasen ... Welche Gedanken und Empfindungen hatten Sie ... ? Wann faßten Sie den<br />

Entschluß, sich anzumelden ... ? (Evtl. Dann kam die Anmeldebestätigung ...). Inzwischen<br />

verging einige Zeit, und heute morgen war es soweit. Als Sie aufwachten, was ging Ihnen da<br />

durch den Sinn ... ? Als Sie dann aufstanden und ihre morgendlichen Verrichtungen machten,<br />

wie war es Ihnen da, was dachten Sie ... ? Dann gingen Sie aus dem Haus, machten<br />

sich auf den Weg hierher mit allerlei Einfällen ... Sie kamen hier an, sahen das Haus ... Dann<br />

sahen Sie die anderen Teilnehmer ... Was war da in Ihnen ... ? Schließlich betraten Sie den<br />

Raum, sahen den Stuhlkreis, setzten sich ... Was waren da Ihre Empfindungen, Ihre Gedanken<br />

... Schließlich die ersten Worte von mir, die Begrüßung, der Anfang ... bis jetzt, bis zu<br />

dieser Stelle ... Sie sind nun wieder hier, öffnen langsam die Augen, sehen den Raum und<br />

die anderen ... (Nach einiger Pause:) Es wäre schön, wenn Sie nun etwas von dem, was in<br />

Ihnen aufstieg, hier einbringen könnten ...“<br />

Fachtexte, die themenbezogen zu diesem Workshop <strong>für</strong> die Kleingruppenarbeit verwendet<br />

wurden:<br />

Gruppe 1: Methoden und Gruppe<br />

1) Generelle Zielgruppenbestimmung<br />

Fragestellungen<br />

Wer soll mit einem bestimmten Themenbereich überhaupt angesprochen werden? An wen richtet sich das Angebot?<br />

2) Lebens- und Alltagssituation der Zielgruppe<br />

Fragestellung<br />

Was ist <strong>für</strong> das Angebot bedeutsam im Blick auf<br />

- Alter<br />

- Familienstand<br />

- Berufstätigkeit<br />

- Freizeit<br />

3) Situatio n der Zielgruppe in Bezug auf das Thema<br />

Fragestellung<br />

1. Was ist an allgemeinen Erwartungen, Einstellungen und Interessen vorhanden?<br />

2. Welche speziellen Schwierigkeiten oder Defizite machen den Leuten zu schaffen?<br />

3. Welche speziellen Fragen beschäftigen sie?<br />

4. Welche Lernbedürfnisse haben sie in diesem Zusammenhang?<br />

5. Welche Erfahrungen und Kenntnisse können vorausgesetzt werden?<br />

4) Situation der Zielgruppe in Bezug auf „Lernen“ und „Methoden der Erwachsenenbildung“<br />

Fragestellungen<br />

1. Welche Erfahrungen mit „Bildung“ und „Lernen“ sind vorauszusetzen?<br />

2. Welche Erfahrungen mit „Methoden der Erwachsenenbildung“ sind vorhanden?


73<br />

Konsequenzen <strong>für</strong> die Auswahl der Methoden<br />

1. Methoden sollen der jeweiligen Zielgruppe angemessen sein, das heißt an deren Merkmale anknüpfen.<br />

2. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Zielgruppe fixiert werden soll (z. B. „Die Leute sind Gruppenarbeit nicht gewöhnt, deshalb nehmen<br />

wir lieber ein Referat“)<br />

3. Andererseits dürfen Zumutung und Leistbarkeit nicht auseinanderfallen. Die dadurch entstehende Spannung kann zu Widerstand oder<br />

Resignation führen. Sie wird bei Teilnehmenden und Leitung manchmal auch so bewältigt, dass der Methode die Schuld gegeben wird.<br />

(„So etwas geht eben bei uns nicht.“)<br />

4. Die Methoden sollen vielmehr in dem, was sie fordern einen Schritt weiter sein als die augenblickliche Situation der Zielgruppe. In<br />

diesem situationsüberschreitenden Anspruch liegt das spezifische Anforderungsniveau einer Methode. Es läßt sich nur im Zusammenhang<br />

mit der jeweiligen Ziel- und Teilnehmerorientierung bestimmen.<br />

5. Das Anforderungsniveau soll gerade so groß sein, dass die Teilnehmenden bei der konkreten Veranstaltung den gewünschten Schritt<br />

noch (wenn auch möglicherweise mit Anstrengung) gehen können.<br />

6. Die Methodenwahl soll also mit Vorsicht geschehen. Vorsichtig heißt: weder forsch noch ängstlich, sonder aus einer Verbindung von<br />

Verstand und Einfühlung.<br />

Arbeitsauftrag: Formulieren Sie drei Thesen, die Ihren Standpunkt zum Thema Methodenauswahl in Bezug zur Gruppe der Teilnehmenden<br />

zusammenfassen. Notieren Sie Ihre Thesen auf ein Plakat!<br />

Gruppe 2: Methoden und Leiter/in<br />

Gesichtspunkte und Fragestellungen zur Erfassung der Situation des Leiters / der Leiterin<br />

1) Bestimmung der Aufgaben der Leitung<br />

Fragestellung<br />

Welche Aufgabe besteht<br />

- im Zusammenhang mit der geplanten Veranstaltung<br />

- speziell im Blick auf die Auswahl und Anwendung von Methoden?<br />

Welche Empfindungen und Stimmungen löst diese Aufgabe in der eigenen Person oder Leitungsgruppe aus?<br />

2) Situation in Bezug auf die Zielgruppe<br />

Fragestellung<br />

Wie sieht die Beziehung zur Zielgruppe aus?<br />

Welche eigenen Bedürfnisse und Wünsche sind im Blick auf die Zielgruppe vorhanden?<br />

3) Situation in Bezug auf das Thema<br />

Fragestellungen<br />

Was ist das eigene Interesse? Was möchte ich selber im Zusammenhang mit dem Thema lernen?<br />

Welche eigenen Erfahrungen und Kenntnisse sind vorhanden?<br />

4) Situation in Bezug auf „Lernen und Methoden der Erwachsenenbildung“<br />

Fragestellungen<br />

Welche eigenen Erfahrungen mit Bildung und Lernen sind vorhanden?<br />

Welche Methoden sind bereits bekannt? (Durch eigenes Erleben, eigene Praxis, Literatur)<br />

Welche Einstellungen bestehen gegenüber Methoden? Was spricht mich an einer Methode an bzw. was mißfällt mir daran?<br />

Gegenüber welchen Methoden besteht eine Vorliebe, gegenüber welchen eine Distanz?<br />

Welche Methode gibt Sicherheit, welche macht unsicher?<br />

Konsequenzen <strong>für</strong> die Auswahl von Methoden<br />

1. Selbstwahrnehmung üben und auf die innere Übereinstimmung mit einer ausgewählten Methode achten.<br />

2. Die Methode soll dem Leiter Sicherheit gewähren, wenn die Sicherheit verloren geht, dann kann der Leiter<br />

- die Methode ändern (wenn dazu Zeit ist und eine Variation einfällt)<br />

- die Methode beibehalten und durch inneres Entspannen wieder zur Gelassenheit zurückfinden<br />

- den Zwiespalt offen ansprechen und die Teilnehmer zum Ausprobieren und gemeinsamen Reflektieren ermutigen<br />

