REGIONEN<strong>sozial</strong> • Ausgabe 3 | 2013Nürt<strong>in</strong>gen/Essl<strong>in</strong>genE<strong>in</strong> Kämpfer lehrt ToleranzAls Kickboxer hat Gökhan Arslan alles erreicht, was zu erreichen ist. Als Migranthat er sich <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>e Existenz aufgebaut. Se<strong>in</strong>e Lebenserfahrung gibt eran K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche weiter.Kurze Atempause für Gökhan Arslan. Helm <strong>und</strong> M<strong>und</strong>-Gökhan Arslan hängt <strong>in</strong> den Seilen. Der Schweißdrückt aus se<strong>in</strong>en Poren. Helm <strong>und</strong> M<strong>und</strong>schutz hater abgenommen. Zweimal tief durchatmen. Danngeht es weiter: Tritte mit dem Fuß, Schläge mit <strong>der</strong>Faust, blitzschnell <strong>und</strong> fast tänzerisch ausgeführt.Ausweichen, wegducken, zuschlagen. Das war dieChoreographie. Jeweils drei M<strong>in</strong>uten lang. Danach:e<strong>in</strong> Handschlag, e<strong>in</strong>e schweißnasse Umarmung. Ersteigt aus dem R<strong>in</strong>g <strong>und</strong>stellt sich vor das gute DutzendMänner <strong>und</strong> Frauen.Deutet e<strong>in</strong>e Verbeugung an.Lächelt. Die Gruppe applaudiert.Und Gökhan, wie ihnhier alle nennen, beklatschtse<strong>in</strong>e Schüler <strong>und</strong> Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gspartner.E<strong>in</strong> respektvollesMite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gehört zurSportart. „Immer wennEgoismus <strong>in</strong>s Spiel kommtschutz hat er abgenommen.o<strong>der</strong> wenn jemand extremist, dann wird es schwierig“, das ist se<strong>in</strong>e Erfahrung.Gökhan Arslan ist nicht irgendwer. In <strong>der</strong> Kampfsportszenehat er e<strong>in</strong>en Namen: Weltmeister 2006,2011 <strong>und</strong> 2012. Im Oktober will er se<strong>in</strong>en Titel verteidigen– e<strong>in</strong> letztes Mal.Das Kickboxen hat er erst spät angefangen, mit 24Jahren. Und <strong>in</strong> etwas mehr als e<strong>in</strong>em Jahrzehnt alleserreicht, was man <strong>in</strong> dieser Sportart erreichen kann.Jetzt ist er 37 <strong>und</strong> f<strong>in</strong>det: „Ich muss mir nichts mehrbeweisen.“Was er sich erkämpft hat an Erfahrung im Sport <strong>und</strong>im Leben, das will er weitergeben – an K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong>Jugendliche. „Sie sollen auch an die Zukunft denken“,sagt er. „Sie sollen sich überlegen, was ist, wenn sie30 s<strong>in</strong>d.“Se<strong>in</strong>e „Tiger-Sportakademie“ <strong>in</strong> Essl<strong>in</strong>gen hat er vore<strong>in</strong>em guten Jahr aufgemacht. Er betreibt sie mit se<strong>in</strong>erFrau <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em befre<strong>und</strong>eten Ehepaar. „So etwasist nur zusammen machbar“, ist er überzeugt. DiePartner haben Geld <strong>in</strong> das Studio gesteckt <strong>und</strong> kümmernsich um Buchhaltung<strong>und</strong> Organisation. Arslanist <strong>der</strong> Sportexperte. „Je<strong>der</strong>von uns hat se<strong>in</strong>en Bereich,ke<strong>in</strong>er mischt sich <strong>in</strong> dieArbeit des an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>.“Fre<strong>und</strong><strong>in</strong>nen, Fre<strong>und</strong>e, Ehepartner<strong>und</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> sitzenim Empfangsraum <strong>und</strong>schauen bei türkischemTee <strong>und</strong> Kaffee dem Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gzu. E<strong>in</strong> italienischerGastwirt fachsimpelt mite<strong>in</strong>em kroatischen Kickboxer, <strong>der</strong> mit geschientemBe<strong>in</strong> <strong>und</strong> Krücken am Mattenrand sitzt. Die Konditionzweier Polizeischüler, die zum Gasttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g da s<strong>in</strong>d,fasz<strong>in</strong>iert die beiden Zuschauer. Liegestütze, Sprüngeaus <strong>der</strong> Hocke. Die <strong>jung</strong>en Männer auf <strong>der</strong> Mattetriefen. Aber sie geben nicht auf. „Vier<strong>und</strong>zwanzig,fünf<strong>und</strong>zwanzig, Schluss“, ruft Gökhan Arslan. DiePolizeischüler schütteln Arme <strong>und</strong> Be<strong>in</strong>e aus, schnappennach Luft. Arslan klopft ihnen anerkennend aufden Rücken.Mit 16 Jahren, erzählt Arslan, ist er von Anatoliennach Deutschland gekommen. „Von e<strong>in</strong>em Tag auf12
<strong>sozial</strong> • Ausgabe 3 | 2013REGIONENden an<strong>der</strong>en habe ich die Heimat verlassen müssen.“Nach e<strong>in</strong>em schweren Erdbeben waren die Verhältnisse<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Heimatstadt unerträglich geworden.Über diese Zeit spricht er nicht gerne.„In Deutschland habe ich zuerst bei VerwandtenUnterschlupf gef<strong>und</strong>en“, berichtet er, „dann habe ichAsyl beantragt.