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Food first! … damit Demokratie schmeckt - Heide Rühle

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<strong>Food</strong> <strong>first</strong>!<strong>…</strong> <strong>damit</strong> <strong>Demokratie</strong> <strong>schmeckt</strong> <strong>…</strong>Die Grünen ❙ EFAim Europäischen Parlament


InhaltEine Entdeckungsreise nach Europa 2Umweltschützer contra Agrarindustrie im »wilden« Osten 3Erhaltet die Vielfalt: Esst sie auf! 4Schnellmast-Hähnchen versus Freilaufhuhn 5Fast <strong>Food</strong> macht satt – Slow <strong>Food</strong> macht Arbeit 6Saure Milchbauern und Molkereien 7Verführerische Landidylle – wunschgemäß verpackt 8Kennzeichnung <strong>schmeckt</strong> nicht allen 9Wer auf den Markt darf 10Hygiene kontrovers 11Tierschutz im Supermarkt 12Handel zwischen global & regional 13Verschärfte Haftung 14Entscheidende Lücken im Sicherheitsnetz 15MehrWert entsteht, wenn gute Arbeit geschätzt wird 16Bewegung von unten: Der Ökolandbau breitet sich aus 17<strong>Demokratie</strong> hat man nicht, man muss sie machen 18Demokratische Mitentscheidung vom Acker bis zum Teller 19WTO und globale <strong>Demokratie</strong> – Lebensmittel und Ernährungssicherheit zuerst! 20Our world is not for sale 21Hunger nach <strong>Demokratie</strong> 22Interview mit <strong>Heide</strong> <strong>Rühle</strong> und Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf 25Quellen & Lesetipps 26Links & Adressen 27


»Der Share of Stomach entscheidet« erklärt uns ein Hamburger Marketingspezialist und Kenner der Ernährungswirtschaft.Fast 40 Prozent der konsumierten Lebensmittel gehen heute am klassischenSupermarkt vorbei via Tankstelle, Fast <strong>Food</strong>-Restaurant, Caterer, Großküchen undmobile Verkaufsstände – in den Magen der Verbraucher. Die Ernährungswirtschaft versucheimmer mehr, den Engpass Einzelhandel zu umgehen und weiche auf andereVertriebsformen aus. Auch würde immer mehr außer Haus verzehrt. Den Verbrauchernkomme dies entgegen. Wer nehme sich heute schon noch die Zeit zum Kochen? Nomadengleichstreife der moderne Konsument mal hier ein Häppchen mal dort einen Snack zu sichnehmend durch seinen Alltag. Amerikanische Forscher nennen es »Grazing« – eineKultur des ständigen Grasens, in Anlehnung an die typische Nahrungsmittelaufnahme vonKühen.Gerade vor dem Fernseher und Computer würden Unmengen an fett- und zuckerhaltigenSnacks verzehrt, oft zur Nervenberuhigung. Dies ist mit ein Grund für zunehmendesÜbergewicht bei Kindern. Rund 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschlandsind heute zu dick. So eine breit angelegte Kampagne gegen Fettleibigkeit wie in England,müsste man inzwischen eigentlich auch in Deutschland führen.sattRIPFast <strong>Food</strong> machtSlow <strong>Food</strong> macht6Die Gegenbewegung ist aber auch bereits in Deutschland angekommen: Der Fast <strong>Food</strong>Gewohnheit steht eine Bewegung der Slow <strong>Food</strong> Genießer gegenüber, die sich derErhaltung und Förderung der Ernährungskultur in allen Regionen Europas widmet.Ursprünglich aus einer gutbetuchten Feinschmeckerszene Italiens hervorgegangen,ist daraus eine breite Bewegung der Freunde des gemäßigten Konsums und des gutenGeschmacks geworden. Die Verbindung zwischen den Spezialitäten der Regionen, einervielfältigen Landwirtschaft und dem Genuss bei der Auswahl und Zubereitung guterLebensmittel ist hier gelungen. Nicht nur in der Landwirtschaft, auch im Tourismus undim Ernährungsgewerbe sind daraus Arbeitsplätze entstanden, die sich der Ernährungsqualitätzuwenden. Slow <strong>Food</strong> Kultur braucht mehr Zeit und Zuwendung. Das könnenwir in hektischen Zeiten gut brauchen.www. slowfood.de


Saure Milchbauern»Keinen Cent mehr für die Milch«,lautete die Parole der Discounter Aldi undLidl. Die Molkereien aber waren entschlossen,wie seit Jahren nicht mehr, dieses Mal mehrherauszuholen, für »ihre« Milchbauern. Dennwenn das Melken sich nicht mehr lohnt angesichtsweitreichender Senkungen der Interventionspreisefür Magermilchpulver undButter, dann bricht ihnen die Rohstoffbasisweg. »So eine dramatische Preisverhandlunghat es in 20 Jahren nicht gegeben« berichtetder Milchbauer und stellvertretende Vorsitzendeder Hochwald Molkereien. Aber derDiscounter Aldi verhandelte scharf, drohte<strong>damit</strong>, die gesamte deutsche Milchindustrieaus seiner Liste zu streichen. Am Ende gab’sund Molkereiendie gleichen Preise wie im Vorjahr. Lidl,der stets nach Aldi verhandelt, konnte davonprofitieren und die Milchmengen, diebei Aldi nicht untergekommen sind, zu nochniedrigeren Preisen listen. Beide Discountersetzen rund 50 Prozent der gehandeltenMilch und Milchprodukte um. Die englischenBauern zeigten, wie mit denkünftig noch schärfer werdenden Auseinandersetzungenumzugehen ist. Sieblockierten die Auslieferungslager vonLidl. Der Discounter gab nach und dieBauern erhielten 1,5 Cent mehr pro Liter Milch.www.abl-ev.deArbeit7


