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Nod - Jenseits der Erde - Uploadarea.de

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Manchmal habe ich ein schreckliches Bedürfnis nach Frömmigkeit.Dann gehe ich in die Nacht hinaus und male die Sterne.Vincent van Gogh2


1 - Auf Jorge!Im Jahre 334 <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation(2504 AD nach Rechnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner)„Der Herr aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme <strong>de</strong>ines Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>sBluts schreit zu mir von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Und verflucht seist du <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>, die ihrMaul hat aufgetan, und <strong>de</strong>ines Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>s Blut von <strong>de</strong>inen Hän<strong>de</strong>n zuempfangen. […] Unstet und flüchtig sollst du sein. […] Also ging Kain von<strong>de</strong>m Angesicht <strong>de</strong>s Herrn, und wohnte im Lan<strong>de</strong> <strong>Nod</strong>, jenseits von E<strong>de</strong>n.“Genesis 4,10-16 (Bibel)Das Sternensystem trug <strong>de</strong>n malerischen Namen 'Heimat <strong>de</strong>sLichts'. Die Grün<strong>de</strong>, welche die Ent<strong>de</strong>cker <strong>de</strong>s Systems <strong><strong>de</strong>r</strong>einst zudieser Benennung bewogen hatten, waren längst in Vergessenheitgeraten. Luxor, das Zentralgestirn <strong>de</strong>s Sektors, war zwar heller alsSonra, jedoch kannten die Astronomen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation genugSterne, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Leuchtkraft auch jene Luxors um ein Vielfachesübertraf. Abgesehen von seinem Namen hatte Heimat <strong>de</strong>s Lichtshingegen nicht viel zu bieten. Es existierten Einrichtungen aufeinigen Asteroi<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> im freien Weltraum, die permanentbemannt waren. Unbewohnt war das System also nicht. Tatsächlichhatte es sogar einen Sitz im Großsenat, was bei insgesamt 1.111Volksvertretern nicht unbedingt be<strong>de</strong>utete, dass man dort vonseiner Existenz wusste.War Heimat <strong>de</strong>s Lichts damit ein<strong>de</strong>utig Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ationmenschlicher Welten, so herrschte bezüglich seiner Zugehörigkeitzur Zollunion Argons Unklarheit. Der durchschnittliche Bewohnerhätte die Frage wahrscheinlich nicht zu beantworten gewusst. Dieunabhängigen Welten hingegen legten Wert darauf, zu betonen, eshan<strong>de</strong>le sich um einen neutralen Transitsektor, <strong>de</strong>n alle Menschen3


uneingeschränkt passieren dürften. Eine Ansicht, die man aufArgon Prime in<strong>de</strong>s nicht teilte, insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e nicht seit Beginn <strong><strong>de</strong>r</strong>Fusa, <strong>de</strong>s Großen Embargos.So hatte sich im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Jahre die Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>aleHan<strong>de</strong>lsstation, die <strong>de</strong>n Gasplaneten Rasnar im stationären Orbitumkreiste, zunehmend zu einer Einsatzbasis für Schiffe <strong>de</strong>s Zolls,<strong><strong>de</strong>r</strong> Polizei und <strong>de</strong>s Militärs entwickelt. Letztlich war die Station soüberlaufen gewesen von emsigen Staatsdienern, die tagein tagausmisstrauische Fragen zu Frachtpapieren stellten, dass sich auch dieehrlichsten Händler nicht mehr dorthin verirrten.Denn trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> geringen Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s Sternensystems, wur<strong>de</strong>n inHeimat <strong>de</strong>s Lichts große Warenmengen umgeschlagen.Dimensionstore verban<strong>de</strong>n das Sonnensystem mit vier an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. DieHan<strong>de</strong>lsrouten zwischen Argon, Aldrin, Perfect X und <strong>de</strong>nBergbauaußenposten <strong>de</strong>s Erzgürtels kreuzten sich hier. Die Warenwechselten nur nicht mehr wie früher in <strong><strong>de</strong>r</strong> öffentlichenHan<strong>de</strong>lsstation <strong>de</strong>n Besitzer, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n in kleineren privatenRauminstallationen, die von <strong>de</strong>n Einheiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Fusa umso strengerüberwacht wur<strong>de</strong>n.Erstaunlicherweise erwies sich die Zollunion dabei auf einem Augeblind. Denn in gar nicht allzu großer Distanz zum Delta-Sprungtorzog eine Raumstation durch die Leere <strong>de</strong>s Alls, die auf allenSternenkarten als ausgebranntes Wrack eingetragen war. Doch daswar Jorges Hafen schon lange nicht mehr.An<strong><strong>de</strong>r</strong>e wussten, dass die Station von <strong>de</strong>n Toten auferstan<strong>de</strong>n war.Zu ihnen gehörte ein kleiner Mann, <strong>de</strong>ssen dunkles Haar einenStich ins Rötliche aufwies. Samuel Gad Greenwald ging einerTätigkeit nach, bei <strong><strong>de</strong>r</strong> man früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später jeman<strong>de</strong>m über <strong>de</strong>nWeg lief, <strong><strong>de</strong>r</strong> über Jorges Hafen Bescheid wusste und es guten4


Geschäftspartnern unter <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand anvertraute. Der blin<strong>de</strong> Fleckbot nämlich viele Vorteile für Schmuggler wie ihn, nicht zuletzt dieMöglichkeit, einige Zeit unterzutauchen und so Ermittler zuverwirren, die ihre Routen zu rekonstruieren versuchten.Immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verbrachte Samuel <strong>de</strong>swegen ein paar Tage aufJorges Hafen und hatte so die Raumstation, ihre Bewohner undRituale in <strong>de</strong>n letzten Jahren gut kennen gelernt. Eines Tages, dawar er sich sicher, wür<strong>de</strong> ein gewaltiges Schlachtschiff erscheinen,<strong>de</strong>ssen Mannschaft sie alle miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> festnehmen und <strong><strong>de</strong>r</strong>Strafkolonie auf <strong>de</strong>m Planeten Artur ein rekordverdächtigesBevölkerungswachstum bescheren wür<strong>de</strong>. Doch das mochte nocheinige Zeit dauern und bis dahin war es das sicherste Versteck imUmkreis von min<strong>de</strong>stens zwei Raumsektoren.Natürlich war Jorges Hafen klar in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand von Piraten, obwohlSamuel nicht wusste, welche Fraktion hier das Sagen hatte.Vertreten schienen immerhin mehrere zu sein. Auch heute konnteer im Schankraum <strong>de</strong>s 'Unter Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Hebeln' kleinere Grüppchenausmachen, die er aufgrund typischer Symbole gleich dreiFraktionen zuordnen konnte. Die 'Schlangen' etwa, ein ziemlichchaotischer Haufen, fielen sofort dadurch auf, dass sie ihrnamensgeben<strong>de</strong>s Tier sowohl als Abbildung auf ihrer Kleidung wieauch als Tattoo offen zur Schau stellten. An<strong><strong>de</strong>r</strong>e Piraten hattensubtilere Erkennungsmerkmale. Alles kam in Frage, von <strong><strong>de</strong>r</strong>Kleidung über Schnitt und Farbe <strong><strong>de</strong>r</strong> Haare bis hin zu Material,Position und Anzahl von Ohrringen. Daneben gab es natürlich auchnoch jene Fraktionen, die überhaupt keine festenErkennungsmerkmale hatten. Für gewöhnlich waren diese dieGefährlichsten.Sein Blick wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te durch <strong>de</strong>n Raum. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> spärlichenBeleuchtung waren die allgegenwärtigen Verbotsschil<strong><strong>de</strong>r</strong> gut zu5


entziffern. Bei je<strong>de</strong>m Besuch schien ihre Zahl zugenommen zuhaben. Auch direkt über ihm hing ein neues: 'Das Bestellen vonweniger als drei Drinks ist bei Strafe untersagt! - Jorge'Lachend prostete Samuel <strong><strong>de</strong>r</strong> Texttafel zu. Neben <strong>de</strong>n Piratenherrschte natürlich Jorge selbst über Jorges Hafen. Mit großerNachsicht und Geduld, wie man es von einem Toten erwartete.Nach<strong>de</strong>m er sich einen Schluck von seinem Whisky, <strong>de</strong>mberüchtigten 'Raumsprit', genehmigt hatte, stellte Samuel das Glaszurück auf die Theke. Dabei fiel ihm ein Mann auf, <strong><strong>de</strong>r</strong> nur zweiHocker weiter rechts saß. Samuels Blick blieb kurz an <strong>de</strong>m An<strong><strong>de</strong>r</strong>enhaften. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, was die bedrohlicheStimmung verursachte, <strong><strong>de</strong>r</strong> er angesichts <strong>de</strong>s Schwarzhaarigenverspürte. Doch auf <strong>de</strong>m zweiten Blick erkannte Samuel dieKonturen zweier Feuerwaffen, die sich unter <strong>de</strong>m langen, vonMetallstreifen durchwirkten Mantel verbargen. Auf <strong>de</strong>n Rückenhatte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Unbekannte ein Schwert gebun<strong>de</strong>n.Aus <strong>de</strong>m Krieg wusste Samuel, dass Split oft <strong><strong>de</strong>r</strong>erlei antiquierteStichwaffen trugen, da diesen in ihrer Kultur eine ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>eBe<strong>de</strong>utung beigemessen wur<strong>de</strong>, sie mehr Symbol persönlicherStärke und Ehre <strong>de</strong>nn Waffe waren. Dass diese Mo<strong>de</strong> nun auchunter Menschen Einzug hielt, selbst wenn es sich nur um Piratenhan<strong>de</strong>lte, war Samuel neu. Wenn es <strong>de</strong>nn ein Pirat war. So gutausgerüstet waren meist nur Kopfgeldjäger. Und tatsächlichent<strong>de</strong>ckte Samuel nun auch das kleine Pad, das <strong><strong>de</strong>r</strong> Frem<strong>de</strong> vorsich liegen hatte und auf <strong>de</strong>m er eine Liste von Fotos und Zahlenerkennen zu können meinte.Unwillkürlich machte sich ein flaues Gefühl in Samuels Magenbreit. Er versuchte sich zu beruhigen. Angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> lumpigen paarYen, welche die Zollunion auf ihn ausgesetzt hatte, dürfte es alleinhier im Schankraum etliche lukrativere 'Kun<strong>de</strong>n' für einen solchen6


Jäger geben.Samuel sah sich weiter um. Das aufwärts streben<strong>de</strong> Licht kleinererScheinwerfer lenkte seinen Blick wie von selbst hinauf zu <strong>de</strong>müberlebensgroßen Bild Jorges, das <strong>de</strong>m Eingang gegenüber in zweiMetern Höhe befestigt war. Es zeigte einen blon<strong>de</strong>n Mann mittlerenAlters, <strong>de</strong>n Kopf erhoben, <strong>de</strong>n Blick scheinbar in weite Fernegerichtet. Seine stolze Pose stand in einem gewissen Gegensatz zuseinem Overall und <strong>de</strong>m Magnetschlüssel in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand. Bei<strong>de</strong>kennzeichneten ihn als einen Techniker. Wer auch immer <strong><strong>de</strong>r</strong>Abgebil<strong>de</strong>te gewesen sein mochte, er kam <strong>de</strong>m Bild, das sich einje<strong><strong>de</strong>r</strong> hier von Jorge machte, so nahe, dass man ihn gera<strong>de</strong>zu darinerkennen wollte.Jorge war eine Legen<strong>de</strong> – im doppelten Sinne. In Piraten- undSchmugglerkreisen besaß er <strong>de</strong>n Rang einer historischenPersönlichkeit. Zu seinem Legen<strong>de</strong>nstatus trug in<strong>de</strong>s wesentlich <strong><strong>de</strong>r</strong>Umstand bei, dass eigentlich nichts über ihn bekannt war. Als einJahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t zuvor die Einfälle <strong><strong>de</strong>r</strong> Xenon in diese Raumregionbedrohliche Ausmaße angenommen hatten, war die alteHan<strong>de</strong>lsstation <strong>de</strong>s Sektors aufgegeben wor<strong>de</strong>n. Später schlachtetenSchrotthändler die Station aus. Als die Piraten die Raumbasis vorwenigen Jahren wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ent<strong>de</strong>ckten und neu herrichteten, fan<strong>de</strong>n sielediglich einen einzigen Hinweis auf ihre Vergangenheit. An <strong><strong>de</strong>r</strong> Türzu einem Kontrollraum, von <strong>de</strong>m aus vermutlich <strong><strong>de</strong>r</strong>einst dieLebenserhaltungssysteme überwacht wor<strong>de</strong>n waren, hatte dasSchild gehangen: 'Unbefugten ist das Betreten bei Strafe untersagt! -Jorge.'So war aus <strong><strong>de</strong>r</strong> vergessenen und namenlosen Station Jorges Hafengewor<strong>de</strong>n und Jorge selbst zu ihrem imaginären Herrn. DasVerballhornen seines Verbotes hatte sich <strong><strong>de</strong>r</strong>weil zu einem beliebtenBrauch entwickelt. Hier im 'Unter Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Hebeln', ein Deck7


unterhalb eben jenes Kontrollraumes, hingen die meisten dieserTafeln.Samuel prostete <strong>de</strong>m Bild zu. „Auf Jorge!“, sagte er laut. Fast je<strong><strong>de</strong>r</strong>im Raum erhob nun ebenfalls sein Glas und stimmte in <strong>de</strong>nbeliebten Trinkspruch ein. Gelächter folgte. Zu <strong>de</strong>n Wenigen, diesich an <strong>de</strong>m Scherz nicht beteiligten, gehörte <strong><strong>de</strong>r</strong> Unbekannte. Aberwahrscheinlich waren gesellige Zeitgenossen unter Kopfgeldjägernallgemein selten anzutreffen, dachte sich Samuel im Stillen.Eine weitere Person fiel ihm auf. Auch diese hatte sich an <strong>de</strong>mToast nicht beteiligt. Vielmehr schien das Ritual <strong>de</strong>n Mann nichtwenig irritiert zu haben. Offenbar war er zum ersten Mal hier. SeineKleidung war auffällig, wenn auch in ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Weise als jene<strong>de</strong>s Jägers. Er trug eine braune Kutte mit Kapuze, die sein Hauptweitgehend verbarg. Als Gürtel diente ihm ein einfacher Strick, <strong><strong>de</strong>r</strong>in son<strong><strong>de</strong>r</strong>barer Form verknotet war.Samuel schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Was brachte einen Goner dazu, sichausgerechnet hier herum zu treiben? Freilich, dachte er sich,Piraten besaßen eine gewisse Anfälligkeit für <strong>de</strong>n Aberglauben, aberdie Geschichte von <strong><strong>de</strong>r</strong> sagenhaften Urheimat <strong>Er<strong>de</strong></strong> wür<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>mKuttenträger sicher nicht abkaufen. Zumal es sich augenscheinlichum einen religiösen Goner han<strong>de</strong>lte. Entgegen raumläufiger Ansichtwaren Goner per se nicht religiös, wusste Samuel. Zumin<strong>de</strong>st wennman Religiosität so verstand, wie sie es taten. Und wie er es früherselbst getan hatte. Früher, als seine Welt noch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> schierunüberwindlichen Idylle riesiger Ordanobäume bestan<strong>de</strong>n hatte.Wie er sie zuletzt gehasst hatte, die Bäume, ihre Früchte und diegewaltige, dunkelblaue Scheibe <strong>de</strong>s Gasriesen hoch über ihrenKronen.Seine Erinnerung führte ihn ständig an diesen Ort zurück, erwur<strong>de</strong> ihn einfach nicht los. Seine Stimmung kühlte sich merklich8


ab. Dabei war er doch in Feierlaune hierher gekommen. Denn erkam gera<strong>de</strong>wegs aus <strong>de</strong>m Raum <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunion. Eine große FuhreSalz hatte er durch die Fusa bekommen und in <strong><strong>de</strong>r</strong> Union absetzenkönnen. Mürrisch trank er weiter und beobachtete <strong>de</strong>n Goner.Dieser ging von Tisch zu Tisch und re<strong>de</strong>te leise auf die dortSitzen<strong>de</strong>n ein. Es dauerte jedoch nie sehr lange, bis man ihn mitgroben Worten o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit schallen<strong>de</strong>m Gelächter fortjagte. Weiterhinbeschäftigte Samuel die Frage, was <strong><strong>de</strong>r</strong> Erdgläubige hier suchenmochte. Eine Gruppe von religiösen Gonern wie ihm betrieb auf<strong>de</strong>m nahen Asteroi<strong>de</strong>n Copertino ihren eigenen Raumhafen.Welchen Grund sollte er haben, sich nicht dort nach <strong>de</strong>mumzusehen, was auch immer er benötigte, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n statt<strong>de</strong>sseneinen so zwielichtigen Ort wie Jorges Hafen aufzusuchen?Ein „Bonsoir, mes enfants!“ unterbrach seinen Gedankengangaugenblicklich. Samuel verschluckte sich vor Schreck. Während ernoch hustete, sah er sich entsetzt um. Sein Gehör hatte ihn nichtgetrogen, er kannte <strong>de</strong>n hoch gewachsenen Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> soeben <strong>de</strong>nRaum betreten und die Anwesen<strong>de</strong>n auf die für ihn so typischeWeise begrüßt hatte. Er trug eine Offiziersuniform <strong><strong>de</strong>r</strong> argonischenKriegsflotte. Sogar die gleiche wie damals, erkannte Samuel. Dieviolette Uniform befand sich in einem hervorragen<strong>de</strong>n Zustand.Doch zeigte ihr Schnitt, dass sie min<strong>de</strong>stens fünf Jahre alt seinmusste. Dazu trug <strong><strong>de</strong>r</strong> Ankömmling Raumfahrerstiefel. Mit diesenklobigen Dingern, musste man notgedrungen geräuschvollauftreten, was aber in diesem Falle wohl ganz im Sinne <strong>de</strong>s Trägerswar. Auch seine Haarpracht war ungewöhnlich. Hinten reichtenseine schwarzen, geflochtenen Haare bis auf Hüfthöhe hinab, vornewaren sie in<strong>de</strong>s kurz geschnitten und en<strong>de</strong>ten in sich verbreiten<strong>de</strong>nBackenbärten knapp unterhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Mundwinkel. Nur wenige wieSamuel wussten, dass einer dieser Bärte dazu diente, eine lange9


Narbe zu ver<strong>de</strong>cken.Waffen trug <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann keine, dafür begleiteten ihn zweiLeibwächter. Kleine, bullige Typen mit hohen Stirnen, plattenNasen, bösen, wachen Augen und einer kränklich wirken<strong>de</strong>n,graugelben Haut, die wie verwittertes Gestein aussah: Split. Dasallein zeigte zur Genüge <strong>de</strong>n Stellenwert ihres Geldgebers. Mankannte diese Spezies erst seit wenigen Jahren, die vom Krieg undschließlich von ihrer Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lage bestimmt gewesen waren. Dennochgalten die Split weiterhin als ultimative Krieger. Söldner diesesVolkes waren teuer, wer sich gleich zwei von ihnen als privateLeibgar<strong>de</strong> leisten konnte, war wichtig.Ruckartig drehte sich Samuel auf seinem Barhocker zur Thekeum, machte sich klein und hoffte inständig, dass Le Requin ihnnicht ent<strong>de</strong>cken wür<strong>de</strong>. Dem Kopfgeldjäger konnte seine Reaktionkaum entgangen sein. Tatsächlich schaute er für einen Moment zuSamuel hinüber und musterte ihn gründlich von oben bis unten.Dann aber nahm er wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die versteinerte Haltung ein, in welcherer nunmehr seit fast einer Stun<strong>de</strong> vor seinem Pad und seinem halbvollen Glas Biah saß. Samuel atmete erleichtert auf.Allerdings hatte er sich zu früh gefreut. Schwere Schritte nähertensich hörbar. „Aber das ist doch Sammy!“, vernahm er die vertrauteStimme hinter sich. „Sam-my!“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte Le Requin ge<strong>de</strong>hnt.„Samuel!“Dieser gab vor, nichts zu hören. Er klammerte sich gleichsam ansein Glas und die unsinnige Hoffnung, Le Requin könne einenan<strong><strong>de</strong>r</strong>en Träger dieses Namens an <strong><strong>de</strong>r</strong> Bar ent<strong>de</strong>ckt haben. Abereine kräftige Hand mit sechs Fingern legte sich auf seine Schulternund zerrte ihn mit Gewalt vom Hocker. „Boss dich re<strong>de</strong>n. Hörenzu!“, knurrte <strong><strong>de</strong>r</strong> Split. Sein Argonisch war fürchterlich. Langeschien er noch nicht unter Menschen zu leben.10


„Aus, Trakh! Lass ihn los!“, befahl Le Requin.Augenblicklich setzte <strong><strong>de</strong>r</strong> angesprochene Split Samuel unsanftwie<strong><strong>de</strong>r</strong> ab. Dann traten er und sein Partner ein paar Schritte zurückund verhielten sich abwartend. „Schön.“, kommentierte Le Requinund bestellte für je<strong>de</strong>n an <strong><strong>de</strong>r</strong> Bar einen Whisky. Der Kopfgeldjägermurmelte etwas, was ein Dank sein mochte, vielleicht aber auchzum Ausdruck bringen sollte, <strong><strong>de</strong>r</strong> großzügige Spen<strong><strong>de</strong>r</strong> möge sich zu<strong>de</strong>n Xenon scheren. Le Requin ging zumin<strong>de</strong>st nicht darauf ein undbeachtete <strong>de</strong>n Jäger auch nicht weiter.„Domo - Danke für <strong>de</strong>n Drink, André. Und jetzt lass mich...“, fingSamuel an, wur<strong>de</strong> jedoch sofort unterbrochen.Schon früher hatte Le Requin stets diesen unverwechselbarenTonfall an sich gehabt. Überheblich und patriarchenhaft, so alsnehme er je<strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en tatsächlich nicht ernster als 'enfants' – alsKin<strong><strong>de</strong>r</strong>. Auch das Wenige, das er hier seit seinem Eintreffengesprochen hatte, hatte ebenso geklungen. Nun aber zischte erfeindselig und drohend: „Le Requin! Niemand nennt mich an<strong><strong>de</strong>r</strong>s!“Samuel nickte. „Schon damals ein angemessener Titel.“,kommentierte er leise. Sein Französisch reichte aus, dass er sichdiesen Namen übersetzen konnte. Er be<strong>de</strong>utete: 'Der Hai'.Sein Gegenüber lächelte freundlich: „Nicht wahr? Im Vergleich zumir war André Renard ein Niemand.“ Seine Stimme klang wie<strong><strong>de</strong>r</strong>wie immer, so als sei nichts gewesen.Samuel runzelte die Stirn. „Was?“, fragte er verdattert. „ImVergleich zu... Aber du bist doch André Renard.“„Ich-bin“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte sein Gegenüber je<strong>de</strong> Silbe betonend: „Le-Requin,compris?“Samuel verstand keineswegs, nickte aber vorsichtshalber.Einige Minuten lang sagte keiner von ihnen etwas. Samuel merktewohl, dass Le Requin von ihm erwartete, das Gespräch zu eröffnen,11


doch diesen Gefallen wollte er ihm nicht tun.„Ich kannte mal einen guten Piloten.“, brach <strong><strong>de</strong>r</strong> Pirat daherschließlich selbst das Schweigen. „Wirklich gut. Nicht, was diesegrünen Jungspun<strong>de</strong> unter einem guten Piloten verstehen, so einentollkühnen Draufgänger, <strong><strong>de</strong>r</strong> nur auf seine Abschusszahlen schielt.Nein, einer <strong><strong>de</strong>r</strong> zuverlässig seinen Job erledigte und sein Schiff amStück wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurück brachte. Unbeeindruckt von dreiäugigenPatrouillen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en stören<strong>de</strong>n Elementen.“„Wieso nur habe ich <strong>de</strong>n Eindruck, diese Geschichte schon zukennen?“Le Requin lächelte. „Mais oui, das könnte sein.“ Er nahm einen Zugaus seinem Glas und wog <strong>de</strong>n Whisky noch ein paar Sekun<strong>de</strong>ngenießerisch auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Zunge, bis er ihn endlich hinunterschluckte.Dabei ließ er Samuel nicht aus <strong>de</strong>n Augen. „Aber vielleicht hat sie jaeine Fortsetzung.“„Der erste Teil hat mir schon nicht gefallen.“, hielt Samuel fest.„Ach wirklich? Nun, das En<strong>de</strong> vielleicht. Doch soweit ich michentsinne, musste man dich damals nicht gera<strong>de</strong> zwingen, für michzu arbeiten. Du hättest alles getan, um von Ringo weg und dafürhinter...“„Ich hätte niemals alles getan.“Le Requin trank noch einen Schluck und machte einnach<strong>de</strong>nkliches Gesicht. „Gut, wahrscheinlich stimmt das.“, räumteer ein. „Da du nie verstan<strong>de</strong>n hast, die Dinge so zu sehen, wie siesind. Deiner Ansicht nach gibt es immer zwei Arten von Wegen,Richtige und Falsche. Soldaten machen etwas Richtiges, Söldneretwas Falsches. Händler tun eher Richtiges als Schmuggler, wobeies falscher ist, Drogen zu schmuggeln als Medikamente, und soweiter. Doch wenn es Dinge gibt, die falscher sind als an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, dannkann die reine Unterscheidung zwischen richtig und falsch,12


zwischen Schwarz und Weiß nicht stimmen. Es gibt nicht zweiArten von Wegen, es gibt Tausen<strong>de</strong>, Millionen. Und wenn man daserst einmal durchschaut hat, ist es nicht mehr weit zur wahrenErkenntnis, dass es nämlich einfach nur Wege gibt.“„Und diese Wege erlauben es dir, <strong>de</strong>ine Fein<strong>de</strong> mit Waffen zubeliefern, wie?“, brummte Samuel.„Nein, Sammy, nein. Du verstehst es immer noch nicht. DieFö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation hat Fein<strong>de</strong>, ich nicht. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Millionen Wege gibtes keine Fein<strong>de</strong>, allerhöchstens Ziele. Es gibt Geldgeber, bessereund schlechtere, das ist alles.“„Auch wenn du glaubst, dass...“, begann Samuel, wur<strong>de</strong> aberdurch einen plötzlichen Tumult unterbrochen.Ein dicker Pirat war aufgesprungen, hatte seinen Blaster gezogenund auf <strong>de</strong>n Goner angelegt. Offenbar war er stark angetrunken. Erschwankte und zitterte am ganzen Körper, während er sich ebensolautstark wie schwer verständlich bemühte, <strong>de</strong>n Anwesen<strong>de</strong>n dieGrün<strong>de</strong> seines Tuns mitzuteilen. Soweit Samuel es begriff, mochte<strong><strong>de</strong>r</strong> Dicke einfach generell keine Goner, weshalb er sich schonlängere Zeit durch die Präsenz <strong>de</strong>s Kuttenträgers gestört gefühlthabe und nun zu <strong>de</strong>m Entschluss gekommen sei, sich dieser für ihnunerfreulichen Situation anzunehmen. Sein geplantes Opfer re<strong>de</strong>tein<strong>de</strong>s hektisch auf ihn ein und flehte ihn um Gna<strong>de</strong> an. Dannverstummte <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner, während sich seine Lippen weiter bewegten.Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Erfahrung mit <strong>de</strong>n Religiösen hatte, verstand wieso.Einige Augenblicke lang, die wie Ewigkeiten schienen, geschahnichts. Der Pirat schoss nicht, es erschien ihm wichtiger, zunächstseinen Vortrag zu einem angemessenen Abschluss zu bringen. Dochdazu kam es nicht mehr. Zu Samuels Überraschung, war es LeRequin, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Situation entschärfte. Er war aufgestan<strong>de</strong>n und rief<strong>de</strong>m Betrunkenen gar nicht einmal laut, doch bestimmend zu: „Hey,13