3. Vorarbeit im Gespräch leisten, Be<strong>für</strong>chtungen und Phantasien mit Kollegen durchsprechen<br />

4. Nacharbeit leisten anhand der folgenden Fragen oder und im Gespräch mit Kollegen:<br />

- Was fällt mir zuerst ein? (Eine Szene, ein Vorgang, ein Verhalten von mir oder anderen ..)<br />

- Was hat mich gestört? (Möglichst konkret ...)<br />

- Wie war die Reihenfolge des Geschehens? ( Die wichtigsten Situationen ...)<br />

- Wo setzt meine Erinnerung aus? (Was fehlt, was fällt mir nicht mehr ein ...)<br />

- An welchen Stellen war ich besonders beteiligt und engagiert? An welchen Stellen war ich eher zurückhaltend und evtl. unsicher?<br />

- An welchen Stellen waren die Teilnehmer nach meiner Wahrnehmung besonders beteiligt und engagiert ? An welchen Stellen waren<br />

die anderen eher zurückhaltend?<br />

- Wenn ich auf die Veranstaltung zurückblicke, was würde ich im nachhinein anders machen?<br />

Arbeitsauftrag: Formulieren Sie drei Thesen, die Ihren Standpunkt zum Thema Methodenauswahl in Bezug zur Persönlichkeit und<br />

Aufgabenstellung der Leiterin zusammenfassen. Notieren Sie Ihre Thesen auf ein Plakat!


74<br />

Gruppe 3: Methoden und Ziele<br />

Bei Veranstaltungen in der Erwachsenenbildung soll immer etwas erreicht werden, <strong>für</strong> die Teilnehmenden oder und <strong>für</strong> die Veranstalter oder<br />

und ganz allgemein <strong>für</strong> die Gemeinschaft bzw. Öffentlichkeit. Diese Ziele müssen sich nicht decken. So können Sie z. B. eine Schulung<br />

planen um Ehrenamtliche <strong>für</strong> den Einsatz in ihrer Institution zu gewinnen, die Teilnehmenden aber das Ziel verfolgen, mehr Informationen<br />

zu einem <strong>für</strong> sie interessanten Thema zu erhalten, ihr Träger wiederum verfolgt mit der Veranstaltung das Ziel, die Öffentlichkeitsarbeit zu<br />

verbessern.<br />

Die allgemeinen Ziele der Schulung von ehrenamtlichen Helfern sind (Landesverordnung):<br />

- Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder, Schwerpunkt Demenz<br />

- Situation pflegender Angehöriger<br />

- Einführung in relevante Rechtsbereiche (<strong>Pflege</strong>versicherung, Betreuungsrecht)<br />

- Umgang mit Betroffenen<br />

- Kommunikation und Gesprächsführung<br />

- Grundpflege<br />

Sollen die Teilnehmer hier Faktenwissen lernen, oder Handlungskompetenz erwerben, oder eigene Kenntnisse und Erfahrungen vertiefen<br />

können, oder ...?<br />

Arbeitsauftrag:<br />

Formulieren Sie in Ihrer Gruppe zu jedem Grobziel ein Lernziel , das genau beschreibt, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie nach Abschluss<br />

der Schulung von den Teilnehmenden genau erwarten! Schreiben Sie Ihre Ergebnisse auf ein Plakat in Form einer Tabelle:<br />

Grobziel<br />

Lernziel<br />

Gerontopsychiatrisches Krankheitsbild Verhaltensweisen von Demenzerkrankten besser einordnen und<br />

verstehen können. Vorausschauend Handeln können, Über- oder<br />

Unterforderung im Umgang vermeiden können, ...<br />

Gruppe 4: Methoden und Inhalte<br />

Die Probleme und Fragen, mit denen sich Menschen in Veranstaltungen der Erwachsenenbildung beschäftigen, sind sehr unterschiedlich – je<br />

nach der Art des Gegenstandes. Erziehungsfragen haben einen anderen sachlichen Gehalt als etwa die Darstellung einer bestimmten kunstgeschichtlichen<br />

Epoche, oder das Lernen einer Fremdsprache, oder eine Einführung in EDV.<br />

Um dieses je Eigene, das die Gegenstandsbereiche voneinander unterscheidbar macht, erfassen zu können, wird der Begriff Lerninhalt eingeführt.<br />

Er meint die innere Eigenheit, den unverwechselbaren Charakter eines bestimmten Inhalts.<br />

Eine spezifische Sachstruktur erfordert auch eine spezifische Form des Angehens, d. h. eine angemessene Methode.<br />

Bitte überprüfen Sie, ob Ihnen die Zuordnung von Methoden zu Lerninhalten in diesen Beispielen einleuchten:<br />

Lerninhalte Methoden<br />

Lerninhalt aus dem Bereich der täglichen Erfahrung, z. B: „Die Rolle<br />

der Kinder bei der <strong>Pflege</strong> der Eltern“<br />

Gespräch in Kleingruppen mit anregenden Fragestellungen<br />

Politische Inhalte, z. B. „Die alternde Gesellschaft – ein Problem <strong>für</strong><br />

die Sozialpolitik“<br />

Fachwissenschaftliche Inhalte, z. B.: „Gerontopsychiatrische Erkrankungen<br />

– Symptomatik, Diagnostik, Therapie“<br />

Arbeit an einschlägigen Texten, Analyse von Massenmedien, Befragung<br />

von Sachverständigen<br />

Einzelarbeit in Literaturauszügen und anschließend im Rundgespräch<br />

Bezug auf die eigenen Erfahrungen<br />

Für die Schulung von Ehrenamtlichen in der Laienpflege sind in der Landesverordnung folgende Grobziele festgelegt:<br />

- Gerontopsychiatrische Krankheitsbilder, Schwerpunkt Demenz<br />

- Situation pflegender Angehöriger<br />

- Einführung in relevante Rechtsbereiche (<strong>Pflege</strong>versicherung, Betreuungsrecht)<br />

- Umgang mit Betroffenen<br />

- Kommunikation und Gesprächsführung<br />

- Grundpflege<br />

Arbeitsauftrag:<br />

Überlegen Sie in Ihrer Gruppe, welche Methoden den jeweiligen Themengebieten angemessen sind und halten Sie Ihre Ergebnisse<br />

auf einem Plakat in Form einer Tabelle fest:<br />

Lerninhalt Methoden<br />

z. B. Situation pflegender Angehöriger Textarbeit mit einem Fallbeispiel, Rundgespräch


75<br />

Erläuterung zu einigen Stuhlkreisspielen, z.B. zum Kennenlernen oder als Auflockerung:<br />

- Ich sitze im Grünen: Alle Teilnehmer sitzen im Stuhlkreis, ein Stuhl ist frei. Der freie<br />

Stuhl wird durch schnelles Nachrücken besetzt, wobei man sagt: „Ich sitze“, der wiederum<br />

freigewordene Stuhl wird durch den nächsten Spieler in der Reihe besetzt mit „im<br />

Grünen“ und der nächste Nachrücker kann sich mit „und wünsche mir ... (Name)“ irgendeinen<br />

Teilnehmer aus der Gruppe auf den Stuhl wünschen. Alles beginnt von vorne.<br />

- Zipp/Zapp-Spiel: Ein Stuhl ist zu wenig im Stuhlkreis. Die Angesprochene muss bei Zipp<br />

den Namen der linken Nachbarin nennen, bei Zapp den rechten Nachbarn. Wer einen<br />

