AUS BILDUNG UND WISSENSCHAFT // ERKENNTNISTHEORIE IM PHYSIKUNTERRICHT»Für den philosophisch denkenden Menschen ist der Analogieschlusseine durchaus genügende Glaubhaftmachung des neuen Weltbildesder Erdwelt.« (J. LANG 1938, 20)Worin liegt das erkenntnistheoretische Potenzial dieses Themas?Hier stellt sich die Frage nach der Wahrheit einer Erkenntnis.Wahrheit bemisst sich danach, ob der festgestellte Sachverhaltvorliegt oder nicht. Damit ist die Wahrheitsfrage zur Evidenzfragegemacht. Im Disput zwischen den Aristotelikern undGALILEI wurde deutlich, dass Wahrheit auf Vereinbarungenberuht. Nur wenn ich die Evidenzvereinbarungen akzeptierekann ich eine Erkenntnis als wahr betrachten. Wer von sogenannten »tieferen Wahrheiten« spricht meint den Bezug aufmetaphysische Hintergrundüberzeugungen <strong>im</strong> Rang von zugesprochenenund geglaubten Wahrheiten. Die Schüler lernen,dass hier keine Erkenntnisse über die Realität gemacht undausgetauscht werden, sondern Aussagen über unsere Entwürfe,unsere Weltbilder. Erkenntnisse sind <strong>im</strong>mer nur Erkenntnisseüber die selbst entworfenen Weltbilder. Wie stellt sich dieRealitätsfrage?13 Wie würden Bakterien ein Physikbuchschreiben?Die Physik ist eine Wissenschaft, die alle kosmischen D<strong>im</strong>ensionenerforscht (Abb. 6).Jeder Kosmos hat seine spezifischen Fragestellungen. JederKosmos ist in den Augen des anderen Kosmos absurd. Wirsprechen und denken über den Makro- und Mikrokosmos ausder Sicht und mit den Begriffen und Denkkategorien des Mesokosmosund dürfen uns nicht wundern, wenn uns manchesseltsam und absurd vorkommt.12 Herr BOHR und Herr EINSTEIN,wie halten Sie es mit der Realität?In der Quantenphysik wird deutlich, dass kein direkt vermittelterWeg vom Phänomen zur Theorie führt. Physik zeigt sichhier als das, was sie ist, nämlich eine theoriegeleitete Erfahrungswissenschaft.Das Jönsson-Doppelspaltexper<strong>im</strong>ent ist kein Exper<strong>im</strong>ent,aus dem die Theorie heraustropft, wenn man es nurlange genug ›induktiv ausquetscht‹.Die <strong>Erkenntnistheorie</strong> war über zweitausend Jahre hinwegdie Domäne der Philosophie. HANS REICHENBACH schreibt inseiner »Philosophie der Raum-Zeit-Lehre«: »So stehen wir dermerkwürdigen Tatsache gegenüber, dass während des letzten Jahrhundertseine präzise Theorie der Erkenntnis nicht von Philosophen,sondern von Wissenschaftlern entwickelt wurde und dass bei derAusführung spezieller wissenschaftlicher Untersuchungen mehr<strong>Erkenntnistheorie</strong> entstand als <strong>im</strong> Verlauf philosophischer Spekulation.Und die Probleme, die dabei gelöst wurden, waren wirklicherkenntnistheoretische Probleme« (H. REICHENBACH, 1938). Dieerkenntnistheoretischen Debatten – stellvertretend sei hier nurdie EPR-Debatte genannt – zeugen davon.Kopenhagener: Es gibt keine tieferliegende Realität.Realisten: Es existiert eine vom Beobachter unabhängige Realität.Worin liegt das erkenntnistheoretische Potenzial dieses Themas?Die Quantentheorie ist die erkenntnistheoretische Fundgrubeschlechthin und wirft fundamentale erkenntnistheoretischeFragestellungen auf:• Realität: Gibt es physikalische Objekte, die physikalischeEigenschaften objektiv besitzen?• Lokalität: Sind alle Wechselwirkungen lokal beschränkt,oder gibt es Fernwirkungen (bzw. Fernkorrelationen)?• Kausalität: Welche Theorie der Verursachung kann deneben genannten Problemen Rechnung tragen?• Komplementarität: Wie ist es zu verstehen, dass Aspektekomplementär sind?• Determinismus: Gibt es in der Natur Zufall oder sind dieNaturgesetze streng deterministisch?• Messprozess: Welche Rolle spielen der Messprozess, derBeobachter und das Bewusstsein in der Physik?• Verifizierbarkeit: Lässt sich die Theorie vollständig aufdirekt beobachtbare Phänomene reduzieren?• Dekohärenz: Wie können makroskopische (»klassische«)Phänomene <strong>im</strong> Rahmen der Quantenmechanik gedeutetwerden?Ist die wissenschaftliche Welt der Quanten nicht <strong>im</strong> Licht desAlltagsdenkens absurd?Abb. 6. kosmische D<strong>im</strong>ensionenWenn Grippebakterien ein Physikbuch (etwa einen »Gerthsen«für studierende Bakterien) von 800 Seiten schreiben würden,welche Kapitel würde es enthalten? 