du Knallkopf, auf meiner Station macht man keinen Ärger!“Samuel glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. 'Meiner Station'?„Trakh, Zha, kümmert euch darum.“, befahl Le Requin seinenBegleitern.Bevor <strong><strong>de</strong>r</strong> Betrunkene überhaupt begriff, wie ihm geschah, hattensich die Split auf ihn gestürzt, ihn entwaffnet und mit Schlägenruhig gestellt. Schließlich wur<strong>de</strong> er von einem <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>nweggetragen. Samuel verfolgte <strong>de</strong>n Abtransport, bis <strong><strong>de</strong>r</strong> Split mitseinem bewusstlosen Gefangenen durch die Schwingtürverschwun<strong>de</strong>n war. Er fragte sich, was Le Requin wohl mit <strong>de</strong>mUnruhestifter anstellen wür<strong>de</strong>.Le Requin half <strong><strong>de</strong>r</strong>weil <strong>de</strong>m Goner auf die Füße, <strong>de</strong>nn seineübereifrigen Leibwächter hatten diesen beim Gerangel mit <strong>de</strong>mPiraten versehentlich umgestoßen. Le Requin re<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Mann aufFranzösisch an.„Nein, nein,“, antwortete <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner in <strong><strong>de</strong>r</strong> verbreiteterenargonischen Han<strong>de</strong>lssprache: „ich bin unverletzt. Domo.“ , bedankteer sich.Im Eifer <strong>de</strong>s Gefechts war ihm die Kapuze vom Kopf gerutscht. Erwar fast völlig kahl, nur ein dünner Haarkranz zierte sein Haupt.„Domo arigato.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte er: „Das beherzte Eingreifen ihrer Leutehat mich gerettet, Leutnant.“ Begeistert fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> Kuttenträger fort,<strong><strong>de</strong>r</strong> sich inzwischen als Pietro Dusic vorgestellt hatte: „Und ihrbeherrscht eine <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Sprachen, herrlich. So viele <strong><strong>de</strong>r</strong>wun<strong><strong>de</strong>r</strong>vollen Sprachen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> sind uns lei<strong><strong>de</strong>r</strong> schon verlorengegangen. Ein je<strong><strong>de</strong>r</strong> spricht nur noch Japanisch.“„Ja-pa-nikh?“, fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> verbliebene Split, <strong>de</strong>m das Wort nichtgeläufig war.„Argonisch, Trakh.“, klärte ihn sein Boss auf: „Aber zerbrich dirdarüber nicht <strong>de</strong>n Kopf, mon cher.“ An Dusic gewandt, sagte er: „Ich14


stamme aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegend um Villeneuve, einer kleineren Stadt aufArgon Prime, in Corvanien um genau zu sein. Dort hält sich dieseSprache noch recht tapfer.“ Ein freundlich warmes Lächelnbegleitete seine Re<strong>de</strong>.„Beherrscht ihr noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Sprachen, Leutnant?“, fragte Dusicinteressiert.„Nein bedaure, aber Greenwald-san hier ist ein wahresSprachengenie.“Wütend presste Samuel die Lippen aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Er wusste nur zugut, welche Frage ihn jetzt erwartete. Dusics ehrfurchtsvollerGesichtsausdruck ließ gar keinen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Schluss zu. Le Requinwar augenblicklich uninteressant. „Greenwald-san? Seid ihr etwa<strong><strong>de</strong>r</strong> Sohn von Sarah Greenwald, <strong><strong>de</strong>r</strong> berühmten Hüterin <strong><strong>de</strong>r</strong>Wahrheit?“Nach kurzem Zögern rang sich Samuel zu einer knappenBestätigung durch: „Hai!“ Auf keinen Fall wür<strong>de</strong> er auch nurirgen<strong>de</strong>in Wort alter Sprache in <strong>de</strong>n Mund nehmen.„Wie wun<strong><strong>de</strong>r</strong>voll!“, jubelte Dusic: „Dann seid ihr auch ein Hüter <strong><strong>de</strong>r</strong>Wahrheit?“„Nein!“, hielt Samuel entschie<strong>de</strong>n fest. Die heftige Reaktionverwun<strong><strong>de</strong>r</strong>te sein Gegenüber und ließ es leicht erblassen.„Nun, ich muss mich in<strong>de</strong>s lei<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen verabschie<strong>de</strong>n,messieurs.“, warf Le Requin unvermittelt ein und zog ab, <strong>de</strong>n SplitTrakh im Schlepptau. „Sammy, überleg's dir.“Samuel sah ihm nach<strong>de</strong>nklich hinterher. War <strong><strong>de</strong>r</strong> Kelch nun anihm vorüber gegangen o<strong><strong>de</strong>r</strong> wür<strong>de</strong> Le Requin noch einmal daraufzurückkommen? Le Requin wusste jetzt, dass er an Bord war. Dochwas wür<strong>de</strong> er als Nächstes tun? Und die wichtigste Frageüberhaupt, wie sicher war Samuel wirklich auf Jorges Hafen, wenndie Station seinem ehemaligen Vorgesetzen gehörte? Er beschloss,15


so bald wie möglich aufzubrechen. Dazu aber musste er erst einmaldiesen Dusic loswer<strong>de</strong>n.„Ihr...“, griff dieser <strong>de</strong>n Fa<strong>de</strong>n ihres Gesprächs wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf: „Ihr seidkein Goner?“„Nein!“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte Samuel, lauter und bestimmter diesmal. Esgalt, keine Zeit mehr zu verlieren. Er kippte <strong>de</strong>n Rest seinesRaumsprits in einem Zug hinunter. Eine schlechte I<strong>de</strong>e, erkannte ersogleich. Der Whisky schien ihm Löcher in die Kehle zu brennen.Samuel klopfte sich auf die Brust und keuchte matt.„Oh, ich...“ Dusic wirkte verlegen und irritiert. Er sah sich rechthilflos im Raum um, schien zu überlegen, was er jetzt tun sollte.Dies erinnerte ihn an <strong>de</strong>n eigentlichen Grund seines hiesigenAufenthalts. „Habt ihr ein Schiff?“, fragte er Samuel.Dieser sah ihn an, als ob er an Dusics Verstand zweifle. „Hai.“,krächzte er.„Könntet ihr dann ähm... eine Frachtlieferung an <strong>de</strong>n Kontrollen<strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation vorbei schleusen?“Samuel blinzelte eine Träne weg. Allmählich ging es wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Siemeinen an <strong>de</strong>n Kontrollen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunion?“ Es war mehr eineFeststellung <strong>de</strong>nn eine Frage.„Äh... hai, natürlich die <strong><strong>de</strong>r</strong> Union.“, entgegnete Dusic schnell. Erlächelte unsicher.„Welche Art Fracht?“„Ach, so dies und das.“„Dies und das?“Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner zuckte nur unsicher mit <strong>de</strong>n Achseln und hobhilflos die Hän<strong>de</strong>. „Möbel, Klei<strong><strong>de</strong>r</strong>, Werkzeuge, alles mögliche halt.“,meinte er schließlich.„Soll ich dir etwa beim Umzug helfen?“„Es sind wertvolle Objekte, gewissermaßen Kunstwerke.“16


„Hast du ein Museum ausgeraubt?“, entgegnete Samuel höhnisch.„Was?! Nein! Natürlich nicht!“ Die Empörung war echt. Die Kraft,mit <strong><strong>de</strong>r</strong> sie vorgebracht wur<strong>de</strong>, unterschied sich grundlegend von<strong>de</strong>m unsicheren Auftreten, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner ansonsten zeigte.Samuel kniff die Augen zusammen. „Also Werkzeuge, dieKunstwerke sind?“, fragte er mehr an sich selbst gerichtet.Dusic schwieg darauf. Seine Nervösität schien stetig zu wachsen.„Okay, wo ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Haken?“, verlangte Samuel zu wissen.„Haken, aber wieso? Ich...“ Die unschuldige Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung <strong>de</strong>sKuttenträgers wirkte nicht sehr überzeugend.Es war offensichtlich, dass an <strong>de</strong>m Angebot irgen<strong>de</strong>twas faul war.Samuel brauchte we<strong><strong>de</strong>r</strong> Bauchgefühl, noch Erfahrung, um diesmerken. Es sprang ihn gera<strong>de</strong>zu an. Doch seit wann gingen dieGoner krummen Geschäften nach? An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits, dachte er dann,woher sollte er wissen, ob dieser Dusic tatsächlich <strong><strong>de</strong>r</strong> war, <strong><strong>de</strong>r</strong> zusein er vorgab. Also fragte er nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Bezahlung.Dusic versprach eine großzügige Entlohnung, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Höhe erallerdings erst auf wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holtes Nachfragen hin offenbarte. Zuerstwar Samuel geneigt, <strong>de</strong>n Kerl auszulachen. Aber dann überdachteer die Angelegenheit noch einmal. Er wollte Jorges Hafen ohnehinso rasch wie möglich verlassen. Er hatte keine Vorstellung davon,was Le Requin tun wür<strong>de</strong>n, um ihn unter Druck zu setzen. Doch eswar sicher nicht ratsam, ihm viel Gelegenheit dazu zu geben. Wennsich Samuel in<strong>de</strong>s nach an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Auftraggebern umschaute, wür<strong>de</strong>Le Requin davon erfahren. Warum also nicht erst einmal mit diesemSon<strong><strong>de</strong>r</strong>ling Dusic aufbrechen, auch wenn er nur schlecht bezahlte?Der Auftrag wür<strong>de</strong> schließlich schnell und unkompliziert über dieBühne gehen, da es sich kaum um etwas Illegales han<strong>de</strong>ln konnte.Er konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen, dass ein Goner ankrummen Geschäften beteiligt wäre. Nichts<strong>de</strong>stotrotz wür<strong>de</strong> er17


darauf bestehen, sich die Fracht vorher gründlich anzuschauen.Wenn man ihm etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> und Möbel unterschiebenwollte, könnte er immer noch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Sache aussteigen – o<strong><strong>de</strong>r</strong> aufeine bessere Prämie bestehen.Also schlug er schließlich ein. Auch Dusic wollte so schnell wiemöglich aufbrechen. Da sich dies mit Samuels Plänen <strong>de</strong>ckte,bezahlte er seine Drinks und machte sich zusammen mit <strong>de</strong>mGoner auf in Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Andockklammern.Zwei Minuten später verließ <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfgeldjäger das 'Unter Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>tHebeln'.18


2 – Das Recht <strong>de</strong>s Narren„Der Senator von Solara begann seine Re<strong>de</strong> wie folgt: 'Wir halten dieseWahrheiten für ausgemacht, dass alle Kolonialplaneten gleichwertig sind,dass sie von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> mit gleichen, unveräußerlichen Rechten begabtwur<strong>de</strong>n, […] dass zur Versicherung dieser Rechte Regierungen auf <strong>de</strong>nPlaneten eingeführt wor<strong>de</strong>n sind, welche ihre gerechte Gewalt von <strong><strong>de</strong>r</strong>Einwilligung <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierten <strong><strong>de</strong>r</strong> jeweiligen Welt herleiten und zum Wohle allerMenschen in Bündnissen zusammenwirken; dass, sobald ein Bündnisdiesen Endzwecken ver<strong><strong>de</strong>r</strong>blich wird, es das Recht <strong><strong>de</strong>r</strong> Kolonien ist, es zuverän<strong><strong>de</strong>r</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu verlassen.'“Chroniken 9,13-15: Christiane Hatikvah (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Das mehrstöckige Rund <strong>de</strong>s Aldrian Globe war bis zum letztenPlatz ausverkauft. Eingerahmt von roten Samtvorhängen prunktegegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne auf halber Raumhöhe die Mittelloge für dieEhrengäste. Das Gelän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelloge war mit aufwendigen, inStuck ausgeführten Reliefs verziert. Zwischen kindlich anmuten<strong>de</strong>nRaumfahrerfiguren dominierte <strong><strong>de</strong>r</strong> Apollo-Adler die Szenerie, wie ermit einem Bün<strong>de</strong>l irdischer Pflanzen im Schnabel majestätisch zurLandung auf einem blauen Planeten ansetzte. Das Wappen <strong>de</strong>sFreistaates Solara, besser bekannt unter <strong>de</strong>m Namen seinerHauptwelt Aldrin. Unmittelbar hinter <strong>de</strong>m Wappen saß eineschwarzhaarige, recht junge Frau in <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Reihe <strong><strong>de</strong>r</strong> Loge. Siesaß auf <strong>de</strong>m Ehrenplatz, welcher ihr, Anthea Demetres, alsamtieren<strong>de</strong> Gouverneurin zustand. Sie trug einen kunstvollenOhrring, <strong>de</strong>ssen Form an ein christliches Kreuz erinnerte. Anstelle<strong>de</strong>s oberen Balkens verfügte dieses Kreuz jedoch über einen Ring, inwelchem ein künstlicher, blauer E<strong>de</strong>lstein eingearbeitet war.Die zweite Pause <strong>de</strong>s Abends neigte sich <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> zu und dasPublikum drängte aus <strong>de</strong>m Foyer zurück auf seine Plätze. Hinter19


Anthea wur<strong>de</strong>n die papierbespannten Holzschiebetüren aufgezogen,<strong>de</strong>nn auch hierhin kehrten Besucher zurück. Allerdings hatten nurwenige Gäste die Mittelloge während <strong><strong>de</strong>r</strong> Pause verlassen. Denndirekt vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür warteten bereits die Pressevertreter mit ihrenHolorecor<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Zu <strong>de</strong>nen, die sich <strong>de</strong>ssen zum Trotz hinaus gewagthatten und sich nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einfan<strong>de</strong>n, gehörte auch StaciaDubranchowa, Antheas rechte Hand. Der Umstand, dass sie einhellbraunes Dossier unter <strong>de</strong>m Arm dabei hatte, ließ dieGouverneurin verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t aufschauen. Stacias besorgterGesichtsausdruck kündigte keine guten Neuigkeiten an. Sie setztesich eine Spur zu schnell hin und legte <strong><strong>de</strong>r</strong> Gouverneurin <strong>de</strong>nAktenordner auf die Armlehne. „Die neuesten Werte.“, murmelte siekleinlaut, so als wäre allein sie für <strong>de</strong>n Inhalt verantwortlich. Staciasprach Englisch, eine alte Sprache, die auf Aldrin nie von <strong><strong>de</strong>r</strong>Han<strong>de</strong>lssprache verdrängt wor<strong>de</strong>n war.Anthea ließ <strong>de</strong>n Ordner zusammengeklappt und wog ihnnach<strong>de</strong>nklich in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n. Ungläubig schaute sie darauf hinab.„Aber wie …?“, fragte sie.„Oh, äh, nein, nein!“, erklärte Stacia hastig. „Das sind die Wertevon zwanzig Uhr. Es beinhaltet noch keine Reaktionen auf dashier.“ Sie begleitete ihr letztes Wort mit einer flüchtigenHandbewegung, die das gesamte Globe einschloss.„Nun, meine Damen,“, mischte sich ein Herr in schwarzem Anzugein, <strong><strong>de</strong>r</strong> wie zufällig <strong>de</strong>n Platz <strong><strong>de</strong>r</strong> Gouverneurin passierte:„Genießen sie <strong>de</strong>n Abend?“„Bisher mehr als sie, Favino, möchte ich meinen.“, entgegneteAnthea lächelnd. „Aber das wird wohl nicht so bleiben, nicht wahr?“Favino seufzte, breitete scheinbar ergeben die Arme aus und sagtemit hörbar gespieltem Bedauern: „Nein, auch ich befürchte, <strong><strong>de</strong>r</strong>letzte Teil könnte weniger nach ihrem Geschmack sein,20


Gouverneurin Demetres. Lei<strong><strong>de</strong>r</strong>.“ Er grinste.„Ihre aufrichtige Anteilnahme ehrt sie, Herr Abgeordneter. Wieheißt es doch so schön: Mit Freun<strong>de</strong>n wie ihnen, braucht man keineFein<strong>de</strong> mehr.“„Aber, aber, Madame!“, tat Favino entrüstet: „Ein politischerGegner ist doch kein Feind.“ Mit einem Male sprach er lauter. Diean<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gespräche in <strong><strong>de</strong>r</strong> Loge verstummten augenblicklich. „Ichweiß nämlich, wer unsere Fein<strong>de</strong> sind!“Doch die Gouverneurin überging die Spitze. Sie sah zu einem hoch<strong>de</strong>korierten Militär hinüber, <strong><strong>de</strong>r</strong> unweit entfernt Platz genommenhatte und vorgab, <strong>de</strong>n Austausch <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Politiker nicht zuverfolgen. „Sie haben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Pause mit <strong>de</strong>m Raummarschallgesprochen.“, setzte sie das Gespräch mit Favino fort. „Ich vermute,er wird sie unterstützen?“„Wir haben nur ein wenig geplau<strong><strong>de</strong>r</strong>t.“, beschwichtigte Favino.Seine Gestalt verwan<strong>de</strong>lte sich zusehend in einen Schattenriss, dadie elektrischen Kerzenleuchter das Licht im Saal allmählichherunter dämmten. „Der Marschall teilt meine Ansicht, dass die SolInvictus langsam in die Jahre kommt und wir <strong>de</strong>n Bau eines neuenSchlachtschiffes vorantreiben sollten. Besser gleich mehrere. Si vispacem, para bellum – Wenn du Frie<strong>de</strong>n willst, bereite <strong>de</strong>n Krieg vor!“Antheas rechte Augenbraue wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te nach oben: „Krieg, HerrAbgeordneter?“„Madame, je<strong><strong>de</strong>r</strong> weiß, dass die Split uns momentan nur <strong>de</strong>swegenin Ruhe lassen, weil sie sich gera<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einmal untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong> andie Kehle gehen. Auch die Parani<strong>de</strong>n warten doch lediglich auf <strong>de</strong>nrechten Moment, wie<strong><strong>de</strong>r</strong> loszuschlagen. Und dann sind daschließlich noch die Terraformer.“„Und Argon?“, fragte die Gouverneurin mahnend.Er musterte sie skeptisch: „Was soll mit Argon sein?“21


„Die Zollunion wird ein aldrianisches Rüstungsprogramm kaumtolerieren. Und das wissen sie so gut wie ich.“Favino beugte sich leicht vor. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Loge war es gänzlich stillgewor<strong>de</strong>n. Wie aus einer frem<strong>de</strong>n Welt wirkten die Geräusche aus<strong>de</strong>m restlichen Theaterrund, die Gespräche <strong><strong>de</strong>r</strong> Besucher, welchedie besten Nummern rekapitulierten, die mechanischen Stimmen<strong><strong>de</strong>r</strong> Serviceroboter, die noch die letzten Minuten <strong><strong>de</strong>r</strong> Pause dazunutzten, Erfrischungen zu verkaufen.Die Mittelloge war be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Persönlichkeiten vorbehalten.Je<strong><strong>de</strong>r</strong> hier, <strong><strong>de</strong>r</strong> lauschte, gewissermaßen lauschen musste, hattebeste Beziehungen zur Presse. Anthea wusste, dass alles, was hiergesagt wur<strong>de</strong>, spätesten in fünfzehn Minuten in sämtlichen E-Journalen zu lesen sein wür<strong>de</strong>. Favino hatte es darauf angelegt,erkannte sie zu spät. Er hatte ihr eine rhetorische Falle gestellt, siewar hinein getappt und nun schlug die Falle erbarmungslos zu.„Daran sind sie ja wohl nicht ganz unschuldig, Frau Gouverneurin,nicht wahr? Seit Generationen brauchte uns <strong><strong>de</strong>r</strong> Wille Argon Primesnicht zu kümmern. Doch dann kamen sie.“ Ihr Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sacher schlossmit einem energischen: „Aldrin war unabhängig und stolz! Und ichwer<strong>de</strong> dafür Sorge tragen, dass es dies auch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> sein wird!“Dann ging er weiter, bevor Anthea etwas erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>n konnte. Nichtwenige klatschten. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Punkt für Favino. Anthea war froh,dass es inzwischen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Loge ganz dunkel gewor<strong>de</strong>n war und soniemand sehen konnte, wie sie wütend die Fäuste ballte.Die Spots flammten auf und beleuchteten <strong>de</strong>n dunkelrotenVorhang <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne. In Kürze wür<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> dritte und letzte Teil <strong>de</strong>sKabarettabends beginnen. Das so genannte 'Stage Parliament' wareine noch aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Besie<strong>de</strong>lung herrühren<strong>de</strong> Veranstaltungim Sternensystem Solara, die traditionell eine Woche vor <strong>de</strong>nWahlen abgehalten wur<strong>de</strong>. Eine Handvoll Kabarettisten ließ in drei22


Blöcken zu je einer Stun<strong>de</strong> die solarische Politik <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten fünfJahre humorvoll, aber kritisch Revue passieren. Die Vergangenheithatte gezeigt, dass das Stage Parliament durchaus messbarenEinfluss auf das spätere Wahlergebnis haben konnte. Tatsächlichschoben viele Bürger Aldrins die Entscheidung, wen sie wählensollten, bewusst bis zu diesem Tag auf.Unbewusst versteifte sich Anthea als <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorhang aufgezogenwur<strong>de</strong>. Der letzte Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Veranstaltung war <strong>de</strong>n Entscheidungen<strong>de</strong>s Gouverneurs, o<strong><strong>de</strong>r</strong> eben <strong><strong>de</strong>r</strong> Gouverneurin, vorbehalten. DiesesMal war die Ehre, diesen Abschnitt <strong>de</strong>s Programms zu gestalten,durch Los ausgerechnet <strong><strong>de</strong>r</strong> Satirikerin Mari Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna zugefallen,<strong><strong>de</strong>r</strong>en extrem bissiger Stil schon etliche Politikerkarrieren zu einemvorzeitigen En<strong>de</strong> gebracht hatte.Unter wallen<strong>de</strong>n Applaus betrat Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna die Bühne und hobbeschwichtigend die Hän<strong>de</strong>, um <strong>de</strong>n Beifall abklingen zu lassen. Siewar son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar geklei<strong>de</strong>t. Über einem bunten, sehr altertümlichwirken<strong>de</strong>n Gehrock aus glänzen<strong>de</strong>m Samt, trug sie einenärmellosen, knielangen Überhang, <strong>de</strong>n das Staatswappen zierte. Derlan<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Adler war gut zu erkennen. Am ungewöhnlichsten warihre Kopfbe<strong>de</strong>ckung, eine hoch aufragen<strong>de</strong> Lockenperücke ausweißen Haaren, die im Nacken einen langen Zopf bil<strong>de</strong>ten. Antheakonnte nur mutmaßen, dass sich die Aufmachung an historischeVorbil<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> vor <strong>de</strong>m Zeitalter <strong><strong>de</strong>r</strong> Raumfahrt anlehnte. Abermit Sicherheit konnte sie dies nicht sagen, da sie sich niemals mitaltterranischer Mo<strong>de</strong> beschäftigt hatte.Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna eröffnete ihren Auftritt mit einer Begrüßung <strong>de</strong>sPublikums: „Guten Abend, sehr geehrte Damen und Herren, liebeAliens.“ Dann verbeugte sie sich in Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mittelloge. Sie tatdies so übertrieben tief, dass ihr Gesäß grotesk über ihrerzusammengekrümmten Gestalt aufragte. „Majestät.“, sagte die23


Kabarettistin mit <strong>de</strong>mütiger Stimme.Geschwind richtete sie sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf. „Well, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>emag sich die Frage stellen, was ich hier trage. Nun, in Kürze wer<strong>de</strong>nwir alle so o<strong><strong>de</strong>r</strong> so ähnlich herumlaufen. Wie nicht zuletzt wirFrauen wissen, kommt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong>de</strong> ja alles wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Und bekanntlichkönnen auch äußere Faktoren die Mo<strong>de</strong> beeinflussen. Dies hier zumBeispiel sind Accessoires aus monarchischen Zeitaltern. UndMonarchie ist <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit wie<strong><strong>de</strong>r</strong> voll im Trend, fragen sie nur mal diePrinzessin.“Diese Eröffnung erstaunte Anthea sehr und sie merkte wohl, dasses <strong>de</strong>m Publikum ähnlich erging. Noch begriff niemand, woraufHen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna hinaus wollte. Diese fuhr unbeirrt von <strong>de</strong>n bislangverhaltenen Reaktionen mit ihrem Text fort: „Yes, sie haben richtiggehört: die Prinzessin. Jetzt nicht die interhormonelle Prinzessin LarIrgendwas-mit-eus von Boron. Nein, wir Menschen haben nun auchendlich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unsere eigene Prinzessin.“Sie zog eine Grimasse, die sie dumm und begriffsstutzig aussehenließ, und ging langsam am Rand <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne entlang. Den Blickfragend auf das Publikum gerichtet, sagte sie: „Große,verständnislose Augen starren mich an: 'Monarchie, Prinzessin'?Auf je<strong><strong>de</strong>r</strong> Stirn ein Fragezeichen. Aber ja, wir leben in einerMonarchie. Haben sie das noch nicht gemerkt? Nein? Na, dann wir<strong>de</strong>s aber allmählich Zeit. Nächste Woche gibt’s wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Demokratie.Das kennen sie doch, diese langweilige Herrschaftsform von <strong><strong>de</strong>r</strong>Stange.“ Aus <strong>de</strong>m Saal kamen die ersten Lacher.„Aber jetzt, jetzt und exklusiv hier auf Aldrin haben wir etwasBeson<strong><strong>de</strong>r</strong>es: Monarchie. Obwohl, so an<strong><strong>de</strong>r</strong>s scheint das auf <strong>de</strong>nersten Blick gar nicht zu sein, so kennt auch die Monarchie dieMeinungsfreiheit. Nehmen sie zum Beispiel unsere geliebtePrinzessin Anthea Demetres, die Älteren unter ihnen wer<strong>de</strong>n sie24


noch als Gouverneurin kennen. Sie ist sogar sehr frei in ihrerMeinung, vor allem frei von <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung ihrer Wähler. Woran siesehen, dass Politiker, die später nicht tun, wozu man sie gewählthat, im Sinne unserer freiheitlichen Grundordnung vorbildlichhan<strong>de</strong>ln. Sie sorgen dafür, dass Meinungsfreiheit keine leereWorthülse bleibt.“ Mit einer kurzen Pause ließ sie das Gesagtewirken.„Prinzessin Antheas unermüdlicher Einsatz für unsere Freiheitscheint somit nichts Neues zu sein, könnte man meinen. Und dochist es hier an<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Denn abgesehen von dieser schönen Kleidungsind noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Dinge typisch für die Monarchie. Die Könige <strong><strong>de</strong>r</strong>Alten Zeit sahen ihr Land als ihren persönlichen Besitz an, mitallem was darauf so kreucht und fleucht, seien es nun Pfer<strong>de</strong>,Argnus, Menschen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Hühner. Und genauso wie sie ihreSommervilla in Ornida verschenken können – vorzugsweise anmich“, fügte sie unter vorgehaltener Hand hinzu: „So kann <strong><strong>de</strong>r</strong>Monarch sein Land verschenken an wen er will. Also beispielsweisedas Sternensystem Solara an die Argonen. Nebst Zubehör verstehtsich, also uns.“Zustimmen<strong>de</strong> Rufe wur<strong>de</strong>n laut. Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna wartete kurz ab undsetzte dann ihren Vortrag fort: „Womit sich uns eine weitereMeinung <strong><strong>de</strong>r</strong> Prinzessin offenbart, und zwar die Meinung IhrerSelbstherrlichkeit über uns. Wir sind Zubehör, Accessoires. Wirsind wie Pfer<strong>de</strong>, Argnus und Hühner, in ihren Augen auf <strong>de</strong>mselben Niveau wie die Karnickel in ihrem Garten, mit <strong>de</strong>nen sie sichim Wahlkampf so gerne hat ablichten lassen. Yes, ich kann ihnenversichern, dass ein je<strong><strong>de</strong>r</strong> von uns von Ihrer Majestät so sehr wertgeschätzt wird wie Vieh. Denn das sollen wir ja sein:“, sie <strong>de</strong>uteteanklagend auf die Loge und rief: „Stimmvieh!“Anthea war in ihrem Sessel zusammen gesunken. Sie hatte die25


