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Christliche Erziehungsziele in einer säkular geprägten Umgebung

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<strong>Christliche</strong> <strong>Erziehungsziele</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er säkular geprägten <strong>Umgebung</strong>_____________________________________________________________Statement von Bischof Dr. He<strong>in</strong>rich Muss<strong>in</strong>ghoff, Aachen, bei der Begegnung mitden katholischen Abgeordneten des Europaparlamentes, des Bundes- undLandtags im Bistum Aachen am 24. Juni 2006Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete desEuropaparlaments, des Bundes- und Landtages!Bei unserer heutigen Begegnung möchten wir mit Ihnen <strong>in</strong>sGespräch kommen über christliche <strong>Erziehungsziele</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ersäkular geprägten <strong>Umgebung</strong>, und ich leite die Begegnung mitIhnen e<strong>in</strong> mit e<strong>in</strong>igen Gedanken zu diesem Thema.Ich beg<strong>in</strong>ne mit grundsätzlichen Überlegungen zu dem, wasErziehen und was Glauben bedeutet.Daraus abzuleiten s<strong>in</strong>d <strong>Erziehungsziele</strong>, die uns der christlicheGlaube nahelegt.Danach werde ich das Verhältnis von Religion und Gesellschafte<strong>in</strong> wenig beleuchten, dabei <strong>in</strong>sbesondere auch die Bedeutungdes schulischen Religionsunterrichts hervorheben,und zum Schluss die Wechselwirkung von Christlichkeit undmoderner Gesellschaft ansprechen.1. ErziehenAls erstes möchte ich festhalten, dass Erziehen e<strong>in</strong>Beziehungsgeschehen ist. Die Ziele von Erziehung lassen sichdaher nicht durch das Anwenden e<strong>in</strong>er Gebrauchsanweisungerreichen. Wenn Erziehung zur <strong>in</strong>nerlichen Bejahung undÜbernahme von Werten bei der kommenden Generation führenwill, kann sie sich nicht damit begnügen, e<strong>in</strong>en Ziel- undLeistungskanon von erstrebenswerten Verhaltensweisenaufzustellen und se<strong>in</strong>e Verwirklichung mit allen möglichen


- 4 -die absolute und unwiderrufliche Liebe Gottes zu jedemMenschen. Weil Gott jeden Menschen so annimmt, wie er ist, mitall se<strong>in</strong>en Schwächen und Stärken und <strong>in</strong> jeder noch soverfahrenen Situation, kann jeder Mensch, der sich auf Gottverlässt, sich von Gott angenommen und gewürdigt fühlen. Ausdieser Geborgenheit <strong>in</strong> Gott wächst e<strong>in</strong>e Glaubensgewissheit und–sicherheit, die trägt. Alle christlichen <strong>Erziehungsziele</strong> habendar<strong>in</strong> ihren tragenden Grund. Ähnlich wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erzwischenmenschlichen Liebesbeziehung ergibt sich das konkretemoralische Verhalten zweier Partner aus der Intensität dergegenseitigen Zuneigung: Dem anderen zuliebe b<strong>in</strong> ichrücksichtsvoll, b<strong>in</strong> ich an se<strong>in</strong>er Weiterentwicklung <strong>in</strong>teressiert,will ich, dass es ihm gut geht, b<strong>in</strong> ich bereit, neueVerhaltensweisen e<strong>in</strong>zuüben, liebe, achte und ehre ihn, undsorge dabei auch gut für mich selbst. All das lässt sich gutleben, aber schlecht als Erziehungsziel des Glaubensdekretieren. Es muss aus der Liebesbeziehung heraus wachsen,und die Liebe ist und bleibt e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d der Freiheit.Papst Benedikt XVI. hat dies <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Enzyklika "Deus Caritasest" so ausgedrückt: "Idem velle atque idem nolle – dasselbewollen und dasselbe abweisen – das haben die Alten alseigentlichen Inhalt der Bibel def<strong>in</strong>iert: das E<strong>in</strong>ander-ähnlich-Werden, das zur Geme<strong>in</strong>samkeit des Wollens und des Denkensführt. Die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch bestehteben dar<strong>in</strong>, dass diese Willensgeme<strong>in</strong>schaft <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaftdes Denkens und Fühlens wächst und so unser Wollen undGottes Wille immer mehr <strong>in</strong>e<strong>in</strong>anderfallen: der Wille Gottes nichtmehr e<strong>in</strong> Fremdwille ist für mich, den mir Gebote von außenauferlegen, sondern me<strong>in</strong> eigener Wille aus der Erfahrungheraus, dass <strong>in</strong> der Tat Gott mir <strong>in</strong>nerlicher ist als ich mirselbst." (Nr. 17, <strong>in</strong>: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls,Heft 171, S. 26, hrsg. vom Sekretariat der DeutschenBischofskonferenz, Bonn).Wie bei der Erziehung ist für die Attraktivität des Glaubens beider jungen Generation die konkret gelebte Glaubens- und