Verführerische LandidylleEin Termin mit der Verbraucherzentrale bringt uns nach Berlin. »Wer Lebensmittel ausindustrieller Tierhaltung verkauft, sollte das nicht hinter idyllischen Bildern versteckendürfen« so die Sprecherin. »Die Werbung bedient die Sehnsucht der Menschen nachUrsprünglichem und verstellt ihnen dadurch den Blick auf die Realität der Erzeugungsmethoden«.Endlich haben die Verbraucherschützer Recht bekommen: Das OberlandesgerichtFrankfurt hat eine Eierfirma aufgrund ihrer kleinbäuerlichen Landidylle aufEierkartons abgemahnt. Auch einer Geflügelfirma wurde untersagt, weiterhin Hähnchenfleischmit Hinweisen wie »aus tiergerechter Bodenhaltung« auszuzeichnen, wenndas Mastverfahren lediglich dem Normalstandard entspricht.Die Gegenbewegung geht wieder einmal von der französischen Ess- und Trinkkulturaus. Die so genannte geografische Herkunftsbezeichnung, die wir vom Wein kennen(AOC, Appellation d‘Origine Contrôlée) schützt die Verbindung zwischen den Orten desAnbaus und der besonderen Zubereitung, dem Geschmack und den Grundstoffen.Roquefort kommt aus dem Massiv Central und Champagner aus der Champagne undbei der Herstellung und Vermarktung gelten strenge Regeln und Schutzvorschriften.– wunschgemäss verpacktIm Streit um die weltweite Liberalisierung der Lebensmittelmärkte ist diese kulturellund gesetzlich verwurzelte geografische Kennzeichnung Gold wert.Die USA hätten sie in den WTO-Verhandlungen gerne getauschtgegen das Markenzeichen. Das würde bedeuten, dass z.B. Coca Coladas Markenzeichen V{tÅÑtzÇx kaufen und dann überall aufder Welt das Sprudelgetränk als V{tÅÑtzÇx herstellen undverkaufen dürfte.Bei der europäischen Gesetzgebung geht es in naher Zukunft umviel mehr als nur Kennzeichnung und Verpackung. Bei den Verhandlungenin der Welthandelsorganisation WTO geht es vorallem um Fragen der Ernährungskultur, der Bindung der besonderenBewirtschaftung an die Regionen und der besonderenVermarktung an eine umfassende Qualität der Lebensmittel.8www.vzbv.de


Kennzeichnung<strong>schmeckt</strong>nicht allen.Was draufsteht muss auch drin sein oderumgekehrt: Was drin ist muss auch draufstehen.Das ist eine der wichtigsten Verbraucherforderungen.Gerade bei verarbeitetenErzeugnissen liegt noch viel im Argen. Verbraucherwollen keine gentechnisch verändertenLebensmittel (GVO). Das bestätigen alleUmfragen seit Jahren. Nur mit einer eindeutigenKennzeichnung der Produkte können wirwählen, z.B. zwischen dem GVO-freien Tofuoder dem billigeren aus gentechnisch verändertemSoja. Aber genau so eine Wahl istunbequem für die, die ihren Profit darausziehen, dass man es eben nicht so genau weiß,warum scheinbar Gleiches einen unterschiedlichenPreis hat. Über 10 Jahre dauerte derStreit um die Kennzeichnung von GVO – nunmüssen alle Lebens- und Futtermittel gekennzeichnetwerden, wenn sie GVO enthalten odermit Hilfe von GVO hergestellt worden sind. Dasgilt gleichermaßen für Produkte, die unbeabsichtigtmit GVO verunreinigt wurden. Künftigfallen auch Aromen und Futtermittelzusatzstoffeunter die Novel <strong>Food</strong>-Verordnung.Jetzt entfaltet sich der Streitim Rahmen der WTO-Verhandlungenauf internationaler Ebenezwischen den USA und der EU. DieRegierung Bush hat die EU verklagt,da sie ihre GVO-haltigenErzeugnisse nicht auf deneuropäischen Markt bringendarf.Auch die Prozessqualität derLebensmittel sollte gekennzeichnetsein. Mit der Eier-Kennzeichnungsverordnunggeht die EU einen längst fälligenSchritt. Ab 2004 müssenEier einen deutlichen Hinweisdarauf tragen, ob sie in Käfig-,Boden-, Freilandhaltung oderökologisch produziert wordensind. So können wir wirklich entscheiden,was wir essen wollen.www.freiheit-<strong>schmeckt</strong>-besser.de9


Wer auf dendarf.Von Berlin aus ist es nicht weit nach Polen. Polen wird im Mai 2004 der EuropäischenUnion beitreten und bereitet sich seit Jahren darauf vor, das rechtliche Regelwerk derEU im eigenen Land anzuwenden. Auf dem Wochenmarkt in Warschau treffen wirDorota. Ihre Mutter hat bereits diesen Marktstand betrieben, Käse, Milch und Quarkverkauft. Dorota erzählt uns, dass es immer schwieriger wird, den traditionellenpolnischen Quark zu bekommen. Immer mehr Molkereien hätten umgestellt undwürden nun diesen dünn-wässrigen Quark verkaufen. Ihre Kundschaft verlangt dentrockenen, in Leinensäcken über Nacht abgehängten Quark, um die traditionellenTeigtaschen, die Pierogi, zu füllen. Piotr, Geschäftsführer einer ostpolnischen Molkereimeint: »Wir müssen modernisieren und neue Verfahren anwenden. Die Nachbarmolkereigehört schon zu einem französischen Konzern und die in Wegrow den Holländern.Schuld ist auch die EU. Sie lässt uns wenig Raum für unsere Qualität. Wir dürfen denQuark nur noch pasteurisiert verkaufen. Die Milch der Bauern muss der EU-Hygienerichtlinieentsprechen. Sie darf nur noch maximal 100.000 Keime pro Milliliter haben.Sonst gibt es Abzüge«. Laszlo, ein Kleinbauer, hat gerade auf fünf Kühe aufgestockt. Nunsoll er sich einen Kühltank anschaffen. Ob sich der Milchpreis langfristig halten wird,<strong>damit</strong> er die Raten bezahlen kann? Er hofft auf die direkten Kleinbauern-Zuschüsse ausBrüssel. Als so genannter Semi-Subsistenzbetrieb muss er der Bezirksregierung einenBetriebsentwicklungsplan vorlegen. So schlecht, meint Laszlo, wäre das nicht. Zumersten Mal würde eine Regierung seine Produktion für den Eigenbedarf und für denlokalen Markt anerkennen und er könnte sich auf die Spezialitäten seiner Regionkonzentrieren.10www.europa.eu.int/comm/agriculture/foodqual/quali_de.htm


HygienekontroversDie Milchhygiene-Richtlinien der EU setzteMitte der 80er Jahre einheitliche Grenzwertefür Rohmilch und pasteurisierte Trinkmilchfest. Nicht, dass die nationalen Regelungendie Gesundheit gefährdet hätten. Der mit demeuropäischen Binnenmarkt zunehmendegrenzüberschreitende Verkehr mit Rohmilcherforderte einheitliche Handelsnormen. Seithermüssen immer weniger Keime pro Milliliterdie Haltbarkeit und Transportierbarkeitder Milch garantieren. Der Rohstoff Milch wirdauf die Erfordernisse der Verarbeitung undeines sich zunehmend globalisierenden Beschaffungs-und Absatzmarktes ausgerichtet.Alte, handwerklich orientierte Verfahren habennicht nur aufgrund der höheren Arbeitskostendas Nachsehen. Vielfach werden siedurch die Hygieneregelungen gar von einerMarktteilnahme ausgeschlossen. Europaweitstreiten sich daher kleine Käsereien, Fleischverarbeiteraber auch direktvermarktendeBauern mit den Veterinärbehörden über dieAuflagen, die die ohnehin höheren Stückkostenweiter nach oben treiben. Als amBodensee der letzte kommunale Schlachthofgeschlossen werden sollte, hat nur ein breitesBündnis aus Bauern, Metzgern, Verbrauchernund Umweltschützern das Schlimmste verhindert.Die »Schlachthofinitiative Überlingen«betreibt heute den Schlachthof, dank der Bauernund Metzger, die sich nicht nur nach demniedrigsten Preis richten.Grüne Agrar- und Verbraucherschutzpolitikhat mit dazu beigetragen, dass die EU-Fleischhygieneregelungerstmalig Länderbehördenmehr Gestaltungsräume für das Nahrungsmittelhandwerkund die Direktvermarktungeinräumt. Automatisch geschieht das nicht –dagegen spricht alle Erfahrung. Nur unteraktiver Einmischung aller, die an handwerklichenVerfahren und lokalen Besonderheitenein Interesse haben, werden sich in denRegionen Regelungen finden lassen, diesowohl dem öffentlichen Bedürfnis nachSicherheit und Hygiene als auch dem Lokalenund Besonderen Rechnung tragen.11