Augen geschlossen und die Hän<strong>de</strong> vor <strong>de</strong>m Kinn zusammengelegt.Ihre Haltung erinnerte an jene religiöser Goner, doch sie glaubtenicht an irgendwelche höhere Wesen, bei <strong>de</strong>nen man Hilfe erbetenkonnte. Sie nutzte diese Haltung, da sie ihr half, ihre aufgewühltenEmpfindungen zu ordnen und Ruhe zu fin<strong>de</strong>n. Schon vor <strong>de</strong>m StageParliament hatte es nicht gut ausgesehen. Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna wür<strong>de</strong> ihreWie<strong><strong>de</strong>r</strong>wahl endgültig scheitern lassen.Dass damit ihrer politischen Laufbahn ein jähes En<strong>de</strong> bereitetwür<strong>de</strong>, erschütterte Anthea weniger. Schwerwiegen<strong><strong>de</strong>r</strong> war, dassdies auch das En<strong>de</strong> eines freien Solaras be<strong>de</strong>utete, wenngleichje<strong><strong>de</strong>r</strong>mann vom genauen Gegenteil überzeugt zu sein schien.Niemand wollte die langfristigen Ziele ihrer Politik sehen undverstehen. Allerdings musste sie sich eingestehen, damit ihrem Volkauch viel abzuverlangen. Schließlich hatte sie diese Ziele aus gutemGrun<strong>de</strong> niemals offen ausgesprochen. Es war unmöglich Aldrin dieWahrheit zu offenbaren, wenn man sie vor Argon verbergen musste.Auch Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna verstand nicht. Ironischer Weise hatte sie in<strong>de</strong>s ineinem Punkt Recht. Die Demokratie war <strong><strong>de</strong>r</strong> wun<strong>de</strong> Punkt, <strong>de</strong>nAnthea zu wenig berücksichtigt hatte. Sie wür<strong>de</strong> die Wahl verlieren.War Aldrin verloren?Unten auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne hatte die Satirikerin ihr Programmfortgesetzt. „Eine Woche noch. In einer Woche kann viel geschehen:Regen, Sonnenschein, Verfassungsän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen... Um die Monarchieoffiziell einzuführen, bedarf die Prinzessin wenig.“ Protestrufeerschollen. „Ach, das halten sie für unwahrscheinlich? Für wiewahrscheinlich haben sie es <strong>de</strong>nn vor fünf Jahren gehalten, dassAnthea Demetres selbstherrlich ohne Rücksicht auf Volk undParlament Solaras Beitritt zur argonischen Zollunion durchdrückt?“Anthea schüttelte hilflos <strong>de</strong>n Kopf. Sie verstand durchaus, wiesodiese Entscheidung bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Bevölkerung so großen Unmut26


verursacht hatte. Sie hatte an das Allerheiligste <strong><strong>de</strong>r</strong> Aldrianergerührt. Ein Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t lang hatten sich das Selbstbewusstseinund das Selbstbild ihres Volkes daraus genährt, dass ihr Planet vonallen menschlichen Welten die erste und wichtigste gewesen war,die sich <strong>de</strong>m wirtschaftlichen und kulturellen Diktat Argon Primeswi<strong><strong>de</strong>r</strong>setzt hatte.Bedingt durch das <strong>de</strong>mografische und wirtschaftlicheUngleichgewicht, dass von Beginn an zwischen <strong>de</strong>n Welten <strong><strong>de</strong>r</strong>Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation bestan<strong>de</strong>n hatte, hatte sich das alte I<strong>de</strong>al eines Bun<strong>de</strong>sgleichberechtigter Partner schon früh als illusorisch herausgestellt.Seit jeher hatte das mächtige Argon Prime die Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation dominiertund wenig Interesse daran gezeigt, die Kluft <strong>de</strong>s Machtgefälles zuüberwin<strong>de</strong>n. Anfänglich, als die Zerstörung <strong>de</strong>s Sprungtores zur<strong>Er<strong>de</strong></strong> <strong>de</strong>m Sternenreich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen schlagartig seine Führungentrissen hatte, war es angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> eklatanten militärischenSchwäche <strong><strong>de</strong>r</strong> Kolonien sogar ein ratsamer Weg gewesen, eine klargeglie<strong><strong>de</strong>r</strong>te, zentralstaatliche Struktur einem unübersichtlichenZusammenschluss vorzuziehen, <strong><strong>de</strong>r</strong> stets vom allgemeinenKonsenswillen abhängig war. Nur zu gern hatten sich damals dieverstreuten Welten unter <strong>de</strong>n Schutz <strong>de</strong>s an Raumfabriken undWerften reichen Argons begeben.Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit aber wan<strong>de</strong>lte sich die Schwäche <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit zurStärke und die Bevölkerung manches Planeten begann sich zufragen, warum eigentlich Argon allein die Früchte jener Siegeeinsammelte, die man doch gemeinsam errungen hatte. Die bei<strong>de</strong>nPlaneten <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Liga von Hatikvah, die Kolonie Demeter III und<strong><strong>de</strong>r</strong> Bund <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten nahe <strong><strong>de</strong>r</strong> boronischen Grenze hatten wiedas Sternensystem Solara seinerzeit gegen Argon aufbegehrt un<strong><strong>de</strong>r</strong>klärt, <strong><strong>de</strong>r</strong> mächtigen Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>welt fortan wie<strong><strong>de</strong>r</strong> nur noch jeneRechte zugestehen zu wollen, die ihr die Gründungscharta <strong><strong>de</strong>r</strong>27


Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation explizit gewährte.Die Aldrianer hatten sich in diesem Zustand bequem eingerichtet.Sie sahen nicht, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wollten nicht sehen, dass die Argonen,nach<strong>de</strong>m sie die rebellieren<strong>de</strong>n Terraformingmaschinen vertrieben,das Königinnenreich Boron befreit, sowie die Imperien <strong><strong>de</strong>r</strong> Split undParani<strong>de</strong>n nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gerungen hatten, ein trotziges SternensystemSolara nicht auf ewig tolerieren wür<strong>de</strong>n. Anthea hatte <strong>de</strong>m Druck<strong><strong>de</strong>r</strong> Fusa nachgegeben, jener großen Blocka<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunion, mitwelcher Argon Prime Aldrin von praktisch je<strong><strong>de</strong>r</strong> industriellenWarenproduktion abgeschnitten hatte. Jedoch wusste sie wohl,dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Freistaat Solara schon lange vorher wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in dieAbhängigkeit Argons geraten war. Aldrins Freiheit existierte nurnoch von Argons Gna<strong>de</strong>n.„Dabei ist die Prinzessin durchaus das schwarze Schaf <strong>de</strong>sKönighauses.“ Der Begriff 'Schwarzes Schaf' lenkte AntheasAufmerksamkeit wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf das Bühnengeschehen. „Vergleichen sieIhre Majestät nur mit König Midan <strong>de</strong>m Kunstfertigen, ihrem Vater,<strong><strong>de</strong>r</strong> uns ein unvergängliches Zeichen unserer Freiheit hinterlassenhat. Er hätte Argon nicht gedient, er war <strong>de</strong>n Argonen verhasst.Doch zu früh ging er von uns.“Empört ruckte Anthea hoch. Satire kannte kein Gesetz, doch siewar entrüstet darüber, dass Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna sich selbst keine Grenzensetzte. Der tragisch frühe Tod ihres Vaters war kein Aspekt <strong><strong>de</strong>r</strong>aldrianischen Politik und hatte in dieser Veranstaltung nichts zusuchen. Midan Demetres war ein Künstler gewesen, wie Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>snaaugenscheinlich sehr wohl wusste. Sein 'unvergängliches Zeichen<strong><strong>de</strong>r</strong> Freiheit' war die Statue zur Feier <strong>de</strong>s hun<strong><strong>de</strong>r</strong>tjährigenUnabhängigkeitsjubiläums, die er geschaffen hatte. Er dürfte<strong>de</strong>swegen unter <strong>de</strong>n Argonen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat wenig beliebt sein.Allerdings ging Anthea davon aus, dass er trotz allem <strong>de</strong>n meisten28


von ihnen völlig unbekannt war.„Der schnelle Generationswechsel im Hause Demetres kam <strong>de</strong>nn<strong>de</strong>n Argonen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Prinzessin auch sehr gelegen.“Das war zu viel. Sie musste sich nicht anhören, wie manan<strong>de</strong>utete, sie könnte am To<strong>de</strong> ihres Vaters beteiligt gewesen sein.Anthea stand auf und ging. Stacia und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Parteigänger folgtenihr umgehend. Als die Gouverneurin die Schiebetür zum Gangöffnete, wur<strong>de</strong> sie durch die strahlen<strong>de</strong>n Kronleuchter <strong>de</strong>s Korridorsund das Blitzlichtgewitter <strong><strong>de</strong>r</strong> Journalisten geblen<strong>de</strong>t. Wortlosbahnte sie sich ihren Weg durch das Meer <strong><strong>de</strong>r</strong> Holorecor<strong><strong>de</strong>r</strong>. Staciaübernahm es, an ihrer Stelle fortwährend „Kein Kommentar!“ zusagen.Obwohl die Logen weiterhin kaum beleuchtet waren, ging diesnicht unbemerkt von statten. Rasch flog die Nachricht von Sitz zuSitz, dass die Prinzessin vorzeitig das Theater verlassen hatte. Mansprach tatsächlich von <strong><strong>de</strong>r</strong> 'Prinzessin'. Der Begriff hatte sich sofortetabliert. Einige wenige Besucher erhoben sich nun ebenfalls undstrebten zu <strong>de</strong>n Ausgängen, um sich solidarisch mit ihrerGouverneurin zu zeigen. Doch ihre Zahl war gering. Dennochverursachte ihr Tun einigen Tumult im Saal.Derweil vollführte Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna eine unerwartete Wendung. Währenddie Bühnenscheinwerfer bis auf einen erloschen und sie imHalbdunkel zurückließen, zog sie sich die Perücke vom Kopf. Es warals sei damit nicht nur eine äußere Verkleidung gefallen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>nauch eine innere, als stün<strong>de</strong> nunmehr eine gänzlich an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Personauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Bühne. Ihre Stimme klang nun ernst und nach<strong>de</strong>nklich,fast traurig: „Sie sehen, die Prinzessin hat auch Befürworter. Das istvielleicht das Schlimmste, <strong>de</strong>nn ein Spalt bricht auf in unsererGesellschaft, <strong>de</strong>n je<strong><strong>de</strong>r</strong> von uns mitverschul<strong>de</strong>t hat, Demetres-Gegner und Demetres-Anhänger gleichermaßen. Ich muss nur <strong>de</strong>n29


Finger in diesen Spalt legen und er reißt weiter ein.“Sie schwieg einen Moment und warf das Haarteil achtlos fort.Dann wandte sie sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> an das Publikum: „Doch ich bin nureine Spaßmacherin, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hofnarr meines eigenen kleinenKönigreiches, <strong>de</strong>ssen Grenzen die Wän<strong>de</strong> dieses Saales sind.“ Sietrat an eine <strong><strong>de</strong>r</strong> Kulissenwän<strong>de</strong> heran und warf sie um. „Aber esbleibt Theater. Ich bin Schauspielerin und spiele Rollen. Ich bineine Satirikerin und spiele mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirklichkeit. Ich bin eineKabarettistin und spiele mit diesem Riss zwischen uns, um ihnaufzuzeigen. Was aber soll wer<strong>de</strong>n, falls jemand kommen sollte, <strong><strong>de</strong>r</strong>uns wirklich zerreißen möchte? Wie wer<strong>de</strong>n wir mit unseremNachbar umgehen, wenn er <strong>de</strong>m an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Extrem anhängt? Dieeinen bejahen ein autokratisches und absolutes Regiment, diean<strong><strong>de</strong>r</strong>en verrennen sich in <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e einer grenzenlosen, politischenund wirtschaftlichen Autarkie. Hie Prinzessin, da Freiheit. LeereParolen. Für <strong>de</strong>n Monarchen, gegen die Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation, im Namen <strong><strong>de</strong>r</strong>Unabhängigkeit? Was ist das? Eine Massenpsychose?“Sie verbeugte sich elegant. Dann wur<strong>de</strong> auch <strong><strong>de</strong>r</strong> letzteScheinwerfer ausgeschaltet und tauchte das Globe in völligeFinsternis, die von langen Sekun<strong>de</strong>n bedrückter Stille ausgefülltwar bis endlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Applaus aufbrauste.30


3 – Delex LC 34„Joseph, du wahrhaftiger, <strong>de</strong>ute mir […] über sieben grüne Ähren undan<strong><strong>de</strong>r</strong>e dürre, auf dass ich zurückkehre zu meinen Leuten, damit sie eswissen. Er erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te: Ihr wer<strong>de</strong>t sieben Jahre hindurch säen, und was ihrerntet, lasset in <strong>de</strong>n Ähren, bis auf weniges, das ihr esset. Dann wer<strong>de</strong>nsieben schwere Jahre kommen, die das verzehren wer<strong>de</strong>n, was ihr ihnenvorbereitet.“Sura 12,46-48 (Koran)Genüsslich lehnte sich Iaron Yates in seinem braunenCheltle<strong><strong>de</strong>r</strong>sessel zurück und beobachtete <strong>de</strong>n Sekun<strong>de</strong>nzeiger <strong><strong>de</strong>r</strong>Uhr über seiner Bürotür. In wenigen Minuten wür<strong>de</strong> es acht Uhrmorgens sein. Freilich war man am Reef Galvestone an sich schoneine Zeitzone weiter, aber bei DelexCrops waren die Uhren nach <strong><strong>de</strong>r</strong>Hauptstadt gestellt. Schließlich operierte das Unternehmen globalund transglobal. Wobei <strong><strong>de</strong>r</strong> Export in die Kolonien aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong>unwirtschaftlichen Transportkosten meist nur eine untergeordneteRolle gespielt hatte. In <strong>de</strong>n vergangenen Jahren hatten die Fusaund die Embargos, welche die freien Welten im Gegenzug verhängthatten, die Gewinne zusätzlich arg einbrechen lassen.Doch das letzte Geschäftsjahr, welches in nun exakt einer Minuteund zweiunddreißig Sekun<strong>de</strong>n zu En<strong>de</strong> gehen wür<strong>de</strong>, hatte dasUnternehmen mehr als entschädigt. Letztlich waren es gera<strong>de</strong> dieHan<strong>de</strong>lsbeschränkungen gewesen, die DelexCrops sensationelleJahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>teinnahmen beschert hatten. Ein gutes Unternehmenmusste sich <strong>de</strong>m Markt anpassen und bereit sein, je<strong><strong>de</strong>r</strong>zeit kreativeAntworten auf <strong>de</strong>ssen Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen zu fin<strong>de</strong>n. Heute, da inDelexien wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Saison <strong><strong>de</strong>r</strong> Getrei<strong>de</strong>aussaat begann – seit jeher<strong><strong>de</strong>r</strong> Beginn <strong>de</strong>s Geschäftsjahres für alle Betriebe <strong><strong>de</strong>r</strong> argonischenLebensmittelindustrie – konnte er als Geschäftsführer sagen,31


DelexCrops habe diese Aufgabe gemeistert. Das war ein guter Satz.Iaron nahm sich vor, damit seine morgige Re<strong>de</strong> vor <strong><strong>de</strong>r</strong>Aktionärsversammlung zu eröffnen.Der Andrang war enorm. Alle Liegeplätze <strong><strong>de</strong>r</strong> Megaplattform mitihren unzähligen weißen Silotürmen waren besetzt. Etliche weitereFrachtgleiter und Orbitaltransporter <strong>de</strong>s Unternehmens aber aucheiniger Direktabnehmer wasserten um die künstliche Insel herumo<strong><strong>de</strong>r</strong> kreisten in Warteschleifen durch die Luft. Insgesamt verfügteDelexCrops über einundzwanzig Plattformen dieser Art, die überganz Argon Prime verteilt waren. Von dort aus wur<strong>de</strong> das Saatgutfür alle Anbauflächen <strong>de</strong>s Konzerns auf <strong>de</strong>n Planeten <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunionund die raumstationierten Gewächshäuser verteilt.Und endlich war es acht Uhr. Auf die Verla<strong>de</strong>vorgänge draußennahm dies keinen Einfluss. Überhaupt ließ sich die wichtigeZeitmarke auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Plattform nicht bemerken. Lediglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Monitorin Iarons Büro flackerte kurz auf, da für <strong>de</strong>n Bruchteil einerSekun<strong>de</strong> unzählige Zahlenkolonnen über <strong>de</strong>n Schirm rasten, zuschnell als dass das menschliche Auge mehr <strong>de</strong>nn ein kurzesAufblitzen wahrnehmen konnte. Der Computer erstellte dieendgültige Bilanz. Umgehend stand <strong><strong>de</strong>r</strong> erwartete Rekordgewinn aufYen und Rin fest.Iaron bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>te verzückt die Zahl auf <strong>de</strong>m Bildschirm undor<strong><strong>de</strong>r</strong>te beim Barsystem eine Honigrebe von Garand IV. Er tranksonst eher Biah o<strong><strong>de</strong>r</strong> gorrumischen Whisky, doch war er überzeugt,dass diesen Tag nur Wein würdigen konnte. Irgendwo in <strong>de</strong>nEingewei<strong>de</strong>n seines Schreibtisches aus massivem Gahamoniholzsuchte das Barsystem nun <strong>de</strong>n richtigen Tank heraus und stachihn an. Das Programm erkannte das Material <strong>de</strong>s Behälters alsCryholz, was nur für sehr teure Getränke verwandt wur<strong>de</strong>, undverschloss nach Absaugen <strong><strong>de</strong>r</strong> nötigen Menge das Loch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> mit32


schnell aushärten<strong>de</strong>m Harz. Gleichzeitig wur<strong>de</strong> die Flüssigkeit inein geeignetes, bauchiges Trinkgefäß mit hohem Fuß geleitet unddieses schließlich durch eine unauffällige Klappe in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tischplattenach oben beför<strong><strong>de</strong>r</strong>t, wo Iaron es sofort ergriff.Er trat an das Fenster seines Büros und ließ die Scheibe in <strong><strong>de</strong>r</strong>Wand verschwin<strong>de</strong>n. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Seeluft, die hereinströmte, schwang einleicht strenger Geruch mit, welchen die Motoren <strong><strong>de</strong>r</strong> Transporterverursachten. Doch Iaron störte dies nicht, für ihn war es <strong><strong>de</strong>r</strong> Duft<strong>de</strong>s Gel<strong>de</strong>s. Die Geschäftsräume nahmen <strong>de</strong>n geringsten Teil <strong><strong>de</strong>r</strong>gewaltigen Konstruktion ein. Der Kegel, in <strong>de</strong>m sie untergebrachtwaren, saß wie ein silberner Partyhut oben auf <strong>de</strong>m mittlerenSiloturm. Oft, wenn Iaron so hinaus sah, dachte er, es habe sichallein wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Aussicht gelohnt, Geschäftsführer von DelexCropszu wer<strong>de</strong>n. Reef Galvestone selbst konnte er von hier aus zwar nichtsehen, da sein Büro nach Nor<strong>de</strong>n hinaus ging, dafür reichte seinBlick weit über die Wellen <strong>de</strong>s Japanischen Meeres. Bei gutemWetter, so wie an diesem Morgen, konnte er am Horizont sogarschon die Insel Togashima erspähen.Die Ozeane Argon Primes waren unverzichtbare Lieferanten fürFisch, Meeresfrüchte und Algen. Gute Lebensmittel, <strong>de</strong>nn sie ließensich optimal mit <strong>de</strong>n Erzeugnissen von DelexCrops kombinieren.Eines lieferten die Ozeane <strong>de</strong>s Planeten in<strong>de</strong>s kaum: Salz.Planeten besaßen ganz unterschiedliche Alter und die geologischenProzesse liefen auf ihnen, bedingt durch zahllose Faktoren, in sehrverschie<strong>de</strong>nen Geschwindigkeiten ab. Iaron kannte sich in diesenDingen nicht so gut aus. Er wusste nicht, ob es sich bei ArgonPrime um einen vergleichsweise jungen Planeten han<strong>de</strong>lte, o<strong><strong>de</strong>r</strong> oban<strong><strong>de</strong>r</strong>e Phänomene für die Salzarmut seiner schönen Heimatweltverantwortlich waren. Letztlich war ihm dies aber auch gleich.Die Goner, diese komischen religiösen Bücherwürmer, machten33


in<strong>de</strong>s viel Gewese um diesen Umstand. Da <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch und diemeisten bekannten Tierarten Salz zum Leben benötigten, soinsistierten sie, hätte sich das Leben in dieser Form nicht auf ArgonPrime entwickeln können, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sei auf einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Planetenentstan<strong>de</strong>n. Mit 'an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Planeten' meinten sie allerdings nichtetwa die salzreichen Welten Aldrin o<strong><strong>de</strong>r</strong> Thallo, was Iaron nochhätte nachvollziehen können, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n vielmehr ihr liebstesHirngespinst, <strong>de</strong>n mystischen Planeten <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Das ganze Universum<strong><strong>de</strong>r</strong> Goner schien um die <strong>Er<strong>de</strong></strong> zu kreisen. Konsequenterweisenannten sie ihre Gemeinschaft selbst daher auch die 'Wahrheitüber-die-<strong>Er<strong>de</strong></strong>-Stiftung'.Fragte man sie jedoch, wo dieserunglaubliche Planet <strong>de</strong>nn sei, wur<strong>de</strong>n sie stumm wie die Fische.Iaron hingegen war ein aufgeklärter Zeitgenosse und konnte diesenmärchenhaft anmuten<strong>de</strong>n Geschichten wenig abgewinnen. Für ihnwar und blieb Argon die einzige Wiege <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit. Schließlichgab es auch hier Salz, nur halt wenig. Wer wür<strong>de</strong> bestreiten, dasses heutzutage durch <strong>de</strong>n technischen und medizinischen Fortschrittviel mehr Menschen und Nutztiere gab als an sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Naturgedacht? Allein <strong>de</strong>swegen überstieg inzwischen die Nachfrage nachSalz das planetare Angebot.Und damit kamen die bei<strong>de</strong>n grundlegen<strong>de</strong>n Pole je<strong>de</strong>nwirtschaftlichen Geschehens ins Spiel: Angebot und Nachfrage. Daswar die Welt, die für Iaron greifbar war. Bis zur Gründung <strong><strong>de</strong>r</strong>Zollunion und <strong><strong>de</strong>r</strong> Verhängung <strong><strong>de</strong>r</strong> Fusa über die abtrünnigenWelten war das benötigte Salz importiert wor<strong>de</strong>n. Doch dannboykottierten viele Planeten, auf <strong>de</strong>nen das Mineral gewonnenwer<strong>de</strong>n konnte, ihrerseits Argon Prime.Verzweifelt hatte man damals nach einer Möglichkeit gesucht, dieausfallen<strong>de</strong>n Lieferungen zu kompensieren. Man hatte unbewohntePlaneten wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt nach Salzvorkommen untersucht. Zu<strong>de</strong>m war34


versucht wor<strong>de</strong>n, politischen Druck auf das Königinnenreich Boronauszuüben, um die Erlaubnis zum Bau von Entsalzungsanlagen in<strong>de</strong>n boronischen Kolonien zu erhalten. Doch die intelligentenMeeresbewohner befürchteten be<strong>de</strong>nkliche Auswirkungen auf dieÖkosysteme ihrer Ozeane und stellten ein Beharrungsvermögenunter Beweis, das ihnen kaum jemand zugetraut hatte. Schließlichwar man nicht umhin gekommen, nach einem Ersatzstoff für Salzzu suchen.Aber nicht Chemiker o<strong><strong>de</strong>r</strong> Geologen hatten die Alternative für daslebenswichtige Mineral gefun<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die Forschungsabteilungvon DelexCrops. Iaron machte sich eine gedankliche Notiz, nicht zuvergessen, in seiner Re<strong>de</strong> zu betonen, wie früh er das Potenzial <strong>de</strong>sProjekts erkannt und es großzügig finanziell ausgestattet hatte. DieKonzernwissenschaftler hatten das Genom <strong>de</strong>s <strong>de</strong>lexianischenWeizens so verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n können, dass das Getrei<strong>de</strong> in seinen Halmenein Enzym ablagerte, welches im Körper von Mensch und Tier allebiologischen Funktionen <strong>de</strong>s Salzes übernahm und gleichzeitig diePflanze selber nicht schädigte.Mit 'Delex LC 34', <strong><strong>de</strong>r</strong> auf diesem Wege neu entstan<strong>de</strong>nenGetrei<strong>de</strong>sorte, waren alle Versorgungsprobleme Argons auf weiteSicht gelöst und das letzte Druckmittel <strong><strong>de</strong>r</strong> wi<strong><strong>de</strong>r</strong>streben<strong>de</strong>nKolonien unbrauchbar gemacht. Das kürzliche Einlenken <strong><strong>de</strong>r</strong>aldrianischen Gouverneurin war nach Iarons Ansicht zweifellosauch diesem Umstand verschul<strong>de</strong>t. So gesehen hatte er, IaronYates, das stolze Solara unterworfen. Grinsend schloss er dasFenster wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Diegroßartige Aussicht verleitete ihn mitunter zu <strong><strong>de</strong>r</strong>artgrößenwahnsinnigen Anflügen. Ein Blick in <strong>de</strong>n Terminkalen<strong><strong>de</strong>r</strong>hatte sich in solchen Fällen als brauchbares Heilmittel erwiesen,zeigte er ihm doch, dass er sich in recht menschlichen Bahnen35


ewegte. Aktuell war die mäßigen<strong>de</strong> Wirkung dieser Metho<strong>de</strong>allerdings nur gering. So stand an diesem Abend etwa noch einEmpfang bei Präsi<strong>de</strong>nt Doreaan auf <strong>de</strong>m Programm. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Politikwinkten Perspektiven für eine weitere Karriere. Vielleicht wür<strong>de</strong> ereines Tages selbst an <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitze <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation stehen.Er wur<strong>de</strong> jäh aus diesen Tagträumen gerissen als ein kurzesTonsignal einen eingehen<strong>de</strong>n Anruf auf seinem Holofon mel<strong>de</strong>te.Der Anzeige <strong>de</strong>s Gerätes konnte Iaron entnehmen, dass es sich bei<strong>de</strong>m Anrufer um Jack Luvis han<strong>de</strong>lte. Luvis war sein Stellvertreterund leitete <strong><strong>de</strong>r</strong>zeitig von <strong><strong>de</strong>r</strong> Megaplattform in <strong><strong>de</strong>r</strong> Grumensee ausdie Geschäfte <strong>de</strong>s Konzerns auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Nordhalbkugel. Sie wechseltensich immer ab, wobei sich Iaron dann jeweils in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hemisphäreaufhielt, die wegen Aussaat o<strong><strong>de</strong>r</strong> Ernte gera<strong>de</strong> von höhererBe<strong>de</strong>utung war.Auch Luvis hatte bereits die Jahresbilanz erhalten. Sicher wollte ermit Iaron über <strong>de</strong>n großen Erfolg re<strong>de</strong>n. Dennoch zögerte <strong><strong>de</strong>r</strong>Manager zunächst, das Gespräch anzunehmen. Er empfandUnterhaltungen mit seinem Stellvertreter oft ziemlich anstrengend,da Luvis, obgleich ansonsten ein sehr intelligenter Zeitgenosse,diesen albernen Gonern angehörte und ständig auf die <strong>Er<strong>de</strong></strong> zusprechen kam. Ein Grund, warum es Iaron sehr genehm war,seinen Vize für gewöhnlich am an<strong><strong>de</strong>r</strong>en En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt zu wissen.An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits war es natürlich unsinnig, nur <strong>de</strong>swegen nicht mitLuvis zu re<strong>de</strong>n. Er gab sich einen Ruck und betätigte <strong>de</strong>n grünenKnopf, um <strong>de</strong>n Anruf anzunehmen.Doch als Iaron sah, welch leichenblasses Gesicht ihmentgegenblickte, wusste er, dass Luvis we<strong><strong>de</strong>r</strong> angerufen hatte, umeine Predigt zu halten, noch um mit seinem Vorgesetzten dieKonzerngewinne feiern. „Yates-san, es gibt ein Problem.“, eröffnetedieser ohne Begrüßung und verstummte augenblicklich, als sei36


damit schon alles gesagt.Iaron starrte auf das holografische Abbild seines Vertreters. Einfürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf und ließ seine Nackenhaarezu Berge stehen. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Nordhalbkugel hatte man die neue Sorteschon ausgesät. In zwei Monaten wäre mit <strong>de</strong>n ersten Ernten zurechnen. „Etwa ein Problem mit Delex LC 34?“Luvis antwortete nicht direkt. Er schluckte heftig, dann nickte er.„Aber wir haben alle er<strong>de</strong>nklichen Tests gemacht!“, rief Iaron. „Esist perfekt. Es ist sicher!“„Möglicherweise waren unsere Testreihen nicht lang genug.“,wandte Luvis ein.„Nicht lang genug? Nicht lang genug?“, schrie <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschäftsführerfassungslos. „Die Reihen liefen über ein Jahr, so lange lebt eineGetrei<strong>de</strong>pflanze normalerweise überhaupt nicht!“ Er hielt einenMoment inne und zählte in Gedanken bis zehn, um sich zuberuhigen. „Okay, wo liegt das Problem?“„Am besten kommen sie selber her, um sich ein Bild zu machen.“37