- 5 -Vertrauensbeziehung von Eltern, Lehrern und anderenErwachsenen zu Gott ausschlaggebend. Glaube ist Gnade. AberGlaube lebt von der Lebenspraxis der Gläubigen. Was fürErziehung im Allgeme<strong>in</strong>en gilt, gilt auch für die christlicheErziehung: Sie muss bei den Erwachsenen ansetzen. Je mehrerwachsene Christen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em guten Verhältnis zu Gott leben,umso mehr haben die K<strong>in</strong>der davon!3. <strong>Christliche</strong> <strong>Erziehungsziele</strong><strong>Christliche</strong> <strong>Erziehungsziele</strong> basieren auf der christlichenAnthropologie. Sie ist verankert <strong>in</strong> der Botschaft Jesu und desNeuen Testamentes von der bed<strong>in</strong>gungslosen Liebe Gottes zuausnahmslos jedem Menschen - welcher Weltanschauung undCouleur er auch sei. Für uns Christen s<strong>in</strong>d alle Menschen vonGott geliebt – ob sie Europäer oder Asiaten, Muslime oderBuddhisten, ja selbst e<strong>in</strong> Atheisten s<strong>in</strong>d. Diese Grundbotschaftist Grundlage christlichen Verhaltens zue<strong>in</strong>ander und zu anderenMenschen. Wer an den Gott und Vater Jesu Christi glaubt undsich von ihm geliebt weiß, sollte es daher machen wie Gott undauch mit Menschen anderen Glaubens oder Unglaubenschristlich und mitmenschlich umgehen. Alle Menschen s<strong>in</strong>dK<strong>in</strong>der Gottes. Deshalb s<strong>in</strong>d auch alle Menschen untere<strong>in</strong>anderSchwestern und Brüder. Die Brüderlichkeit bzw.Geschwisterlichkeit, wie man heute sagen würde, ist daher ke<strong>in</strong>eErf<strong>in</strong>dung der Französischen Revolution von 1789, sondern e<strong>in</strong>genu<strong>in</strong> christliches Ziel. Freiheit und Gleichheit, die beidenanderen Ziele der Französischen Revolution, übrigens ebenfalls.<strong>Christliche</strong> Ziele lassen sich leicht formulieren, aber christlicheWerte brauchen mehr als nur Worte. Werte werden erst wertvoll,wenn sie zu Werken werden. "Hütet euch vor denSchriftgelehrten!", heißt es im Evangelium, "Sie br<strong>in</strong>gen dieWitwen um ihre Häuser und verrichten <strong>in</strong> ihrer Sche<strong>in</strong>heiligkeitlange Gebete." (Lk 20, 46 f. Was (nicht nur) bei jungen Leutenauf der Suche nach dem S<strong>in</strong>n ihres eigenen Lebens garantiert