Von Deutschland aus geht die Reise über den Ärmelkanal, ins »Mutterland« von BSE. Es istnicht lange her, da ließ ein Landwirtschaftsminister seine kleine Tochter vor laufendenKameras einen Burger essen, um zu zeigen, wie sicher das Fleisch des Königreiches sei.Als die ersten Menschen an BSE erkrankten, wurden Millionen Kühe gekeult und verbrannt.Dann kam die Maul- und Klauenseuche über das Land. Und wieder sah manRinder und Schafe auf Scheiterhaufen brennen. Kein Wunder, dass auf der Insel derTierschutz inzwischen Politiker und Wirtschaft zu notwendigen Reformen zwingt.Tierschutz imSupermarktAuf der Suche nach Wegzehrung landen wir in der fastklinisch anmutenden Gemüse- und Fleischabteilung vonMarks & Spencer, dem größten Anbieter von LebensmittelnEnglands. Säuberlich in Frischhaltefolie eingepacktpräsentiert sich uns ein breites Sortiment anBiogemüse und -obst. Schweineschnitzel, Hackfleischund Roastbeef: alles aus tiergerechter Haltung. »LetztesJahr wurden wir als tierfreundlichster Supermarktausgezeichnet«. Die britisch zurückhaltende Verkäuferinzeigt auf eine Plakette an der Wand hinter sich. »Wir müssen eben die Besten sein unddem Kunden bieten, was er möchte. Auch waren wir die Vorwürfe der Tierschutzorganisationenleid. Auf ihr Drängen hin unterschrieben wir vor Jahren eine ArtSelbstverpflichtungserklärung« erklärt uns der Geschäftsführer. Marks & Spencer hatinzwischen ein eigenes Label für Fleisch und Milch etabliert und verpflichtet seineLieferanten auf die hauseigenen Erzeugungsrichtlinien. Antibiotische Leistungsfördererund gentechnisch veränderte Futtermittel sind grundsätzlich nicht erlaubt. »Eieraus Käfighaltung« fährt er fort, »werden sie bei uns vergeblich suchen, auch nicht inverarbeiteter Ware. Da sind wir ganz konsequent«. Ob sie sich dadurch nicht einemPreisnachteil aussetzen, wollten wir wissen. »Nein«. Der Geschäftsführer lächelt.»Da wir um Qualität konkurrieren und nicht um Preise allein, müssen wir mehrmachen als nur den Standard«.12www.eurogroupanimalwelfare.org


Handel zwischenGLBALEin beliebtes »Spiel« ist das: Wer sind die Top-10? Wer ist der größte,wer ist Chef mit dem meisten Umsatz? Wer sagt den anderen, wo eslang geht? Und so erobern seit kurzem die deutschen Discounter Aldiund Lidl den französischen Markt und der US-amerikanische GigantWalMart dringt in deutsche Märkte ein. Der Tante-Emma-Laden hatlängst ausgedient, jetzt schließen die flächenärmeren klassischenSupermärkte die Türen. Discounter und große Verbrauchermärkte aufder grünen Wiese machen das Rennen. Der Lebensmittelhandel, dasNadelöhr, durch das die meiste Frischware wie auch verarbeitete Waremuss, wird immer internationaler, in der Beschaffung wie im Absatz.Doch es gibt im angespannten Netzwerk der Großen stets auch Laufmaschenund Löcher für die Kleinen. »Local <strong>Food</strong>« statt »Global <strong>Food</strong>«– einem Preiswettbewerb können sie in Europa nicht stand halten.Kleinere und auf regionalen Absatz angewiesene Supermarktkettenwie tegut/Hessen oder fenneberg/Allgäu setzen deshalb auf Qualität.Daher führen diese Läden nicht nur breite Sortimente an Bioprodukten,bewusst werden Erzeugnisse von Bauern aus der Region integriert.Und wer es wirklich ernst meint mit der Verbraucherkommunikation,der verpflichtet seine bäuerlichen Lieferanten, einmal im Monat selbsthinter der Theke zu stehen und zu verkaufen. Das wirkt nicht nurauthentisch – das fördert auch das gegenseitige Verständnis. Nur solässt sich das weit verbreitete Preisdumping der Discounter wirksamin Frage stellen.REGI NALSpielräume in einer sich globalisierenden Welt.www.iatp.org13


GESPERRTER BETRIEBDie Serie an Lebensmittelskandalenreißt nicht ab. In Deutschlandwurde wieder Dioxin imFuttermittel gefunden. DiesesMal hat es Schweinemäster inden neuen Bundesländerngetroffen. Wir ändern unsereRoute und fahren nach Thüringen.Eisiges Schweigen. Nein,das Landesamt sei nicht befugt,Auskunft zu geben, wir solltenuns ans Ministerium werden.Verschärfte HaftungNein, der zuständige Herr sei auf Dienstreise. Wir sollten morgen wieder kommen. Aufdem Flur treffen wir einen Journalisten. Er gibt uns Details seiner Recherche preis. EinTrocknungswerk sei es gewesen, es stamme noch aus DDR-Zeiten. Mit behördlicher Ausnahmegenehmigungwürden dort Futtermittel – in diesem Fall waren es Brot- und Kuchenreste– direkt durch die Abluft einer Steinkohleverbrennung geleitet und getrocknet. DieUntersuchung der Routineprobe sei durch die Behörden verschleppt worden, und sokonnte noch Wochen nach der Probenahme weiterhin belastetes Futter produziert undausgeliefert werden, auch an ein vom Q+S-Qualitätssicherungssystem der Fleischwirtschaftanerkanntes Futtermittelwerk. Die haben es ohne Qualitätsprüfung übernommen! Merkwürdig,wie sich die Abläufe immer wieder gleichen. »Die Viehseuchenkasse zahlt unskeinen Cent Schadenersatz«. Der Geschäftsführer der Agrargenossenschaft ist aufgebracht.Ihm haben sie sofort den Hof gesperrt. Alle 1.500 Schweine wurden getötet und entsorgt.Dabei habe er sich in den vergangenen Jahren mit einer eigenen Wursterzeugung einenguten lokalen Absatzmarkt aufgebaut. Nun sei sein Name mit in den Skandal gezogenworden. Wer trage denn nun die Verantwortung, wollten wir wissen. Die Behörde mitihrer Ausnahmegenehmigung oder diejenigen, die die Untersuchung verschleppt haben?Oder das Futtermittelwerk?14www.lebensmittelsicherheit.de


