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Erkenntnistheorie im Physikunterricht - Josef Leisen

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AUS BILDUNG UND WISSENSCHAFT // ERKENNTNISTHEORIE IM PHYSIKUNTERRICHTunter Verwendung der gesamten Methodik und des Instrumentariumsfür wissenschaftliche Erkenntnisprozesse, Irreninklusive.14 <strong>Erkenntnistheorie</strong> <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>Die Physik und der <strong>Physikunterricht</strong> sind voller <strong>Erkenntnistheorie</strong>.Folglich braucht nicht gefragt zu werden: Wie kommtdie <strong>Erkenntnistheorie</strong> in den <strong>Physikunterricht</strong>, sondern: Wienutzen wir die <strong>Erkenntnistheorie</strong> <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>? Dieerkenntnistheoretischen Kernaussagen aus den Beispielen desUnterrichts sind:• Vorsicht bei ontologischen Zuschreibungen!• Das Erkennen hängt ab vom Gegenstand selbst und meinerWahrnehmung vom Gegenstand.• Die Wahrnehmung ist nur bedingt verlässlich.• Die Wahrnehmung allein entscheidet nicht über Wirklichkeitund Scheinbarkeit, sondern die erklärende Theorie,das »denkende Sehen«.• »Richtige« Konstruktionen sind »passende« Konstruktionen.• Individuelle Erkenntnisse sind Konstruktionen zum Zweckedes Verstehens.• Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht durch»bloße Anschauung« gewinnen.• Die Theorie best<strong>im</strong>mt, was wir beobachten, was wirerkennen.• Was als Erkenntnis generierend akzeptiert wird, hängtvon den metaphysischen Hintergrundüberzeugungenund den kulturellen Erkenntnisgewohnheiten ab.• Physik produziert Phänomene und macht das Unsichtbaresichtbar.• Erkenntnisse sind <strong>im</strong>mer nur Erkenntnisse über die selbstentworfenen Weltbilder.• Das Exper<strong>im</strong>ent ist eine neue Erkenntnisquelle.• Die neue Wissenschaft produziert Phänomene, die siezum eigenen Erkenntnisgegenstand macht.• Die wissenschaftstheoretischen Auffassungen best<strong>im</strong>men,was wir wahrnehmen und erkennen.• Wahrheiten beruhen auf Evidenzvereinbarungen.• Nur wenn ich die Evidenzvereinbarungen akzeptiere,kann ich eine Erkenntnis als wahr betrachten.• Wir machen Aussagen über Weltbilder, nicht über dieRealität.• Wir sprechen und denken über den Makro- und Mikrokosmosin Begriffen und Denkkategorien des Mesokosmos.• Jeder Kosmos ist in den Augen des anderen absurd.• Unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat hat sichevolutionär in erster Linie für das Leben und Überlebenhin entwickelt und nicht um Wissenschaft zu betreiben.• Wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen als sozialesGeschehen <strong>im</strong> Diskurs. Der Diskurs muss öffentlich kontrollierbarsein, damit Korrekturen möglich sind.<strong>Erkenntnistheorie</strong> (auch Epistemologie; griechisch episteme:Kenntnis, Wissen; logos: Vernunft, Sprache) ist eine Disziplinder Philosophie, die sich mit philosophischen Fragen der Erkenntnisbeschäftigt (vgl. G. VOLLMER, 1983, 2):• Was ist Erkenntnis? (Begriffsexplikation)• Wie erkennen wir? (Wege und Formen)• Was erkennen wir? (Gegenstand)• Wie weit reicht unsere Erkenntnis? (Umfang und Grenzen)• Warum erkennen wir gerade so, dies und nur dies?(Erklärung)• Wie sicher ist unsere Erkenntnis? (Geltung)• Worauf beruht ihre Sicherheit? (Begründung)Die Aufgabe einer Didaktik der <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist es, dieseFragen zu didaktisieren, d. h. sie lehr- und lernbar zu machenund methodisch in den Horizont der Schüler zu bringen. Dazumüssen sie an Unterrichtsthemen angebunden werden oder zuUnterrichtsthemen gemacht werden, dazu müssen die Fragenauf die Verstehensbedingungen der Schüler hin altersgerechtaufbereitet werden.Die Praxis des <strong>Physikunterricht</strong>s zeigt, was sich didaktisch begründenlässt:• <strong>Erkenntnistheorie</strong> kann auf allen Schulstufen getriebenwerden.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> kann an allen Themen der Physikgetrieben werden.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist originärer Bestandteil der Physikund nicht ergänzender Zusatz.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist grundsätzlich <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>enthalten, sie muss nur freigelegt und aufgegriffen werden.LiteraturBLUMENBERG, H. (Hg.) (1980). Galileo Galilei Sidereus Nuncius(Nachricht von neuen Sternen), Dialog über die Weltsysteme(Auswahl), Vermessung der Hölle Dantes Marginalien zu Tasso.Berlin: Suhrkamp.BRECHT, B. (1967). Leben des Galilei. Schauspiel. Berlin: editionsuhrkamp.KANITSCHEIDER, B. (1984). Kosmologie. Stuttgart: Philipp Reclam.KRAFFT, F. (1970). Dynamische und statische Betrachtungsweise inder antiken Mechanik. Wiesbaden: Steiner.LANG, J. (1938). Die Hohlwelttheorie. Frankfurt: Schirmer.LEISEN, J. (1999). Der Szenische Dialog. Ein unterrichtsmethodischerVorschlag zu Physik und Philosophie. Praxis der Naturwissenschaften– Physik (4), 35–37.MUCKENFUSS, H. (2000). Retten uns die Phänomene? Anmerkungenzum Verhältnis von Wahrnehmung und Theorie. Plus Lucis(3), 10–14.REICHENBACH, H. (1928). Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Berlinund Leipzig: de Gruyter.SCHLICHTING, H. J. (ohne Jahr). Die Erd’ ist ein Planet. Vom physikalischenBlick am Beispiel von Galileis Blick durch das Fernrohr.Manuskript.SEXL, R. (1983). Die Hohlwelttheorie. MNU, 36, 453–460.VOLLMER, G. (1983). Evolutionäre <strong>Erkenntnistheorie</strong>. Stuttgart:Hirzel.V. WEIZSÄCKER, C. F. (1964). Die Tragweite der Wissenschaft. ErsterBand. Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweierBegriffe. Stuttgart: Klett.OStD Prof. JOSEF LEISEN, Peter-Joseph-Rottmann-Straße 20, 56077 Koblenz,leisen@studienseminar-koblenz.de, ist Leiter des Staatlichen Studienseminarsin Koblenz für das Lehramt an Gymnasien und Honorarprofessor an der UniversitätMainz.gc394MNU 62/7 (15.10.2009)

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