AUS BILDUNG UND WISSENSCHAFT // ERKENNTNISTHEORIE IM PHYSIKUNTERRICHT»Gerichtshof der Wissenschaft« als »Beweismittel« für die Erkenntniszugelassen wird. Die Frage nach Sichtbarkeit, Evidenz,Glaubwürdigkeit, Verifikation oder Falsifikation gehenSchüler mit großem Interesse an. Die Selbstverständlichkeitmit der wir zwischengeschaltete Medien und virtuelle Weltennutzen wird durch den Kontrast zu anderen, z. B. historischenWissenschaftsauffassungen hinterfragend aufgebrochen. Wiekann über die Evidenzfrage erkenntnistheoretisch entschiedenwerden?10 Wie erkennt die »Neue Wissenschaft«?Das Fresko von BEZZUOLI in Florenz illustriert den Schülerneingängig und bildhaft die historische Situation des erkenntnistheoretischenUmbruchs in der beginnenden Neuzeit (Abb. 2).Im Zentrum dient sich GALILEI dem Herzog von Florenz ehrerbietigan. Zentral platziert ist die Fallrinne, als Exempel derneuen Art Erkenntnisquellen zu konstruieren. Undenkbar fürjene, die die Erkenntnis in den Quellen der alten Denker suchen.Ihre Vertreter sind versunken in das Studium der Bücherund in die Exegese der alten Denker. Schon abgedrängt am linkenBildrand hocken sie um den drapierten Studiertisch herumund nehmen die andere Welt schon gar nicht mehr wahr, zumalsie ihr den Rücken zuwenden. Lediglich ein Vertreter wagt verstörteinen verständnislosen Blick auf die aufregende Welt derneuen Wissenschaften wo sich eine Menge tut. Das junge Volk<strong>im</strong> Hintergrund, aber doch in der Bildmitte platziert, drängtlebendig, ja stürmisch auf die neue Wissenschaft zu. Neugierigund zaghaft nähert sich eine Person aus dem Hintergrund demGeschehen. Zwei Vertreter der neuen Wissenschaft diskutieren<strong>im</strong> Zentrum stehend über das Exper<strong>im</strong>ent mit der Fallrinne,auf der gerade eine Kugel herabrollt, die von der interessiertenJugend mit Blicken verfolgt wird. Im rechten Bildteil, deralten Wissenschaft genau gegenüber, ist die politische Machtplatziert. Dem Mäzen wird zugetragen und vorgetragen. Insigniender neuen Wissenschaft, H<strong>im</strong>melsglobus und Bücherliegen vor ihm. Am rechten Rand ist eine melancholisch nachdenkendePerson in Denkerpose mit abgewandtem Blick zu sehen.Hinter ihr befindet sich eine hoch stehende Person, die aufdas exper<strong>im</strong>entelle Geschehen zeigt und den Denker an<strong>im</strong>ierthinzuschauen. Im Hintergrund dieser höfischen Personengruppeist eine kleine Gruppe einfacher Bürger platziert, dienoch nicht in das Geschehen eingebunden ist, aber vermutlichvon den Umwälzungen betroffen sein wird. Das Bild zeigt inanschaulicher Weise die Umbruchsituation um 1600, die durchAuseinandersetzungen zwischen den Vertretern der »alten«und »neuen« Wissenschaft gekennzeichnet ist.Worin liegt das erkenntnistheoretische Potenzial dieses Themas?Die exper<strong>im</strong>entelle Methode macht die erkenntnistheoretischeSchlagkraft der Neuen Wissenschaft aus. Erstmalig produziertdie Wissenschaft Phänomene, die sie zum eigenen Erkenntnisgegenstandmacht. Mit der exper<strong>im</strong>entellen Methode schafftsich die Neue Wissenschaft die Untersuchungsfragen selbst.Naturwissenschaften denken nicht mehr bloß über Naturnach, sondern gestalten die Natur. Erkenntnisse sind dann <strong>im</strong>mernur Erkenntnisse über die selbst entworfenen Weltbilder.11 In welcher Welt leben wir denn?Astronomie und Kosmologie sind <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong> Selbstläuferthemen.Das Interesse ist groß und die Lernbereitschaftist gegeben. Man stelle den Schülern zwei Weltbilder vor, dasmit der uns vertrauten Vollerde und das mit der uns nicht vertrautenHohlerde (vgl. R. SEXL 1983).Die Hohlwelttheorie, auch Innenwelttheorie genannt, gehtdavon aus, dass wir nicht auf der Oberfläche einer Erdvollkugelleben mit dem Kosmos um uns herum, sondern <strong>im</strong> Innerender Erdhohlkugel wo sich auch Sterne, Sonne und Mondbefinden (Abb. 4). Der gesamte Kosmos ist <strong>im</strong> Inneren dieserErdhohlkugel untergebracht. Diese zunächst abstrus wirkendeTheorie scheint offensichtlich falsch und leicht widerlegbar zusein. Doch wie steht es um die »Richtigkeit« oder »Wahrheit«dieses Weltbildmodells oder des bekannten Vollkugelmodells(Abb. 3)?Die Schüler sollen astronomische, physikalische, erkenntnistheoretische,wissenschaftstheoretische, philosophische undmetaphysische Fragen formulieren, an denen die Hohlwelttheoriescheitern könnte:• Wie entstehen Tag und Nacht?• Wie kommt der Horizont zustande?• Wie erklärt sich die Schwerkraft?• Wie kann die winzige Sonne die notwendige Energiehervorbringen?• Was geschah be<strong>im</strong> Mondflug?• Zeigen die Bilder der Erde aus dem All nicht eindeutigeine Vollkugel?• Was ist außerhalb der Erdkugel?Abb. 2. Die Neue Wissenschaft (Foto Deutsches Museum München)www.mnu.de 391
AUS BILDUNG UND WISSENSCHAFT // ERKENNTNISTHEORIE IM PHYSIKUNTERRICHTAbb. 3. Vollerde (R. SEXL 1983, 454)Abb. 4. Hohlerde (R. SEXL 1983, 454)Es ruft Erstaunen bei den Schülern hervor, wenn die Lehrkraftbehauptet, alle Erscheinungen in der Hohlwelttheorie erklärenzu können. So entsteht ein gelebter Disput. Zu dem Zeitpunktwissen die Schüler noch nicht, was die Lehrkraft weiß, dass dieHohlwelttheorie mathematisch durch eine Spiegelung der Außenweltan der Erdkugeloberfläche in deren Inneres erreichtwird.Eine Involution an der Kugel ist winkeltreu. Geraden außenwerden zu Kreisen durch das Erdzentrum. Die Lichtgeschwindigkeitwird raumabhängig und n<strong>im</strong>mt in Richtung auf dasErdinnere ab, desgleichen schrumpfen die Maßstäbe in derNähe des Zentrums. Die Sonne, die nur einen Durchmesservon 4 m besitzt, umkreist das Zentrum <strong>im</strong> Abstand von 300 m.Die Sterne und alle extragalaktischen Objekte (nach gewöhnlicherAuffassung) befinden sich noch näher am Zentrum.Lichtstrahlen breiten sich auf Kreisen aus, die stets durch denErdmittelpunkt gehen (mathematische Vorgabe). Dabei ist dieLichtgeschwindigkeit nicht etwa konstant, sondern n<strong>im</strong>mtgegen den Erdmittelpunkt hin quadratisch ab, so dass dieserPunkt der Welt niemals vom Licht erreicht wird. Das Gesetzder Lichtausbreitung erklärt auch das Zustandekommen desHorizonts (Abb. 5) und lässt erkennen, wieso die Erde vom Allgesehen, als Vollkugel erscheint. Diese optische Täuschung istebenfalls auf die Gesetze der Lichtausbreitung zurückzuführen.Die uns bekannten Gesetze nehmen eine monströsere Form an,so etwa die Newtonsche Bewegungsgleichung (R. SEXL 1983,455):m ( ẍ – ___ 4ṙẋr – ___ 2r¨xr + ____ 6ṙ2 xr ) =___ r2F2 R 2Die Theorie kann empirisch nicht falsifiziert, sondern nur mitepistemologischen Argumenten als Kandidat für eine wahrheitsgetreueBeschreibung der Realität aus der Welt geschafftwerden (KANITSCHEIDER 1984, 384).Die metaphysischen, philosophischen und erkenntnistheoretischenArgumente der Vertreter sind: »Ist die Hohlwelttheorienicht von einer wunderbaren Einheitlichkeit? Vom allergrößten (Kosmos)bis zum allerkleinsten (mikroskopisch kleine Eizelle) prägt siedieselben Verhältnisse. … Der Mensch entsteht aus dem Ei, diesemAbbild des Kosmos. Die Zellen, aus denen er besteht, sind ein Abbilddes Kosmos. Alles Leben entsteht <strong>im</strong> Inneren einer Hohlkugel.« (J.LANG 1938, 150)Abb. 5. Horizontlinien (R. SEXL 1983, 458)392MNU 62/7 (15.10.2009)