Entscheidende Lückenim SicherheitsnetzSeit dem BSE-Skandal ist die Sicherheit derLebensmittel nicht nur stark ins öffentlicheBlickfeld geraten, die Behörden haben seithergeradezu eine Flut von neuen Vorschriften undSicherheitsmaßnahmen erlassen. Eine eigeneeuropäische Lebensmittelbehörde wurdegegründet, Schnell- und Frühwarnsystemeeingerichtet, Informationspflichten festgelegt,<strong>damit</strong> die Wege kontaminierter Chargen rückverfolgt,Höfe geschlossen, Tiere getötet, dasFleisch beseitigt und Verbraucher gewarntwerden können.Und doch fehlt es an Entscheidendem: Wosind die Sanktionen, wo der Lizenzentzug,wenn zum wiederholten Male die Sorgfaltspflichtenverletzt werden? Schadenersatzregelungenmüssen wirksam im Vorfeldgeklärt sein, <strong>damit</strong> nicht jedes Mal die Bauernund Verbraucher erst klagen müssen, umdann doch entschädigungslos das Risikoalleine zu tragen. Ministerin Künast drängtnicht zuletzt aus diesem Grund auf ein verschärftesHaftungsrecht.Nach wie vor gilt die einfache Bauernwahrheit:Wer die Quelle sauber hält, braucht amWasserhahn nicht zu kontrollieren. Bauernbeginnen daher, eigene und dem vorsorgendenVerbraucherschutz verpflichtete Qualitätssicherungssystemeaufzubauen. So auch diebäuerliche Erzeugergemeinschaft für tiergerechteNutztierhaltung, NEULAND. Künftigkönnen sie über Futternetzwerke den regionalenFuttereinkauf gegenüber Metzger undVerbraucher klarer bezeugen. Riskante Futtermittelwie gentechnisch verändertes Soja ausÜbersee und Futtermittelzusatzstoffe sindohnehin verboten.www.neuland-fleisch.de15


Das solle ihm mal einer erklären, warum das besser und teurer sei. Gerhard dreht dasselbstgebackene Dinkelbrot in den Händen. Die Frau hinter der Hofladentheke lacht. IhreHände hätten einen Teil ihrer Seele hineingeknetet. Er könne aber auch gerne im Supermarktnebenan das Industriebrot kaufen. Die Zutaten seien sich ähnlich: Mehl, Wasser,Hefe und Salz – aber nicht gleich. Dinkel ist ein Getreide, das für Umwelt und Arbeit inder Landwirtschaft steht, sagt sie. Sie hat sich mit ihrem Mann für den biologischenAnbau entschieden und sich <strong>damit</strong> mehr Arbeit aufgehalst. Ihr Getreide wird nicht vomStaat aufgekauft, gelagert und mit Exportsubventionen auf den Weltmarkt gedumpt.MehrWertentsteht, wenn gute Arbeit geschätzt wird»Wir müssen uns selbst darum kümmern, dass unsere Produkte mehr Wert durch Verarbeitungbekommen, und wir müssen Leute finden, die das schätzen«. Wir kaufen das Brot,dazu den handgemachten Ziegenfrischkäse mit Kräutern sowie eine Flasche Apfelsaft undsetzen uns auf die Bank vor dem Laden.Unterschiede kann man schmecken. Bei Brot und Kartoffeln ist das eindeutig. Jean-Mauriceerzählt von seinem französischen Heimatstädtchen. Zehn verschiedene Bäckereien gibt esnoch und seitdem er sich erinnern kann, wird in den Familien und zwischen Bekannten undNachbarn immer wieder neu und heiß diskutiert, wer von diesen zehn das bessere Baguette,wer die knusprigeren Croissants backen würde. »Diese zehn Bäcker gibt es nur noch deshalb«,meint er schließlich, »weil keiner von uns die Vielfalt und den ewigen Disput missen möchte«.16


Hätte es sie damals nicht gegeben. Nicht nurdie jugendbewegten Pioniere der 20er Jahre.Nein, diese unzufriedenen, trotzigen undzornigen Bauern und Bäuerinnen, die nichteinverstanden waren mit dem Zeitgeist, derauf Chemisierung und Rationalisierung drängte.Zusammen mit wenigen Konsumenten undauch ein paar versprengten Wissenschaftlernnahmen sie hellsichtig bereits Ende der 60erJahre die negativen Umweltfolgen der Industrialisierungihrer Höfe wie auch den drohendenVerlust bäuerlicher Selbstständigkeitwahr. Sie wollten unabhängig sein vom Betriebsmittelzukaufund von der entmündigendenAblieferung ihrer Erzeugnisse am Genossenschaftstor.Geschlossene Betriebskreisläufe,eigene Vermarktung und eine neue Perspektiveder Existenzsicherung waren ihr Ziel.Und so setzte sich 1971 in Süddeutschland eineGruppe von 12 Männern und Frauenzusammen und gründete nebendem seit den 20er Jahren existierenden»Demeter-Bund« einen zweitenVerband, »Bioland«. Weitere Verbände,Dachorganisationen, internationale Zusammenschlüssefolgten. Bio ist heute in Europaein 8 Milliarden-Euro-Markt. Ohne Verbraucher,die bereit waren, weite Wege auf sichzu nehmen oder gar über <strong>Food</strong>-Coops einenTeil der Vermarktung in Eigenregie zu übernehmen,hätte dieser Markt nicht entstehenkönnen. 14.400 Biobetriebe gibt es allein inDeutschland, 130.000 in Europa. 3 Prozentder Betriebe Europas, 2 Prozent der Fläche,1,2 Prozent des Umsatzes. Das sei unbedeutendgering? Mag sein. Aber welch’ ein Verlustan Vielfalt, Qualität und Perspektiven fürBauern, Bäuerinnen und Verbraucher, wennwir diese 3 Prozent nicht hätten und nichtdaran glaubten, dass es noch viel mehr werdenkönnen!Bewegungvon unten:Der Ökolandbaubreitet sich aus.www.ifoam.de www.demeter.de www.bioland.de17