4 – Hen Wlad Fy Nhadau„Wir aber stellen nur eine <strong><strong>de</strong>r</strong> ältesten Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit. Eine Frage,die sich alle Generationen vor uns stellten, und die sich alle Generationennach uns stellen wer<strong>de</strong>n. Die Frage nämlich: 'Woher kommt <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch?'Der Unterschied ist allein, dass sie bei uns eine konkretere Gestaltangenommen hat.“Hüter 19,3: Fran Foster (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Noch bevor <strong><strong>de</strong>r</strong> erste Mensch einen Fuß in ein Raumschiff setzte,hatten Wissenschaftler erkannt, dass die Zeit, die gleichmäßigsteErscheinung, <strong><strong>de</strong>r</strong> planetares Leben begegnen konnte, im Kosmoskeine Konstante ist. Sobald man einen Planeten verließ, begab mansich an einem Ort, wo die Zeit eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Geschwindigkeit besitzenmusste. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> kannte das hypothetische Gedankenspiel vomAstronauten, <strong><strong>de</strong>r</strong> einen einzigen Tag lang mit Lichtgeschwindigkeitherumreiste und bei seiner Rückkehr erfahren musste, dass alleMenschen, die er gekannt hatte, schon lange tot waren.Doch war dies eine theoretische Spielerei geblieben, <strong>de</strong>nnvierhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre Raumfahrt hatten keinen Antriebhervorgebracht, <strong><strong>de</strong>r</strong> auch nur annähernd Lichtgeschwindigkeiterreichen konnte. Wer durch das Weltall reiste, durchlebte in <strong><strong>de</strong>r</strong>Tat weniger Zeit als Planetenbewohner. Die Differenz war zwargering, aber durchaus messbar. Doch wo die Psyche <strong>de</strong>s Menschenauf die Physik <strong>de</strong>s Alls traf, relativierte sich sogar das Relative. In<strong><strong>de</strong>r</strong> Eintönigkeit <strong>de</strong>s schier endlos leeren Alls als Raumfahrerweitgehend zur Untätigkeit verurteilt, schien man nachmenschlichem Empfin<strong>de</strong>n nicht weniger Zeit zu benötigen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>nmehr.Die Sprungtore trugen das ihrige zu diesen Merkwürdigkeiten bei.Sie waren das Werk einer unbekannten, außerirdischen Spezies, die38


sie vor langer, langer Zeit in <strong>de</strong>n Sonnensystemen <strong><strong>de</strong>r</strong> Milchstraßehinterlassen hatten. Die Parani<strong>de</strong>n, die immerhin schon fastachttausend Jahre das Tornetzwerk bereisten, waren <strong>de</strong>n Erbauernniemals begegnet, wenngleich sie – wie auch alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>enraumfahren<strong>de</strong>n Spezies – gelegentlich rätselhafte Objekte getroffenhatten, bei <strong>de</strong>nen es sich um Raumschiffe jenes 'Alten Volkes'han<strong>de</strong>ln mochte.Die Sprungtore versetzten ein Raumschiff von einem Punkt <strong><strong>de</strong>r</strong>Raumzeit unmittelbar an einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. Wie sie funktionierten, war<strong>de</strong>n Völkern, die sie heutzutage benutzten, nicht bekannt. Dochdass sie funktionierten, hatte <strong>de</strong>n Weg ihrer Entwicklung ganzmassiv beeinflusst. Die meisten Sprungtore befan<strong>de</strong>n sich auffesten Umlaufbahnen um eine Sonne, üblicherweise nahe <strong>de</strong>nBahnen bewohnbarer Planeten. Waren mehrere Sprungtore ineinem Sonnensystem vorhan<strong>de</strong>n, so waren sie für gewöhnlich nurLichtminuten, manchmal gar nur Lichtsekun<strong>de</strong>n voneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>entfernt. Im En<strong>de</strong>ffekt be<strong>de</strong>utete dies, dass man im Zweifelsfallschneller in ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Sternensystem gelangte als zumunmittelbaren Nachbarplaneten. Und so waren Raumstationen undbewohnte Welten entlang <strong><strong>de</strong>r</strong> Torrouten aufgereiht, währendgleichzeitig in allen Sektoren riesige Areale ungenutzt brach lagen.Erreichte man ein Sonnensystem durch ein Sprungtor, benötigteman im Schnitt ein bis zwei Stun<strong>de</strong>n bis zum nächsten Planeten.Zum Zweitnächsten vielleicht schon einen halben Tag, fast zwei biszum Dritten und so weiter.Das Deltator in Heimat <strong>de</strong>s Lichts lag ziemlich exakt auf halbemWege zwischen New Shipfall und Rasnar, <strong>de</strong>m dritten und viertenPlaneten <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonne Luxor. Bis zum sechsten Planeten, einem wieeine gewaltige Bernsteinkugel aussehen<strong>de</strong>n Gasriesen namens39


Jurate, benötigten sie mehr als eine Woche. Diese lange Zeitverbrachten Samuel, Dusic, <strong><strong>de</strong>r</strong> - wie Samuel vermutet hatte - einMönch war, und Dusics Gehilfe Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> vorwiegend in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kombüse<strong>de</strong>s Frachters, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Namen AP Chuzpe trug und <strong>de</strong>n Samuelunmittelbar nach <strong>de</strong>m Krieg gebraucht gekauft hatte.Die Chuzpe war auf <strong>de</strong>n Transport von Passagieren nur bedingtausgelegt. Konstruktionsbedingt gab es zwei Quartiere, daTransportschiffe dieser Größe für gewöhnlich Pilot und Copilotbesaßen. Doch Samuel hatte nie son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich an persönlichen Dingengehangen, weil es auch keine Vergangenheit gab, an die er erinnertwer<strong>de</strong>n wollte. Daher war es ihm ein Leichtes, alle seineBesitztümer in seiner eigenen Kabine unterzubringen. So hatte ernie Bedarf gehabt, das zweite Quartier als Wohnraum zu nutzen.Statt<strong>de</strong>ssen war es schon seit längeren ein zusätzlicher La<strong><strong>de</strong>r</strong>aum.Dazu war das Zimmer zwar kaum geeignet, weil es nur über eineschmale Tür zugänglich war und <strong>de</strong>shalb nicht maschinell be- un<strong>de</strong>ntla<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n konnte, doch es erschien Samuel trotz allemsinnvoller als <strong>de</strong>n Platz ungenutzt zu lassen. Wie je<strong>de</strong>m, <strong><strong>de</strong>r</strong>zwischen <strong>de</strong>n Sternen unterwegs war, wusste auch er, dass freierPlatz an Bord von Raumfahrzeugen einen schon fast unanständigenLuxus darstellte.Zu<strong>de</strong>m hatte er festgestellt, dass das Belegen <strong>de</strong>s Zweitquartiersmit Fracht von <strong><strong>de</strong>r</strong> Warte eines Schmugglers aus gesehenungemeine Vorteile mit sich brachte. Zollfahn<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>mzusätzlich Frachtraum angezogen wie Kometen vom Schwerefel<strong>de</strong>ines Gasriesen. Sie stellten <strong>de</strong>n Raum mit grimmiger Akribie auf<strong>de</strong>n Kopf und gingen danach, verärgert darüber, trotz intensiverund zeitaufwändiger Suche nichts gefun<strong>de</strong>n zu haben, <strong>de</strong>n Rest <strong>de</strong>sSchiffes nur noch oberflächlich durch, wo sich <strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>utlichsicherer heiße Ware unterbringen ließ. In <strong>de</strong>m Quartier selbst40


lagerte Samuel in erster Linie Proviant und Vorräte für <strong>de</strong>n eigenenBedarf, so dass Dusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> damit leben mussten, zwischenaufgestapelten Kisten und Konserven auf Feldbetten zu nächtigen.Doch obgleich sie sich nicht beklagten und ihn auch sonstweitgehend in Ruhe ließen, wuchs mit je<strong>de</strong>m Tag sein Ärgerdarüber, sich auf diesen Auftrag eingelassen zu haben. DieZielkoordinaten, die ihm die Goner gegeben hatten, bezeichneteneine Position nahe Kastytis, <strong>de</strong>s größten Mon<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Gasplaneten.Er konnte sich nicht vorstellen, dass man so weit draußen mehrfin<strong>de</strong>n könne als Asteroi<strong>de</strong>n und Raumfliegeneier. Doch dannhatten die Scanner plötzlich im Gravitationsschatten <strong>de</strong>s Planeteneine auffällige Massesignatur ent<strong>de</strong>ckt, punktgenau auf <strong>de</strong>nangegebenen Koordinaten.Es war ein Raumschiff und es hing im All wie ein Fisch, <strong>de</strong>ssenKopf mit einem stumpfen Messer abgetrennt wor<strong>de</strong>n war. Der Bugwar schlicht verschwun<strong>de</strong>n. Dusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> gingen davon aus,dass das Raumfahrzeug in einem Gefecht mit Terraformern<strong><strong>de</strong>r</strong>gestalt zugerichtet wor<strong>de</strong>n sei. Samuel hingegen hegte Zweifel.Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Gonern hatte er bereitsRaumschlachten miterlebt und wusste daher, wie vermittelsBeschuss verursachte Schä<strong>de</strong>n aussahen. Die hochenergetischenStrahlengeschütze zogen geschwärzte, perfekt gera<strong>de</strong> Schnitte in dieHülle. Lenkgeschosse und Torpedos wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um rissen Löcher in dieSchiffshaut, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Rän<strong><strong>de</strong>r</strong> sich kraterartig nach innen bogen. Hiergab es jedoch keine glatten Schnittkanten, das Schiff en<strong>de</strong>te inscharfen Zacken, so als sei es wie ein Stück Holz splitternd entzweigebrochen wor<strong>de</strong>n. Zu<strong>de</strong>m bogen sich die losen En<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Hülle auf<strong><strong>de</strong>r</strong> einem Seite nach innen, während sie auf <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nachaußen wiesen. Das Schiff musste von einem großen Objekt getroffenwor<strong>de</strong>n sein, vielleicht war es einst gerammt gewor<strong>de</strong>n.41


Das wür<strong>de</strong> passen, gestand sich Samuel wi<strong><strong>de</strong>r</strong>strebend ein.Schließlich waren die Xenon berüchtigt dafür, ihre Gegner mitdieser Metho<strong>de</strong> zu bekämpfen. Angst vor eigenen Verlusten kanntensie nicht, <strong>de</strong>nn als Maschinen ohne Leben, brauchten sie <strong>de</strong>n Todnicht zu fürchten. Damals im Terraformerkrieg hatten sie sogarnoch häufiger auf das Rammen zurückgegriffen als heute, da sienoch nicht über Waffen im eigentlichen Sinne verfügt hatten. Sozumin<strong>de</strong>st hatte man ihm als Kind die Geschichte vom großen Kriegerzählt, in <strong>de</strong>ssen Verlauf die Sprungtorverbindung zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Er<strong>de</strong></strong> und ihren Kolonien vernichtet wor<strong>de</strong>n war. Erst später warenihm die Merkwürdigkeiten <strong>de</strong>s Berichtes aufgefallen. EinVernichtungsfeldzug eines übermächtigen, bösartigen Fein<strong>de</strong>s –ohne Waffen?Es gab so viele Dinge in <strong>de</strong>n Erzählungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner, die <strong><strong>de</strong>r</strong>artunvorstellbar o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>st furchtbar unwahrscheinlichwaren, dass es Samuel schwer fiel, an sie zu glauben.Dementsprechend wusste er, dass es sich bei diesem Wrack nichtum die Überreste eines irdischen Raumfahrzeuges han<strong>de</strong>ln konnte,da nicht existente Schiffe nicht existenter Welten nicht havarierenkonnten. Dusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> wur<strong>de</strong>n hingegen nicht mü<strong>de</strong>, ihreVermutung euphorisch zu äußern.Samuel hatte sein Schiff, die AP Chuzpe, so nah an das tru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>Wrack heranmanövriert, wie er es verantworten zu können meinte.Dennoch blieb eine Distanz von etwa hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Metern, welche diedrei Männer in Raumanzügen zurücklegen mussten. Er verbrachtedie Strecke damit, Dusic über <strong>de</strong>n Helmfunk gut zuzure<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn<strong><strong>de</strong>r</strong> alte Mann hatte noch nie zuvor einen Weltraumspazierganggewagt und kämpfte daher nicht unerheblich mit einer heftigenÜbelkeit, die ihm in <strong><strong>de</strong>r</strong> ungewohnten Schwerelosigkeit erfassthatte. Samuel zog es vor, <strong>de</strong>m Goner nicht zu erläutern, er könne42


ersticken, wenn er sich in seinem Raumanzug erbräche, <strong>de</strong>nn dannwür<strong>de</strong> ihm dies vor lauter Panik nur umso eher geschehen.Sie lan<strong>de</strong>ten dort, wo die Beschädigung <strong>de</strong>s Wracks am schwerstenund damit die Möglichkeit, einen Einstieg ausfindig zu machen, amhöchsten war. Schließlich fan<strong>de</strong>n sie einen langen, aufgerissenenRaum, bei <strong>de</strong>m es sich vermutlich einst um einen zentralenKorridor gehan<strong>de</strong>lt hatte. Aktuell glich er in<strong>de</strong>s mehr einemBrunnenschacht unklarer Tiefe, o<strong><strong>de</strong>r</strong> einem alles verschlingen<strong>de</strong>nRachen.Samuel beugte sich über <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s Schachtes, um <strong>de</strong>n Gangmit <strong>de</strong>m Scheinwerfer seines Helmes auszuleuchten. Er stellte sichals nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich tief heraus. Ein Schott verschloss <strong>de</strong>n Wegbereits in etwa zwanzig Meter Entfernung. Im Schein <strong><strong>de</strong>r</strong> Lampekonnte er auf <strong><strong>de</strong>r</strong> weißen Oberfläche <strong>de</strong>s Schotts ausgeblicheneZeichen ausmachen. Deutlich zu erkennen waren ein 'E', eine '7'und eine '2'. Weitere Ziffern und Buchstaben ließen sich erahnen,aber nicht mit Gewissheit bestimmen. Augenscheinlich han<strong>de</strong>lte essich tatsächlich um ein von Menschen geschaffenes Raumschiff.Auch die Goner hatten die Schriftzeichen ent<strong>de</strong>ckt. „Seht ihr,Greenwald-san, dieses Fahrzeug wur<strong>de</strong> von Menschen fürMenschen gebaut!“, hielt Dusic triumphierend fest, <strong>de</strong>m Samuelsanhalten<strong>de</strong> Skepsis nicht entgangen war.„Na ja, dass es sich nicht gera<strong>de</strong> um boronisches Design han<strong>de</strong>lt,war schon auf größere Distanz zu erkennen.“, grummelte <strong><strong>de</strong>r</strong> Pilotund machte sich daran, in <strong>de</strong>n Schacht hinab zu steigen, in<strong>de</strong>m ermit Hilfe seiner magnetischen Stiefel an <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>nentlangwan<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Seine Begleiter folgten ihm.„Waren sie schon einmal an Bord eines boronischenRaumschiffes?“, fragte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> interessiert.„Sehe ich aus wie ein Seepferdchen mit Armen?“, entgegnete43


Samuel brüsk. Seine Lust auf Konversation war aktuell äußerstgering. Er hasste es, wenn Dinge, die eigentlich erledigt waren,erneut hervorgeholt wur<strong>de</strong>n. Und die Märchen von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> warenfür ihn erledigt, er hatte sie vor langer Zeit auf <strong><strong>de</strong>r</strong> elterlichenHazienda zurückgelassen. Und wenn es nach ihm ginge, sollten siegenau dort bleiben, im Schatten <strong><strong>de</strong>r</strong> Ordanobäume von Ringo. Erseufzte. Schon wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte ihn seine Erinnerung ungefragt an <strong>de</strong>nOrt seiner Kindheit geführt.Samuel fand <strong>de</strong>n mechanischen Notöffner, mit <strong>de</strong>m sich dieVerriegelung aufheben ließ, hinter einer Ab<strong>de</strong>ckung rechts neben<strong>de</strong>m Schott. Genau an <strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle, wo eine solche Vorrichtung auchauf argonischen Kriegsschiffen angebracht war. Er versuchte dieNotöffnung zu aktivieren, doch <strong><strong>de</strong>r</strong> monströse Hebel wollte sichnicht bewegen. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Magnetstiefel fehlte ihm in <strong><strong>de</strong>r</strong>Schwerelosigkeit ein ausreichend sicherer Stand, um sich mitseiner ganzen Kraft gegen <strong>de</strong>n Hebel zu stemmen o<strong><strong>de</strong>r</strong> sich an ihnzu hängen. Erst als sich ihm Dusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> anschlossen, schienein winziger Ruck durch <strong>de</strong>n Schalter zu gehen. Er konnte sichkaum mehr als einen Millimeter bewegt haben und Samuel fragtesich noch, ob er sich nicht gar geirrt haben mochte. Als ihm etwasHartes mit großer Gewalt an <strong><strong>de</strong>r</strong> Schulter traf und ihn von <strong>de</strong>nFüßen riss.Wild wirbelte <strong><strong>de</strong>r</strong> Korridor durch sein Blickfeld, während imSprechfunk die Goner schrieen. Die Rückseite seines Helms schluggegen eine <strong><strong>de</strong>r</strong> Wän<strong>de</strong> und knirschte unangenehm. Panisch griff erum sich, um irgendwo Halt zu fin<strong>de</strong>n, doch schon umfing ihnwie<strong><strong>de</strong>r</strong> leerer Raum. Nahezu leerer Raum, <strong>de</strong>nn im Lichte seinesHelmscheinwerfers sah er kurz die Fontäne einer son<strong><strong>de</strong>r</strong>baren,breiartigen Masse vor sich herjagen. Just in <strong>de</strong>m Moment, in <strong>de</strong>mihm klar wur<strong>de</strong>, was dies gewesen und was geschehen war, fan<strong>de</strong>n44


seine unkontrollierten Kreiselbewegungen abrupt ein En<strong>de</strong>.„Alles in Ordnung mit ihnen Greenwald-san?“, hörte er Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>besorgt fragen.Er sah an sich hinab und ent<strong>de</strong>ckte eine Gestalt im Raumanzug,die ihn mit einer Hand am Fuß gepackt hatte und mit <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>endie Steuerelemente für die Anzugsdüsen bediente. Weiter untenschob sich Dusics behelmter Kopf über <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s Kraters, <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>de</strong>n Eingang zum Korridor darstellte. „Gute Güte, was war <strong>de</strong>nndas?“, fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> alte Mann mit zittriger Stimme.„Luft!“, keuchte Samuel: „Bordatmosphäre, die durch das Schottentwichen ist. Domo.“, fügte er nach kurzer Pause an Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> gewandthinzu. Dann fluchte er heftig. Er ärgerte sich über sich selbst. Erhätte wissen müssen, dass das Blockieren <strong><strong>de</strong>r</strong> Verriegelung einenDruck anzeigte, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich hinter <strong>de</strong>m Schott befand, und dass dieseAtmosphäre blitzartig durch <strong>de</strong>n Spalt entweichen wür<strong>de</strong>.Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> ließ ihn los und Samuel legte die Hand auf dieKontrollsysteme seines Anzuges und flog neben <strong>de</strong>m jungen Gonerzurück zu Dusic.„Ich dachte, sie hätten noch keine Erfahrung mitRaumspaziergängen.“, erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> vom schnellenEingreifen <strong>de</strong>s jungen Mannes beeindruckt war.„Habe ich auch nicht.“, antwortete dieser schnell. Er klangverunsichert. Ihm schien gera<strong>de</strong> erst bewusst gewor<strong>de</strong>n zu sein, inwelch große Gefahr er sich gebracht hatte. Samuel klopfte ihmdankend und anerkennend auf die Schulter.Der Spalt, durch <strong>de</strong>n die Luft ausgeströmt war, war durch diegroße Kraft <strong>de</strong>s entweichen<strong>de</strong>n Gases aufgedrückt wor<strong>de</strong>n und ließsich nun leicht weiter aufstemmen, so dass die drei Männer baldins Innere <strong>de</strong>s Wracks vorstoßen konnten. Recht schnell trafen sie45


auf ein weiteres Schott, das sich allerdings problemlos öffnen ließ.Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> preschte ein gewaltiger Luftstrom heraus. Doch diesmalwaren sie vorbereitet und drückten sich flach an die Wand, so dassdie gewaltige Wucht zwischen ihnen hindurch schoss. Samuel hattedas Schott, durch das sie eingestiegen waren, von innen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>verschlossen, so dass nicht alle Luft in <strong>de</strong>n Weltraum entweichenkonnte und Gegenstän<strong>de</strong> mit sich hätte reißen können.Schließlich durchstöberten sie das Schiff. Eine dünneRaureifschicht be<strong>de</strong>ckte <strong>de</strong>n Großteil <strong><strong>de</strong>r</strong> Wän<strong>de</strong>. DieLuftfeuchtigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bordatmosphäre war wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> extremen Kältean Bord kon<strong>de</strong>nsiert und gefroren. Einige Räume waren wärmer alsan<strong><strong>de</strong>r</strong>e, <strong>de</strong>nn das Zentralgestirn <strong>de</strong>s Systems heizte trotz seinerEntfernung die Außenhülle auf. Sie fan<strong>de</strong>n Lagerräume undQuartiere, eine Kombüse, einen Speisesaal und einen Fitnessraum.Überall gab es Spuren von Verwüstungen und überall fehlte etwas.Allen voran natürlich Menschen o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>st ihre Leichen.War die Besatzung entkommen? Möglich, beschied Samuel. Aberwenn es Überleben<strong>de</strong> gegeben hätte, müsste doch irgendwer von <strong><strong>de</strong>r</strong>Havarie dieses alten Schiffes wissen und hätte es längst geborgen.An<strong><strong>de</strong>r</strong>seits musste <strong><strong>de</strong>r</strong> Umstand, dass sich die Besatzung inRettungskapseln hatte flüchten können, nicht be<strong>de</strong>uten, dass siemit diesen jemals irgendwo angekommen waren.Und noch etwas fiel ihm auf. Obwohl sie bei ihrem Vordringen indas Innere <strong>de</strong>s Schiffs stetig mehr, meist zertrümmerte,Ausrüstungsgeräte, Möbel und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Dinge fan<strong>de</strong>n, gab es einauffälliges Fehlen von Elektronik. Nichts schien so zerstört wie dieComputersysteme, augenscheinlich waren die einzelnenKomponenten unter Aufwendung größter Gewalt entfernt wor<strong>de</strong>n.Schließlich zeigte sich ein ähnliches Bild bei <strong>de</strong>n Kleidungsstücken,auf welche die drei Männer nach einiger Zeit stießen.46


Namensschil<strong><strong>de</strong>r</strong>, Knöpfe und Rangabzeichen fehlten. Scheinbarhatten irgendwann einmal Wrackräuber das Schiff ent<strong>de</strong>ckt undgeplün<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Nur konnte sich Samuel <strong><strong>de</strong>r</strong>en Vorgehen nicht ganzerklären. Er hatte selbst nie mit Militaria gehan<strong>de</strong>lt, doch war ihmdurchaus klar, dass eine vollständige historische Uniform allemalmehr einbringen musste als ihre einzelnen Knöpfe. Er zuckte mit<strong>de</strong>n Achseln. Vermutlich waren es keine professionellenWrackräuber, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ziemliche Dilettanten gewesen, die nurzufällig auf das Schiff gestoßen waren.Er teilte seinen Begleitern seine Vermutung mit. Dusic seufzte undschimpfte verhalten über diejenigen, die vor ihnen hier gewesenwaren. Zu Samuels Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung bezweifelte er in<strong>de</strong>s, dass es sichdabei um dahergelaufene Piraten gehan<strong>de</strong>lt habe.„Ach, und wer dann?“, fragte Samuel, da <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner seinenVerdacht nicht näher präzisierte.„Nun, offensichtlich wur<strong>de</strong> all jenes entfernt, womit man das Schiffi<strong>de</strong>ntifizieren könnte. Nicht wahr?“, antwortete dieser und daSamuel nicht reagierte, fuhr er fort: „Wer auch immer dafürverantwortlich ist, muss damit eine Absicht verfolgt haben. Etwassoll verschleiert wer<strong>de</strong>n. Und dieses etwas kann nichts An<strong><strong>de</strong>r</strong>es seinals die Herkunft dieses Schiffes aus <strong>de</strong>m Erdsektor.“Samuel kniff ob dieser eigenwilligen Theorie entnervt die Augenzusammen und winkte unwirsch ab: „Nichts An<strong><strong>de</strong>r</strong>es? Ich kann mirso einiges An<strong><strong>de</strong>r</strong>e vorstellen, was im letzten Krieg an Bord einesKriegsschiffes passiert sein könnte und man jetzt lieber verschleiernmöchte.“„Haben unsere Streitkräfte während <strong>de</strong>s Krieges etwas Unrechtesgetan?“ Dusic war aufrichtig erstaunt.Beinahe hätte Samuel laut aufgelacht. Er musste an die'Forschungsschiffe' <strong>de</strong>nken, welche regelmäßig die47