600 Seiten würden sich mitThermodynamik beschäftigen und davon 500 Seiten speziellmit dem Temperaturbereich zwischen 36°C und 42°C. Ganzam Ende des Buches gäbe es ein schmales Kapitel über die neuestenerstaunlichsten Forschungen, nämlich zum Freien Fall.Kein Bakterium kommt durch einen Freien Fall zu Tode, wohlaber durch eine Fieberreaktion <strong>im</strong> genannten Temperaturbereich.Auf den Freien Fall käme die Wissenschaftlergemeindeder Bakterien durch das Studium des Todes des menschlichenWirts be<strong>im</strong> Fall aus großer Höhe, vergleichbar unserem Studiumdes Todes von Sternen, die als Roter Riese enden und be<strong>im</strong>Sterben begleitend Elemente bis zum Sauerstoff hin erzeugen.Was veranschaulicht uns die Analogie? Die Wahrnehmungvon Lebewesen ist in erster Linie auf das Leben und Überleben<strong>im</strong> umgebenden Kosmos hin ausgerichtet, dabei ist be<strong>im</strong> Menschenund vielen anderen Tieren auch das soziale Leben undÜberleben eingeschlossen. Wie sähe wohl ein Optikkapitel <strong>im</strong>Physikbuch für Klapperschlangen aus? Alle Lebewesen sind inihrer Farbwahrnehmung (Spektralbereich) sehr »wählerisch«in dem Sinne, dass sie selektiv auf ihr Überleben ausgerichtetist.Worin liegt das erkenntnistheoretische Potenzial dieses Themas?Wir sprechen und denken über den Makro- und Mikrokosmosaus der Sicht und mit den Begriffen und Denkkategoriendes Mesokosmos und dürfen uns nicht wundern, wenn unsmanches seltsam und absurd vorkommt. Unser menschlicherWahrnehmungs- und Erkenntnisapparat ist evolutionär in ersterLinie für das Leben und Überleben so geworden wie er istund nicht zum Entwickeln von Theorien der Physik. Die Tatsache,dass wir Menschen mit unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparatdarüber hinaus zu derart intellektuellen undkulturellen Leistungen fähig sind, ist ebenso erstaunlich wiefaszinierend. Somit tritt neben die Wahrnehmungserkenntnisdie wissenschaftliche Erkenntnis. Sie beruht auf Exper<strong>im</strong>ent,Abstraktion, Begriffsbildung, Datenverarbeitung, logischeSchlussfolgerung, Hypothesenbildung und Prüfung, kurzumwww.mnu.de 393
AUS BILDUNG UND WISSENSCHAFT // ERKENNTNISTHEORIE IM PHYSIKUNTERRICHTunter Verwendung der gesamten Methodik und des Instrumentariumsfür wissenschaftliche Erkenntnisprozesse, Irreninklusive.14 <strong>Erkenntnistheorie</strong> <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>Die Physik und der <strong>Physikunterricht</strong> sind voller <strong>Erkenntnistheorie</strong>.Folglich braucht nicht gefragt zu werden: Wie kommtdie <strong>Erkenntnistheorie</strong> in den <strong>Physikunterricht</strong>, sondern: Wienutzen wir die <strong>Erkenntnistheorie</strong> <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>? Dieerkenntnistheoretischen Kernaussagen aus den Beispielen desUnterrichts sind:• Vorsicht bei ontologischen Zuschreibungen!• Das Erkennen hängt ab vom Gegenstand selbst und meinerWahrnehmung vom Gegenstand.• Die Wahrnehmung ist nur bedingt verlässlich.• Die Wahrnehmung allein entscheidet nicht über Wirklichkeitund Scheinbarkeit, sondern die erklärende Theorie,das »denkende Sehen«.• »Richtige« Konstruktionen sind »passende« Konstruktionen.• Individuelle Erkenntnisse sind Konstruktionen zum Zweckedes Verstehens.• Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht durch»bloße Anschauung« gewinnen.• Die Theorie best<strong>im</strong>mt, was wir beobachten, was wirerkennen.• Was als Erkenntnis generierend akzeptiert wird, hängtvon den metaphysischen Hintergrundüberzeugungenund den kulturellen Erkenntnisgewohnheiten ab.• Physik produziert Phänomene und macht das Unsichtbaresichtbar.• Erkenntnisse sind <strong>im</strong>mer nur Erkenntnisse über die selbstentworfenen Weltbilder.• Das Exper<strong>im</strong>ent ist eine neue Erkenntnisquelle.