<strong>Demokratie</strong> hat man nicht, man muss sie machenZurück in Brüssel gehen wir zum Empfang der österreichischen Botschaft. Viele Gästekommen aus den neuen Beitrittsländern. Sprachengewirr wie Hintergrundmusik. DieWaldviertler eröffnen das Büffet. Zum Empfang gibt es Jauerlinger Cidre, wacholdergeräuchertenSchinkenspeck, Roastbeef von Weideochsen und feinen Bergkäse <strong>…</strong> DieMarke »Waldland« ist längst über alle Grenzen hinweg bekannt. Nahe der slowakischenGrenze, da wo sich einst Fuchs und Has gute Nacht gesagt haben, wurde vor fast dreißigJahren die Regionalbewegung ins Leben gerufen. Heute fördern EU-Programme wieINTERREG und LEADER PLUS solche Initiativen, europaweit.»Wird aus LEADER PLUS bald ein LEADER minus?« fragt ein Journalist provokativ indie Runde. Die Kommission scheint den Streit und bürokratischen Aufwand mit denMitgliedstaaten über die direkte Förderung von lokalen Initiativen leid zu sein. DenBeitrittsländern in Osteuropa wurde die Förderung der <strong>Demokratie</strong> von unten gar nichterst angeboten. Heißt Erweiterung der EU Verengung der <strong>Demokratie</strong>? Obwohl geradedie ex-kommunistischen Länder eine Stärkung der Zivilgesellschaft dringend bräuchten,hat die EU Kommission diese Aufgabe bisher sträflich vernachlässigt. Privateamerikanische Stiftungen waren da wieder mal schneller und unbürokratischer.An der Garderobe treffen wir den Kommissionsbeamten, der für die Vorbereitungsprogrammedes ländlichen Raums in den Beitrittsstaaten zuständig ist. Er lädt uns fürden nächsten Tag in sein Büro ein. »Ein verrückter Workshop war das«, sagt er schmunzelnd.»Wir kamen aus dem alten und dem neuen Europa und haben uns immer wiederkräftig in die Haare bekommen! Das Europäische Parlament hatte gemeinsam mitNichtregierungsorganisationen die Initiative für eine Reise nach Estland und Schwedenergriffen. Die Vertreter der NRO stellten Ansprüche auf Mitentscheidung bei den Fördermittelnfür die ländliche Entwicklung. Sonst sei das eine »top down«-Entwicklungwie früher. »Wir von der Kommission kamen zum ersten Mal mit Projekten vor Ort inBerührung, hatten Zeit, das auf uns wirken zu lassen. Wie wenig Mittel es manchmalbraucht, um die Arbeit der Menschen vor Ort zu unterstützen!« Das Telefon klingelt.Ein Vertreter der slowenischen Dorfbewegung erkundigt sich nach dem Fortgang seinesProjektantrages. Ein Kulturhaus soll eingerichtet werden, um für Jugendliche alsTreffpunkt und Veranstaltungsraum zu dienen. Die Kreisverwaltung traut den Dörflerndiese Arbeit nicht zu. »Viele der alten Funktionäre sitzen eben noch in den Ämtern«,erklärt uns der Beamte. Es brauche Geduld und langen Atem. »Der direkte Draht zwischenmir und zahlreichen Initiativen ist diesem verrückten Workshop zu verdanken.Jetzt, drei Jahre danach, gibt es ein Netzwerk mit tausenden von Organisationen, diesich selbst zutrauen, mit den Behörden zu verhandeln. Das war ein großer Schritt nachvorn«. »Im Moloch Brüssel«, fügt er augenzwinkernd hinzu, »sitzen eben auch Menschen«.18www.preparenetwork.org


Demokratische Mitentscheidungvom Acker bis zum TellerDas Europäische Parlament hat sich seineRechte Schritt für Schritt erkämpft. In Verbraucher-und Gesundheitsfragen gilt die Mitentscheidung,im Agrarbereich steht sie kurzbevor. Die Grünen im Europäischen Parlamenthaben einen wesentlichen Anteil an dieserEntwicklung. Sie konnten im Fall BSE und beiden Berliner Beschlüssen zur Agenda 2000(Reform der Agrarpolitik) nachweisen,dass es unter gleichberechtigterMitentscheidungdes Parlaments rechtzeitigdurchgreifende Korrekturengegeben hätte. Beider aktuellen Halbzeit-Reformhat dasParlamenteinen Kompromissvorgelegt, derden Ministern den Weg aus demVerhandlungspatt gewiesen hatund so den Weg ebnete für mehrMarkt, eine weniger intensiveErzeugung und auch eine gerechtereFörderpolitik. Die Mitgliedstaatensind jetzt gefordert,öffentliche Gelder umzuverteilenzugunsten einer umweltfreundlicherenund beschäftigungswirksamenQualitätserzeugung.Auch die grünenBeiträge zum Konvent überdie Zukunft Europas und dieEuropean AgriCultural Convention (EAC)haben wesentlich dazu beigetragen, dassjetzt im Verfassungsentwurf zumindest diegrundsätzliche Mitentscheidung in der agrarpolitischenGesetzgebung verankert ist.www.agriculturalconvention.org19


Paris, 14. Juli 2003. Letzte Station unserer Reise. Heute ist Nationalfeiertag in Frankreich,Tag der Revolution. Brütende Hitze. Wir haben uns ein schattiges Plätzchen in einemStraßencafé, nicht weit vom grün regierten Rathaus im zweiten Arrondissement, ausgesucht.Die Zeitung »Le Monde« berichtet, dass Präsident Chirac dem Bauern undGlobalisierungsgegner José Bové nur einen Teil seiner Haftstrafe erlassen habe. VorJahren hat José Bové ein McDonald’s-Restaurant auseinander genommen, jetzt war erwegen mutwilligen Ausreißens von gentechnisch veränderten Pflanzen zu 10 MonatenHaft verurteilt worden. »Auch das ist Europa«, sagt Antonio, der seit vielen Jahren fürein Gentechnik freies Italien kämpft. »Bei uns werden jetzt 400 Hektar mit Gentechnikverunreinigtem Mais auf Anordnung der Regierung zerstört. Für das ganze Land wurdeeine Null-Toleranz für gentechnisch veränderte Pflanzen verordnet. Bei Chirac wärendie Ordnungskräfte jetzt im Knast.«WTO und globale <strong>Demokratie</strong> –Lebensmittel und Ernährungssicherung zuerst!Ob uns der Kaffee <strong>schmeckt</strong>, will die Sekretärin des Bürgermeisters wissen. Er sei vonfair trade. »Und wo ist der fair gehandelte Zucker?«, wendet Alex von der französischenAttac-Bewegung ein. »Anstatt europäischen Zucker zu niedrigen Preisen auf den Weltmarktzu werfen, sollten doch besser afrikanische Länder vom hohen Preisniveau derEU profitieren.« Alex gerät so richtig in Fahrt. »Die EU muss endlich jegliches Export-Dumping streichen. Wir können dann unsererseits an den Grenzen Zölle gegen sozialesund ökologisches Dumping von Importware erheben. Damit diese Zölle sich nicht gegendie Länder der Dritten Welt richten, müssen wir die so abgeschöpften Gelder denEntwicklungsländern für Projekte der Ernährungssicherung zu Verfügung stellen.Bevor die Entwicklungsländer das Risiko des Preisverfalls für Exportprodukte wie Kaffeeoder Zucker eingehen, muss doch die Ernährung ihrer Bevölkerung gesichert sein!«Der Kaffee <strong>schmeckt</strong>. Ob es nun die Sorte ist oder das Röstverfahren oder die Visioneiner besseren und gerechteren Welt, spielt keine Rolle. Etwas müde gehen wir zurückins Tagungszentrum. Wir fühlen uns verbunden mit allen, die sich weltweit für mehr<strong>Demokratie</strong> in der Agrarpolitik und Ernährungswirtschaft einsetzen. Aber wir sind unsauch bewusst, dass wir in Europa sowohl eine große Chance als auch die Verantwortunghaben, diese Ideen und Werte hier in eine konkrete Politik umzusetzen.20www.ourworldisnotforsale.org