Kriegsgefangenenlager angeflogen hatten. Dann dachte er anMagatama. Noch so ein Ort, <strong>de</strong>n er in seiner Erinnerung nicht loswur<strong>de</strong>. Ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als Ringo, keine Ordanobäume und keineMärchen, nur Blut, rot, braun und weiß. Sei froh, nicht alleWahrheiten hüten zu müssen, alter Mann, dachte er sich.„Außer<strong>de</strong>m, wenn man die Herkunft dieses Schiffes verschleiernwollte, hätte man es doch wohl eher zerstört.“, sagte er, ohne DusicsFrage zu beantworten.„Vielleicht hatten sie dazu nicht genug Zeit. O<strong><strong>de</strong>r</strong> sie haben es nur<strong>de</strong>swegen nicht zerstört, um uns in Sicherheit zu wiegen.“,spekulierte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> aufgeregt.„Huh, wie perfi<strong>de</strong>.“, spöttelte Samuel: „Und wer sollen 'sie' sein?“Der junge Goner schaute sich hektisch um, so als hätten dieWän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s uralten, verlassenen Schiffes plötzlich Ohren bekommenund flüsterte: „Die Leute von <strong><strong>de</strong>r</strong> AAA.“„Der was?“, fragte Samuel. Doch dann fiel ihm wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ein, dassihm irgendwann einmal im 'Unter Hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Hebeln' <strong><strong>de</strong>r</strong>sturzbetrunkene Pilot eines klapprigen Erzfrachters eine abstruseVerschwörungstheorie erzählt hatte, die sich nicht allein um sichselbst, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch um eine Organisation namens AAA gedrehthatte. Samuel kramte in seiner Erinnerung nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Auflösung <strong>de</strong>sKürzels, doch er kam nicht darauf.Statt<strong>de</strong>ssen erläuterte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>: „Die Assoziation ArgonischerAutochtonie!“Jetzt erinnerte sich Samuel wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Seine Erkenntnis brachte ihndazu, sich über<strong>de</strong>utlich mit <strong>de</strong>m Finger gegen <strong>de</strong>n Helm zu tippen.Dass seine Begleiter viel Fantasie besaßen, war ihm klar gewesen,immerhin waren sie Goner. Aber augenscheinlich ging ihre Fantasieweit über das übliche Maß hinaus. Die Assoziation ArgonischerAutochtonie, o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch kurz die 'Autochtonie' war ein angeblicher48


Geheimbund einflussreicher Argonen. Wie bei fast je<strong><strong>de</strong>r</strong>Verschwörungstheorie hatten <strong><strong>de</strong>r</strong> Geheimdienst, <strong><strong>de</strong>r</strong> Präsi<strong>de</strong>nt,namhafte Großkonzerne und die Parani<strong>de</strong>n ihre Finger mit im Spiel.Lediglich die Goner, die sonst oft und gerne als Strippenzieher üblerMachenschaften in populäre Verschwörungstheorien eingewobenwur<strong>de</strong>n, waren in diesem Fall unverdächtig. Was insofernverständlich war, da diese Theorie im Wesentlichen in gonerischenKreisen kursierte und die Erdgläubigen zu <strong>de</strong>n Opfern <strong><strong>de</strong>r</strong>vermeintlichen Hinterhältigkeit stilisierte.„Ihr seid doch bei<strong>de</strong> völlig meschugge!“, hielt Samuel noch einmalfest.„Meschugge?“, fragte Dusic amüsiert: „Manchmal lässt sich docherahnen, wer eure Eltern waren, Greenwald-san.“Der Angesprochene warf <strong>de</strong>m Älteren einen finsteren Blick zu, wasaufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> verspiegelten Helmvisiere relativ sinnfrei war.„Wie kommt es eigentlich, mein Sohn,“, fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mönch nun:„wenn ihr mir meine Neugier verzeihen wollt, dass ihr nicht an die<strong>Er<strong>de</strong></strong> glaubt?“Samuel fühlte sich überrumpelt. Ja, wie kam das eigentlich? DieFrage biss sich in seinem Kopf fest mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Vehemenz, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> diesverdrängte Fragen taten, sobald ihre Verdrängung nicht mehrfunktionierte. Die Geschichten <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner waren nicht zu beweisenund sie waren auch nicht plausibel. Aber das waren rationaleBeweggrün<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>nen Samuel seine Zweifel üblicherweiseAn<strong><strong>de</strong>r</strong>en gegenüber erklärte. Doch irgendwo in seinem Innerenspürte er, dass die wirklichen Ursachen an<strong><strong>de</strong>r</strong>e waren, wenngleicher sie nicht benennen konnte. Und eben diese Ahnung seinerwahren Grün<strong>de</strong> warnte ihn, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Mönch ihm seinevorgeschobenen Argumente nicht abnehmen wür<strong>de</strong>. Zumal es dieStandardargumente waren, mit <strong>de</strong>nen erfahrene Gonerprediger49


ständig konfrontiert wur<strong>de</strong>n und auf die sie daher für gewöhnlichgut zu parieren verstan<strong>de</strong>n. Also antwortete er lediglich mit einemunverständlichen Gemurmel, wandte sich ab und zog sich in einen<strong><strong>de</strong>r</strong> Nebenräume zurück, weil er allein sein wollte. Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und Dusicließen ihn vorerst unbehelligt.Der dunkle Raum unterschied sich kaum von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, die siebereits untersucht hatten, abgesehen davon, dass er zu <strong>de</strong>n etwaswärmeren gehörte. Raureif gab es hier nicht. Dafür lugte Luxor alsleuchten<strong>de</strong> Erbse durch das kleine Fenster, die Steckna<strong>de</strong>lköpfeweiter entfernterer Sterne nur mäßig übertrumpfend. Der Raumbesaß keine Schlafkojen. Statt<strong>de</strong>ssen trieben die Bruchstücke einerKonstruktion durch die Schwerelosigkeit, welche wohl einstzusammen ein Bett gebil<strong>de</strong>t haben mochten. Es han<strong>de</strong>lte sich umdie Kabine eines Offiziers, stellte Samuel ohne großes Interesse fest.Er dachte über sich und sein Leben nach, kam aber zu keinererhellen<strong>de</strong>n Erkenntnis. Abgesehen von <strong><strong>de</strong>r</strong>, dies läge vermutlichdaran, dass ihm die möglichen Erkenntnisse nicht gefallen wür<strong>de</strong>n.Um sich abzulenken, fing er an, <strong>de</strong>n Raum zu untersuchen. Wenner seinen Begleitern Arbeit abnahm, kämen sie immerhin schnellerwie<strong><strong>de</strong>r</strong> weg von diesem trostlosen Ort und <strong>de</strong>n gierigen Fragen, diein seinen kalten Ecken lauerten. Er fand die Klappe eines größerenStaufachs o<strong><strong>de</strong>r</strong> Wandschranks, die verschlossen war, und öffnetesie kurz. Darin wan<strong><strong>de</strong>r</strong>ten blaue Uniformen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>eKleidungsstücke herum. Sie waren in <strong>de</strong>mselben erbärmlichenZustand wie die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Textilien, die sie schon gefun<strong>de</strong>n hatten,ohne Knöpfe und Abzeichen. Samuel schloss <strong>de</strong>n Schrank wie<strong><strong>de</strong>r</strong>,suchte weiter und erstarrte.Etwas weiter hatte sich ein Tisch an einer Stelle verkeilt, wo dieZimmer<strong>de</strong>cke und zwei Wän<strong>de</strong> eine Ecke bil<strong>de</strong>ten. Samuel hatte50


wenig Hoffnung, dass es zwischen Tischplatte und Wand etwas zuent<strong>de</strong>cken gäbe. Doch als er <strong>de</strong>n Tisch aus <strong>de</strong>m Klammergriff <strong><strong>de</strong>r</strong>Wän<strong>de</strong> befreite, stellte sich diese Annahme als ein Irrtum heraus.An <strong><strong>de</strong>r</strong> zuvor ver<strong>de</strong>ckten Wand hing eine Art Laken o<strong><strong>de</strong>r</strong> Banner. Eszeigte ein son<strong><strong>de</strong>r</strong>bares Bild. Ein merkwürdiges, rotes Tier war zusehen, das Samuel keiner ihm bekannten Lebensform zuordnenkonnte. Am ehesten erinnerte die reptilienhaft anmuten<strong>de</strong> Kreaturan einige Raubtiere, die er im Krieg auf Welten <strong><strong>de</strong>r</strong> Split gesehenhatte. Aber diese Tiere verfügten nicht über Flügel, wie sie dasdargestellte Wesen besaß. Die Flugtiere wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um, an die er sicherinnerte, hatten nicht wie dieses Geschöpf vier krallenbewehrteFüße und die Form ihrer Köpfe war gänzlich verschie<strong>de</strong>n. Dasfrem<strong>de</strong> Untier stand auf einer Art Wiese, zumin<strong>de</strong>st war die untereHälfte <strong>de</strong>s Hintergrunds in Grün gehalten.Was es auch immer mit diesem Stück Stoff auf sich hatte, dieGoner wür<strong>de</strong> es interessieren. Er zog einen <strong><strong>de</strong>r</strong> Expan<strong><strong>de</strong>r</strong>beutel ausseiner Anzugstasche und aktivierte ihn. Der zunächst handgroßeBeutel aus intelligenten Nanofasern faltete sich selbstständigmehrfach auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong> bis eine Box mit etwa einem halbenKubikmeter Fassungsvermögen entstan<strong>de</strong>n war und härtete dannin dieser Form aus. Eine winzige Antriebsdüse erlaubte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kisteeine eigenständige Fortbewegung in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwerelosigkeit, wobei dieBeschleunigung dieses Miniaturantriebes allerdings rechtbeschaulich war.Das Banner war lediglich mit Magneten befestigt und ließ sichleicht von <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand lösen. Trotz allen war es aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Kälterissig und Samuel konnte es nur sehr vorsichtig abnehmen. Erdrehte das Tuch in seinen Hän<strong>de</strong>n und besah es sich genauer.„<strong>Er<strong>de</strong></strong>!“ stieß er erschrocken aus. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Rückseite befan<strong>de</strong>n sichSchriftzeichen. Er vermutete, dass es sich um einen Co<strong>de</strong> han<strong>de</strong>lte,51


<strong>de</strong>nn die Buchstaben waren in völlig unsinniger Folgeaneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gereiht. „Mae hen wlad fy nhadau yn annwyl i mi Gwladbeirdd a chantorion enwogion o fri.“, las Samuel.Es dauerte nicht lange bis seine bei<strong>de</strong>n Begleiter, angelockt durchseinen Ausruf, hergeeilt kamen. Samuel ärgerte sich darüber, dasser sich zu einem – zu diesem – Ausruf hatte hinreißen lassen undfühlte sich son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar ertappt als Dusic <strong>de</strong>n Raum betrat. Schnell,als sei es etwas Verbotenes, stopfte er das Stoffbanner in dieExpan<strong><strong>de</strong>r</strong>box, ohne Rücksicht darauf, ob es beschädigt wer<strong>de</strong>nkönnte. Die Goner, die begierig fragten, was er <strong>de</strong>nn ent<strong>de</strong>ckt habe,verwies er auf <strong>de</strong>n Wandschrank. Dusic machte sich umgehend mitungebrochener Energie daran, die darin befindlichenKleidungsstücke zu inspizieren, während Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> still verharrte und<strong>de</strong>n Blick wie unschlüssig zwischen seinem emsigen Mentor undSamuel hin und her wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n ließ.Wahrscheinlich war ihm die Lust am Durchstöbern <strong>de</strong>s hiesigenGerümpels abhan<strong>de</strong>n gekommen, vermutete Samuel. Schließlichentsprach die Ausbeute ihrer Expedition nicht <strong>de</strong>n hehrenErwartungen, welche die Goner darauf gesetzt haben mussten. Esgab nur alte Kleidungsstücke, Geräte und Möbel, die zwar von <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Er<strong>de</strong></strong> stammen mochten, aber ebenso gut von Argon, Aldrin, Thalloo<strong><strong>de</strong>r</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en menschlichen Welt. Sie wür<strong>de</strong>n Augen machen,wenn sie das Banner sehen wür<strong>de</strong>n. Wenn. Denn auf einmalverspürte Samuel keine große Lust mehr, <strong>de</strong>n Gonern seinen Fundauszuhändigen. Es war eine verwirren<strong>de</strong> Anwandlung, da sie imstarken Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruch zu <strong>de</strong>m nüchternen Wesen stand, das er sicheigentlich selbst attestierte. Doch die Frage, ob es die <strong>Er<strong>de</strong></strong> gab,hatte in seinem Leben eine zu zentrale Rolle gespielt. Sie hatte esregelrecht überschattet. Und <strong>de</strong>swegen hatte er das Gefühl, ermüsse das Geheimnis dieses Stück Stoffs erst selbst ergrün<strong>de</strong>n,52


evor er es wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hergeben könne. Er spürte, dass das Banneretwas mit ihm, mit seinem Leben, zu tun hatte.Ein erschrecktes „Huch!“ riss ihn aus seinen Gedanken. Es warDusic, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Laut überrascht ausgestoßen hatte. Samuel wandtesich ihm zu und musste lachen als er <strong>de</strong>n Mönch erblickte, <strong><strong>de</strong>r</strong>einen Büstenhalter in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand hielt. Der Goner ließ dasKleidungsstück so schnell los, so als sei es eine giftige Schlange. Esdriftete davon. „Der Bewohner dieser Kabine war offenbar eineFrau.“, bemerkte Dusic verlegen.„O<strong><strong>de</strong>r</strong> sehr beliebt.“, erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te Samuel. Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> versuchte einamüsiertes Glucksen zu unterdrücken, was ihm in<strong>de</strong>s nur mäßiggelang.Samuel, <strong>de</strong>ssen Interesse für das Wrack inzwischen geweckt war,fragte, wie die Goner eigentlich an die Koordinaten gekommenwären. Dusic, dankbar für <strong>de</strong>n Themenwechsel, erklärte, dass Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>das Schiff gefun<strong>de</strong>n hätte, weshalb er <strong>de</strong>n jungen Mann auch alsAssistenten ausgewählt habe.„Hai.“, bestätigte dieser schüchtern. „Es war auf meiner erstenMissionsreise. Ich wollte die Wahrheit über die <strong>Er<strong>de</strong></strong> hinaus in dieWeiten <strong>de</strong>s Alls tragen und äh... na ja.“ Er brach ab.„Und?“, hakte Samuel nach.„Na ja, ich habe mich dann in <strong>de</strong>n Weiten <strong>de</strong>s Alls furchtbarverfranzt. Es war wohl ein glücklicher Zufall.“Samuel musste lachen. Doch in seinem Hinterkopf hörte erunvermittelt die Stimme seines Vaters, <strong><strong>de</strong>r</strong> stets zu sagen pflegte,dass es keine Zufälle gäbe.Dusic hingegen hatte kein Problem zuzustimmen: „Hai, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat,ein wahrlich glücklicher Zu...“ Doch er stockte abrupt und schienaugenblicklich wie versteinert. Er war nach wie vor damitbeschäftigt gewesen, die Kleidungsstücke <strong>de</strong>s Schrankes zu53


untersuchen und starrte jetzt nur noch fassungslos auf das Teil,das er zuletzt in Augenschein genommen hatte.Samuel konnte von seiner Position aus nicht erkennen, worum essich han<strong>de</strong>lte. „Was ist?“, spöttelte er, sorgloser als ihm zu Mutewar: „Haben sie das zum BH gehören<strong>de</strong> Höschen gefun<strong>de</strong>n?“„Nein, ich… hier…“ Mit fahrigen Bewegungen reichte <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerseinen Begleitern die Uniform, die er gera<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand hielt.„Schaut! Hier im Kragen…“Samuel nahm ihm die Uniform ab. Im Kragen hing <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest einesabgerissenen Inletts. Darauf war eine Zahl zu lesen, darunterstan<strong>de</strong>n drei dicke Buchstaben: 'USC'.Je<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen wusste, was das Kürzel be<strong>de</strong>utete. „Das... dasUnited Space Command, die Streitkräfte <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>?“, fragte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>. Erklang ängstlich, nahezu bestürzt. Samuel wollte <strong>de</strong>m entgegenhalten, dass es tausend an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Auflösungen für dieses Kürzel gäbe,aber die Worte kamen ihm einfach nicht über die Lippen.„Hai, mein Freund!“, entgegnete Dusic auf die offene Frage. „Einterranisches Schiff!“, jubelte er: „Ein altterannisches Kriegsschiff!“54


5 – Sinon„Der Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit, o<strong><strong>de</strong>r</strong> besser <strong>de</strong>s Wahren, ist in<strong>de</strong>s auch<strong>de</strong>swegen schwierig, weil er zwei unterschiedliche Gegenbegriffe besitzt.Das Unwahre ist zum einen das Falsche, was ein Negativum ist, das sich imAbstrakten verliert. Das Unwahre ist zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en aber auch das Erlogene,worin <strong><strong>de</strong>r</strong> konkrete Vorwurf an <strong>de</strong>n Mitmenschen enthalten ist, bewussteinen unmoralischen Akt zu begehen. [...] Wenn wir die Wahrheit über unserVolk verkün<strong>de</strong>n, muss dies in einer Form geschehen, die <strong>de</strong>mjenigen, <strong><strong>de</strong>r</strong> dieWahrheit bestreitet, höchstens das Falsche, nicht aber das Erlogeneunterstellt.“Revision 2,3-5: Sarah B. Greenwald (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Heftiger Regen trommelte gegen die Scheiben <strong>de</strong>s kleinen Cafés.Blitze zuckten durch die Nacht und ließen für kurze Augenblicke<strong>de</strong>n Himmel so hell aufleuchten wie die ewig wache Stadt darunter.Ein Argone in gesetztem Alter schlürfte an einer Tasse dampfen<strong>de</strong>nKaffees und schaute gelangweilt hinaus. Etwa zwanzig Minuten warer schon hier, hatte seinen durchnässten, braunen Mantel jedochnicht abgelegt. Der Kragen war weiterhin hochgeschlagen, auchseinen Hut hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann nicht abgenommen. Auf seinemStehtisch lag zwischen <strong>de</strong>m leeren Salzstreuer und <strong>de</strong>m silbernenServiettenspen<strong><strong>de</strong>r</strong> seine Aktentasche, ein industriell gefertigtesStück. Dem schwarzen Argnule<strong><strong>de</strong>r</strong> war anzusehen, dass es sichlediglich um eine billige Imitation han<strong>de</strong>lte. Auch die Tasche hatte<strong><strong>de</strong>r</strong> Regenguss nicht verschont. Ein kleines Rinnsal floss in sanftenKurven über die schlecht marmorierte Tischplatte zur Kante undtropfte von dort mit <strong>de</strong>m Wasser aus <strong>de</strong>m Mantel um die Wette.Das Café war spärlich besucht. Nur hier und da lehnten sichan<strong><strong>de</strong>r</strong>e Gäste an einen <strong><strong>de</strong>r</strong> Tische, nippten an ihren Getränken,starrten hinaus o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>n Holoschirm über <strong><strong>de</strong>r</strong> Theke. Dort lief55


eine Nachrichtensendung. Aktuell wur<strong>de</strong> über die anstehen<strong>de</strong>nWahlen im Sternensystem Solara berichtet. Offenbar wür<strong>de</strong> mandort wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einmal einem Separatisten die Stimme geben. AlleBeobachter waren sich einig, dass es Ärger geben wür<strong>de</strong>.Niemand schenkte <strong>de</strong>m älteren Herrn im nassen Mantel großeAufmerksamkeit, we<strong><strong>de</strong>r</strong> die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gäste noch <strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter, <strong><strong>de</strong>r</strong>die Kun<strong>de</strong>n bediente. Ein gewöhnlicher Abend in diesem Café imDistrikt Tsumuri, einem <strong><strong>de</strong>r</strong> ärmeren Distrikte Argonias, <strong><strong>de</strong>r</strong>gewaltigen Hauptstadt <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation.Ein weiterer Gast kam von draußen herein, ebenfalls im Mantelgeklei<strong>de</strong>t, aber ohne Hut, dafür mit Schirm. Er drückte einen Knopfund <strong><strong>de</strong>r</strong> Schirm schrumpfte zu einem handlichen Rechteckzusammen, das sich bequem in die Manteltasche stecken ließ.Nach<strong>de</strong>m sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuankömmling an <strong><strong>de</strong>r</strong> Theke einen Kaffee geholthatte, sah er sich suchend nach einen freiem Platz um und gingendlich zu <strong>de</strong>m Herrn am Fenster hinüber. „Dieser verfluchteRegengott.“, brummte er.Der Ältere nickte beipflichtend und fügte seinerseits eineVerwünschung hinzu, die sich gleichfalls gegen Zyklos Vanterarichtete. Vantera war <strong><strong>de</strong>r</strong> planetare Landwirtschaftsminister, <strong>de</strong>ssenPrioritäten im Umgang mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wetterkontrolle für die Bevölkerungnur schwer nachzuvollziehen waren, und <strong><strong>de</strong>r</strong> daher <strong>de</strong>n wenigschmeichelhaft gemeinten Spitznamen 'Regengott' erhalten hatte.Eine Zeit lang stan<strong>de</strong>n sie nun schweigend nebeneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>,versunken in ihr wohlig warmes Getränk und die kaum wohligeAussicht. Ein größerer Frachter war gera<strong>de</strong> vom nahen Lan<strong>de</strong>feld Egestartet. Das dunkle Gefährt erhob sich mit blinken<strong>de</strong>nPositionslichtern über die Dächer <strong><strong>de</strong>r</strong> Mietskasernen, die von sichaus schon so unansehnlich waren, dass Nacht und Unwetter ihnennichts mehr nehmen konnten. Die bei<strong>de</strong>n Männer verfolgten <strong>de</strong>n56


trotz <strong>de</strong>s schweren Wetters problemlosen Aufstieg <strong>de</strong>sRaumfahrzeugs hinauf in <strong>de</strong>n wüten<strong>de</strong>n Himmel mit <strong>de</strong>m üblichenDesinteresse, das man gegenüber <strong>de</strong>m Alltäglichen zu zeigen pflegt.Es dauerte keine Minute bis das Schiff von <strong><strong>de</strong>r</strong> dunklenWolken<strong>de</strong>cke verschluckt wor<strong>de</strong>n war.Der Ältere drehte sich <strong>de</strong>m Holobildschirm zu. Inzwischen warendie Nachrichten zu Meldungen über die jüngsten Kämpfe im Raum<strong><strong>de</strong>r</strong> Split übergegangen. Er gähnte gelangweilt. Es lohnte sich meistnicht, sich zu merken, wer dort gegen wen Krieg führte. Dafürverän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten sich die Konstellationen schlichtweg zu häufig.Beiläufig fragte er seinen jüngeren Tischnachbarn: „Was Neues?“„Hai, Captain!“, bestätigte <strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>e.Der Alte fuhr augenblicklich herum und zischte leise: „Sind sienoch bei Trost, Mann?“ Schnell schaute er sich um. Sie wur<strong>de</strong>nweiterhin nicht beachtet, keiner schien <strong>de</strong>n Zwischenfall bemerktzu haben. „Keine Titel in <strong><strong>de</strong>r</strong> Öffentlichkeit!“, fügte er hinzu. „Also?“Der Angesprochene neigte sich leicht zu ihm herüber und flüsterte:„Sinon ist drin.“ Dann kippte er seinen restlichen Kaffee in einemlangen Zug hinunter und verließ das Lokal.57


6 – Tor und Riegel„Logbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> USCSS Dragonfire, Lt. Cmdr. Poul Vantera:'[…] und während <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachtwache <strong>de</strong>s 17. Dezembers um 23:16 Uhrbeobachteten [wir], wie ein riesiges, unbekanntes Raumschiff, das nicht <strong><strong>de</strong>r</strong>Terraformerflotte angehörte, weitab <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprungtore mit relativistischerGeschwindigkeit aus <strong>de</strong>m leeren Raum kam. Es durchquerte dieEkliptikebene <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonne Alpha Centauri auf Höhe <strong>de</strong>s zweiten PlanetenTaurus, und verschwand nach sechsunddreißig Minuten wie<strong><strong>de</strong>r</strong> von unserenOrtungsschirmen. Seit<strong>de</strong>m sind die bei<strong>de</strong>n verbliebenen Sprungtore <strong>de</strong>sSystems, aC1 und aC2, nicht mehr mit Beta Lyrae bL1 und Epsilon EridanieE3 verbun<strong>de</strong>n; statt <strong>de</strong>ssen führen sie nun in uns völlig unbekannteSektoren <strong><strong>de</strong>r</strong> Galaxis. Jetzt sind wir auf uns alleine gestellt; nur wir und dieamoklaufen<strong>de</strong>n Maschinen, sonst nichts. Gott stehe uns bei.'“Logbücher 42,17: Noah Gaffelt (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Wie je<strong>de</strong>s Mal, wenn sich Anthea hier im War Room befand, konntesie nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s als die Aussicht aus <strong>de</strong>m Fenster zu bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>n.Dazu musste sie sich umdrehen, <strong>de</strong>nn das Fenster lag hinter <strong>de</strong>mStuhl <strong>de</strong>s Gouverneurs. Reflexhaft suchte sie das Panorama nachFehlern ab, die sich nicht fin<strong>de</strong>n ließen. Die Irvi<strong>de</strong> floss gemächlichdahin, um sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong> größeren Lynne zu vereinen. Lin<strong>de</strong>n,Pappeln und Wei<strong>de</strong>n wetteiferten stumm miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, eine fröhlicheo<strong><strong>de</strong>r</strong> eine melancholische Gesamtstimmung zu erzeugen.Zwischen <strong>de</strong>n Bäumen ragte <strong><strong>de</strong>r</strong> massige Metallkörper <strong>de</strong>sSolarischen Adlers auf, jenes Kunstwerk, das ihr Vater Midanerschaffen hatte und an die Unabhängigkeit Aldrins erinnerte. DerAdler wandte Anthea <strong>de</strong>n Rücken zu, <strong>de</strong>nn er schaute zur Stadthin. So verschwan<strong>de</strong>n aus ihrer Perspektive auch die gesprengtenFußfesseln <strong>de</strong>s Vogels hinter seiner aufragen<strong>de</strong>n Gestalt. Midan warein vielseitiger Künstler gewesen. Die Gestaltung solch kolossalerPlastiken wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Adler waren ihm genauso natürlich und einfach58


von <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand gegangen wie das Formen filigransterSchmuckstücke. Antheas Ankh-Ohrring, <strong>de</strong>n sie beim Anblick <strong>de</strong>sStandbil<strong>de</strong>s instinktiv berührte, gehörte ebenfalls zu seinenWerken.Was Anthea an <strong>de</strong>m Ausblick aus <strong>de</strong>m War Room immer aufs Neuefaszinierte und erstaunte, war, dass sie nicht wirklich durch einFenster sah. Natürlich war sie mit <strong><strong>de</strong>r</strong> allgegenwärtigen Technik <strong><strong>de</strong>r</strong>Holografie vertraut, doch das war eine Sache <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s. Aufemotionaler Ebene rührte <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke, dreißig Meter unter <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Er<strong>de</strong></strong> hinter mehrfach gepanzerten Wän<strong>de</strong>n zu sitzen undgleichzeitig hinaus in die Landschaft zu sehen, an die Grenzenmenschlichen Begriffsvermögens.Sie wandte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> nach vorne, da ihr Stacia zuflüsterte, dassman inzwischen so weit sei. Tatsächlich war nun auch <strong><strong>de</strong>r</strong> letzteTeilnehmer ihrer Besprechung eingetroffen. Professor Mortensengrüßte unbefangen in die Run<strong>de</strong> und fragte, wo er Platz nehmensollte. Hinter ihm schloss sich die Stahltür. Gleichzeitig sprangdarüber eine gelbe Lampe an, die anzeigte, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Raum nunabhörsicher war. Hinter Anthea fror das künstliche Fensterbild ein,da es keine aktuellen Daten von <strong>de</strong>n Außenkameras mehr erhielt.Wie sein Name anzeigte, war <strong><strong>de</strong>r</strong> War Room als Kommandozentraleim Falle einer unmittelbaren militärischen Bedrohung <strong>de</strong>s Planetengedacht. Tatsächlich war er zusammen mit <strong>de</strong>m ganzen Heptagonerst während <strong>de</strong>s letzten Krieges errichtet wor<strong>de</strong>n, um auf Überfälle<strong><strong>de</strong>r</strong> Split auf das abgelegene Solara-System vorbereitet zu sein. Seit<strong>de</strong>m Frie<strong>de</strong>n von Lho-Ingtar hatte man <strong>de</strong>n Raum gelegentlich beian<strong><strong>de</strong>r</strong>en planetaren Krisen als Schaltzentrale genutzt. Zuletzt beimAusbruch <strong>de</strong>s Mount Avis. Theoretisch war <strong><strong>de</strong>r</strong> Raum für eine ganzeHun<strong><strong>de</strong>r</strong>tschaft von Militärs, Politikern und Experten ausgelegt.Entsprechend verloren mutete die fünfköpfige Gruppe an, die sich59