“ Er lebte im Asylheim <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>emFre<strong>und</strong> – <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Zeitlang sogar unter freiem Himmel.Schließlich kam er im Mietshaus e<strong>in</strong>es Onkelsunter. Er machte e<strong>in</strong> Berufsvorbereitungsjahr <strong>und</strong>arbeitete als Bauhelfer <strong>und</strong> Fahrer. Und er lerntese<strong>in</strong>e Frau Meliha kennen – e<strong>in</strong>e sunnitische Türk<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>er sehr konservativen Familie.Ihre Eltern waren gegen die Verb<strong>in</strong>dung. „E<strong>in</strong> Alevit<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Sunnit<strong>in</strong>, das g<strong>in</strong>g eigentlich gar nichtzusammen“, er<strong>in</strong>nert er sich. Dennoch haben diebeiden <strong>jung</strong>en Leute damals schnell beschlossen zuheiraten. „Bei mir gibt’s ke<strong>in</strong>en Unterschied zwischenSunniten <strong>und</strong> Aleviten“, betont er.Genau genommen, sagt Arslan, gebe es nur zweiProbleme im Leben: Religion <strong>und</strong> Nationalität. „Wennman die abschaffen könnte, hätten wir e<strong>in</strong>e guteWelt.“ Respekt <strong>und</strong> Toleranz an<strong>der</strong>en gegenüber, daslebt er – <strong>und</strong> das lehrt er. „Ich muss nicht das Gleichetun <strong>und</strong> denken wie <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e“, sagt er, „aber ichmuss ihm Respekt zeigen.“In Schulen <strong>und</strong> Vere<strong>in</strong>en erzählt er über sich <strong>und</strong>se<strong>in</strong>e Geschichte – <strong>und</strong> versucht den <strong>jung</strong>en Menschenbeizubr<strong>in</strong>gen, „wie man mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> umgehensoll auf dem Schulhof“. Und wie man sich wehrenkann gegen Stärkere. „Sich wehren zu können schadetnicht <strong>und</strong> gibt den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n Sicherheit.“ UmSelbstverteidigung geht es dabei nur am Rande.Arslan will den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>und</strong> Jugendlichen <strong>sozial</strong>esVerhalten beibr<strong>in</strong>gen. „Wichtig ist“, sagt er <strong>und</strong> hebtden F<strong>in</strong>ger, „die richtigen Wege zu zeigen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erSprache, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> verstehen.“ Kickboxen ist Körperbeherrschung,Selbstdiszipl<strong>in</strong>, Selbstvertrauen – <strong>und</strong>vor allem: Achtung des Gegners. „Wir geben unsimmer die Hand, wenn wir gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gekämpfthaben“, betont Arslan.Er scrollt den Term<strong>in</strong>kalen<strong>der</strong> se<strong>in</strong>es Smartphonesdurch. Vor zwei Tagen war er beim Integrationsausschuss<strong>der</strong> Stadt Kirchheim e<strong>in</strong>geladen – auf Vermittlungdes Fachdienstes Jugend, Bildung, Migration <strong>der</strong>Bru<strong>der</strong>haus<strong>Diakonie</strong>. Dort hat er e<strong>in</strong>en Vortrag gehalten.Thema: Was müssen Migranten selbst beitragen,um <strong>in</strong> Deutschland Fuß fassen zu können? Morgensteht e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit „<strong>Soziale</strong>sLernen“ <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em StuttgarterGymnasium auf dem Plan.„Die Direktor<strong>in</strong> hat michbeim Tag <strong>der</strong> offenen Tür <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er alevitischen Moscheeangesprochen, da habe ichmit me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n Kickboxenvorgeführt.“Für die Zeit nach den Schulferienhat er Term<strong>in</strong>e <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wohnort Nürt<strong>in</strong>gen<strong>und</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachbarstadt Kirchheim. Der FachdienstJugend, Bildung, Migration will ihn dort bei Projektengegen alkoholbed<strong>in</strong>gte Jugendgewalt e<strong>in</strong>setzen<strong>und</strong> als Motivator bei Sprachkursen für jugendlicheMigranten.Gökhan Arslan macht dabei gerne mit. „Ich versucheweiterzugeben, dass erfolgreich se<strong>in</strong> auch heißt,<strong>sozial</strong> zu se<strong>in</strong>“, sagt er. Und er erzählt von e<strong>in</strong>em kurdischenFreiheitshelden, <strong>der</strong> mit 24 Jahren h<strong>in</strong>gerichtetwurde. „Der hat vor <strong>der</strong> H<strong>in</strong>richtung gesagt: Es istnicht wichtig, lange zu leben, son<strong>der</strong>n viel zu tun <strong>und</strong>Gutes zu tun.“Die Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gse<strong>in</strong>heit ist zu Ende. Gökhan Arslans FrauMeliha hat Baklava verteilt <strong>und</strong> türkische Kekse. E<strong>in</strong>verschwitzter Boxer stillt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ecke se<strong>in</strong>e blutendeNase: Der kräftige Haken se<strong>in</strong>es Sparr<strong>in</strong>gspartnershatte ihn erwischt. Arslan ermahnt: „Ihr sollt Druckmachen, aber nicht hart schlagen.“ Die ersten kommenschon aus <strong>der</strong> Dusche, verabschieden sich. Je<strong>der</strong>bekommt e<strong>in</strong>en Handschlag. „Das ist normal beiuns“, kommentiert Arslan, „wir s<strong>in</strong>d wie e<strong>in</strong>e Familie.“msk ZGökhan Arslanist stolz auf se<strong>in</strong>e„Tiger-Sportakademie“.Nebendem E<strong>in</strong>ganghängen Bil<strong>der</strong>erfolgreicherSchüler.Schnelligeit <strong>und</strong>Körperbeherrschunggehörenzum Kickboxen –<strong>und</strong> Ausdauer imTra<strong>in</strong><strong>in</strong>g.13