Globalisierung Ja oder Nein – die Fronten spitzen sich zu. Dennochgeht es letztendlich um die Frage, wie praktisch Einfluss genommenwerden kann auf die Spielregeln, die künftig weltweit gelten sollen,<strong>damit</strong> fair gehandelt wird. Das Europäische Parlament hat den vonden Grünen vorgeschlagenen »qualifizierten Außenschutz« inviele Resolutionen aufgenommen. Danach soll die EU bei allenLebensmittelimporten auf strenge Gesundheits- und Umweltstandardsbestehen. Bei Missachtung der Standards werden Zölle undStrafen fällig. Die so entstehenden Eigenmittel sollen den Entwicklungsländernfür Projekte der ländlichen Entwicklung zur Verfügunggestellt werden, die sie in die Lage versetzen, schrittweisedie geforderten EU-Standards zu erreichen.Our world is not for saleDamit der internationale Handel unsere Ansprücheauf ökologisch und sozial verträglich erzeugteLebensmittel nicht gegen Menschen in den Entwicklungsländernauslegen kann, muss es Regelneines fairen Handels geben. Ein erster Schrittdazu ist der »Fair Trade Markt« – der in vielenTeilen der Welt bereits entsteht. Bei den WTOVerhandlungen in Cancun und der Auftaktveranstaltungdes nächsten Weltsozialforums inIndien zeigen die Fair Trade Initiativen die demokratischenAlternativen zur »geschlossenen Gesellschaft«der laufenden WTO-Verhandlungen.Ein wichtiger Bündnispartner für den Aufbau diesesMarktes ist die Welternährungsorganisation FAO, eineOrganisation der Vereinten Nationen. Sie sucht inzwischenauch unter den Nichtregierungsorganisationen nach Verbündeten,um ein Gegengewicht zur WTO beim Aushandeln der Spielregelnbilden zu können.www.fairtradeexpo.orgwww.fao.org21


Hunger nachStimmt es, dass vielen Bürgern der Appetit auf EuropäischePolitik vergangen ist, nach dem Motto: aus der Ferneschön anzusehen aber vermutlich völlig unverdaulich?<strong>Heide</strong>: Nein, im Gegenteil, das Interesse anEuropa nimmt zu. Den Menschenwird klar, dass die EU ihr Leben immer mehr bestimmt.Aber sie stellen auch schnell fest, dass sienoch zu wenig wissen über die Entscheidungsprozesseund die Auswirkungen auf ihren Alltag. Werbestimmt, welche Pestizide und Medikamente eingesetztwerden dürfen? Welche Lebensmittel sindsicher? Wie schütze ich mich gegen Etikettenschwindel?Wer genauer hinschaut, bemerkt auchin der Ernährungswirtschaft den Mangel an <strong>Demokratie</strong>.Daraus erwächst Skepsis und manchmalAblehnung.Friwi: Das gilt aber nicht für alle. Es gibtauch regelrecht Hunger nach <strong>Demokratie</strong>.Das war so in Griechenland und Spaniennach Ende der Diktaturen und ist jetzt in den neuenBeitrittsländern aus dem früheren Ostblock derFall. Das Engagement in der Zivilgesellschaft istdort am Aufblühen und die Menschen stellen konsterniertfest: Das gelobte Land Europa hat auchseine bürokratische Kruste – Planwirtschaft in derAgrarpolitik, umständliche Antragsverfahren, Enttäuschung,dass kein Geld rüber kommt und dieEntdeckung, dass die eigene Regierung alle entstehendenProbleme gern auf Brüssel schiebt.Interview mit<strong>Heide</strong> <strong>Rühle</strong> (MdEP) undFriedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf (MdEP),den beiden Spitzenkandidaten derGrünen bei der Europawahl 1999Das klingt aber eher nach der berühmten Karotte, an dieder Esel nicht herankommt und der an der Nase herumgeführtwird.<strong>Heide</strong>: Stimmt nicht. Wir sind doch dabei,das Dickicht der Institutionen zulichten und die Entscheidungsstrukturen transparenterzu machen: An der Arbeit im Konvent überdie Zukunft Europas haben viele NRO teilnehmenkönnen und auch Einfluss genommen. Die nationalenParlamente waren beteiligt, einschließlichder neuen Mitgliedstaaten. Aber Europa ist nichtnur Haus der offenen Tür, die Leute müssen auchrein wollen und sich richtiggehend breit machen,Druck ausüben auf die Institutionen und Politiker.22