Fehler macht, muss seinen Stuhl <strong>für</strong> den in der Mitte stehenden Spieler freimachen. Außerdem<br />

kann das Kommando Zipp-Zapp gegeben werden, dabei müssen alle Mitspieler<br />

die Plätze tauschen.<br />

- Obstsalat: Vier verschiedene Obstsorten werden namentlich auf die Mitspieler im Stuhlkreis<br />

verteilt. Eine Mitspielerin versucht selbst einen Stuhl zu ergattern, indem sie verschiedene<br />

Obstsorten aufruft, die dann ihre Plätze tauschen müssen. Beim Ruf Obstsalat<br />

müssen alle Mitspieler ihre Plätze tauschen.<br />

- Wettermassage: Es werden Dreiergruppen gebildet. Eine/r in der Mitte in die Stützbeuge,<br />

auf seinem Rücken werden Nebel, Hagel, Regen, Wind und Sonne nachgeahmt.<br />

- Gordischer Knoten: Die Mitspielerinnen bewegen sich mit geschlossenen Augen und<br />

erhobenen Händen aus dem Kreis auf den Kreismittelpunkt zu, und ergreifen mit ihren<br />

Händen je eine Hand eines Mitspielers. Nachdem alle Hände vergeben sind, Augen auf,<br />

und versuchen den entstandenen Knoten zu lösen.<br />

Erläuterungen zu einigen Methoden der Bilanzierung bzw. Aufdecken der Stellung der<br />

einzelnen Gruppenmitglieder zum Thema und oder zur Gruppe:<br />

- Motorinspektion: „Ich lege hier in die Mitte des Raumes dieses Buch. Das stellt unser<br />

gemeinsames Thema dar. Bitte suchen Sie nun einen Platz im Raum, der zwei Dinge<br />

zugleich ausdrückt: Ihre augenblickliche Nähe oder Ferne zum Thema – und Ihre Nähe<br />

oder Ferne zu anderen Personen. Ich weiß, das ist schwer, aber probieren Sie es einmal<br />

... Sprechen Sie dabei nicht, sondern konzentrieren Sie sich nur auf sich.“ Nach einiger<br />

Zeit pendeln sich die Standorte erfahrungsgemäß ein. Dann sollte nochmals ein neuer<br />

Impuls gesetzt werden: „Bitte überprüfen Sie bei sich selber: Bin ich zufrieden mit meinem<br />

Standort oder möchte ich ihn lieber verändern oder neu suchen?“ Wenn sich auch<br />

diese Bewegung ausgependelt hat, erfolgt die Aufforderung: „Bitte schauen Sie sich um,<br />

nehmen Sie dieses Bild in sich auf.“<br />

- Blitzlichtmethode: Leitung und Teilnehmende nehmen rundum mit einem oder zwei<br />

Sätzen zu einer einzelnen Frage Stellung. Es soll nicht nachgefragt, kritisiert oder kommentiert<br />

werden. Die Einzeläußerungen sollen wirklich kurz sein (wie ein Blitzlicht) und<br />

die subjektive und persönliche Sicht des Teilnehmers betreffen. Auf diese Weise erhält<br />

jeder einen offenen Einblick in die augenblickliche Befindlichkeit aller (auch der Schweiger<br />

– und nicht nur die Dominanten reden). Ein Blitzlicht kann beliebig oft vorgeschlagen<br />

werden, insbesondere vor und nach bestimmten Abschnitten oder wenn Unlust, Desinteresse<br />

oder Aggression zu spüren sind. Bewährte Themen <strong>für</strong> das Blitzlicht sind z. B.:<br />

„Was nehme ich im Augenblick an mir wahr (innerlich, äußerlich)?“, „Was erwarte ich von<br />

der heutigen Sitzung?“, „Wie habe ich die vergangene Sitzung erlebt, und wie fühle ich<br />

mich jetzt?“, „Was hat mich heute geärgert, was hat mich heute gefreut?“<br />

- Bilanz-Frage: Aus der Erfahrung heraus, dass jede Veranstaltung sowohl ansprechende<br />

als auch schwierige Elemente enthält und dass von beidem Wirkungen ausgehen können,<br />

formuliert die Kursleiterin <strong>für</strong> das abschließende Rundgespräch eine Fragestellung,<br />

die den Rückblick in die Polarität „positiv – negativ“ fasst und damit zugleich den Blick


76<br />

nach vorn verbindet: „Was hat mir dieser Kurs gegeben, was hat mir daran eingeleuchtet?<br />

Was war schwierig oder mühsam? Was geht mit mir mit – als Ergebnis, als Frage,<br />

als Impuls?“<br />

- Oder die Bilanzierung wird mit einem Formblatt gemacht, das anonym der Kursleitung<br />

zurückgegeben werden kann, die dadurch eine Rückmeldung über den Verlauf erhält.<br />

Teil 6: Ergebnisse aus den Workshops der beiden Tage<br />

6.1 Ergebnisse aus der Kleingruppenarbeit<br />

Zum Thema: Zusammenhang von Methodenauswahl in Hinblick auf die Teilnehmergruppe:<br />

Gruppe 1 (18.09.02) Gruppe 2 (19.09.02)<br />

- Bei der Auswahl von Methoden muss<br />

- die Zusammensetzung der Gruppe<br />

berücksichtigt werden und<br />

- die Inhalte der Schulung bzw. das jeweilige<br />

Thema und<br />

- was der Zweck, bzw. das Ziel der<br />

Schulung <strong>für</strong> die Gruppe ist.<br />

- Wenn man unsicher ist, mit der eigenen<br />

Methodenauswahl kann sollte man sich<br />

mit Kollegen im Vorfeld besprechen.<br />

- Langjährige Gruppenmitglieder übernehmen<br />

die Methodenauswahl mit.<br />

- Die Beratung durch Gleichbetroffene (=<br />

peer counselling) ist fruchtbar und hilfreich.<br />

Zum Thema: Methodenauswahl in Bezug zur Persönlichkeit der Leiterin:<br />

Gruppe 1 (18.09.02) Gruppe 2 (19.09.02)<br />

- Methoden sollen dem Leiter Sicherheit<br />

gewähren<br />

- Die Methoden müssen zur Persönlichkeit<br />

des Leiters passen<br />

- Eine gute Vorbereitung ist das A & O<br />

Zum Thema: Auswahl von Methoden in Hinblick auf die Lernziele<br />

Gruppe 1 (18.09.02)<br />

Lerninhalt<br />

Krankheitsbild Demenz<br />

Situation pflegender Angehöriger<br />

Umgang mit Betroffenen<br />

Einführung in relevante Rechtsbereiche<br />

Kommunikation und Gesprächsführung<br />

Grundpflege<br />

- Die Leiterin soll authentisch sein (sich<br />

wohlfühlen mit der gewählten Methode)<br />

- Muss sich seiner/ihrer Leitungsrolle bewußt<br />

sein („Wille zur Leitung, definieren<br />

der Rolle“)<br />

- Der eigene Bezug zum Thema muss geklärt<br />

werden und die Methode entsprechend<br />

auswählen. (z. B. bei zu starker Involvierung<br />

– Co-Leitung?!)<br />

Methode<br />

Video mit Fallbeispielen; Impulsreferat mit<br />

Diskussion<br />

Brainstorming mit Clustering, anschließend<br />

Fallarbeit in der Gruppe<br />

Fachreferat mit Podiumsdiskussion<br />

Rollenspiele<br />

Praktische Beispiele; 4-Stufen-Methode


Gruppe 2 (19.09.02)<br />

Lerninhalt<br />

Situation pflegender Angehöriger<br />

77<br />

Methode<br />

Einschlägiger Text – Sachinfos im Plenum<br />

Fallbeispiel eines Betroffenen<br />

Kleingruppe: „Wie können Sie zur Entlastung<br />

beitragen?“<br />

Vorstellung und Überprüfung im Plenum<br />

Ziel formulieren (Praxisauftrag)<br />

Zum Thema: Formulierung von Lerninhalten aus Grobzielen der Schulung<br />

Gruppe 1 (18.09.02)<br />

Grobziel der Schulung<br />

Lerninhalt<br />

-<br />

Gerontopsychiatrisches Krankheitsbild<br />

Situation pflegender Angehöriger - Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen<br />

