Christine Burckhardt-Seebassim Gespräch mit Ursula BadruttWie kann ein Tal, ein Ort wie Urnäsch zurkulturellen Brutstätte werden?Wissenschaftler beobachten ein Geschehenund versuchen, es zu verstehen. Siegreifen aber nicht ein. Trotzdem hat ihrInteresse immer auch Rückwirkungen aufdas Geschehen, es wirkt stimulierend, beeinflusstdie verschiedenen Brauchtümerwie das Chlausen, die Musik. Es stärkt dasGefühl für etwas, das zuvor nur für dieDorf- oder Talgemeinschaft von Interessewar. Das macht auch Mut.Mit dem Medieninteresse und der nationalen,ja internationalen Aufmerksamkeit,die dem Brauch des Silvesterchlausens zukommt,schleichen sich Veränderungenein: Es wird bunter, die Tageszeiten passensich den Bedürfnissen der Besucher an.Das ist auch gut so. In den letzten Jahrenist das Schöne, das Ästhetisierende wichtiggeworden. Das hängt direkt mit der verstärktenAufmerksamkeit zusammen.Reicht die Aufmerksamkeit von aussen,einen Brauch lebendig zu halten?Die Wirkung als Ganzes beruht auf einerKombination von Gegensätzlichem, aufdem Kontrast zwischen leerer Landschaftim Winter und der Buntheit der Chläuse,von Grün im Sommer und dem Rot-Gelb derSennen, von Kalt und Warm, von Innen undAussen.Es ist entscheidend, dass das Chlausen amAlten Silvester stattfindet, wenn sonstnichts los ist. Auch die Kombination vonBewegung, Musik, Farbe und Landschaft istwesentlich. Das macht aus dem UrnäscherBrauchtum eine Art Gesamtkunstwerk.Wichtig sind zudem Lokale wie die Sonneim Tal oder die Krone in Urnäsch. Nicht zuunterschätzen sind Leute aus dem Dorf miteiner Vermittlungsfunktion nach aussenwie Walter Irniger, Hans Hürlemann, dieWirtin im Ochsen. Gerade im Appenzellerlandkönnen Einzelne sehr viel bewirken.Aber: Die Sonne im Tal, viele Läden sindgeschlossen, ein Projekt wie das Reka-Dorfwar eine (übrigens gelungene) Notmassnahmegegen die Abwanderung. Die wirtschaftlichenSchwierigkeiten, mit denendas Dorf konfrontiert ist, frappierten mich.Das wirft ein schlechtes Licht auf das Publikum,das jeweils zum Alten Silvesternach Urnäsch pilgert, das sich aber nichtwirklich auseinandersetzen will, sondernauf Unterhaltung und Konsum aus ist. Dasage ich dann: <strong>Obacht</strong>!Das mediale, aber auch das wissenschaftlicheInteresse kann nicht nur eine die Innovationstimulierende Wirkung haben,sondern Entwicklungen behindern, einenBrauch einfrieren.Jedes Interesse hat die Wirkung einesScheinwerfers, der die Sache besser sichtbarmacht. Das ist stimulierend, man istmotiviert, sich gut darzustellen. Es hataber die Folge, dass man sich oft den Erwartungenund Wünschen anpasst. Für unsWissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerist es immer ein schwieriges Abwägen. Dasbetont Regine Bendix in ihren Untersuchungenzum «Silvesterklausen in Urnäsch»bereits 1984 (Appenzeller BrauchtumBd. 1). Wir müssen akzeptieren, dass esimmer noch eine Hinterbühne gibt, die füruns Aussenstehende hermetisch wirkt, zuder man keinen Zutritt bekommt. Manmuss ein Stück Intimität auch im Brauchtumbehalten können, sonst funktioniert esnicht mehr. Das ist wichtig und muss manrespektieren – finde ich jedenfalls. Wenn etwaslebendig sein will, muss es eine Kommunikationzwischen den Beteiligten ge-THEMA | 14
«Jedes Interesse hat die Wirkung eines Scheinwerfers, derdie Sache besser sichtbar macht. Ein Projekt wie dasReka-Dorf war eine (übrigens gelungene) Notmassnahmegegen die Abwanderung.»ben, die nicht auf die Bühne und ins Scheinwerferlichtkommt.Auf der anderen Seit sind wir alle, auch dieLeute in Urnäsch, sehr gewohnt, mit Öffentlichkeitumzugehen und gehen nichtgleich kaputt bei etwas mehr Aufmerksamkeit.Noldi Alder stellt sich dieser Problematikbewusst und persönlich und scheutsich nicht, sie in der Öffentlichkeit auszutragen,wie er es mit «Loba» getan hat.Das macht Mut, gerade einer nachkommendenGeneration. Erst dann gibt es eineTradition, die nicht stehenbleibt, sondernweitergeht. AChristine Burckhardt-Seebass ist erimitierte Professorinfür Volkskunde, Basel, ehemalige Stiftungsrätinvon Pro Helvetia und gehört dem <strong>Kultur</strong>ratappenzell Ausserrhoden an.15 | THEMA