- 7 -<strong>in</strong>teressieren den säkularen Staat und se<strong>in</strong>e Gesellschaft an denReligionen vor allem die Werte und <strong>Erziehungsziele</strong>, die denZusammenhalt des Geme<strong>in</strong>wesens fördern und die F<strong>in</strong>anzierungsozialer Aufgaben optimieren. Das kann auf Dauer dazu führen,dass Staat, Politik und bestimmte wirtschaftliche Gruppen perErziehungszielvere<strong>in</strong>barungen ausgewählte christliche Werte alse<strong>in</strong>e Art "Kulturerbe" etablieren wollen, ohne jedoch denGrundansatz des Christentums zu akzeptieren. Damit würdendas Christentum und auch alle anderen Religionen jedochausgenutzt. Religionen können e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zumGeme<strong>in</strong>wohl leisten, sie möchten sich aber nicht<strong>in</strong>strumentalisieren lassen.Gerade darum ersche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong> Gottesbezug <strong>in</strong> demeuropäischen Vertrags- (bzw. Verfassungs-)werk unerlässlichsowie e<strong>in</strong>e Bezugnahme auf das jüdisch-christliche Kulturerbe.Das Christentum gehört <strong>in</strong> das geistige Erbe Europas. Esgründet <strong>in</strong> jüdischen Wurzeln; es hat <strong>in</strong> Geschichte undGegenwart muslimische Anteile; es hat die Aufklärungdurchgemacht und Menschenrechte und Menschenwürde alszentrale Werte herausgebildet. Der Gottesbezug <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erVerfassung ist wichtig, weil der Gottesbezug e<strong>in</strong>er Verfassungfür pluralistische und säkulare Gesellschaften e<strong>in</strong>e Bürgschaftgegen Totalitarismen ist, die Europa im letzten Jahrhundert alsNationalsozialismus und Faschismus, als atheistischenKommunismus und Staatssozialismus leidvoll erfahren hat. E<strong>in</strong>Gottesbezug, der auch andere Quellen menschlicherVerantwortung e<strong>in</strong>schließt, wird den demokratischen Konsensimmer wieder auf dessen menschenrechtliche Substanzh<strong>in</strong>terfragen. Denn – um nur e<strong>in</strong> Beispiel zu nennen – wergarantiert eigentlich, dass e<strong>in</strong>e demokratisch legitimierteEntscheidung nicht doch <strong>in</strong> die gentechnologische Manipulationund Unterwerfung des uns anvertrauten Menschen führt?Religion und Gottesbezug <strong>in</strong> der Verfassung helfen, denfreiheitsverbürgenden Primat der Politik und die Gestaltunggerechter Gesellschaften zu sichern. Der Gottesbezug verweistauf e<strong>in</strong>e Zukunft Europas jenseits des bloßen Ausbaus


- 8 -bestehender ökonomischer und ideologischer Dom<strong>in</strong>anzen. DerGottesbezug ist Ausdruck der Bewahrung des europäischenGedächtnisses. Gegen allen bloßen Pragmatismus <strong>in</strong> der Politikkann Religion der Stachel im Projekt der Moderne se<strong>in</strong>, welcheihre humanen Verheißungen rettet oder neu aufruft.Mir sche<strong>in</strong>t der Textvorschlag gut, der sagt: "Im Bewusstse<strong>in</strong> dermenschlichen Verantwortung vor Gott und ebenso imBewusstse<strong>in</strong> anderer Quellen menschlicher Verantwortung s<strong>in</strong>ddie Völker Europas entschlossen, e<strong>in</strong>e friedliche Zukunft zugestalten. E<strong>in</strong>gedenk ihres geistigen, religiösen und sittlichenErbes gründet sich die Union auf die unteilbaren unduniversellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, derGleichheit und der Solidarität."5. Schulischer ReligionsunterrichtEs gehört zum modernen freiheitlichen Staat, dass er daraufverzichtet, die letzten Grundüberzeugungen des Menschen zubestimmen. Dieser Verzicht bedeutet nicht, dass religiöseÜberzeugungen dem Staat gleichgültig wären. In e<strong>in</strong>embekannten Satz hat der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde das Verhältnis zwischen Staat undreligiösen Überzeugungen der Bürger<strong>in</strong>nen und Bürger sobeschrieben: "Der freiheitliche, säkulare Staat lebt vonVoraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Darausergibt sich e<strong>in</strong> doppeltes Interesse des freiheitlichen Staates.Er braucht erstens e<strong>in</strong>en breiten, öffentlichen Konsens über diegrundlegenden Werte, die se<strong>in</strong> Fundament bilden. Und da erdiese nicht selbst herstellen kann und will, hat er zweitens e<strong>in</strong>vitales Interesse daran, dass andere für die Präsenz und dieLebendigkeit dieser Werte sorgen, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Kirchen.Diese Selbstbeschränkung des Staates <strong>in</strong> Fragen der Religionbewahrt ihn vor der Gefahr, das Denken der Menschen regierenzu wollen und totalitär zu werden.