• Die neue Wissenschaft produziert Phänomene, die siezum eigenen Erkenntnisgegenstand macht.• Die wissenschaftstheoretischen Auffassungen best<strong>im</strong>men,was wir wahrnehmen und erkennen.• Wahrheiten beruhen auf Evidenzvereinbarungen.• Nur wenn ich die Evidenzvereinbarungen akzeptiere,kann ich eine Erkenntnis als wahr betrachten.• Wir machen Aussagen über Weltbilder, nicht über dieRealität.• Wir sprechen und denken über den Makro- und Mikrokosmosin Begriffen und Denkkategorien des Mesokosmos.• Jeder Kosmos ist in den Augen des anderen absurd.• Unser Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat hat sichevolutionär in erster Linie für das Leben und Überlebenhin entwickelt und nicht um Wissenschaft zu betreiben.• Wissenschaftliche Erkenntnisse entstehen als sozialesGeschehen <strong>im</strong> Diskurs. Der Diskurs muss öffentlich kontrollierbarsein, damit Korrekturen möglich sind.<strong>Erkenntnistheorie</strong> (auch Epistemologie; griechisch episteme:Kenntnis, Wissen; logos: Vernunft, Sprache) ist eine Disziplinder Philosophie, die sich mit philosophischen Fragen der Erkenntnisbeschäftigt (vgl. G. VOLLMER, 1983, 2):• Was ist Erkenntnis? (Begriffsexplikation)• Wie erkennen wir? (Wege und Formen)• Was erkennen wir? (Gegenstand)• Wie weit reicht unsere Erkenntnis? (Umfang und Grenzen)• Warum erkennen wir gerade so, dies und nur dies?(Erklärung)• Wie sicher ist unsere Erkenntnis? (Geltung)• Worauf beruht ihre Sicherheit? (Begründung)Die Aufgabe einer Didaktik der <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist es, dieseFragen zu didaktisieren, d. h. sie lehr- und lernbar zu machenund methodisch in den Horizont der Schüler zu bringen. Dazumüssen sie an Unterrichtsthemen angebunden werden oder zuUnterrichtsthemen gemacht werden, dazu müssen die Fragenauf die Verstehensbedingungen der Schüler hin altersgerechtaufbereitet werden.Die Praxis des <strong>Physikunterricht</strong>s zeigt, was sich didaktisch begründenlässt:• <strong>Erkenntnistheorie</strong> kann auf allen Schulstufen getriebenwerden.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> kann an allen Themen der Physikgetrieben werden.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist originärer Bestandteil der Physikund nicht ergänzender Zusatz.• <strong>Erkenntnistheorie</strong> ist grundsätzlich <strong>im</strong> <strong>Physikunterricht</strong>enthalten, sie muss nur freigelegt und aufgegriffen werden.LiteraturBLUMENBERG, H. (Hg.) (1980). Galileo Galilei Sidereus Nuncius(Nachricht von neuen Sternen), Dialog über die Weltsysteme(Auswahl), Vermessung der Hölle Dantes Marginalien zu Tasso.Berlin: Suhrkamp.BRECHT, B. (1967). Leben des Galilei. Schauspiel. Berlin: editionsuhrkamp.KANITSCHEIDER, B. (1984). Kosmologie. Stuttgart: Philipp Reclam.KRAFFT, F. (1970). Dynamische und statische Betrachtungsweise inder antiken Mechanik. Wiesbaden: Steiner.LANG, J. (1938). Die Hohlwelttheorie. Frankfurt: Schirmer.LEISEN, J. (1999). Der Szenische Dialog. Ein unterrichtsmethodischerVorschlag zu Physik und Philosophie. Praxis der Naturwissenschaften– Physik (4), 35–37.MUCKENFUSS, H. (2000). Retten uns die Phänomene? Anmerkungenzum Verhältnis von Wahrnehmung und Theorie. Plus Lucis(3), 10–14.REICHENBACH, H. (1928). Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Berlinund Leipzig: de Gruyter.SCHLICHTING, H. J. (ohne Jahr). Die Erd’ ist ein Planet. Vom physikalischenBlick am Beispiel von Galileis Blick durch das Fernrohr.Manuskript.SEXL, R. (1983). Die Hohlwelttheorie. MNU, 36, 453–460.VOLLMER, G. (1983). Evolutionäre <strong>Erkenntnistheorie</strong>. Stuttgart:Hirzel.V. WEIZSÄCKER, C. F. (1964). Die Tragweite der Wissenschaft. ErsterBand. Schöpfung und Weltentstehung. Die Geschichte zweierBegriffe. Stuttgart: Klett.OStD Prof. JOSEF LEISEN, Peter-Joseph-Rottmann-Straße 20, 56077 Koblenz,leisen@studienseminar-koblenz.de, ist Leiter des Staatlichen Studienseminarsin Koblenz für das Lehramt an Gymnasien und Honorarprofessor an der UniversitätMainz.gc394MNU 62/7 (15.10.2009)