erkennen und akzeptieren<br />

- Mythen und Vorurteile auflösen<br />

- Unterstützungs- und Entlastungsmöglichkeiten<br />

erkennen<br />

- Leistungen der <strong>Pflege</strong>versicherung ken-<br />

Einführung in relevante Rechtsgebiete nen<br />

- Wissen: Was ist Betreuung? Und: Wie<br />

kommt sie zustande?<br />

- Was ist eine Vorsorgevollmacht?<br />

- Kennen von wichtigen Krankheitsbildern<br />

Umgang mit den Betroffenen<br />

- Zugangsmöglichkeiten wissen<br />

- Reflektiertes Handeln<br />

- Beschäftigungsmöglichkeiten beherrschen


Gruppe 2 (19.09.02)<br />

Grobziel der Schulung<br />

Situation pflegender Angehöriger<br />

Einführung in relevante Rechtsgebiete<br />

Umgang mit den Betroffenen<br />

Kommunikation und Gesprächsführung<br />

Grundpflege<br />

78<br />

6.2 Ergebnisse aus der assoziativen Methode<br />

Methoden auswählen <strong>für</strong> eine Schulung ist wie ...<br />

Gruppe 1 (18.09.02)<br />

- einen Blumenstrauß zusammenstellen<br />

- ein Geschenk auswählen<br />

- einen Anzug maßschneidern<br />

- ein bekömmliches Menü zusammenstellen<br />

Gruppen zu leiten ist wie ...<br />

Gruppe 2 (19.09.02)<br />

- nackt auf dem Marktplatz stehen<br />

- der Dompteur im Zirkus<br />

- einen Sack Flöhe zusammenhalten<br />

- ein Sonnenaufgang<br />

Lerninhalt<br />

- Belastungsfaktoren kennen:<br />

- Isolation _ Überlastung<br />

- Finanzielle Probleme<br />

- Schuldgefühle<br />

- = Verständnis <strong>für</strong> die <strong>Pflege</strong>nden<br />

- <strong>Pflege</strong>versicherung:<br />

- Einstufungen<br />

- Formen und Umfang der Leistungen<br />

- Betreuungsrecht:<br />

- Welche Bereiche gibt es<br />

- Wissen über weitergehende<br />

Beratungsmöglichkeiten<br />

- Haftpflicht:<br />

- Wann und wie ist der Ehrenamtliche<br />

versichert<br />

- Begriffsdefination von grob-<br />

fahrlässiger Fehlhandlung<br />

- Sensibilität und Einfühlungsvermögen<br />

verstärken<br />

- Konfliktlösungs- und Entspannungsstrategien<br />

- Einstiegsmöglichkeiten in die Welt der zu<br />

<strong>Pflege</strong>nden<br />

- Zuhören können<br />

- Entspannte Atmosphäre schaffen<br />

- Zeit haben – klare Zeitangaben<br />

- Klare Vereinbarung über Umfang und<br />

Leistungen<br />

- Infos geben bei Bedarf auf Anfrage<br />

- Hebetechniken<br />

- Ggf. An- und Ausziehtechniken<br />

- Lagerungen


79<br />

6.3 Ergebnisse aus der Bilanzierung mit der Gruppe 2 (19.09.02)<br />

Gruppe 2 (19.09.02)<br />

Was ich mitnehme<br />

- Es war ein guter Abriss<br />

- Reflektion der eigenen Methoden<br />

- Lebendigkeit<br />

- Auch Lehrer sind Menschen<br />

- Gute Anregungen<br />

Was mir Mühe machte<br />

- Arbeitsaufträge waren teilweise unklar


7. Resümee der Referentin<br />

80<br />

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen haben den sensiblen Zusammenhang von Methodenauswahl<br />

in Bezug zur Person der Leiterin, der Zusammensetzung der Lerngruppe,<br />

den Rahmenbedingungen des Lernens und den Lernzielen erkannt!


Literaturverzeichnis<br />

81<br />

Kurs- und Seminarmethoden, Ein Trainingsbuch zur Gestaltung von Kursen und<br />

Seminaren, Arbeits- und Gesprächskreisen, Jörg Knoll, 1992 Weinheim und Basel<br />

Dozentenleitfaden, Planung und Unterrichtsvorbereitung in Fortbildung und Erwachsenenbildung,<br />

Arnold . Krämer-Stürzl . Siebert, 1999, Berlin<br />

Lehren und Trainieren in der Weiterbildung, Ein praxisorientiertes Lehrbuch,<br />

Klaus W. Döring / Bettina Ritter-Mamczek, 2001 Weinheim<br />

Didaktisches Handeln in der Erwachsenenbildung, Didaktik aus konstruktivistischer<br />

Sicht, Horst Siebert, 2000, Neuwied<br />

Unterrichtsmethoden, I: Theorieband, Hilbert Meyer, 1987, Berlin<br />

Overheadprojektor und Folien, Mit den Augen lernen 4, Hermann Will, 1994,<br />

Weinheim und Basel<br />

Lerntexte und Teilnehmerunterlagen, Mit den Augen lernen 2, Steffen-Peter Ballstaedt,<br />

1994 Weinheim und Basel


Jürgen Escher, Dipl. Sozialpädagoge/FH, Bankkaufmann, Kommunikationstrainer,<br />

Coburg<br />

82<br />

Workshop 3<br />

Provokation und Humor in der Beratungsarbeit?!<br />

Am Workshop nahmen insgesamt 38 Personen teil.<br />

Beide Veranstaltungen waren gekennzeichnet von viel mitgebrachter Neugierde, Offenheit,<br />

voller Konzentration. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit „etwas anderen“ Methoden<br />

zeigte sich in den engagierten Diskussionen.<br />

Die Teilnehmer/innen (TN) erhielten zunächst eine Einführung über die Entwicklung von Provokativen<br />

Beratungsmethoden (Carl Rogers, Frank Farrelly, Dr. Eleonore Höfner) bzw. der<br />

Entstehung der Provokativen Therapie.<br />

Die Unterschiede zwischen Klientenzentrierter Vorgehensweise und Provokativer Beratungsarbeit<br />

demonstrierte der Moderator am Beispiel einer Frau / Angehörigen, die mit Depressionen<br />

in die Beratung kommt.<br />

Er stellte die Provokative Beratung als Zusatzinstrumentarium zu den bei Beratern in aller<br />