- 9 -Da der Staat im höchsten Maße daran <strong>in</strong>teressiert ist, diegeistigen Voraussetzungen zu sichern, von denen er lebt, machter den Religionsunterricht zum ordentlichen Unterrichtsfach.Daneben erkennt er damit an, dass Religion so <strong>in</strong>nerlich zuBildung und Erziehung gehört, dass auf sie nicht verzichtetwerden kann. Darum muss sie im Schulunterricht zur Sprachekommen.Die Verfassung des Landes Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen formuliert <strong>in</strong>Art. 7 unmissverständlich als <strong>Erziehungsziele</strong>:"(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschenund Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, istvornehmstes Ziel der Erziehung.(2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste derMenschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zurDuldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung desanderen, <strong>in</strong> Liebe zu Volk und Heimat, zurVölkergeme<strong>in</strong>schaft und Friedensges<strong>in</strong>nung."Im Religionsunterricht wird die Frage nach dem S<strong>in</strong>n desmenschlichen Lebens und der Welt gestellt. DerReligionsunterricht erörtert die Antworten, die Christen aufgrundihrer Erfahrungen mit Gott gegeben haben und an denen sie sichfür ihre Zukunft orientieren. Er will Sche<strong>in</strong>sicherheitenaufbrechen und jungen Menschen helfen, <strong>in</strong> H<strong>in</strong>sicht aufexistenzielle Fragen sprach- und urteilsfähig zu werden.Außerdem lernen Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler im schulischenReligionsunterricht nicht alle<strong>in</strong> durch Information, sondern auchdurch das Miterleben ihres Glaubens <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft.Unsere Gesellschaft und Kultur s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Geschichte undGegenwart ohne christliche Tradition nicht vorstellbar. Wer dasChristentum nicht kennt, kann unsere Kultur nicht verstehen,denn sie ist wesentlich aus dem Christentum erwachsen. Auch <strong>in</strong>der pluralistischen Gesellschaft bleibt der christliche Glaube fürdie Mehrheit der Bevölkerung unseres Landes maßgeblich.