nun unter <strong>de</strong>m dreidimensionalen Hologlobus Aldrins versammelthatte.Abgesehen von ihr selbst und Stacia Dubranchowa zog Anthea nureinen weiteren politischen Berater so sehr ins Vertrauen, dass sieihn zu dieser geheimen Sitzung hinzugezogen hatte, <strong>de</strong>nVizeraummarschall Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>. Den eigentlichen Marschall hatteAnthea nicht eingeweiht, <strong>de</strong>nn sie wusste, dass dieser Favino sofortalles mitteilen wür<strong>de</strong>, was hier unter <strong>de</strong>m Siegel <strong><strong>de</strong>r</strong>Verschwiegenheit besprochen wur<strong>de</strong>. Hinzu kamen Rolf Mortensenund sein Kollege Doktor Toki Reeve.Anthea hieß die Anwesen<strong>de</strong>n Willkommen und fasste die aktuelleLage zusammen. Kurz und oberflächlich, <strong>de</strong>nn schließlich warenalle bereits weitgehend mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Situation vertraut. „Nächste Wochewer<strong>de</strong> ich zum Weltenwirtschaftsgipfel nach Argon Prime reisen undversuchen, <strong>de</strong>n Argonen Sand in die Augen zu streuen. Dennochwird es nur eine Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit sein, bis es Jules Favino alsGouverneur zum Eklat wird kommen lassen. Ein erneuterwirtschaftlicher Konflikt wird folgen, vielleicht sogar Krieg.“„Entschuldigen sie, Miss Gouverneur.“, mel<strong>de</strong>te sich Toki Reeve zuWort: „Aber sie wissen, dass ich diese düstere Prognose nicht teile.Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung Argon Primes soweit gehen wür<strong>de</strong>, uns <strong>de</strong>n Krieg zu erklären. Schließlich sind sieMenschen wie wir.“„Es wäre nun wirklich nicht das erste Mal, dass Menschen gegenMenschen Krieg führen.“, meinte Stacia leise ohne jemandbestimmtes dabei anzusehen.Reeve tat, als habe er <strong>de</strong>n Einwand nicht gehört: „Bleiben diewirtschaftlichen Maßnahmen, sprich die Fusa, die von <strong>de</strong>n Argonenbereits gegen uns angewandt wur<strong>de</strong>. Auch ein Hitzkopf wie Favinowird früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später einsehen müssen, das wir von Importen60


abhängig sind und sich mit Argon arrangieren.“„Aber eben dies darf nicht passieren!“, sagte Anthea entschie<strong>de</strong>n.„Arrangieren be<strong>de</strong>utet, Zugeständnisse zu machen. Mit je<strong>de</strong>mneuen Vertrag wird Aldrin ein Stück mehr seiner Unabhängigkeitverlieren. Verlieren und Verlieren. Ich kann ihnen nicht zustimmen.Doch all das haben wir schon zur Genüge diskutiert, weshalb michihre erneute Be<strong>de</strong>nkenäußerung nicht wenig irritiert.“„Ich glaube, mein geschätzter Kollege hat einfach Angst vor seinereigenen I<strong>de</strong>e.“, bemerkte Mortensen freundlich.Und damit näherten sie sich <strong>de</strong>m eigentlichen Gegenstand ihresTreffens. Was Solara benötigte, war Zeit, seine Wirtschaft zuentwickeln. Der Beitritt zur Zollunion hatte <strong>de</strong>m Freistaat bereitsetwas Zeit dazu verschafft, doch nicht genug. Favino wür<strong>de</strong> soschnell wie möglich aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Union austreten und sich damit selbstradikal von <strong><strong>de</strong>r</strong> Möglichkeit abschnei<strong>de</strong>n, an die nötigen Ressourcenzu gelangen. Zusätzlich stand zu befürchten, dass er das begrenzteIndustriepotenzial Aldrins durch große Rüstungsprogrammeblockieren wür<strong>de</strong>, anstatt es zum Aufbau weitererFabrikationsstätten zu verwen<strong>de</strong>n.Aus diesem Grund hatte Anthea Professor Mortensen insgeheimbeauftragt, Lösungen für dieses Problem zu fin<strong>de</strong>n. Neben neuenProduktionsmetho<strong>de</strong>n zur rascheren wirtschaftlichen Entwicklung<strong>de</strong>s Solarasystem sollten auch Defensivwaffen erforscht wer<strong>de</strong>n,<strong><strong>de</strong>r</strong>en Präsenz eine militärische Intervention Argons hinauszögernkönnte. Gestern hatte Mortensen sie angerufen und ihr mitgeteilt,sein Mitarbeiter hätte einen völlig gewaltfreien Weg gefun<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> es<strong>de</strong>n Argonen unmöglich machen wür<strong>de</strong>, in Aldrins Entwicklungeinzugreifen.Entsprechend bat sie <strong>de</strong>n Professor nun, <strong>de</strong>n Plan darzulegen.„Offen gesagt, ist die I<strong>de</strong>e, die Doktor Reeve ausgearbeitet hat,61


nicht neu.“, begann Mortensen. „Im Gegenteil könnte man sogarsagen, sie sei historisch. Unsere Vorfahren von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> haben sieschon erfolgreich angewandt. Wir beseitigen einfach dieTorverbindung.“Blass gewor<strong>de</strong>n, starrten die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen die bei<strong>de</strong>nWissenschaftler an. Auf Reeves hoher Stirn glänzte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schweiß,Mortensen ließ seinen Blick lächelnd durch die Run<strong>de</strong> schweifen.Einige Momente herrschte absolute Stille dann bestürmten Staciaund Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> die Forscher mit heftigen Protesten. Anthea mussteihre Berater zur Ordnung rufen und wandte sich dann wie<strong><strong>de</strong>r</strong> anMortensen. „Ich hoffe doch, das war nur ein schlechter Scherz.“,sagte sie ungehalten.Der Professor lächelte immer noch. „Ich verstehe ihre Aufregung,ladies and gentlemen. Selbstverständlich ist es nicht unsereAbsicht, dass Aldrin <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit für immer verloren geht so wiees mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> geschehen ist. Obwohl ein verschollenes Aldrinsicherlich auch eine nette Legen<strong>de</strong> abgäbe.“„In <strong><strong>de</strong>r</strong>erlei Dingen halte ich Romantik für unangebracht.“„Sicher doch. Bitte, Doktor!“Reeve erhob sich und holte eine kleine Fernbedienung aus <strong><strong>de</strong>r</strong>Tasche. Die über <strong>de</strong>m Tischrund schweben<strong>de</strong> holografischeDarstellung Aldrins verblasste und machte <strong>de</strong>n Bild eines an<strong><strong>de</strong>r</strong>enHimmelskörpers Platz. Mit Kratern übersät, atmosphärenlos undohne die perfekte Kugelform <strong><strong>de</strong>r</strong> meisten Planeten ähnelte dasObjekt einem riesigen Asteroi<strong>de</strong>n. Seine helle bräunliche Farbeunterstrich diesen Eindruck. Doch hatte Anthea bereits auf <strong>de</strong>nersten Blick erkannt, dass es sich um Aldrins NachbarplanetenCollins han<strong>de</strong>lte. Nahe <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberfläche umkreiste ein roter Punkt diePlanetendarstellung und kennzeichnete die Position <strong>de</strong>sSprungtores.62


„An<strong><strong>de</strong>r</strong>s als die <strong>Er<strong>de</strong></strong>,“, erklärte Doktor Reeve: „verfügen wir übereine Alternative zur gezielten Zerstörung <strong>de</strong>s Sprungtores, zuwelcher wir technisch wahrscheinlich auch gar nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lagewären. Und diese Alternative besteht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Manipulation <strong>de</strong>s Tores,genauer gesagt <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore.“„Manipulation?“, echote Stacia ungläubig. „Sie haben einen Weggefun<strong>de</strong>n, die Sprungtores <strong>de</strong>s Alten Volkes zu beeinflussen? Dasist noch nieman<strong>de</strong>n gelungen.“ Sie sah <strong>de</strong>n Wissenschaftler nahezuehrfürchtig an.„Oh doch, es ist schon jeman<strong>de</strong>n gelungen. Denn tatsächlichbasiert <strong><strong>de</strong>r</strong> Plan auf geheimen Forschungsergebnissen boronischerWissenschaftler, die uns Botschafterin Soli Ton freundlicherweisezugänglich gemacht hat. Die Boronen haben während <strong>de</strong>s Kriegesentsprechen<strong>de</strong> Versuche gemacht, um sich gegen <strong>de</strong>n Vormarsch<strong><strong>de</strong>r</strong> Split zu schützen.“„Einen Moment bitte, Doktor.“, unterbrach ihn Anthea. „Dasverstehe ich nicht ganz. Die Split sind bis Nishala vorgestoßen. Alsohat die Metho<strong>de</strong> nicht funktioniert, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“Der Wissenschaftler breitete in hilfloser Geste die Arme aus. „Manhat mir versichert, dass sie funktioniert. Die Physikerin LarUrtileus, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Fachkompetenz außer Frage steht, hat bis zu ihrerExekution daran gearbeitet. Warum man es letztlich doch nichteingesetzt hat, kann ich ihnen nicht sagen. Botschafterin Ton hatange<strong>de</strong>utet, man wäre zu <strong>de</strong>m Schluss gekommen, dass es <strong>de</strong>nWünschen <strong>de</strong>s Alten Volkes wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spräche, wenn man die Toredauerhaft verstecken wür<strong>de</strong>.“Anthea blinzelte irritiert. Sie musste an die Zerstörungen <strong>de</strong>nken,welche die vorrücken<strong>de</strong>n Split angerichtet, und an <strong>de</strong>nMassenmord, <strong>de</strong>n sie auf <strong>de</strong>n Welten <strong><strong>de</strong>r</strong> Boronen begannen hatten.Und die ganze Zeit über hätte <strong>de</strong>n Meeresbewohnern die Möglichkeit63


zur Verfügung gestan<strong>de</strong>n, die Split aufzuhalten, was sie jedoch ausHöflichkeit <strong>de</strong>n Erbauern <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprungtore gegenüber unterlassenhatten, von <strong>de</strong>nen man nicht einmal wusste, ob sie überhaupt nochexistierten? Sie konnte es kaum glauben. Aber, dachte sie, an<strong><strong>de</strong>r</strong>ePlaneten, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Sitten. „Die Tore verstecken?“, hakte sie nach.„Nun, auch unsere hoch geschätzten boronischen Kollegen sindnoch immer Lichtjahre davon entfernt, die Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprungtorevöllig zu verstehen.“, fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaftler fort. „Allerdingshaben sie eine Art Sicherung gefun<strong>de</strong>n. Bitte beachten sie, dassalles, was ich ihnen dazu erzählen kann, rein theoretischer Naturist. Zwei Tore wer<strong>de</strong>n durch ein Wurmloch, einen Tunnel in <strong><strong>de</strong>r</strong>Raumzeit verbun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen En<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>n Toren selbststabilisiert wer<strong>de</strong>n. Wir gehen davon aus, dass, sobald ein Torpaarvon seinen Koordinaten fortbewegt wird, die Gefahr besteht, dasssich Tor und Tunnelen<strong>de</strong> zu weit voneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> entfernen, um einesichere Passage zu gewährleisten. Deswegen strebt ein versetztesSprungtor stets seine alte Position an. Es scheint freilich einegewisse Toleranz zu geben. Die Tore funktionieren also durchausauch in einiger Distanz zur ihren ursprünglichen Koordinaten nochstabil. Allerdings verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t die Torelektronik ihre Einstellungen, dievorgenannte Sicherung kommt zum Tragen. Selbst geringsteVerän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Tormechanik können dann dazu führen, dasssich die Quantensingularität <strong>de</strong>s Tores <strong>de</strong>aktiviert. Offenbar eine ArtNotabschaltung. So weit Fragen?“„Ja.“, mel<strong>de</strong>te sich Anthea: „Wie genau ge<strong>de</strong>nken sie dieTormechanik zu verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n?“„Auch hierfür haben unsere boronischen Kollegen eine Lösunggefun<strong>de</strong>n. Die elektromagnetische Abschirmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore istpraktisch undurchdringlich. Wenn aber die Mechanik <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore<strong><strong>de</strong>r</strong>art penibel vor elektromagnetischen Einflüssen geschützt wird,64


so haben die Boronen gefolgert, dann müsste die Mechanikbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>s sensibel auf solche Einflüsse reagieren. Sie haben daherleistungsstarke Elektromagneten in <strong>de</strong>n seitlichen Auslegern <strong><strong>de</strong>r</strong>Tore angebracht und konnten mit diesen die Tore tatsächlich anundausschalten.“„An und aus? So einfach?“ Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> war erstaunt.Toki Reeve schüttelte <strong>de</strong>n Kopf: „Nicht ganz so einfach. Der Magnetmuss im Tor installiert wer<strong>de</strong>n, an einer bestimmten Stelle.“ Er riefeine neue holografische Darstellung auf. Anstelle <strong>de</strong>s PlanetenCollins war nun ein länglicher Zylin<strong><strong>de</strong>r</strong>, angefüllt mit elektronischenKomponenten aller Art zu sehen. Das Bild drehte sich langsam.„Dies ist ein Querschnitt durch einen solchen seitlichen Ausleger,die Boronen nennen sie Dimensionsanker. Wie sie sehen beinhaltendiese Strukturen Bauteile, die ihrer Form nach zu schließen,Magnetspulen zu sein scheinen. Hier müssen wir ansetzen undzwar exakt an dieser Stelle.“Ein pulsieren<strong><strong>de</strong>r</strong> roter Punkt markierte die Position. „Die größteSchwierigkeit scheint hierbei darin zu bestehen, überhaupt dorthinzu gelangen, <strong>de</strong>nn es scheint konstruktionsbedingt keinen Zugangins Innere <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore zu geben. Es wird erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich sein, die Hülleaufzubrechen. Dabei gilt im Weiteren, <strong><strong>de</strong>r</strong> Elektromagnet mussnicht nur im Tor <strong>de</strong>poniert wer<strong>de</strong>n, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n muss auch ausunmittelbarer Nähe aktiviert wer<strong>de</strong>n.“„Wieso das?“„Wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Abschirmung. Diese blockiert auch Funksignale, es sei<strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Sen<strong><strong>de</strong>r</strong> befin<strong>de</strong>t in direkter Umgebung. Weitere Fragen?“Es gab einige. Anthea, Stacia und Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> löcherten dieWissenschaftler über eine halbe Stun<strong>de</strong> lang mit <strong>de</strong>tailliertenFragen. In <strong>de</strong>n meisten Fällen mussten die Experten in<strong>de</strong>sweitgehend die Antwort schuldig bleiben. Viel zu wenig war bekannt65


und die Boronen hatten niemals eine langfristige Versuchsreiheunternommen. So konnte niemand sagen, ob sich die Tunnelen<strong>de</strong>nnicht nach einiger Zeit von selbst auf die neuen Positionen <strong><strong>de</strong>r</strong> Toreverschieben und die Sicherung so <strong>de</strong>aktivieren wür<strong>de</strong>n, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob dieSprungtore bei längerer magnetischer Unterbrechung irreparablenScha<strong>de</strong>n nehmen könnten.Das ganze Vorhaben wirkte auf Anthea mehr als riskant.Mortensen und Reeve wollten am Solarasprungtor herumhantieren,ohne <strong>de</strong>ssen Technik auch nur Ansatzweise zu verstehen. Dasschien ihr nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, als wür<strong>de</strong> man ein paar Affen aus <strong>de</strong>nUrwäl<strong><strong>de</strong>r</strong>n Ornidas an die Steuerung eines Raumschiffs setzen, undhoffen, sie wür<strong>de</strong>n es schon sicher an sein Ziel bringen. Und es waran ihr, über diesen Wahnsinn entschei<strong>de</strong>n. Sie war dieGouverneurin, die Chefin, das Alpha-Weibchen dieser Affenban<strong>de</strong>.Der Gedanke brachte sie unwillkürlich zum Lachen. Das passierteihr öfters, Lachen in völlig unpassen<strong>de</strong>n Augenblicken.Alle sahen sie an, was ihr half, sich umgehend wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu fassen.„Ich halte diesen Plan für zu gefährlich.“, sagte sie. Reeve nicktezustimmend. Es war zwar seine I<strong>de</strong>e, doch Umsetzen wollte er sienicht.Mortensen blickte die Gouverneurin ernst an. „Ich verstehe IhreBe<strong>de</strong>nken, Miss Demetres. Aber wie ich meinem Kollegen schonsagte, wir haben keine brauchbare Alternativen. Wir versetzen dieTore und aktivieren einen Elektromagneten. Ich kann mir nichtvorstellen, dass man mit zwei so einfachen Maßnahmen merklichenScha<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n Portalen anrichten kann. Größer ist die Gefahr,dass sich die Tore von selber wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einschalten, vielleicht mitan<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gegenstellen. Das wäre dann Pech, wenn auch keinWeltuntergang.“„Pech?“66


Mortensen grinste: „Künstlerpech, so zu sagend.“Noch lange diskutierte die Run<strong>de</strong> heftig weiter, doch nach undnach mussten alle Mortensen darin Recht geben, dass sie letztlichkeine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Option besaßen, als das Wagnis einzugehen. Täten siees nicht, wür<strong>de</strong> es entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> zum offenen Krieg zwischen Aldrin undArgon kommen o<strong><strong>de</strong>r</strong> zu neuen Verträgen. Hier wie dort wür<strong>de</strong> Aldrinaber <strong>de</strong>n Kürzeren ziehen. Daher einigte man sich, <strong>de</strong>n Plan sorasch möglich in die Tat umzusetzen. Fünfzehn Jahre sollte dieTorverbindung unterbrochen wer<strong>de</strong>n. Die Klärung <strong><strong>de</strong>r</strong> Details führteschließlich zu einem heiklen Punkt. Es war Stacia Dubranchowamit ihren scharfen Blick für Probleme, die ihn als Erste ansprach:„Soweit ich es verstehe, muss <strong><strong>de</strong>r</strong> Magnet manuell eingesetzt undgestartet wer<strong>de</strong>n.“Mortensen nickte. Sein Ausdruck wur<strong>de</strong> ernst, <strong>de</strong>nn er wusste,welche Frage die Assistentin <strong><strong>de</strong>r</strong> Gouverneurin beschäftigte.„Das be<strong>de</strong>utet, jemand muss dies auch beim Zieltor in OmikronLyrae erledigen. Und dieser jemand, wird über die gesamte Zeit dortverbleiben müssen.“„Und zwar unerkannt.“, stimmte <strong><strong>de</strong>r</strong> Professor zu.„Aber wer käme dafür in Frage?“'Ich tue es!', dachte Anthea. Der Gedanken durchzuckte ihren Geistwie ein Blitz. Die Aufgabe schreckte sie nicht, nicht mehr. Was aneinem ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>s gearteten Schrecken lag. Es hatte ihr immergeschmeichelt, dass man sie, obwohl Mitte dreißig, noch immer aufAnfang zwanzig schätzte. Doch es war ihr nie in <strong>de</strong>n Sinngekommen, sich über die Ursachen ihres gleichbleibendjugendlichen Äußeren Gedanken zu machen. Nur Paranoikerhinterfragten die Gegenwart <strong>de</strong>s Guten. Doch als sie nach <strong>de</strong>m Todihres Vaters die Villa ihrer Eltern entrümpelt hatte, war sie auf dieHinterlassenschaften ihrer Mutter gestoßen, an die sie kaum67


Erinnerungen hatte.Sie war vier Jahre alt gewesen, als ihre Mutter verschwand. IhrVater hatte nie über sie gesprochen und Anthea hatte sich niegetraut, ihn nach ihr zu fragen. Sie hatte Fotos von ihr gefun<strong>de</strong>n,von ihrem Schulabschluss, ihrer ersten Hochzeit, ihrer zweiteHochzeit und von ihr bei Antheas Geburt. Ihre Mutter schien aufje<strong>de</strong>n Bild gleich jung zu sein. Anthea hatte Urkun<strong>de</strong>n gefun<strong>de</strong>nund schließlich die Briefe, die sich ihre Eltern geschrieben hatte. Alldas hatte keinen Raum für Zweifel gelassen. Anthea wusste nun,dass ihre Mutter an<strong><strong>de</strong>r</strong>s gewesen war, und dass sie es <strong>de</strong>swegenauch sein musste. Seinen Genen entkam niemand.Sie kannte die Statistiken <strong><strong>de</strong>r</strong> InterstellarenGesundheitsorganisation. Bislang hatte sie sich gescheut, sichernsthaft Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen sieaus <strong>de</strong>m Wissen ziehen sollte, nelV-positiv zu sein. Ihre zeitintensivepolitische Arbeit hatte ihr stets eine bequeme Ausflucht eröffnet,sich vorerst nicht damit zu beschäftigen. Sie überlegte, ob fünfzehnJahre Isolation hilfreich o<strong><strong>de</strong>r</strong> schädlich dafür waren, nicht wie dieAn<strong><strong>de</strong>r</strong>en ihrer Art zu en<strong>de</strong>n.Eigentlich war die Frage zu schwerwiegend, um sie jetzt spontanzu entschei<strong>de</strong>n. An<strong><strong>de</strong>r</strong>seits fürchtete sie, eine Chance zu verpassen.Denn fünfzehn Jahre waren verlockend. Nach fünfzehn Jahren warje<strong>de</strong> Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung normal, und vor allem waren es fünfzehn Jahreweniger. Sie gab sich einen Ruck und wollte sagen, die Aufgabeselbst zu übernehmen, als sie Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong> sagen hörte: „Ich <strong>de</strong>nke, imGeheimdienst wird sich auch dafür jemand Geeignetes fin<strong>de</strong>nlassen. Ich wer<strong>de</strong> die Profile durchgehen und ihnen morgen eineListe mit geeigneten Kandidaten vorlegen. Um <strong>de</strong>n Raummarschallumgehen und direkt an <strong>de</strong>n Agenten herantreten zu können,benötige ich allerdings einen schriftliche Befehl von ihnen, Miss68


Gouverneur.“Sie starrte ihn einen Moment lang an. Zu spät, dachte sie, zurgleichen Zeit enttäuscht und erleichtert. „Selbstverständlich, MisterSchnei<strong><strong>de</strong>r</strong>. Ich wer<strong>de</strong> noch vor meiner Abreise zum Wirtschaftsgipfelalles Erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>liche in die Wege leiten.“69


7 – Die Saat„Und keine vierhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre sollen vergehen, dass ich sie schlagen lassenwer<strong>de</strong>; ja, ich wer<strong>de</strong> sie mit <strong>de</strong>m Schwert und mit Hungersnot […]heimsuchen.“Helaman 13,9 (Buch Mormon)Zyklos Vantera kam, sah und schimpfte. Es kursierten viele Witzeüber <strong>de</strong>n jähzornigen Landwirtschaftsminister. So scherzte mancherKabarettist, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Wettergott, wie sie ihn nannten, die planetareWetterkontrolle <strong>de</strong>swegen so oft auf Unwetter schaltete, umVertreter <strong><strong>de</strong>r</strong> Opposition mit Blitzen zu verfolgen. Jetzt funkeltenseine Augen wütend, und es stand außer Frage, über wen ergegenwärtig am liebsten ein Gewitter entfacht hätte. „Dafür wer<strong>de</strong>nsie bezahlen, Yates!“, schrie er.Es war seit seinem Eintreffen sein erster Satz, <strong><strong>de</strong>r</strong> keineBeleidigung enthalten hatte. Wahrscheinlich hatte er inzwischenalle ihm bekannten Schmähworte abgearbeitet. Iaron nickte wie inTrance. Er stand nun schon fast eine Stun<strong>de</strong> lang am Rand <strong>de</strong>sFel<strong>de</strong>s und starrte fassungslos auf die Pflanzen. Nur am Ran<strong>de</strong>hatte er wahrgenommen, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Minister eingetroffen war, getobthatte und nun wie<strong><strong>de</strong>r</strong> fort stapfte, um nun irgendjemand an<strong><strong>de</strong>r</strong>esvia Holofon an zu brüllen.Luvis legte Iaron mitfühlend die Hand auf die Schulter. „Soll ich<strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten übernehmen?“, fragte er.Doch Iaron schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Er schaffte es, sich aus seinerStarre zu befreien und <strong>de</strong>n Blick von <strong>de</strong>n braungelben Halmen zulösen. „Domo, Jack. Domo.“, bedankte er sich für Luvis Angebot.„Aber das ist meine Aufgabe.“Und das war sie. Er, Iaron Yates, trug die Verantwortung. Er war70


<strong><strong>de</strong>r</strong> Geschäftsführer, er war <strong><strong>de</strong>r</strong> Befürworter <strong>de</strong>s Projekts gewesen.Luvis hatte sich lange gegen Delex LC 34 gesträubt und noch amEn<strong>de</strong> gemahnt, doch zumin<strong>de</strong>st Restbestän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s alten Saatguts zubehalten, für Notfälle. „Welche Notfälle?“, hatte Iaron ihn damalsgefragt und als ihm sein Stellvertreter die Antwort schuldiggeblieben war, <strong>de</strong>n Vorschlag abgelehnt. Nein, es war sicher nichtLuvis Aufgabe, für die jetzige Situation - für <strong>de</strong>n jetzigen Notfall -gera<strong>de</strong> zu stehen.Ein Stück weiter war soeben auf einer Wei<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Gleiter <strong>de</strong>sPräsi<strong>de</strong>nten nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gegangen. Schwarz geklei<strong>de</strong>te Gestaltenkrabbelten heraus und inspizieren misstrauisch die Umgebungdurch die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrillen. Zwei eilten zu <strong>de</strong>nBüschen und Bäumen, welche die Wei<strong>de</strong> umringten, drücktenZweige beiseite und murmelten schließlich ein 'Okay' in ihrHeadset. Unvermittelt kam Iaron die Frage in <strong>de</strong>n Sinn, wiesoHeckenschützen, die auf Bäumen saßen, eigentlich nichtBaumschützen hießen. Was ihn weiterleitete zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage, wieso ersich angesichts all seiner Probleme mit <strong><strong>de</strong>r</strong>art unsinnigen Gedankenbeschäftigte.Dann stieg <strong><strong>de</strong>r</strong> Präsi<strong>de</strong>nt aus. Er wirkte ernst und nach<strong>de</strong>nklich.Frank U. Doreaan war Politiker durch und durch. Er kannte nurzwei Gesichtsausdrücke. Die lächeln<strong>de</strong> Freundlichkeit, die man imWahlkampf, bei <strong>de</strong>n meisten Interviews und bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkündungpolitischer Erfolge benötigte, und eben jene Miene, <strong><strong>de</strong>r</strong> er nun zurSchau trug. Das Gesicht für Schwierigkeiten aller Art, das immer sowirkte, als beschäftige noch das kleinste Problem einesUnionsbürgers <strong>de</strong>n Präsi<strong>de</strong>nten vierundzwanzig Stun<strong>de</strong>n am Tagund raube ihm seit min<strong>de</strong>stens einer Woche <strong>de</strong>n Schlaf.Dabei war Doreaan von Hause aus kein Politiker, wie seineKleidung nur all zu <strong>de</strong>utlich unterstrich. Er trug eine noble, violette71


