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Treffpunkt - Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland eV

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Kaffeezeit<br />

Me<strong>in</strong>e Mutter, Ula Weissberg, gehörte zu den ersten<br />

Teilnehmer<strong>in</strong>nen des „<strong>Treffpunkt</strong>es“ <strong>in</strong> Frankfurt,<br />

trotzdem hörte ich von dem Projekt nicht<br />

gleich.<br />

Eigentlich war das verwun<strong>der</strong>lich. Me<strong>in</strong>e Schwester<br />

Eva, die <strong>in</strong> London lebt, und ich telefonierten mit<br />

me<strong>in</strong>er Mutter jeden Tag. Nach dem Tod me<strong>in</strong>es<br />

Vaters nahmen die Zahl <strong>der</strong> täglichen Gespräche<br />

zwischen me<strong>in</strong>er Mutter und mir zu und folgten e<strong>in</strong>er<br />

präzisen Rout<strong>in</strong>e. Ich erhielt den ersten Anruf<br />

von ihr um 14:30 Uhr Frankfurter Zeit, also kurz<br />

nach dem Frühstück <strong>in</strong> Philadelphia, wo ich lebe.<br />

Dann rief ich sie zu me<strong>in</strong>er Mittagszeit zwischen<br />

12 und 13 Uhr an, entwe<strong>der</strong> von zu Hause o<strong>der</strong><br />

vom Büro. Schließlich erhielt ich wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>en<br />

Anruf von ihr bevor sie zu Bett g<strong>in</strong>g—o<strong>der</strong> kurz<br />

vor ihrem E<strong>in</strong>schlafen. Der Tagesplan me<strong>in</strong>er Mutter<br />

war ebenso deutlich geregelt wie unsere Telefonanrufe.<br />

Am Vormittag um 11 Uhr gab es e<strong>in</strong>en<br />

Ausflug <strong>in</strong> das Café Lavazza <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fressgasse, das<br />

natürlich nicht so hieß, aber für diese Kaffeemarke<br />

Reklame machte. Am Nachmittag um 16 Uhr stand<br />

das Café Laumer auf dem Programm. Daneben<br />

gab es gelegentliche Mittag- o<strong>der</strong> Abendessen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em ch<strong>in</strong>esischen Lokal o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Steakhaus<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe ihrer Wohnung. Per Telefon bekam<br />

ich den genauen Bericht über das Geschehene<br />

und die Gespräche und die Neuigkeiten auf me<strong>in</strong>er<br />

Seite konnten nicht immer mithalten. Die drei<br />

täglichen Anrufe waren wichtig, strukturierten den<br />

Tag me<strong>in</strong>er Mutter wie auch me<strong>in</strong>en, und die Frage,<br />

wer wen kontrollierte, erübrigte sich e<strong>in</strong>fach.<br />

Die Anrufe waren e<strong>in</strong>e Art laufendes Tagebuch und<br />

Existenzversicherung. Wenn ich beruflich an e<strong>in</strong>er<br />

Konferenz teilnahm o<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>em Vortrag verreist<br />

war, telefonierte me<strong>in</strong>e Mutter zu den gleichen Zeiten<br />

mit me<strong>in</strong>em Mann.<br />

Ich wusste, dass me<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> die B‘nai B‘rith<br />

Loge gewählt wurde. Sie trug das Abzeichen stolz<br />

und g<strong>in</strong>g gerne zu den Veranstaltungen und gelegentlichen<br />

Abendessen—wenn es nur nicht zu spät<br />

wurde. Aber plötzlich, vor zehn Jahren, schienen<br />

sich die Logentreffen zu vervielfachen und fanden<br />

nun regelmäßig jeden Mittwoch nachmittag statt.<br />

Das war für sie wun<strong>der</strong>bar. Freudig erzählte me<strong>in</strong>e<br />

Mutter mir von den Kaffeetreffen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liebigstrasse,<br />

bei denen sie ihre Freund<strong>in</strong>nen aus dem<br />

Laumer wie<strong>der</strong>treffen konnte. Sie verabredeten<br />

sich schon im voraus telefonisch und me<strong>in</strong>e Mutter<br />

bestand oft darauf, dass alle <strong>in</strong> die Loge kommen<br />

mussten. Die Anrufe <strong>der</strong> Freund<strong>in</strong>nen untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />

waren ebenso häufig und geregelt wie die<br />

zwischen me<strong>in</strong>er Mutter und mir. In <strong>der</strong> Liebigs-<br />

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