- 10 -E<strong>in</strong> Christ, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Religion gut verwurzelt ist, kannsich ohne Angst und Aggression der Begegnung mit demFremden öffnen. Deshalb ist das Vertrautwerden mit der eigenenKultur und der eigenen Religion gerade <strong>in</strong> der pluralistischenGesellschaft wichtig. Der konfessionelle Religionsunterricht <strong>in</strong>ökumenischer Offenheit leistet dazu e<strong>in</strong>en unersetzlichenBeitrag.Peter Glotz hat e<strong>in</strong>mal im Blick auf das Brandenburger Schulfach"Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" gesagt: "Die Idee, dassWertevermittlung nicht mehr von Leuten mit erkennbarenStandpunkten betrieben werden könnte, sondern von 'neutralen'Lehrern, die irgendwo im Niemandsland zwischen römischemKatholizismus, protestantischen Strömungen, Islam undNietzsche herumschwimmen, halte ich für ebenso unbehaglichwie die Vorstellung, dass Studierende und Schüler separiertwürden, dass also der Dialog zwischen Gläubigen undUngläubigen zerbräche" (Theologie und Universität. Zur Rolletheologischer Forschung und Lehre an der Universität von heute,<strong>in</strong>: Wolfgang Thierse (Hg.), Religion ist ke<strong>in</strong>e Privatsache,Düsseldorf 2000, 324-332, hier 331). Und der Philosoph JürgenHabermas hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Frankfurter Rede vom 14. 10. 2001darauf aufmerksam gemacht, dass <strong>in</strong> säkularisiertenGesellschaften die Religionen e<strong>in</strong> Lebenswissen undWertebewusstse<strong>in</strong> bewahren, an dem man nicht achtlosvorbeigehen dürfe, sondern dem man e<strong>in</strong>e gewisse Veto-Funktion im gesellschaftlichen Diskurs beimessen solle (Glaubenund Wissen, <strong>in</strong>: FAZ, 15. 10. 2001)."Wesentlich aber gründet die Sorge des Staates im Bereich (derTheologie an Universitäten und des Religionsunterrichtes anSchulen) auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit. Es gibt e<strong>in</strong>"religiöses Interesse " (Mikat) oder Bedürfnis vielerStaatsbürger, das <strong>in</strong> den Verfassungen durch die Garantie derFreiheit des Glaubens, des Bekenntnisses und der privaten wieöffentlichen Ausübung der Religion geschützt wird. Dasvorkonstitutionelle Recht der Religionsfreiheit verpflichtet


- 11 -den Staat nicht nur, jeder Bee<strong>in</strong>trächtigung dieser Freiheitentgegenzutreten, sondern er muß dem Bürger auchMöglichkeiten eröffnen, se<strong>in</strong> 'religiöses Interesse' betätigen zukönnen, das <strong>in</strong> Kirchen und Religionsgeme<strong>in</strong>schaften se<strong>in</strong>egesellschaftliche Gestalt angenommen hat. Das geschieht durchdie Gewährleistung der Freiheit der Kirchen undReligionsgeme<strong>in</strong>schaften (Art. 140 GG) und durch ihre Förderungim S<strong>in</strong>ne der allgeme<strong>in</strong>en geistigen Dase<strong>in</strong>svorsorge. Der Staathat e<strong>in</strong> Interesse daran, daß se<strong>in</strong>e Bürger weltanschaulichverankert s<strong>in</strong>d, da Bürger ohne solche B<strong>in</strong>dungen irrationalenBewegungen eher zuneigen, die der freiheitlichen Grundordnungunseres demokratischen und sozialen Rechtsstaateszuwiderlaufen. Im Bereich der Kirchen übt die Theologie denDienst der wissenschaftlichen Erhellung der religiösen Gründeunseres Lebens und Glaubens aus. Es ist für den Staat nichtohne Bedeutung, daß e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Erhellung des'religiösen Interesses' se<strong>in</strong>er christlichen Bürger geschieht undöffentlich diskutiert wird. Würde das Christentum <strong>in</strong>Konventikelwesen und Sektierertum abs<strong>in</strong>ken, so wäre baldke<strong>in</strong>e wissenschaftliche Theologie mehr möglich, die Bedeutungder Religion würde aus dem öffentlichen Leben verschw<strong>in</strong>denund das staatliche Religionsrecht wäre vor schier unlöslicheProbleme gestellt. Das religiöse Bedürfnis der Bürger aber würdeaus irrationalen Quellen schöpfen und leicht <strong>in</strong> den Sog e<strong>in</strong>esvielgestaltigen religiösen Synkretismus mit all se<strong>in</strong>enunerfreulichen Nebenwirkungen geraten." (He<strong>in</strong>z Muss<strong>in</strong>ghoff,Theologische Fakultäten im Spannungsfeld von Staat und Kirche,Ma<strong>in</strong>z 1979, 490 f.).6. Wechselwirkung von Christlichkeit und modernerGesellschaftAllen noch so guten christlichen <strong>Erziehungsziele</strong>n zum Trotzkönnen christliche Eltern bei aller Liebe nicht gegen dieGrundtendenzen der Gesellschaft, <strong>in</strong> der sie leben, erziehen.Ihre K<strong>in</strong>der werden ebenso Markenkleidung anziehen wollen wieandere. Die meisten christlichen Wohngeme<strong>in</strong>schaften, die sich