Regel sehr gut funktionierenden „normalen“ Gesprächstechniken heraus.<br />

Wichtige Grundregeln sind dabei:<br />

- Nur provokativ beraten, wenn der sog. „Gute Draht“ zum anderen besteht.<br />

- Provokative Beratung muss solide erlernt und geübt werden. Allein mit den Erfahrungen<br />

dieses Workshops sollte nicht provokativ gearbeitet werden (Infos über Ausbildung<br />

und Literatur: www.provokativ.com).<br />

- Der Berater sitzt am „Längeren Hebel“ und führt das Gespräch.<br />

- Ziel ist es, den Gesprächspartner aus seiner Situation „herauszuholen“, um ihm eine<br />

Draufsicht auf seine Problematik zu ermöglichen, um ihm innerlich etwas Abstand zu<br />

verschaffen, um lachen zu ermöglichen.<br />

Nach theoretischer Einführung, Demonstration der Methode, Auseinandersetzung, Hinterfragung,<br />

Diskussion übten die TN in 2-er Gruppen (Klient/in und Berater/in) folgende Methoden:<br />

• Begeistere dich <strong>für</strong> die Probleme / Symptome des anderen (beide<br />

Workshops)<br />

• Idiotische Vorschläge lösen deine Probleme (nur Mittwochs-Workshop)<br />

• Absichtliches Mißverstehen, Sich-„Dumm“-stellen (nur Donnerstags-Workshop).<br />

Kurz angerissen wurde auch das „Generalsieren“ (arbeiten mit Klischees, Vorurteilen ...).<br />

Die Mitwirkenden ließen sich wirklich sehr gut auf die vorgeschlagenen Übungen ein, sowohl<br />

in der Klienten- als auch in der Berater/innen-Rolle. Der im Titel des Workshops genannte<br />

„Humor“ wurde in diesen Beratungssitzungen einfach gelebt. Bei Provokativer Beratung passiert<br />

Humor von alleine, Mann/Frau muss da<strong>für</strong> nichts gesondert tun. Die Mehrzahl der TN<br />

erfuhr dies direkt in den Übungen.<br />

Nach jeder Übungssitzung fand ein intensiver Erfahrungsaustausch / eine ausführliche Reflexion<br />

statt. Die TN sammelten unterschiedliche Erfahrungen – in beiden Rollen. Einigen fiel


83<br />

es schwer, aus ihren bisherigen Kommunikationsmustern herauszukommen, andere „fanden<br />

gut rein“ in die Provokative Beratung und spürten auch die Wirkungsweise. Einige hatten<br />

einen „Volltreffer“ und entsprechend leuchtende Augen.<br />

Nach jeweils 2 Stunden wurde der Workshop beendet. Wache, nachdenkliche und<br />

diskutierende TN suchten wieder den Weg ins Plenum.<br />

Literatur:<br />

Frank Farrelly: Provokative Therapie<br />

Eleonore Höfner: Die Kunst der Ehezerrüttung<br />

Das wäre doch gelacht<br />

Jürgen Wippich:<br />

Ingrid Derra-Wippich: Lachen lernen – Einführung in die provokative Therapie<br />

Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein


H. Reiser, Dipl. Tanztherapeutin, Klinik <strong>für</strong> Psychiatrie am Klinikum Nürnberg Nord<br />

Barbara Kuhn, Dipl. Sozialpädagogin/FH, Angehörigenberatung Nürnberg e.V.<br />

84<br />

Workshop 4<br />

Aktivierung und Entspannung durch Bewegung in der Gruppenarbeit<br />

Der Workshop befasste sich mit dem Einsatz von Bewegung in der Arbeit mit Angehörigen-<br />

und Betreuungsgruppen und richtete sich an den interessierten Bewegungslaien, um Anregungen<br />

und Beispiele zu geben, wie ein Zugang zur Bewegung (sowohl <strong>für</strong> den Gruppenleiter<br />

als auch <strong>für</strong> den Teilnehmer) gefunden werden kann.<br />

Bewegung an sich kann vielfältige positive physiologische Auswirkungen auf den Menschen<br />

haben, vor allem aber ermöglicht freies Bewegen in der Gruppe nonverbale soziale<br />

und emotionale Erfahrungen, selbst, wenn körperliche Funktionen eingeschränkt sind.<br />

Trotz dieser positiven und vielfältigen Auswirkung von Bewegung scheuen sich oftmals<br />

Gruppenleiter Bewegungsangebote in ihre Arbeit zu integrieren, da der Einsatz von Bewegung<br />

nicht nur <strong>für</strong> den Gruppenteilnehmer, sondern auch <strong>für</strong> den Gruppenleiter schnell zu<br />

Leistungsdruck oder Hemmungen führen kann. Die eigenen Erfahrungen, die im Laufe des<br />

Lebens mit rein funktionalisierter Bewegung gemacht worden sind, können ein Grund <strong>für</strong> die<br />

Barrieren sein, Bewegung einzusetzen, selbst wenn die Motivation dazu da ist.<br />

Unter dem Dach „Bewegung“ kann sowohl eine gymnastische Übung als auch vielfältige,<br />

teils strukturierte, teils spontane Bewegungen zu Musik, Geschichten, Gedichten, sowie<br />

Tänze und Entspannungsübungen gefasst werden.<br />

Zur Aktivierung zählen hier Angebote, die die Aufmerksamkeit anregen und zur Kontaktaufnahme<br />

in der Gruppe führen; zur Entspannung zählen Angebote, die zur eigenen Person<br />

zurückführen.<br />

1. Angehörigengruppen<br />

Der <strong>Pflege</strong>alltag bringt viel Stress und Aufregung mit sich. Die Angehörigen stehen häufig<br />

unter großer Anspannung. In den Gesprächsgruppen <strong>für</strong> pflegende Angehörige hat der Angehörige<br />

die Chance, etwas davon im Gedankenaustausch mit anderen Betroffenen loszuwerden.<br />

Dabei kann ein Bewegungsangebot in einer Angehörigengruppe ein zusätzliches<br />

Element sein, das zum einen die Struktur der Gruppe auflockert, zum anderen hilft, soziale<br />

oder emotionale Spannungen abzubauen.<br />

Entspannungsübungen beispielsweise können das Bewusstsein der <strong>Pflege</strong>nden auf eine<br />

andere Seinsebene lenken. Bewegung bewegt, der <strong>Pflege</strong>nde kann vielleicht einmal loslassen,<br />

an etwas anders denken, den „normalen Alltag“ vergessen und sich selbst Aufmerksamkeit<br />

schenken.<br />

Bewegung als Element in der Gruppenarbeit mit Angehörigen heißt, neben dem Kopf auch<br />

Körper und Seele / Gefühle anzusprechen und somit die Selbst<strong>für</strong>sorge anzuregen.<br />

1.1 Ziele der Bewegungsförderung in Angehörigengruppen<br />

• Förderung der Gruppenzusammengehörigkeit, sich kennen lernen<br />

• Förderung der Körpererfahrung/des Körperbewusstseins<br />

• Förderung der Selbst<strong>für</strong>sorge<br />

• Abbau von Stress und Spannungen


• Ausgleich zur „Kopfarbeit“ der Gespräche in den Angehörigengruppen<br />

• Förderung des Wohlbefindens<br />

• Distanz zum Alltag gewinnen.<br />

1.2 Methodische Aspekte<br />

85<br />

1.2.1 Rahmenbedingungen:<br />

• Bewegungsübungen können als ein regelmäßiges Angebot bei jedem Treffen oder<br />

als spontanes Angebot (je nach aktueller Gruppensituation) durchgeführt werden.<br />

• Je nach räumlichen Möglichkeiten und Verfassung der Gruppenteilnehmer kann das<br />