Galauniform. Drei silberne Kor<strong>de</strong>ln hingen von <strong><strong>de</strong>r</strong> linken Epauletteherab. Bunte Leisten auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust zeigten die vielen Or<strong>de</strong>n undAuszeichnungen an, die er angesammelt hatte. Die Sterne auf <strong>de</strong>nSchulterklappen und am Stehkragen wiesen ihn als Flottenadmiralaus. Was fehlte war die dunkelblaue Mütze mit <strong>de</strong>m Emblem <strong><strong>de</strong>r</strong>Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation, dafür präsentierte Doreaan seine militärisch kurzen,blon<strong>de</strong>n Haare.Er gehörte zu <strong>de</strong>n zahlreichen Militärs, die während <strong>de</strong>s Krieges anBekanntheit und Popularität gewonnen und anschließendverstan<strong>de</strong>n hatten, diese auf <strong><strong>de</strong>r</strong> politischen Bühne einzusetzen.Doreaan hatte einige Schiffe <strong><strong>de</strong>r</strong> Split in einem Nachbarsektor ArgonPrimes geschlagen. Nur ein kleines Scharmützel, unbe<strong>de</strong>utend für<strong>de</strong>n Gesamtverlauf <strong>de</strong>s Krieges. Doch aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe <strong>de</strong>sGeschehens zur Hauptwelt <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation erfuhr das Gefechterhebliche mediale Beachtung und hatte Doreaan in <strong><strong>de</strong>r</strong>öffentlichen Wahrnehmung zum Retter Argon Primes wer<strong>de</strong>n lassen.Danach war es ihm ein Leichtes gewesen, sich bei <strong><strong>de</strong>r</strong> letztenPräsi<strong>de</strong>ntschaftswahl gegen <strong>de</strong>n Amtsinhaber Grant durchzusetzen.Der Präsi<strong>de</strong>nt schritt energisch auf Yates zu. Zwei seinerLeibwächter folgten ihm, weiterhin bemüht, ihn gegen je<strong>de</strong> möglicheGefahr abzuschirmen. Vantera kam an seine Seite und begrüßteDoreaan mit einem heftigen: „Da sind sie ja endlich!“, was diesendazu veranlasste, die linke Augenbraue anzuheben.Am Getrei<strong>de</strong>feld angekommen, ließ er einen skeptischen Blick überdie Anpflanzung schweifen. Allerdings gehörte er zu jenenMenschen, die fast ihr ganzes Leben in Städten verbracht hattenund ohne Werbung für Milchprodukte ein Argnu nicht von einemHuhn hätten unterschei<strong>de</strong>n können. Sein landwirtschaftlichesWissen beschränkte sich darauf, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Feind schnellerkapitulierte, wenn man seine Fel<strong><strong>de</strong>r</strong> anzün<strong>de</strong>te. Da es hier nicht72


annte, erschloss sich ihm das Problem nicht. „Also?“, fragte er<strong>de</strong>swegen.Yates zögerte kurz, bevor er unsicher zu einer Antwort ansetze:„Der Erntetermin für dieses Getrei<strong>de</strong>feld steht in vier Wochen an,doch wie sie sehen, wird das nicht möglich sein.“Der Präsi<strong>de</strong>nt kniff die Augen zusammen. „Wieso? Ich sehe nichts.“Er klang ungehalten. Mit seiner ganzen Haltung brachte erMissfallen zum Ausdruck. Er schätzte es nicht, seine wertvolle Zeitirgendwelchen Lappalien zu opfern.„Nichts?“, explodierte Vantera an seiner Seite: „Ganz genau: Siesehen nichts! Eben das ist ja das Problem!“„Vantera-san, ich muss doch sehr bitten.“, entgegnete Doreaankühl.Der Angesprochene setzte zu einer Antwort an, doch Yates gingräuspernd dazwischen. „Es ist so, Präsi<strong>de</strong>nt-san, <strong><strong>de</strong>r</strong> Herr Ministermeint, dass etwas fehlt.“ Er sah zu Vantera hinüber, <strong><strong>de</strong>r</strong> mitNachdruck nickte, aber schwieg. „Das Getrei<strong>de</strong> hätte schon längstÄhren ausbil<strong>de</strong>n müssen, doch ist dies nicht geschehen.“Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te die Braue <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten nach oben.Diesmal eine stumme Auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung, fortzufahren.„Wir müssen davon ausgehen, dass es auch nicht mehr geschehenwird. Die selbe Situation...“, er stockte.„Die selbe Situation?“, hakte Doreaan nach.„Die selbe Situation fin<strong>de</strong>n wir auf allen Fel<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> nördlichenHemisphäre vor, auf <strong>de</strong>nen Delex LC 34 ausgesät wur<strong>de</strong>.Vermutlich wird es sich <strong>de</strong>mnächst auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Südhalbkugel auch soverhalten. Delex LC 34 ist quasi unfruchtbar. Wir...“, er zupfte sicham Hemdkragen: „Wir schätzen <strong>de</strong>n Ernteausfall auf 87 Prozent.Nur in diesem Jahr.“Eine <strong>de</strong>utliche, nicht gespielte Zornesfalte bil<strong>de</strong>te sich auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Stirn73


von Doreaans Sorgenmiene. Er begann zu begreifen. „Und nächstesJahr?“„Tja...“, Iaron lächelte nervös, fast schon hysterisch.Der Präsi<strong>de</strong>nt dachte nach. „Aber wie kann das sein, unfruchtbar?Haben sie dieses Zeug nicht schon letztes Jahr angebaut, und zwarerfolgreich.“Iaron schwieg betroffen. Er war unschlüssig, wie er es <strong>de</strong>mPräsi<strong>de</strong>nten erklären sollte. Doch Luvis nahm ihm diese Bür<strong>de</strong> ab:„Sie sind nicht wirklich unfruchtbar. Eine genetisch neue Sortemuss erst einmal erzeugt wer<strong>de</strong>n. Wir haben <strong>de</strong>n alten,<strong>de</strong>lexianischen Weizen genommen und mit <strong><strong>de</strong>r</strong> neuen DNS gekreuzt.Dabei waren die Gene von Delex LC 34 dominant, will heißen, sieverdrängten die Gene <strong>de</strong>s alten Getrei<strong>de</strong>s. Die erste Generation anPflanzen, die daraus erwuchs, besaß daher bereits alleEigenschaften von Delex LC 34. Streng genommen waren es aberMischlinge. Die zweite Generation ist hingegen reines LC 34, unddas bil<strong>de</strong>t offenbar keine Ähren mehr aus.“„Aber sie sagten, es sei nicht wirklich unfruchtbar.“Iaron ergriff das Wort wie<strong><strong>de</strong>r</strong>: „Jein. Die Pflanze kann sichfortpflanzen, aber nicht über Samen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n über Ableger. Eskommt nur nichts dabei heraus, was für Menschen essbar es.Lediglich als Viehfutter können die Halme vielleicht herhalten.“Doreaans strenge Miene verschwand: „Na also, damit hat sich dasProblem doch von selbst gelöst. Verfüttern sie das Zeug anirgendwelches Viehzeugs und wir essen einfach mehr Fleisch.“Er wandte sich ab und wollte zu seinem Gleiter zurückkehren,doch Vantera rollte entnervt mit <strong>de</strong>n Augen und hielt ihn zurück.„Nichts, aber auch gar nichts kann einen Ernteausfall von 87Prozent beim Weizen kompensieren, Präsi<strong>de</strong>nt-san. Wir habenViehfutter ja, haufenweise. Aber das ganze Vieh, das wir damit74


füttern könnten, müssten wir auch erst einmal heranzüchten, wasaber schlecht geht, wenn wir es gleichzeitig schlachten, um zuüberleben. Mal ganz abgesehen davon, dass dann zwar unsere Tieregenug Salz in ihrer Nahrung hätten, wir es für die Menschen aberwie<strong><strong>de</strong>r</strong> importieren müssten.“Doreaan sah von einem zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en: „Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> importieren? Aberdas geht nicht, Aldrin wür<strong>de</strong>...“ Er ließ <strong>de</strong>n Rest unausgesprochen.„Ja, ganz genau, Aldrin wür<strong>de</strong>!“, blaffte Vantera. „Aber vielleichtkönnten sie sich einmal um wirkliche Probleme kümmern, Doreaan!Ihre beschissene Außenpolitik interessiert mich nicht! EtlicheMillionen Menschen allein auf diesem Planeten haben <strong>de</strong>mnächstnichts mehr zu beißen!“Der Präsi<strong>de</strong>nt starrte Vantera zornig an, und dieser blickte trotzigzurück, die Arme verschränkt wie ein schmollen<strong>de</strong>s Kind. Soerleichtert Iaron auch darüber war, vorerst scheinbar aus <strong>de</strong>nSchusslinien bei<strong><strong>de</strong>r</strong> Politiker gelangt zu sein, wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te er sich doch,wie intensiv bei<strong>de</strong> miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> stritten, da sie doch Parteifreun<strong>de</strong>waren. Doreaan fing sich als erster wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Also eine Hungersnot.Wie lange reichen die Vorräte noch?“„Die letzte Ernte war recht gut.“, erläuterte Vantera, betontsachlich, wenngleich weiterhin Wut in seiner Stimme mitschwang:„Wenn wir die Nahrung rationieren, reicht es vielleicht für dreizehnbis vierzehn Monate.“„Das heißt wir können <strong>de</strong>n Ausfall einer ganzen Jahresernteauffangen?“„Hai, aber das eigentliche Problem kommt danach. Die Ernte <strong>de</strong>sVorjahrs besteht aus <strong>de</strong>m Mischlingsweizen. Wir können sie zwaressen, aber nicht als Saatgut gebrauchen. Was heißt, dass auch dieübernächste Ernte ausfallen wird und so weiter, wenn wir nicht an<strong>de</strong>lexianischen Weizen in seiner ursprünglichen Form heran75


kommen. An gewaltige Mengen davon.“„Die Kolonien?“, schlug <strong><strong>de</strong>r</strong> Präsi<strong>de</strong>nt vor.„Auch diese haben weitgehend auf Delex LC 34 umgestellt.“, warfIaron schüchtern ein. „Das alte Getrei<strong>de</strong> wird eigentlich nur nochdort angebaut, wo LC 34 nicht gebraucht wird, weil man dort Salzhat. Also in...“Doreaans Blick durchbohrte ihn: „...<strong>de</strong>n abtrünnigen Kolonien!“,been<strong>de</strong>te er <strong>de</strong>n Satz.„Und auf Aldrin.“, bemerkte Vantera.Der Präsi<strong>de</strong>nt nickte und wandte sich <strong>de</strong>m Minister zu. „Das solltesogar bei ihnen Interesse für die 'beschissene Außenpolitik' wecken,nicht?“Der Wettergott warf ihm einen Blick zu, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich irgendwozwischen Empörung und Zustimmung verlor.„Yates!“, sagte <strong><strong>de</strong>r</strong> Präsi<strong>de</strong>nt wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu eben diesem gewandt: „Ichwer<strong>de</strong> umgehend das Kabinett einberufen. Dessen ungeachtetwür<strong>de</strong> ich es begrüßen, wenn sie ebenfalls nach Lösungen suchenund sie auch fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.“ Er drehte sich um und ging. „Daskönnte die Scha<strong>de</strong>nsersatzfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung an ihr Unternehmen etwasreduzieren.“, knurrte er noch ohne sich ein weiteres Malumzusehen.Iaron rief ihm hinterher, alles Menschenmögliche zu tun. Vanterafolgte <strong>de</strong>m Präsi<strong>de</strong>nten. Dann zogen auch die Leibwächter ab, nichtohne Iaron durch ihre verspiegelten Sonnenbrillen noch einmalgründlich zu mustern, so als wollten sie sich sein Gesicht einprägenfür <strong>de</strong>n Fall, dass er weitere Schwierigkeiten verursachen könnte.Iaron und Luvis beschatteten ihre Augen mit <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n undschauten zu, wie die Gleiter <strong>de</strong>s Präsi<strong>de</strong>nten und <strong>de</strong>sLandwirtschaftsministers aufstiegen und verblüffend schnell in76


Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong> corvanischen Berge verschwan<strong>de</strong>n. „IrgendwelcheI<strong>de</strong>en, Jack?“Luvis zögerte. Es war ihm anzusehen, dass er tatsächlich einenGedanken hatte, sich aber unsicher war, ob er ihn aussprechensollte.„Raus damit!“, drängte Iaron.„Wir könnten uns an die Goner wen<strong>de</strong>n, Yates-san.“Iaron blinzelte irritiert. Im nächsten Augenblick wollte er seinenStellvertreter anfahren, er meine wohl, das Saatgut auf <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>bestellen zu können. Aber ihm war klar, dass er damit nur seineWut an jemand auslassen wür<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> dies nicht verdient hatte. Sostarrte er Luvis zunächst einfach nur an, unschlüssig darüber, wieer reagieren solle. Jack verstand dies als Ablehnung un<strong>de</strong>ntschuldigte sich für seinen Vorschlag. Doch je länger die I<strong>de</strong>edurch Iarons Denken kreiste, <strong>de</strong>sto mehr gewann er ihr einen Sinnab. Die Goner hatten beste Kontakte zu <strong>de</strong>n abtrünnigen Kolonien,möglicherweise konnten sie unbürokratisch von dort Saatgutbeschaffen ohne dass Argon offiziell diplomatisch einknickenmusste. Vielleicht konnten die Erdgläubigen sogar mehr als dastun. Aus unerfindlichen Grün<strong>de</strong>n, über die Iaron in müßigenStun<strong>de</strong>n schon oft vergebens gegrübelt hatte, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerglaubenunter Aka<strong>de</strong>mikern sehr verbreitet. Den Gonern gehörtenbe<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Wissenschaftler an und sie verfügten über eine <strong><strong>de</strong>r</strong>größten Bibliotheken im gesamten Universum. Doch, vielleichtkonnten sie helfen.„Gute I<strong>de</strong>e, kümmern sie sich persönlich darum, Jack.“,antwortete er schließlich. Luvis sah ihn einen Moment erstaunt anund nickte dann.77


8 – Die Macht <strong>de</strong>s Wortes„Am Willen zur Kommunikation mangelt es <strong>de</strong>n Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n unsererGemeinschaft nicht, auch nicht am rhetorischen Können. Zu oft aber fehlt esuns an <strong><strong>de</strong>r</strong> Einsicht, dass Überzeugen das Eingehen auf <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>enerfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Nicht das Konzept <strong>de</strong>s Monologes sollte unser Leitbild sein,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n jenes <strong>de</strong>s Dialoges. Das Thema einer Predigt wird von unseremGegenüber reflektiert, das Thema eines Gespräches aber wird von ihmreproduziert. Für die Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong> unserer Gemeinschaft führt das zu einer auf<strong>de</strong>n ersten Blick paradoxen Schlussfolgerung: Wenn wir über die <strong>Er<strong>de</strong></strong> re<strong>de</strong>nwollen, dürfen wir nicht zu viel über die <strong>Er<strong>de</strong></strong> re<strong>de</strong>n.“Revision 5,21-22: Sarah B. Greenwald (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Es war als hätten sie sich im Planeten geirrt. Aber Anthea undStacia waren nicht zum ersten Mal anlässlich eines Staatsbesuchesauf Argon Prime. Sie brauchten sich nur umzuschauen, um sich zuversichern, tatsächlich im altehrwürdigen Peregrino-Komplex <strong>de</strong>sargonischen Großsenats zu sein. Unter <strong>de</strong>n Fenstern <strong><strong>de</strong>r</strong> ihnenzugewiesenen Räume erstreckte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> weitläufige Garten <strong>de</strong>sEwigen Wetters, grünes Herz und Lunge von Argonia City. Dahintererschien die Millionenstadt selbst, mit ihrer prägnanten Skyline,ihrer unübersichtlichen Größe und ihrem chaotischenVerkehrsaufkommen. Die bei<strong>de</strong>n Frauen, die selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> ebenfallsnicht kleinen aldrianischen Hauptstadt Brooks lebten, empfan<strong>de</strong>nes als verwirrend und erschreckend.Das Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit berichtete von <strong>de</strong>n Städten <strong><strong>de</strong>r</strong> alten <strong>Er<strong>de</strong></strong>.Metropolen mit über zwanzig o<strong><strong>de</strong>r</strong> dreißig Millionen Einwohnern.Werte, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation selbst mancher Planet nicht erreichte.Sofern es sich dabei nicht um fromme Übertreibung han<strong>de</strong>lte, hätteein <strong>Er<strong>de</strong></strong>nmensch über Argonia City wahrscheinlich nur mü<strong>de</strong>gelächelt. Aber dies war die Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Kolonien, das Universum78


jenseits <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>, das die Goner in einem Anflug melancholischerRomantik auf <strong>de</strong>n biblischen Namen <strong>Nod</strong> getauft hatten. In dieserWelt überragte Argonia City alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en bekannten Ansiedlungen.Die Stadt war ihr eigener Kosmos. Utopie und Moloch, einzigartigund unverkennbar. Lebendig, bunt und laut. Sehr laut. Kakophon.Babel.Im Peregrino selbst war alles wie gewohnt eingerichtet. Über <strong>de</strong>mTribünenrund <strong>de</strong>s Senatssaales prunkte das kolossaleDeckengemäl<strong>de</strong>, das die Schlacht von Pitcairn heroisch stilisiertdarstellte, <strong>de</strong>n entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Sieg über die Xenon vor gut hun<strong><strong>de</strong>r</strong>tJahren. Anlässlich ihres Besuchs nahm Anthea an einer Sitzung<strong>de</strong>s Senats teil. Obwohl Solara inzwischen schon seit einem JahrVollmitglied war, mussten seine Senatoren noch immer mit <strong>de</strong>ngrauen Kunststoffsitzen Vorlieb nehmen, die eigentlich <strong>de</strong>n nichtstimmberechtigten Gästen zugewiesen wur<strong>de</strong>n, während selbst dieVertreter unbe<strong>de</strong>uten<strong><strong>de</strong>r</strong> Randwelten wie Ringo o<strong><strong>de</strong>r</strong> Agrippina auf<strong>de</strong>n mit blauen Samt bezogenen Stühlen saßen.Vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Kulisse all dieser alt vertrauten Elemente gewann dasungewohnte Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> argonischen Politiker und Diplomateneinen gera<strong>de</strong>zu surrealistischen Charakter. Sie waren zwar aufArgon Prime, doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Planet schien Anthea wie durch Zauberei vongänzlich an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen bewohnt zu sein. O<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>stvon an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen regiert. Von freundlichen un<strong>de</strong>ntgegenkommen<strong>de</strong>n Menschen.Selbst als sie damals hierher gekommen war, um <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunionbeizutreten, faktisch also, um Argons Vormachtstellunganzuerkennen, war man ihr nicht mit solch ausgesuchterFreundlichkeit begegnet wie anlässlich <strong>de</strong>s aktuellenWeltenwirtschaftsgipfels. Anfänglich hatte sie gemutmaßt, diebevorstehen<strong>de</strong>n Wahlen wären <strong><strong>de</strong>r</strong> Grund dafür. Jedoch war ihr das79


politische Parkett vertraut genug, um schnell zu erkennen, dass esdaran alleine nicht liegen konnte. Denn Argon Prime gewann keinebemerkenswerten Vorteile, wenn es sich um die Sympathie <strong><strong>de</strong>r</strong>baldigen Exgouverneurin buhlte. Vielleicht, so mutmaßte sie, war eslediglich diplomatische Spielerei. Sie war hier, um <strong>de</strong>nZollunionsvertrag zu verlängern, was schließlich auch die Argonenwünschten. Allerdings musste auch gera<strong>de</strong> ihnen klar sein, dass<strong><strong>de</strong>r</strong> Vertrag nicht lange halten wür<strong>de</strong>, sobald Favino an die Machtkäme.Ihr Plan stand <strong>de</strong>ssen ungeachtet fest. Sie musste die aldrianischeMitgliedschaft verlängern, solange ihr dies noch aus eigenerMachtbefugnis heraus möglich war. Die Verfassung Solarasverpflichtete die Regierung dazu, ein bilaterales Abkommenmin<strong>de</strong>stens ein Jahr lang einzuhalten. Danach konnte es,zumin<strong>de</strong>st nach solarischer Sicht, legal aufgehoben wer<strong>de</strong>n. Antheafand die Regelung son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar, <strong>de</strong>nn schließlich waren in solchenVerträgen ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Laufzeiten festgelegt. Aber sie hatte sichwährend ihrer Amtszeit nicht die Mühe gemacht, beim Parlamentdarum zu werben, <strong>de</strong>n be<strong>de</strong>nklichen Verfassungsartikel zu kippen.Sie hatte immer geglaubt, dass sich die Mühe nicht lohne. Sokonnte sie ihn nun immerhin für ihre Absichten ausnutzen. Favinowäre in seinen Möglichkeiten, diplomatisches Porzellan zuzerschlagen, zumin<strong>de</strong>st für ein Jahr eingeschränkt.Zu Antheas Überraschung war ihr Gegner ebenfalls zum Gipfelangereist und führte ein paar Gespräche mit <strong>de</strong>m Gouverneur vonDemeter III. Daneben plau<strong><strong>de</strong>r</strong>te er ein wenig mit einigen an<strong><strong>de</strong>r</strong>enPlanetenvertretern sowie ausgiebiger mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Presse. Zu <strong>de</strong>neigentlichen Verhandlungen <strong>de</strong>s Gipfels hatte er zumeist keinenZutritt. Umso mehr kümmerte er sich daher um die zahlreichanwesen<strong>de</strong>n Journalisten. In <strong>de</strong>n argonischen Medien schimpfte er80


über Argon, in <strong>de</strong>n aldrianischen über die Amtsinhaberin. Letztereswar seit Antheas Ankündigung <strong><strong>de</strong>r</strong> beabsichtigtenVertragsverlängerung nicht schwer. Anthea nahm Favinos erneutemediale Breitseite mit einer sie selbst erstaunen<strong>de</strong>n Gleichgültigkeithin. Die Wahl war so o<strong><strong>de</strong>r</strong> so verloren und alle Weichen für <strong>de</strong>n Planvon Mortensen und Reeve waren gestellt. Dass sie für <strong>de</strong>n Fall, dieDurchführung könne sich verzögern, noch ein Jahr Ruheherausschlagen konnte, war alles, was sie im Moment interessierte.Was blieb, war die rätselhafte Aufgeschlossenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Argonen.Während <strong><strong>de</strong>r</strong> Verhandlungen machten sie schließlich vageAn<strong>de</strong>utungen, eine Ausweitung landwirtschaftlicher Importeanzustreben, angeblich, um weniger industriell geprägte Planetenzu för<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Ohne darauf einzugehen, was genau sie wünschten,fragten sie Anthea und ihre Delegation nach <strong><strong>de</strong>r</strong>landwirtschaftlichen Produktion Aldrins aus.In einer Verhandlungspause <strong>de</strong>s weitgehend in Einzelgesprächengeführten Gipfels, wur<strong>de</strong> sie von Flot Halter angesprochen. Halterwar <strong><strong>de</strong>r</strong> Kanzler <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten. Auch an ihn, so teilteer ihr mit, seien die Argonen mit entsprechen<strong>de</strong>n An<strong>de</strong>utungenherangetreten. Anthea kannte Halter von früheren Treffen als einenübervorsichtigen, fast schon ängstlichen Charakter. Daherverwun<strong><strong>de</strong>r</strong>te es sie nicht, dass ihn die unerwartete Situation sehrbeunruhigte, wenngleich er durchaus die sich bieten<strong>de</strong>n Vorteilesah, die so in Greifweite gerieten.Nach<strong>de</strong>m Anthea <strong>de</strong>n Beitritt <strong>de</strong>s Freistaates Solara in dieZollunion durchgesetzt hatte, hatte Halter zunächst kein Wort mehrmit ihr gesprochen. Er hatte - zu Recht - erhebliche Nachteile fürdie an<strong><strong>de</strong>r</strong>en unabhängigen Planeten befürchtet, zu <strong>de</strong>nen auch dieDrei Welten gehörten. Der Bund hatte zwar einen großen Teil seinesHan<strong>de</strong>ls ungehin<strong><strong>de</strong>r</strong>t mit <strong>de</strong>m Königinnenreich <strong><strong>de</strong>r</strong> Boronen81


abwickeln können, doch letztlich musste er ebenfalls vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Fusakapitulieren. Inzwischen war daher auch die Regierung inThallopolis bereit, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunion beizutreten. Die Verträge solltenwährend <strong>de</strong>s Gipfels unterzeichnet wer<strong>de</strong>n. Argons Importwünscheboten Halter nun völlig unerwartet die Möglichkeit, quasi auf <strong><strong>de</strong>r</strong>Zielgera<strong>de</strong>n noch bessere Konditionen auszuhan<strong>de</strong>ln. Dennoch warer überrascht und in Folge <strong>de</strong>ssen seines Naturells gemäßmisstrauisch und besorgt, weshalb ihn die Meinung <strong><strong>de</strong>r</strong> von ihm solange geschmähten Gouverneurin Demetres nun brennendinteressierte.Anthea nahm Halters Eröffnung erstaunt zur Kenntnis. Vor <strong>de</strong>mGipfel hatte sie sich mit Stacias Hilfe mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Wirtschaftsstrukturaller Teilnehmer vertraut gemacht. So wie ihr Freistaat theoretischaus <strong>de</strong>m gesamten Sonnensystem <strong>de</strong>s Sterns Solara, faktisch abernur aus Aldrin bestand, da <strong>de</strong>n Rest leerer Raum undlebensfeindliche Himmelskörper bil<strong>de</strong>ten, so reduzierte sich <strong><strong>de</strong>r</strong>Bund <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten bei genaueren Hinsehen auf <strong>de</strong>n PlanetenThallo. Seine bei<strong>de</strong>n Schwesterwelten, die zusammen mit Thalloeine astronomisch sensationelle, stabile Dreierkonstellationbil<strong>de</strong>ten, waren ö<strong>de</strong>, dünn besie<strong>de</strong>lte Planeten. Thallo jedoch warfür seine endlosen, gol<strong>de</strong>nen Weizenfel<strong><strong>de</strong>r</strong> berühmt. Alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>enNutzpflanzen und Tiere zogen und züchteten die Thalloner in ersterLinie für ihren eigenen Bedarf. Der Aufbau einer exportfähigenWirtschaft für diese Erzeugnisse wäre zwar <strong>de</strong>nkbar gewesen, dochhätte sie Jahre erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t.Da auch <strong>de</strong>n Argonen die Eigenarten <strong><strong>de</strong>r</strong> dreiweltenerAgrarstruktur bekannt sein mussten, schloss Anthea, dass sie inerster Linie an Getrei<strong>de</strong> interessiert wären. Dies wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um konntenur be<strong>de</strong>uten, dass es zu irgendwelchen Schwierigkeiten mit ihrerneuen Weizenart gekommen sein musste, die im Vorjahr Aldrins82