<strong>Demokratie</strong>Brüssel als Triebfeder der ländlichen Entwicklung, dasklingt als wäre die Agrarlobby am Ende.Friwi: Unsere politische Rolle liegt in derUnterstützung derjenigen, die sichin Europa und zu Hause einmischen wollen. Dashängt ja eng zusammen. Oft gibt es fortschrittlicheGesetzesrahmen aus Brüssel, die den Mitgliedstaatennicht passen. Zum Beispiel das LEADER-Programmfür die ländliche Entwicklung von unten.Als die regionalen Regierungen und lokalen Bürgermeistermerkten, dass Brüssel lokale Initiativen,die vorher nicht zum Zuge kamen, einfach direktförderte, kam Bewegung aufs Land. Im Vergleich zuden klassischen Förderprojekten für Autobahnenund Investitionshilfen für Industrieprojekte habendiese Programme kaum Geld gekostet, waren aberviel effektiver im Hinblick auf die Demokratisierungunserer Gesellschaften. Renate Künast hatetwas Ähnliches mit dem Wettbewerb »Regionenaktiv« angestoßen. Das mischt die alten verkrampftenEliten auf, die keine Veränderung wollen.<strong>Heide</strong>: Es gibt wirklich neue Sachzwänge,die Veränderungen erfordern. Ab2004 arbeiten wir mit 25 Ländern, aber der Haushaltwächst nicht entsprechend mit. Die reichenMitgliedstaaten können deshalb nicht mehr inKohl’scher Manier den Scheck zücken und Widersprüchezudecken, wir müssen gerechter verteilen –und einen europäischen Mehrwert erzeugen:Europa nicht nur melken, sondern füttern. Kohäsionheißt nicht nur Geld verschieben, sondernauch Lernprozesse und den Austausch von Erfahrungenorganisieren. Weniger Großprojekte, mehröffentliches Lernen.Friwi: <strong>…</strong> und öffentliches Verhandeln.Wenn wir die Beziehungen zwischenBauern und Verbrauchern mal nehmen, zwischenihnen klafft ein großes Loch, in dem der Mehrwert,von dem <strong>Heide</strong> spricht, verschwindet. Die Ernährungsindustriesahnt völlig unbehelligt ab, weilkaum jemand versteht, wie die Preise zustandekommen. Der Schlachthof teilt uns Bauern mit,wie viel beim Ausschlachten herausgekommen ist.Leider bleibt jedes Mal weniger übrig. VerarbeiteteLebensmittel werden im Supermarkt immer teurerund wir Bauern können kaum noch unsere Kostendecken. Ich kann auf dem Wochenmarkt meinenKunden erklären, warum die Kartoffeln das kosten,>23


Hunger nach>was sie kosten. Und wenn sie auf meinen Hof kommenund sehen, wie die Tiere gehalten werden undwie viel Arbeit das macht, ist der Preis der Produktezu erklären. Es geht also nicht um passiven Schutzder Verbraucher, sondern um das Verhandeln überAnsprüche, Erwartungen und Leistungen. Nur sokommen wir raus aus dem anonymen Markt zumehr gegenseitiger Verantwortung.Soll das heißen, dass wir jetzt alle wieder auf denWochenmarkt gehen und um Eier und Gemüse feilschensollen?<strong>Heide</strong>: Zwischen Wochenmarkt, Binnenmarktund Weltmarkt gibt es prinzipielleUnterschiede. Der Wochenmarkt lässt nochKommunikation zu und Einkaufskultur. Da schauich nicht nur nach dem Preis, sondern nehme dieMenschen wahr, von denen ich kaufe. Wenn dieQualität nicht stimmt, kann ich das nächste Malnachhaken. Der Binnenmarkt der EU gibt nichtmehr und nicht weniger als einen Gesetzesrahmen,der keine Verstöße gegen die Hygiene- und Gesundheitsvorsorgeregelnerlaubt, aber gleichzeitigKonzentration und die Marktmacht der Konzernefördert. Auf dem Weltmarkt herrscht die vollständigeAnonymität, es wird mit Rohstoffen und staatlicherFörderung spekuliert, aber gerade deshalbmüssen wir uns einmischen und demokratischePrinzipien in Organisationen wie der WTO durchsetzen.Das geht um so besser, je mehr Menschenwissen, wie sie auf ihren lokalen und regionalenLebensmittelmärkten Einfluss nehmen können.Friwi: Die amerikanische Ministerin fürLandwirtschaft sagte kürzlich beiunserem Besuch in Washington: »Ihr Europäer seidin Eure Verbraucherschutz-Bürokratie verliebt. Beiuns bestimmt der Markt die Qualität. Wenn Lebensmittelschlecht sind und mir schaden, sind ein starkesHaftungsrecht und gute Anwälte zur Stelle. Soeinfach ist das«. Da hab’ ich gesagt: »Wir haben nunmal eine andere Tradition in Europa. Wir wollenauch weiterhin politisch beeinflussen können inwelchem Rahmen sich Landwirtschaft und Industriebewegen sollen. Wir wollen wissen, was dieFuttermittelindustrie in ihre Produkte mischt,ob GVO in Lebensmitteln sind oder nicht, und wirwollen die Besonderheiten unserer Kulturlandschaftengegen die destruktive Marktmacht derMultis schützen.«Die EU ist doch auf dem besten Wege, sich dem Druckder Amerikaner hinsichtlich mehr Handelsliberalisierungzu beugen.<strong>Heide</strong>: Wir müssen uns auch bewegen inEuropa, aber mehr in RichtungSelbstverantwortung der Verbraucher. Verbrauchermüssen gemeinsam gegen Konzerne vorgehen können,die die Regeln verletzen. Wir wollen also eineuropäisches Verbandsklagerecht, das Verbänden,nicht nur Einzelverbrauchern dabei hilft, zu ihremRecht zu kommen. Das ist das was Friwi meint mitmehr Verhandlungsmöglichkeiten schaffen. Nichtdiese Schaukämpfe wie die Klage einer Verbraucherinin den USA, die sich bei McDonald’s die Lippenmit zu heißem Kaffee verbrannte. Die Folge: Jetztist da nur noch lauwarmer Kaffee zu bekommen.24


<strong>Demokratie</strong>Wenn man genau hinsieht, bekommen die US-Bürger,die klagen, in den seltensten Fällen recht. Wirmüssen deshalb die europäische Streitkultur stärken,um der <strong>Demokratie</strong> ihr Recht zu verschaffen.Friwi: Wir haben im Europäischen Parlamentdie offene Deklaration für Futtermittelund ein Tierversuchsverbot für Kosmetikadurchgesetzt. Die Offenlegungspflicht für Inhaltsstoffekam durch, weil die BSE-Krise uns Rückenwindgab. Und das Ende der Tierversuche war auchnur möglich, weil es genügend Aufklärung undEngagement in der Öffentlichkeit gab. Als nächstessollten wir die Werbegesetze in Europa aufs Kornnehmen. Vergleichende Werbung sollte – wie inDeutschland – erlaubt sein. Ich muss das Rechtbekommen, zu sagen, mein Schweinefleisch ist besserals das aus Intensivhaltung, weil meine TiereFreilauf haben und tiergerecht aufwachsen. Und imHinblick auf den Welthandel muss ich mich daraufverlassen können, dass meine Anstrengungen beimTier- und Umweltschutz nicht unterlaufen werdenvon den Fleisch- und Getreidemultis. Deshalb wollenwir den qualifizierten Außenschutz, der an denGrenzen Produkte zurückweist oder besteuert, dieunseren sozialen und ökologischen Standards nichtgenügen. Was dann abgeschöpft wird, fließt in dieEntwicklungsländer, um ihre Produktion auf unsereStandards anzuheben.Anscheinend gibt es doch immer mehr Kontrollen undStandards beim Lebensmittelhandel. Aber welcher Normalverbrauchersteigt durch die vielen Kennzeichnungenund Labels denn noch durch?<strong>Heide</strong>: Kennzeichnung macht nur Sinn fürVerbraucherInnen, die es wissen wollen.Fair Trade hat nur Bedeutung für diejenigen,die keine Schuhe aus Kinderarbeit kaufen wollenund bereit sind, den Kaffee aus Kleinbauernkooperativenhöher zu bezahlen. Das ist die verantwortungsbewussteEinkaufskultur, die wir in Europafördern wollen. Genau deshalb müssen wir dieInformationspflicht des Handels durchsetzen,<strong>damit</strong> Produkte aus sozial- und umweltfeindlicherErzeugung am Markt schlechter dastehen. Das istja gerade auch der Kampf in der WTO, ob nun dieKennzeichnung von GVO oder nachhaltig erzeugtemHolz oder sonstiger nicht-handelsbezogenerKriterien durchgesetzt wird. Nur so können wirunsere Werte verteidigen.Friwi: Wichtig ist, dass wir die positivenAnsätze stärken. Also nicht alleinden moralischen Zeigefinger gegen HEINZ sein Ketchup,ungesunden Zucker und zuviel Fett im Essenheben, sondern die Lust auf Genuss fördern, derKlasse hat. Ich finde es lohnt sich, europaweit eineKampagne für Esskultur und Agrarkultur zu starten,die unsere grünen Themen verbindet: die biologischeVielfalt in der Landwirtschaft und im Essenwiederfinden zu können, beim Kochen und Feiernden kulinarischen Reichtum anderer Regionen zuentdecken und <strong>damit</strong> auch die Unterschiede zwischenuns und unseren Nachbarn wahrzunehmen.Die Grünen im EP haben den Grünen Parteien inEuropa diese Kampagne angeboten. Das wird einwichtiges Thema für unseren gemeinsamen Wahlkampf.25