Angebot am Tisch, im Stuhlkreis, sitzend oder stehend oder im Freien stattfinden.<br />

• Bewegungsangebote sind nicht geeignet <strong>für</strong> offene Gruppen, in denen die Teilnehmer<br />

sich nicht kennen und keine verbindliche Teilnahme besteht. Ein Mindestmaß an<br />

Regelmäßigkeit und Vertrauen ist <strong>für</strong> das Einlassen auf Bewegungsangebote nötig.<br />

1.2.2 Mögliche Probleme:<br />

• Schwierigkeiten <strong>für</strong> Angehörige: Hemmungen, da ungewohntes Angebot, Ablehnung,<br />

Angst vor Blamage.<br />

• Schwierigkeiten <strong>für</strong> Anleiter: Hemmungen sich in Bewegung zu zeigen, Unsicherheit,<br />

Leistungsdruck.<br />

1.2.3 Angebotsstruktur:<br />

• Die Angebote sollten (sowohl <strong>für</strong> Anleiter als auch Gruppenmitglied) unkompliziert<br />

und leicht nachvollziehbar sein.<br />

• Bewegungen sollen klare, einfache und wiederholbare Strukturen haben.<br />

• Angebote, die Bewegung und Vorstellungsbilder (z.B. Bewegungsgedichte, Qi Gong<br />

Übungen) verbinden, können einen Zugang zur Bewegung ermöglichen, der Leistungsdruck<br />

und Hemmungen umgeht.<br />

1.2.4 Verhalten des Anleiters<br />

• Der /die Anleiter/in macht die Übungen vor und mit.<br />

• Blickkontakt herstellen.<br />

• Bewegungen ausprobieren und sich zunächst selbst aneignen.<br />

• Das anbieten, worin man sich selbst sicher fühlt.<br />

• Bewegungsangebote finden, die einem selbst Spaß machen.<br />

• Bewegungsunsicherheiten vor der Gruppe zugeben, Fehler akzeptieren.<br />

• Beobachten was macht der Gruppe Spaß und Freude, was kommt an, was nicht.<br />

• Angebotsdauer richtet sich nach der Gruppe und deren Aufmerksamkeitsspanne.<br />

• Mit den Angehörigen je nach Angebot eine Auswertung machen: Wie ist es mir ergangen.<br />

1.3 Praxisbeispiele:<br />

1.3.1 Aktivierende Angebote<br />

Einfache <strong>für</strong> Laien nachvollziehbare aktivierende Tänze finden sich auf der CD: Tänze <strong>für</strong> die<br />

Gruppe (vgl. CD und Literaturliste)<br />

Beispiel :Begrüßungstanz:<br />

Tanz : " Biserka" CD: Tänze <strong>für</strong> die Gruppe<br />

Elemente : Wiegeschritte am Platz, Wiegeschritte nach vorne und nach hinten, Hüpfer, Drehungen<br />

mit Partner


86<br />

Tanzanleitung<br />

Einfache Version: Kreis (mit oder ohne Handfassung)<br />

• 16 x auf der Stelle wiegen.<br />

• 4 Schritte re-li-re-li zur Kreismitte (Kreis rückt enger zusammen).<br />

• 4 Wiegeschritte am Platz.<br />

• 4 Schritte rückwärts (re-li-re-li ) zurück (Kreis wird wieder größer).<br />

• 4 Wiegeschritte am Platz.<br />

Wdh. bis Ende der Musik<br />

1.3.2 Entspannende Angebote<br />

Gut eignen sich z.B. Elemente aus dem Qi Gong. Die langsamen und harmonischen Bewegungen,<br />

die mit Vorstellungsbildern gekoppelt werden, erleichtern zum einen den Zugang zur<br />

Bewegung und zum anderen wirken sie beruhigend und zentrierend.<br />

Gerade in Angehörigengruppen kann der Schwerpunkt zunächst auf entspannenden Angeboten<br />

liegen. Sich selbst wieder spüren zu können ist die Voraussetzung, um wieder in Kontakt<br />

zu anderen gehen zu können.<br />

Beispiel: "Wecke das Chi"<br />

� Hüftbreit stehen<br />

� Knie weich, leicht gebeugt, Arme hängen nach unten.<br />

� Die Handgelenke treiben nach oben, bis die Arme auf Schulterhöhe ankommen (dabei<br />

einatmen und die Knie leicht strecken); Hände hängen locker wie Bärentatzen nach unten.<br />

� Ellenbogen zum Körper heranziehen, Hände richten sich auf.<br />

� Hände sinken nach unten, gleichzeitig beugen sich die Knie.<br />

� Mehrmals wiederholen.<br />

Da die Übungen schwer aus Büchern zu erlernen sind, ist es ratsam sich die Übungen in<br />

einem Qi Gong Kurs anzueignen oder sich <strong>für</strong> die Gruppe eine Qi Gong Lehrerin einzuladen.<br />

2. Betreuungsgruppen<br />

„Demenzkranke sind nicht mehr in der Lage, <strong>für</strong> ein anregungsreiches Umfeld und die Gestaltung<br />

ihrer Lebensbedingungen zu sorgen, deshalb müssen die Anregungen aus dem (therapeutischen)<br />

Umfeld kommen “ Eisenburger, Alzheimer Info 2/2002.<br />

Eine mögliche Anregung <strong>für</strong> die Gruppenarbeit mit demenzkranken Menschen ist die Bewegungsförderung.<br />

Die Workshop-Leiterinnen haben mit ihren Bewegungsangeboten in Gruppen<br />

- sowohl mit leicht, als auch mit schwer demenzkranken Menschen – gute Erfahrungen<br />

gemacht.<br />

Die Ziele dieser Bewegungsangebote haben einen anderen Schwerpunkt wie in den Angehörigengruppen.<br />

2.1 Ziele der Bewegungsförderung in Betreuungsgruppen<br />

• Förderung des Wohlbefindens und Selbstwertgefühls (ich kann etwas).<br />

• Soziale Erfahrung ermöglichen: sich kennen lernen, wir machen etwas miteinander,<br />

Spaß in der Gruppe, Kontaktaufnahme untereinander.<br />

• Möglichkeit, sich nonverbal ausdrücken zu können (besonders entlastend <strong>für</strong> Demenzkranke<br />

mit Sprachstörungen).<br />

• Abbau von Spannungen/Aggression<br />

• Möglichkeit zum Gefühlsausdruck<br />

• Erhaltung und Förderung der Beweglichkeit<br />

• Förderung von Körpererfahrung zur Erhaltung von Identität<br />

• Stärkung eines positiven Selbstbildes.