- 12 -<strong>in</strong> den 1970er Jahren vorgenommen haben, e<strong>in</strong> Leben aus demGeist der Armut, des Konsumverzichts und dem solidarischenMite<strong>in</strong>ander zu führen, s<strong>in</strong>d letztlich an ihren K<strong>in</strong>derngescheitert, die "normal" se<strong>in</strong> wollten. Markt und Modebestimmen stark, was K<strong>in</strong>der denken und tun.In e<strong>in</strong>er Gesellschaft, <strong>in</strong> der e<strong>in</strong> beliebtes Motto lautet: "Geiz istgeil" und "Der Ehrliche ist immer der Dumme", kann man vonK<strong>in</strong>dern nicht erwarten, dass sie freudig und aus freien Stückenteilen lernen. In e<strong>in</strong>er solchen Gesellschaft s<strong>in</strong>d Christen, dieaus ihrem Glauben heraus zu leben versuchen, letztlich nachaußen h<strong>in</strong> oft die Dummen. Wenn und weil Staat undGesellschaft jedoch <strong>in</strong>teressiert s<strong>in</strong>d an e<strong>in</strong>emGrundwertekonsens auf der Basis staatstragender christlicherVerhaltensweisen, müssen sie dafür auch die notwendigenRahmenbed<strong>in</strong>gungen und Anreize schaffen. Wenn e<strong>in</strong>e Gruppedurch ihr vorbildhaftes solidarisches Verhalten automatisch <strong>in</strong>sgesellschaftliche Abseits gerät, lassen sich nur noch wenigedazu begeistern, ihr anzugehören. Wenn das gesellschaftlicheKlima die Mehrheit se<strong>in</strong>er Mitglieder dazu erzieht, nur noch deneigenen Nutzen im Auge zu haben, dann dürfen wir uns nichtwundern, wenn der Kampf um wirtschaftliche Vorteile,gesellschaftlichen E<strong>in</strong>fluss und politische Macht zunehmendhärter und unmenschlicher wird.Damit will ich nicht sagen, dass die Kirchen <strong>in</strong> Zukunft nichtmehr bereit s<strong>in</strong>d, ihren Beitrag zum Geme<strong>in</strong>wohl unsererGesellschaft zu leisten. Im Gegenteil. Sie sehen es sogar alsihren ureigenen Auftrag an, dazu beizutragen, dass das Leben <strong>in</strong>unserem Staate toleranter, friedlicher, fürsorglicher,lebensbejahender und mit-menschlicher wird, weil dadurch nachunserer Überzeugung auch die Liebe Gottes konkret underfahrbar wird.Wir befürchten allerd<strong>in</strong>gs, dass es <strong>in</strong> Zukunft nicht mehrgenügend Christ<strong>in</strong>nen und Christen geben wird, um diesengesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen, wenn ihnen dieGrundlagen für e<strong>in</strong> christliches und solidarisches Mite<strong>in</strong>andervonseiten des Staates und der Gesellschaft entzogen werden.


- 13 -Denn e<strong>in</strong> guter Christ braucht e<strong>in</strong>e gute Gesellschaft, so wie e<strong>in</strong>egute Gesellschaft gute Christen und gute Andersgläubigebraucht. Staat und Politik müssen sich deshalb im eigenenInteresse und im Interesse aller Bürger<strong>in</strong>nen und Bürger fürlebensfördernde und solidarische Strukturen des Geme<strong>in</strong>wesense<strong>in</strong>setzen.

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