Quellen & LesetippsAngres Volker, Claus-Peter Hutter, Lutz Ribbe (2002): Futter fürs Volk,Was die Lebensmittelindustrie uns auftischt. KNAUR MünchenBMVEL (2002): Genetische Ressourcen für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.Schriftenreihe des BMVEL; Heft 487Epstein (2003): Jahresrückblick 2002: Verbraucherschutz. In: Landwirtschaft 2003.Der kritische Agrarbericht. Rheda-Wiedenbrück, S. 283–295Fink-Keßler, A. (2002): Umsetzung der Agenda 2000 in Dänemark.Euronatur / AbL (Hrsg.), Rheinbach/HammFink-Keßler, A. und B. Keller (1997): Dairy Farming in Poland.Euronatur (Hrsg.), Rheinbach. S.a. www.euronatur.orgJasper, U. und C. Schievelbein (1997): Leitfaden zur Regionalentwicklung.AbL (Hrsg), Rheda-WiedenbrückMeier-Ploeger, A. und K. Hofer (2002): Lebensmittelqualität – Grundverständnis, Kriterien,Normen. Gutachten im Auftrag des Deutschen BundestagesMüller H.-J, A. Fink-Keßler, O. Poppinga (2003): Mit Kanonen auf Spatzen geschossen.Rechtliche Hemmnisse einer handwerklichen Fleischverarbeitung und -vermarktungvon Landwirten und Metzgern. In: Arbeitsergebnisse. AG Land- undRegionalentwicklung, Universität Kassel, Heft 55, S. 5–14Pollmer Udo und Susanne Warmuth (2002): Lexikon der populären Ernährungsirrtümer.Piper MünchenSantich, B. (2001): Gegen die Brotbackmaschine.In: Internationale Slow<strong>Food</strong> Zeitschrift. Nr. 23, S. 34–41Schlosser, Eric (2002): Fast <strong>Food</strong> Gesellschaft. Die dunkle Seite von Mc<strong>Food</strong> & Co.,Riemann Verlag MünchenSchneider, M. (1996): Tempodiät. Über Lebensmittel und Lebensmittelqualität.In: Scheidewege 26, S. 296–312Vellvé Renée (1993): Lebendige Vielfalt – Biodiversität, Pflanzengenetische Ressourcen,Agrarkultur. Hrsg.: Grain und Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft e.V.,Rheda-Wiedenbrück26


Links & AdressenEsskultur, Lebensmittelsicherheit und Qualitätwww.slowfood.dewww.eurotoques.dewww.sustainweb.orgwww.foodwatch.dewww.ifav.dewww.isoe.dewww.vzbv.dewww.oekomarkt-hamburg.dewww.neuland-fleisch.dewww.freiheit<strong>schmeckt</strong>besser.dewww.lebensmittelsicherheit.deAgrarpolitik und ländliche Entwicklungwww.abl-ev.dewww.cpefarmers.orgwww.agrarbuendnis.dewww.agriculturalconvention.orgwww.preparenetwork.orgGenetische Vielfalt in der Landwirtschaftwww.save-foundation.netwww.grain.orgwww.genres.dewww.g-e-h.dewww.psrara.orgwww.vegh.atwww.feathersite.com (Geflügelrassen)www.arche-noah.atwww.saveourseeds.orgKooperative »La Verde«,Provinz Jaen, Spanien.Kontakt: Dr. Christine Mussel,Kassel, 05 61-88 43 24NABU. Kulturpflanzenvielfalt,Cornelia Wiethaler,nabu.kulturpflanzenvielfalt@t-online.dewww.nabu.de/m01/m01_04/Ökolandbau und Tierschutzwww.bioland.dewww.demeter.dewww.ifoam.orgwww.tierschutzbund.dewww.ciwf.co.ukwww.eurogroupanimalwelfare.orgLandwirtschaft und Welthandelwww.viacampesina.orgwww.ourworldisnotforsale.orgwww.fao.orgwww.fairtradeexpo.orgwww.cancun2003.orgwww.iatp.org27


IMPRESSUMherausgegeben von <strong>Heide</strong> <strong>Rühle</strong> (MdEP) undFriedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf (MdEP)<strong>Heide</strong> <strong>Rühle</strong>Die Grünen/EFA im Europäischen ParlamentASP 8G165Rue WiertzTel. 00 32-2-284-56 09Fax 00 32-2-284-96 09Email: hruehle@europarl.eu.intFriedrich-Wilhelm Graefe zu BaringdorfDie Grünen/EFA im Europäischen ParlamentASP 8G351Rue WiertzTel. 00 32-2-284-51 54Fax 00 32-2-284-91 54Email: fgraefe@europarl.eu.int© Edition »TeamWORK«Fotos: Winfried Brenner/kippconcept (S. 2, 3, 4 oben,6, 7, 8, 9, 13, 16, 21); Dominique Guillet (S. 4 unten); Caro/Aufschlager (S. 5); European Commission, DG Agriculture(S. 7 unten, 11, 13 rechts, 15, 19); Regine Kleiner (S. 10);Joker (S. 12); dpa (S. 14); photodisc (S. 26)Konzept & Gestaltung: kippconcept gmbh, BonnDruck Engelhardt, Neunkirchen1. Auflage, August 2003


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