2.2 Methodische Aspekte:<br />

2.2.1 Rahmenbedingungen: vgl. 1.2.1<br />

87<br />

2.2.2 Mögliche Probleme:<br />

• Die Gruppenmitglieder haben unterschiedliche Einschränkungen, z.B. in ihrer körperli-<br />

• chen Beweglichkeit oder Auffassungsgabe.<br />

• Leistungsdruck schafft Stress und Versagensgefühle.<br />

• Anleiter ist zu ehrgeizig und überfordert Gruppenmitglieder.<br />

2.2.3 Mögliche Angebote:<br />

• Geschichtentänze: Die Anleiterin erzählt eine Geschichte und die Teilnehmer bewegen<br />

sich dazu. Selbst wenn die Anleiterin die Bewegungen vorgibt, ist noch genügend<br />

Spielraum <strong>für</strong> die eigene Ausführung der Bewegung im Rahmen der körperlichen Mög-<br />

lichkeiten. Durch die Geschichte wird der Fokus auf die Vorstellung und nicht auf das<br />

"Richtig machen" der Bewegungen gelegt.<br />

2.3 Verhalten des Anleiters<br />

• Vom strukturierten zum spontanen Ausdruck führen.<br />

• Nonverbale Impulse verstärken.<br />

• Kein Leistungsdruck, keine Korrektur einzelner.<br />

• Unterschiedliche körperliche Grenzen akzeptieren, Bewegungen den Möglichkeiten<br />

der Teilnehmer anpassen.<br />

• Verschiedene Leistungslevel akzeptieren, jeder macht so mit, wie er kann, individuel-<br />

les Ausführen erlauben.<br />

• Chaos zulassen<br />

• Anleiterin gibt eigene Schwächen zu.<br />

• Den angebotenen Energielevel der Gruppe annehmen und langsam verändern.<br />

• Anleiter/in erklärt die Übung mit wenigen Worten, macht Übungen vor und mit.<br />

• Bewegungen sollen klare, einfache und wiederholbare Strukturen haben.<br />

• Bewegung mit Text begleiten, Anleiter spricht/summt/singt dazu langsam, laut und<br />

deutlich, viele Wiederholungen, wenige Übungen.<br />

• Einfache Anweisungen geben, z.B. einen Arm hoch, jetzt den anderen Arm hoch (nicht<br />

rechter Arm, linker Arm, keine Korrektur).<br />

• Mit Bildern arbeiten, z.B. einen Baum darstellen, einen Vogel nachmachen.<br />

• Aufgreifen spontaner Bewegungen, Rhythmen der Gruppenmitglieder.<br />

• Gefühlsausdruck verstärken.<br />

• Gruppenleiter nimmt aktiv Kontakt auf (Blick, Haltung zugewandt).<br />

• Spaß und Kommunikation anregen.<br />

2.4 Praxisbeispiele<br />

2.4.1 Aufwärmen<br />

Aufwärmen mit Gelenkbewegungen:<br />

Gelenke sind die "Tore <strong>für</strong> die Energie". Begonnen werden kann mit den Gelenkbewegungen<br />

der äußersten Extremitäten (Händen und Füßen), da diese bei vielen Teilnehmerinnen am<br />

wenigsten in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind und somit sofort Erfolgserlebnisse vermitteln.<br />

Daran anschließen sollten sich weitere Gelenkbewegungen (Ellenbogen, Schulter,<br />

Fußgelenke, Knie, Hüfte), um den Körper im Ganzen durchzulockern, den Energiefluss und<br />

die Atmung anzuregen.


88<br />

Aufwärmen mit Gesang:<br />

Die weiteren Angebote können in einem Lied gesungen werden, um den Spaß an der Bewegung<br />

und damit den Spaß am Ausdruck zu wecken.<br />

Musikbeispiel: Lilli Marleen, Ein Freund ein guter Freund oder Gymnastiklied<br />

Bewegungsanleitung und MC: Harms/Dreischulte, Musik erleben und gestalten mit alten<br />

Menschen.<br />

Allgemein sollten die Bewegungsfolgen zum einen alle Körperbereiche durchgehen und nicht<br />

zu einseitig sein, zum anderen sollten die Bewegungswechsel nicht zu schnell aufeinander<br />

folgen.<br />

Die Erfahrung möglichst vieler verschiedener Bewegungsunterschiede oder Bewegungsqualitäten<br />

vermittelt Bewegungsfreiheit und Bewegungskompetenz.<br />

Das Wiedererinnern der Lieder vermittelt Freude und führt oftmals auch zum spontanen<br />

Ausdruck und zur Kontaktaufnahme in der Gruppe. Hier kann die Anleiterin den spontanen<br />

Impulsen der Gruppe folgen, indem sie die Bewegungen aus der Gruppe aufgreift.<br />

2.4.2 Geschichtentanz „Spaziergang im Herbst“<br />

Musik: CD Yüan Dao : Elefantenschwung<br />

Inhalt: verschiedene Bewegungsqualitäten<br />

Art: Sitztanz<br />

Alle Sequenzen auf 8 Zählzeiten (langsames Gehen)<br />

� Gehen: Berg rauf gehen (anstrengend)<br />

� Berg wieder runter (leicht)<br />

� Sitzen auf der Parkbank und in alle Richtungen den Kopf bewegen (schauen).<br />

� Begrüßen anderer Spaziergänger mit winken oder Hut heben.<br />

� Bäume wiegen sich im Herbstwind.<br />

� Blätter fallen herab, auf den Kopf bis auf die Füße (Arme sind unten, Oberkörper nach<br />

unten gebeugt).<br />

� Sonne geht auf und Sonnenstrahlen leuchten durch die Bäume (Arme von unten nach<br />

oben aufsteigen lassen 2 x).<br />

� Sonne wärmt die Erde und wärmt mich.<br />

� Kinder wirbeln Laub auf.<br />

� Bewerfen sich gegenseitig.<br />

� Gärtner kommt und schiebt das Laub zusammen.<br />

� Der Mond geht auf am Himmel.<br />

� Mond schaut nach rechts und links.<br />

� Wir gehen nach Hause.<br />

� Die Tiere legen sich schlafen und die Vögel stecken den Kopf unter das Gefieder.<br />

2.4.3 Geschichtentanz „Gewittertanz“<br />

Musik: Buch und MC Musik erleben und gestalten mit alten Menschen<br />

Inhalt: verschiedene Stimmungen und Bewegungsqualitäten von leicht bis kräftig, Bewegung<br />

aller Gelenke, bietet Möglichkeiten zum Abreagieren von Spannung.<br />

Art: Sitztanz<br />

Zuerst werden die einzelnen Sequenzen des Gewitters in einen Bewegungsausdruck umgesetzt:<br />

Wind, Wolken, Regen, Platzregen, Donner, Blitz, Regenbogen.


89<br />

Auf die Musik werden die Gesten nacheinander umgesetzt z.B.<br />

Regen/Wind: - Hände über den Kopf halten und die Finger bewegen. Oberkörper im<br />

Rhythmus hin und her bewegen.<br />

- In verschiedenen Ebenen regnen lassen.<br />

- Einen Platzregen auf die Arme machen.<br />

Blitz: In die Hände klatschen, zu anderen klatschen, im oder gegen den<br />

Rhythmus der Musik.<br />

Donner: Mit den Händen auf die Oberschenkel klatschen, mit den Füßen stampfen.<br />

Regenbogen: Nach oben schauen und die Arme nach oben führen. Gestreckte Arme<br />

nach unten führen.<br />

2.4.4 Entspannende Angebote: wie 1.3.2<br />

Weitere Angebote:<br />

Bewegung nach Gedichten aus dem Qi Gong<br />

Als gute Möglichkeit erweist sich hier auch das gemeinsame Gestalten von Gedichten.<br />

Beispiel: "Ein Mönch wollte spazieren gehen"<br />

• Ein Mönch wollte spazieren gehen: Hände auf den Rücken legen.<br />

• Er setzt den ersten Schritt: Rechter Fuß wird mit der Ferse aufgestellt.<br />

• Er entdeckt eine Blume: Blick zum rechten Fuß.<br />

• Er wendet sich ihr zu: Oberkörper zum rechten Fuß beugen, Arme vorstrecken.<br />

• Er nimmt ihren Duft auf: Oberkörper richtet sich auf, Hände werden zum Herzen geführt.<br />

• Und schenkt ihn der Welt: Arme werden nach vorne geöffnet und ausgebreitet.<br />

• Wdh. nach links.<br />

Die genannten Praxisbeispiele verstehen sich als Anregungen.<br />

2.5 CD und Literaturliste<br />

� Tänze <strong>für</strong> die Gruppe: 12 Gruppentänze von B. Weiser/ Arbeitsgemeinschaft <strong>für</strong> Gruppen-Beratung<br />

mit Tanzanleitung<br />

� Yüan Dao, Der runde Weg, CD<br />

� Musik erleben und gestalten mit alten Menschen, Harms/Dreischulte<br />

(G.Fischer Verlag) und dazu passende MC<br />

Zu beziehen bei: Dieter Balsies Versand und Verlag , Eckernförder Straße 341, D-24107<br />

Kiel, Tel: 0431-563459


90<br />

Meinhard Loibl, Ministerialrat im Bayerischen <strong>Staatsministerium</strong> <strong>für</strong> Arbeit und Sozialordnung,<br />

Familie und Frauen<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse und Abschluss der Fachtagung<br />

Zu den Ergebnissen:<br />

Das Thema der diesjährigen Fachtagung „Weiterentwicklung in der Angehörigenarbeit –<br />

Wissen und Methoden <strong>für</strong> die Praxis“ ist meiner Meinung gut und differenziert abgehandelt<br />

worden. Ich konnte in vielen Gesprächen „am Rande der Tagung“ große Zufriedenheit feststellen.<br />

Lassen Sie mich zu einzelnen Elementen kurze Anmerkungen machen, ohne dass<br />

ich hierbei eine umfassende Sichtweise anstrebe.<br />

Zu den Referaten:<br />

• Referat Dr. Braunwarth: Eine angenehm praxisnahe Hinführung zu gerontopsychiatrischen<br />

Sachverhalten. Ich räume <strong>für</strong> zukünftige Fachtagungen (auch <strong>für</strong> einschlägige<br />

Fortbildungsangebote) der Beschäftigung mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen<br />

- nicht nur medizinisches Wissen, sondern auch Versorgungs-, Planungsfragen,<br />

neue pflegerische Ansätze sowie Austausch differenzierter Praxiserfahrungen - eine<br />

hohe Priorität ein.<br />

• Referat Frau Weigand/StMAS: Schon die zahlreichen Nachfragen haben die Aktualität<br />

ihrer Ausführungen bewiesen. Da das Pflegleistungs-Ergänzungsgesetz in der<br />

Zukunft – trotz seiner Mängel – <strong>für</strong> die Weiterentwicklung der ambulanten <strong>Pflege</strong> sehr<br />

wichtig ist, schlage ich <strong>für</strong> die nächste Fachtagung eine nochmalige Beschäftigung<br />

vor. Die jetzt noch nicht vollständig vorliegenden Umsetzungsregularien liegen dann<br />

vor und man kann sich dann darüber austauschen.<br />

• Referat Dr. Lindstedt: Für mich war faszinierend die Fülle des Materials einschließlich<br />

der typisierenden Ordnungskategorien, die Anschaulichkeit der Präsentation und die<br />

durchaus bedeutsamen und <strong>für</strong> die Praxis immer wichtiger werdenden ethischen Fragestellungen<br />

(Vergleiche auch die Forderung nach einer „Enquête der Heime“ beim<br />

Deutschen Bundestag (Uni Bielefeld).<br />

Die Workshops boten bunte Themen und gute Anregungen, die Vielfalt im Arbeitsfeld Angehörigenarbeit<br />

spiegelt sich wieder. Die Methode der Duplizität des Angebots ist günstig<br />

und sollte beibehalten bleiben.<br />

Vorschläge <strong>für</strong> die nächste(n) Fachtagung(en):<br />

• Den Fachkräften in der Angehörigenarbeit sollte eine moderne umfassende seniorenpolitische<br />

Sichtweise geboten werden, um ihr Arbeitsfeld und seinen Stellenwert<br />

insgesamt besser einschätzen zu können – auch <strong>für</strong> Argumentationen vor Ort (trägerintern,<br />

gegenüber der Kommune). Im Sozialministerium wird derzeit ein „Seniorenpolitisches<br />

Konzept“ erarbeitet. Darüber könnte nächstes Jahr referiert werden.<br />

• Ein Internetauftritt der Angehörigenarbeit – unter Einbeziehung des Internetauftritts<br />

des Sozialministeriums zum „<strong>Netzwerk</strong> <strong>Pflege</strong>“ oder ggf. unter dessen Federführung<br />

– wäre unter vielen Nutzungsperspektiven aber auch hinsichtlich der Selbstdarstellung<br />

günstig. Wie und wo kann ein gutes und <strong>für</strong> die Praxis hilfreiches Konzept erarbeitet<br />

werden?<br />

• Workshops/knappe Fortbildungsangebote zu Teilthemen wie z.B. <strong>Pflege</strong>leistungs-<br />

Ergänzungsgesetz, Leitung von Angehörigengruppen und von Betreuungsgruppen,<br />

systematische Einwerbung und Begleitung von ehrenamtlichen Mitarbeitern usw.


91<br />

Zum Abschluss der Fachtagung eine persönliche Erklärung:<br />

Ich habe an der diesjährigen Fachtagung noch teilgenommen, obwohl ich mich beruflich verändert<br />

habe (im Ministerium ein anderes Referat: Bürgerschaftliches Engagement , Tarifwesen,<br />

Heimarbeitsausschüsse); ich wollte <strong>für</strong> die diesjährige Fachtagung im Sinne der Kontinuität<br />

noch einmal Mitverantwortung tragen und mich auch von Ihnen, den Tagungsteilnehmerinnen<br />

und –teilnehmern verabschieden. Ich bin sehr dankbar, dass ich die berufliche<br />

Chance hatte, in den vergangenen acht Jahren an wichtiger Stelle meinen Beitrag zu leisten,<br />

die Angehörigenarbeit aufzubauen. Es war eine spannende und sehr befriedigende Aufgabe,<br />

das Engagement hatte immer eine enge Bindung zum eigenen Leben und zu alltäglichen<br />

Erfahrungen. Der Sinnbezug des eigenen beruflichen Tuns war also immer gegeben. Und<br />

unsere Fachtagungen habe ich sehr geschätzt, ermöglichten sie uns Ministerialen doch, einen<br />

wichtigen Kontakt zur Praxis zu finden und zu halten. Ich habe bei diesen Fachtagungen<br />

immer gelernt, nicht nur von den Fachbeiträgen, sondern insbesondere aus den vielen informellen<br />

Gespräche mit Ihnen auf gleicher Augenhöhe. Ich möchte Ihnen danken <strong>für</strong> diesen<br />

angenehmen und selbstverständlichen Umgang. Ich fühle derzeit ein gewisses Gefühl der<br />

Wehmut beim Abschiednehmen. Aber zum Älterwerden, zum Reifen gehören das Weitergehen<br />

und gleichzeitig das Loslassen. Ich muss mich nun auf neue Aufgaben konzentrieren<br />

und bisheriges Engagement zurückstellen. Ich denke mit Freude zurück - es war eine befriedigende<br />

Aufgabe und eine schöne Zeit mit guten menschlichen Begegnungen. Noch mal<br />

herzlichen Dank und auf Wiedersehen!

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