Salzexporte hatte zusammen brechen lassen. Sie dankte Halter un<strong>de</strong>mpfahl ihm, sich ablehnend zu zeigen und so weitereZugeständnisse zu provozieren.Sie selbst konfrontierte die argonischen Gesandten nach En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Verhandlungspause mit ihrem neuen Wissen. Die Argonen zeigtensich keineswegs überrascht, vermutlich waren sie davonausgegangen, dass früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später etwas von ihren Problemendurchsickern wür<strong>de</strong>. Nach<strong>de</strong>m Anthea von <strong><strong>de</strong>r</strong> drohen<strong>de</strong>nHungersnot hörte, fragte sie, wie viel Saatgut die Argonen konkretbenötigen wür<strong>de</strong>n. Die Antwort erschreckte sie. „Das kann Aldrinnicht stemmen.“, hielt sie mit Bedauern fest.Im Gesicht Anto Kims, ihres aalglattes Gegenübers, erlosch füreinen Sekun<strong>de</strong>nbruchteil das Lächeln, um augenblicklich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zuerscheinen. Nur stand es jetzt in merklichen Gegensatz zu <strong>de</strong>nnunmehr eiskalten Augen darüber. „Aldrin und Thallo.“, verbesserteer. „Unseres Wissens reichen die Jahresproduktionen dieserPlaneten sehr wohl aus, um die notwendige Menge verfügbar zumachen.“„Die Jahresproduktion, sicher. Aber nicht die Überschüsse, wennwir unseren eigenen Bedarf abziehen.“„Nun, sie müssten natürlich schon ihren Bedarf entsprechendanpassen.“„Verstehe, die Aldrianer und Dreiweltener sollen auch aufNotrationen gesetzt wer<strong>de</strong>n.“, antwortete Anthea bitter.Kim nickte. „Zu viel für einen allein, zu wenig für alle zusammen.“,bemerkte er gewichtig. „Selbstverständlich wird unsere Regierungdiesen selbstlosen Akt <strong><strong>de</strong>r</strong> Solidarität ihrer Völker zu honorierenwissen. Es wäre ein Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Völkerverständigung, ein Symbol<strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>ns zwischen unseren Welten.“ Die Art und Weise, wie erdas Wort 'Frie<strong>de</strong>n' betonte, ließ Anthea einen eisigen Schauer über83


<strong>de</strong>n Rücken laufen.„Wollen sie mir drohen?“Kim gab sich empört: „Ich muss doch sehr bitten. Nichts läge unsferner, Demetres-san. Wir Argonen wollen keinen militärischenKonflikt mit unseren solarischen und dreiweltener Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n undSchwestern. Im Gegenteil, wir haben sogar, quasi als Zeichen <strong>de</strong>sguten Willens, unsere Militärpräsenz im Grenzgebiet starkzurückgefahren.“Das überraschte Anthea. Sie nahm sich vor, diese Aussage zuüberprüfen und dankte Kim zunächst nur unter Vorbehalt undkühl für diesen Schritt <strong><strong>de</strong>r</strong> argonischen Regierung. Sollte esstimmen, käme es ihr allerdings sehr gelegen. Das Gegenstück <strong>de</strong>saldrianischen Sprungtores lag im Sektor Omikron Lyrae, an <strong>de</strong>m dieBesitzrechte seit jeher umstritten waren. Die Argonen sandten oftPatrouillen dorthin aus, um ihre Ansprüche zu unterstreichen. Siestießen zwar nur selten bis zum Betasprungtor vor, doch potenziellmochten sie die Arbeiten daran bemerken.„Vielleicht sollten wir die Gelegenheit nutzen, um die Verteilung<strong><strong>de</strong>r</strong> Schürfrechte in Omikron Lyrae zu klären.“, schlug Anthea vor,um nicht durchscheinen zu lassen, wie sehr sie Argons vermin<strong><strong>de</strong>r</strong>teWachsamkeit über das System begrüßte. „Wenn wir dieses unleidigeThema erst einmal vom Tisch haben, fin<strong>de</strong>n wir sicher auch zügigereinen vorteilhaften Kompromiss bezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> Agrarexporte.“Kim Lächeln gefror abermals. „Da bin ich ganz ihrer Meinung. An<strong><strong>de</strong>r</strong> Ausbeutung welcher Himmelskörper ist ihrer Regierung <strong>de</strong>nn inerster Linie gelegen?“Die Verhandlungen zogen sich noch über zwei weitere Tage hin.Die Argonen hatten etliche Zugeständnisse gemacht. Der FreistaatSolara erhielt alle von ihm gewünschten Schürfrechte, auch <strong><strong>de</strong>r</strong>84


Bund <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten und die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en freien Planeten bekamenRechte an Asteroi<strong>de</strong>n zur Metallgewinnung zugewiesen. Antheaentging nicht die Feinheit, dass es jeweils nur um Rechte ging. Keinfertiger Bergbauaußenposten wechselte <strong>de</strong>n Besitzer. Auch diemilitärischen Zugeständnisse beschränkten sich bei näheremHinsehen auf Maßnahmen, die schnell rückgängig gemacht wer<strong>de</strong>nkonnten. Man hatte Versprechen und Zusicherungen erhalten, aberkeine Garantien.Allerdings musste sie sich selbst eingestehen, dass es sichumgekehrt kaum an<strong><strong>de</strong>r</strong>s verhielt. Sie hatte <strong>de</strong>n Argonen zwei Drittel<strong><strong>de</strong>r</strong> gefor<strong><strong>de</strong>r</strong>ten Getrei<strong>de</strong>menge zugesagt, zu einem Preis weitunterhalb <strong>de</strong>ssen, was man angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>zeitigen Lage dafürverlangen konnte. Doch bis zur tatsächlichen Lieferung, ließ sichauch dies wi<strong><strong>de</strong>r</strong>rufen. Zumal es nicht mehr innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> wenigenverbliebenen Tage ihrer Amtszeit erledigt wer<strong>de</strong>n konnte. Wür<strong>de</strong>nFavino und das solarische Parlament die Lieferungen verschleppeno<strong><strong>de</strong>r</strong> gar verweigern, war die Gefahr eines Krieges größer als jemalszuvor.Am En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Konferenz war Anthea nicht min<strong><strong>de</strong>r</strong> besorgt als FlotHalter. Kurz vor seiner Abreise hatte Halter noch einmal mit ihrgesprochen. Auch er hatte sich <strong>de</strong>s Eindruckes nicht erwehrenkönnen, aus <strong>de</strong>n Aussagen <strong><strong>de</strong>r</strong> Argonen einen drohen<strong>de</strong>n Untertonheraus zu hören.85


9 – G.A.I.A.„Mit viel Fleiß, Herzblut und Mühe ist es <strong>de</strong>n Mitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>n unsererGemeinschaft gelungen, die große Aufgabe zu meistern, die Erinnerungunserer Generation über die ferne Vergangenheit zusammen zu tragen, diearg von <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr bedroht war, in <strong><strong>de</strong>r</strong> nahen Zukunft <strong>de</strong>m Vergessenanheim zu fallen. Der erste Schritt eines langen Weges ist vollbracht, nun dawir das Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit endlich in unseren Hän<strong>de</strong>n halten dürfen. Dochin einer Welt <strong>de</strong>s Unwissens kann unsere Mission nicht allein darinbestehen, uns unserer Wurzeln bewusst zu wer<strong>de</strong>n und diese zu erforschen.Je<strong>de</strong>s Wissen, das wir als geschriebenes Wort auf Papier o<strong><strong>de</strong>r</strong> als digitaleInformation in ein Speichermedium bannen, wird vergehen, wenn wir esnicht auch in <strong>de</strong>n Herzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen verankern.“Hüter 1,1-2: Martinus Sandas (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Samuel hatte das Gefühl, je<strong><strong>de</strong>r</strong> an Bord wür<strong>de</strong> ihn anstarren.Goner waren neugierige Leute und ihre Raumstation, von <strong>de</strong>nmeisten Argonen irrtümlicherweise als Tempel bezeichnet, wur<strong>de</strong>nur selten von Außenstehen<strong>de</strong>n besucht. Ein neues Gesicht rief daschnell freundliches Interesse hervor. Zumin<strong>de</strong>st hoffte er, dass essich so verhielt, man also tatsächlich das frem<strong>de</strong> Gesichtbetrachtete und nicht etwa das Vertraute, welches man lediglichgera<strong>de</strong> nicht zuordnen konnte. Ihm selber kamen viele <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbekannt vor, mit einigen verband er Namen, Eigenschaften undGegebenheiten.Insgesamt erschreckte ihm, wie wenig sich im 'Tempel' verän<strong><strong>de</strong>r</strong>thatte. Dreizehn Jahre war er nicht mehr hier gewesen, doch dasgroßräumige Foyer war noch immer dasselbe. Die selben Sitzbänke,die selben Tische, die selben Broschürenhalter und die selbenBlumenkästen. Ja, selbst die Pflanzen darin schienen sich kaumverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t zu haben, da sie wahrscheinlich immer auf eine86


einheitliche Größe zurück geschnitten wur<strong>de</strong>n. Es war gera<strong>de</strong>zugespenstisch. Etwas in ihm erwartete je<strong>de</strong>n Augenblick, dass seineMutter aus <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Tür heraustreten und ihm um <strong>de</strong>n Halsfallen wür<strong>de</strong>.Doch Dusic hatte sich bei ihrer Ankunft umgehend nach HüterinGreenwald erkundigt und Samuel mit Bedauern mitgeteilt, dieStellvertreterin <strong>de</strong>s Obersten Hüters befän<strong>de</strong> sich zur Zeit auf ArgonPrime. Samuel war es recht so. Vergangenheit und Gegenwartseines Lebens betrachtete er als zwei getrennte Welten. Zu<strong>de</strong>mwaren in die Mauern, die er dazwischen errichtet hatte, in <strong>de</strong>nletzten Tagen schon zu viele Löcher geschlagen wor<strong>de</strong>n. Inzwischenärgerte er sich aber mehr über sich selbst, weil er das Stoffbanneraus <strong>de</strong>m Wrack unterschlagen hatte. Er kam sich lächerlich vor.Dennoch gelang es ihm nicht, seine Neugier<strong>de</strong> einfachabzuschütteln. Sein einziger Wunsch war es, so schnell wie möglichin Erfahrung zu bringen, worum es sich han<strong>de</strong>lte, um anschließendvon hier verschwin<strong>de</strong>n zu können.Ein nicht unwesentlicher Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbewegung arbeitete undwohnte an Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Raumstation, so dass sie großeÄhnlichkeit mit einer Stadt im Weltraum besaß. Dieser Eindruckwur<strong>de</strong> durch die ungewöhnliche Gestaltung <strong>de</strong>s Stationsinnerenverstärkt. Man orientierte sich an planetarer Architektur,metallische Oberflächen waren selten, statt<strong>de</strong>ssen waren vieleWän<strong>de</strong> aus Backsteinen aufgemauert o<strong><strong>de</strong>r</strong> in Fachwerk ausgeführt.Es gab sogar Fenster, die von <strong>de</strong>n Wohnräumen auf die Gängezeigten, verhängt mit Gardinen und mit Blumentöpfen versehen.Neben <strong>de</strong>n breiten Hauptkorridoren durchzog ein Netz kleinerer,mitunter krummer Gänge die Wohnebenen und verlieh ihnen <strong>de</strong>nromantisch verwinkelten Charakter irdischer Altstädte.Schon als Kind hatte Samuel diese verschlungenen Wege <strong>de</strong>n87


Hauptkorridoren vorgezogen. Wer sich an Bord auskannte, konntedank ihnen nahezu ungesehen fast überall hin gelangen. Wasfrüher kindliche Späße und Versteckspiele begünstigt hatte, kamihm auch jetzt sehr zu Pass. Je weiter er sich vom Foyer entfernte,<strong>de</strong>sto seltener traf er auf Goner. Natürlich kehrte sich diesallmählich um, als er sich seinem Ziel näherte. Wobei erbeabsichtigte, einen <strong><strong>de</strong>r</strong> oberen Zugänge <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothek zubenutzen, die erfahrungsgemäß weniger frequentiert wur<strong>de</strong>n. Diemeisten Benutzer <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothek waren Stu<strong>de</strong>nten <strong><strong>de</strong>r</strong>stationseigenen Universität und <strong><strong>de</strong>r</strong> kürzeste Weg von <strong><strong>de</strong>r</strong> Uni zurBibliothek führte über <strong><strong>de</strong>r</strong>en Haupteingang.Er betrat die Bibliothek durch eine Tür auf ihrer dritten Etage,insgesamt die neunte Ebene <strong><strong>de</strong>r</strong> Station. Zurzeit arbeitete niemandin diesem Bereich, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich laut eines Schil<strong>de</strong>s mitLiteraturgeschichte beschäftigte. Je zwei Regalreihen bil<strong>de</strong>ten langeGänge. Auf einer Seite wur<strong>de</strong>n sie von kleinen Kabinenunterbrochen. Samuel erinnerte sich, dass es sich umschallisolierte Räume han<strong>de</strong>lte, in <strong>de</strong>nen die Besucher in Ruhelesen und arbeiten konnten. Zu<strong>de</strong>m waren darin die Terminals <strong>de</strong>sBibliothekscomputers untergebracht. Den Kabinen gegenüber lagenBalkone. Wer sich weniger an <strong>de</strong>n Geräuschen An<strong><strong>de</strong>r</strong>er störte,konnte dort lesen und dabei die Aussicht auf <strong>de</strong>n kleinen Parkgenießen, <strong><strong>de</strong>r</strong> im Innenhof <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothek eingerichtet wor<strong>de</strong>n war.Samuel hatte sich immer lieber auf <strong>de</strong>n Balkonen als in <strong>de</strong>nKabinen aufgehalten. Auch jetzt konnte er <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuchung nichtwi<strong><strong>de</strong>r</strong>stehen und betrat <strong>de</strong>n nächstgelegenen. Wie früher wan<strong><strong>de</strong>r</strong>tesein Blick zunächst nicht nach unten zu <strong><strong>de</strong>r</strong> kleinen grünen Oase,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n hinüber zum großen Panoramafenster. Draußen drehtesich die <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Doch es war nur eine Holografie, zu<strong>de</strong>m unscharf88


und verwaschen, da sie im freien Weltraum zu vielen Interferenzenausgesetzt war. Völlig zerstört wur<strong>de</strong> die Illusion durch die Sichel<strong>de</strong>s Planeten Perfect X, die durch die halb transparente <strong>Er<strong>de</strong></strong>hindurch schimmerte. Illusionen, dachte Samuel, was waren dieGoner doch für unverbesserliche Gaukler.Dann sah er hinunter. Zu seiner Überraschung ent<strong>de</strong>ckte er dortDusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, die zusammen mit drei weiteren Personen aufeiner Wiese <strong>de</strong>s Parks saßen. Sie hatten einen Teil ihrer Fundstückewie die Speisen eines Picknicks auf einer Decke ausgebreitet undgestikulierten bere<strong>de</strong>t herum. Bei <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen, han<strong>de</strong>ltees sich um einen Mann im mittleren Alter, <strong>de</strong>n Samuel nichtkannte, eine dunkelhäutige Frau, an die er sich als Hüterin AchrisaMbombazi erinnerte, sowie einen älteren Mann in einem prächtigverzierten, grauen Kimono. Samuel erkannte auch ihn. Fran Foster,Lieblingsschüler von Martinus Sandas, <strong>de</strong>s Begrün<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong>Gonerbewegung, und seit <strong>de</strong>ssen Tod Oberster Hüter <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit.Und sein Tutor, <strong><strong>de</strong>r</strong> Samuel auf seine Bar-Mitzwa-Zeremonievorbereitet hat, fügte <strong>de</strong>ssen Erinnerung ungefragt hinzu. Erversuchte, das Gefühl <strong><strong>de</strong>r</strong> Ehrfurcht, das ihn zu ergreifen drohte,ebenso zu unterdrücken wie <strong>de</strong>n Drang, freudig „Onkel Foster!“ zurufen.Samuel konnte nicht hören, was die fünf besprachen. Aber er sah,dass Foster die Hand hob, wohl um Dusics unerschöpflichenRe<strong>de</strong>fluss zu unterbrechen. Dann <strong>de</strong>utete Foster auf <strong>de</strong>nunbekannten Mann, <strong>de</strong>n er <strong>de</strong>m Mönch vorzustellen schien. Nunre<strong>de</strong>te dieser, während sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberste Hüter etwas zurück lehnteund seinen Blick entspannt herum wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n ließ. Er sah zu Samuelhinauf, kniff die Augen zusammen und wirkte mit einem Male sehrnach<strong>de</strong>nklich.Ruckartig wandte sich Samuel ab und griff hastig in das nächste89


Regal, zog wahllos ein Buch heraus und schlug es auf, um seinGesicht dahinter zu verbergen. Dann zog er sich schnell zurück,überquerte <strong>de</strong>n Gang und verschwand in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kabine. Erst als sich<strong><strong>de</strong>r</strong>en Tür leise surrend hinter ihm geschlossen hatte, legte er dasBuch beiseite. Er las <strong>de</strong>n Titel: 'Ausgelöffelt und Aufgegabelt. ZurRolle <strong>de</strong>s Sporks in <strong><strong>de</strong>r</strong> Irdischen Literatur' von Thorsten H. Tuzak.„Aha“ war <strong><strong>de</strong>r</strong> einzige Kommentar, <strong><strong>de</strong>r</strong> Samuel dazu einfiel.Er sah sich um. Die Wän<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Kabine waren mit Holzplattenvertäfelt. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte stand ein Tisch mit sechs Stühlen. An <strong><strong>de</strong>r</strong>Stirnseite befand sich eine Art Einbauschreibtisch. Von einerComputerkonsole war in<strong>de</strong>s nichts zu sehen. Samuel trat an <strong>de</strong>nSchreibtisch heran und suchte ihn nach Ritzen ab, unter <strong>de</strong>nensich eine versenkbare Tastatur verstecken mochte, fand aber keine.„Willkommen!“, sagte da plötzlich eine weibliche Stimme. „Kannich ihnen helfen?“Erschrocken drehte sich Samuel herum, konnte jedoch nieman<strong>de</strong>nent<strong>de</strong>cken.„Sparen sie sich die Mühe, ich bin nicht sichtbar.“ Jetzt, bei ihremzweiten Satz, hörte Samuel eine leichte mechanische Nuance aus<strong><strong>de</strong>r</strong> Stimme heraus.„Wer bist du?“, fragte Samuel. Im selben Moment wur<strong>de</strong> ihm klar,dass er mit einem Computer sprach und die Frage dahergewissermaßen unsinnig war, da Computer streng genommenniemand 'waren'.„Ich wer<strong>de</strong> GAIA genannt, das 'Generalarchiv für IrdischeAngelegenheiten'.“ GAIAs Stimme hatte einen warmen freundlichenKlang.„Oh entschuldige bitte.“, antwortete Samuel. „Als ich zuletzt hierwar, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothekscomputer noch nicht mit interaktiverIntelligenz ausgestattet. Ehm, du bist doch <strong><strong>de</strong>r</strong>90


Bibliothekscomputer?“, fragte er, da es ihn befrem<strong>de</strong>te, dass sichGAIA als Archiv bezeichnet hatte.„Es besteht kein Grund sich zu entschuldigen. Ich verfüge überkeine Gefühle, die sie verletzen könnten.“, stellte <strong><strong>de</strong>r</strong> Computersachlich fest. „Was Ihre Frage betrifft, so bin ich <strong><strong>de</strong>r</strong>Bibliothekscomputer, aber auch das Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit, dieBibliothek und vieles mehr.“'Ich bin das Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit.' Schon zu <strong>de</strong>n Lebzeiten vonMartinus Sandas hatte das Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit <strong>de</strong>n Umfang einesechten Buches um ein Mehrfaches überstiegen und war seit<strong>de</strong>mbeständig überarbeitet und erweitert wor<strong>de</strong>n. Samuel erinnerte sichdaran, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Plan bestan<strong>de</strong>n hatte, die einzelnen Bän<strong>de</strong> in einProgramm umzuwan<strong>de</strong>ln, um <strong><strong>de</strong>r</strong> unglaublichen Datenmengebesser Herr zu wer<strong>de</strong>n. Als er Ringo und damit seine gonerischeErziehung verlassen hatte, hatte dieses Vorhaben noch in <strong>de</strong>nKin<strong><strong>de</strong>r</strong>schuhen gesteckt. Nun aber schien es abgeschlossen zu sein.„Vieles mehr?“, fragte er belustigt. „Das ist aber eine sehrunpräzise Antwort für einen Computer.“„Das trifft sicherlich zu. Allerdings sind meine Dialogalgorithmenselbstlernend. Ich erlerne die Sprachgewohnheiten meinermenschlichen Benutzer, jedwe<strong>de</strong> Ten<strong>de</strong>nz zur Abstraktion undKryptik resultiert aus dieser stochastischen Ressource.“, erklärteGAIA formaler.„Verstehe, du hast schlechten Umgang.“, entgegnete Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong>vermutete, dass 'stochastisch' hier eine höfliche Umschreibung für'chaotisch' sein sollte.„Korrekt!“, sagte GAIA. Sie ließ ein kurzes Lachen ertönen. Samuelwar verblüfft, er hatte noch nie einen Computer auf einen Scherzreagieren sehen. Auf einen entsprechen<strong>de</strong>n Kommentar belehrteGAIA ihn in<strong>de</strong>s, dass sie nicht über Humor verfüge, auch <strong>de</strong>ssen91


Konzept nicht begreife, wohl aber <strong>de</strong>ssen Muster erkennen undtypische, menschliche Reaktionen darauf imitieren könne.„Sie haben diesen Raum aber vermutlich aufgesucht, um an<strong><strong>de</strong>r</strong>eDinge zu erfahren.“, sagte sie dann. „Wie kann ich ihnen helfen?“Samuel öffnete seine Pilotenjacke und zog das Stoffbanner heraus,das er hinein gestopft hatte. Er breitete das Banner auf <strong>de</strong>m Tischaus, damit GAIA es sehen konnte. Er konnte keine Kamerasent<strong>de</strong>cken, aber irgendwo innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Kabine musste <strong><strong>de</strong>r</strong>Computer über optische Sensoren verfügen. „Kannst du mit diesemText etwas anfangen? O<strong><strong>de</strong>r</strong> zumin<strong>de</strong>st mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Grafik? Der Text istwahrscheinlich ein Co<strong>de</strong>.“„Nein, das ist er nicht. Ich kann Grafik und Text zuordnen.“ Über<strong>de</strong>m Schreibtisch baute sich eine Holografie auf. Ein blauer,majestätischer Planet. Samuel erkannte <strong>de</strong>n westlichen TeilEurasiens. Es war die <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Es überraschte ihn, nicht imGeringsten überrascht zu sein.„Und was heißt es?“, wollte er wissen, während GAIA in dasHolobild hineinzoomte. Zwei große Inseln rasten Samuel entgegen.„Das weiß ich lei<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht. Die Daten <strong>de</strong>s für diese Übersetzungerfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lichen Wörterbuches wur<strong>de</strong>n noch nicht in meineDatenbank übertragen. Ich befin<strong>de</strong> mich noch im Aufbau.“ Das Bildstoppte über <strong>de</strong>m südwestlichen Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> größeren <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>nInseln. Die Küstenlinie sah aus wie ein lachen<strong>de</strong>s, spitzbärtigesGesicht im Profil. GAIA hob <strong>de</strong>n Teil oberhalb <strong>de</strong>s 'Mun<strong>de</strong>s' farblichhervor. „Dies ist das Land Kymru auf <strong>de</strong>m Planeten <strong>Er<strong>de</strong></strong>.“Samuel rief sich alles ins Gedächtnis, was er über irdischeGeografie und Geschichte wusste. Er konnte sich nicht entsinnen,jemals von diesem Land gehört zu haben.Jack Luvis Stimmung durchlebte eine Achterbahnfahrt, hinunter,92


hinauf und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurück. Nach seiner Ankunft im Tempel hatteihn Fran Foster erfreulich schnell empfangen. Der Oberste Hüter<strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit hatte sich Jacks Bericht über die drohen<strong>de</strong> Kriseaufmerksam angehört und seine Hilfe zugesichert. Er wollte <strong><strong>de</strong>r</strong>Gouverneurin von Solara eine Nachricht zukommen lassen und sieim Namen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonergemeinschaft um schnelle Hilfe bitten. Erverlangte Nichts im Gegenzug, we<strong><strong>de</strong>r</strong> von DelexCrops, noch von <strong><strong>de</strong>r</strong>argonischen Regierung. Allerdings hatte er zugeben müssen, dassauch ihm auf Anhieb keine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Lösung einfallen wür<strong>de</strong>. Das war<strong><strong>de</strong>r</strong> erste Dämpfer für Jack gewesen.Noch von seinem Büro aus hatte Foster die umfassen<strong>de</strong>Gonerdatenbank GAIA aufgerufen. Zu Jacks Erstaunendurchforstete er zunächst historische Daten. Sicherlich waren dieGoner in erster Linie Historiker, doch Jack konnte sich nichtvorstellen, wie <strong>de</strong>nn die Vergangenheit eine aktuell drohen<strong>de</strong>Hungersnot lin<strong><strong>de</strong>r</strong>n sollte. Als er dies zum Ausdruck brachte,erklärte ihm <strong><strong>de</strong>r</strong> Hüter, er wür<strong>de</strong> sich vage erinnern, dass die <strong>Er<strong>de</strong></strong>in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kolonialzeit ein System ersonnen habe, die Landwirtschaften<strong><strong>de</strong>r</strong> neuen Welten zu unterstützen, solange sich diese noch nichtselbst tragen konnten.GAIA för<strong><strong>de</strong>r</strong>te auch recht schnell ein Ergebnis zu Tage. Sieprojizierte ein Bild in <strong>de</strong>m Raum, bei <strong>de</strong>ssen Anblick sich JacksEingewei<strong>de</strong> zusammen zogen. Ein schwarzes, zylindrischesRaumschiff war zu sehen, ein ebenfalls eingeblen<strong>de</strong>ter Maßstab gabseine Länge mit 850 Metern an.„Ein Terraformer?“, rief Jack erschrocken aus. Als Anhänger <strong><strong>de</strong>r</strong>Gonerbewegung erkannte er sofort das Design <strong><strong>de</strong>r</strong> gefürchtetenirdischen Robotschiffe, an <strong><strong>de</strong>r</strong>en Rebellion <strong><strong>de</strong>r</strong>einst das alteSternenreich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen zugrun<strong>de</strong> gegangen war, und die nochimmer die biologischen Lebensformen bedrohten.93


„Nicht ganz.“, belehrte ihn GAIA. „Bei <strong>de</strong>m gezeigten Objekthan<strong>de</strong>lt es sich um eine 'Colonial Assistence Unit', kurz CAU. DieseSchiffe waren als mobile Produktionsstätten konzipiert, die neugegrün<strong>de</strong>te Kolonien unterstützen sollten.“Jack war erstaunt: „Davon habe ich noch nie gehört.“„Das ist nicht verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich.“, antwortete GAIA. „Insgesamtwur<strong>de</strong>n nur sechzehn CAUs gebaut, davon die Hälfte aufLandwirtschaft ausgelegt. Es hat nie größeren Bedarf gegeben,weshalb die CAUs auch nicht zur Reproduktion befähigt waren. Diemeisten CAUs wur<strong>de</strong>n während <strong>de</strong>s Terraformerkrieges vernichtet.“„Aber einige existieren noch?“, fragte Foster. „Von <strong>de</strong>nLandwirtschaftlichen, meine ich.“„Sieben wur<strong>de</strong>n zerstört, über <strong>de</strong>n Verbleib <strong>de</strong>s achten, <strong><strong>de</strong>r</strong>'TF/CAU #Edda', nach <strong>de</strong>m Jahre 2426 AD liegen keine Daten vor.“Jack und Foster sahen sich überrascht an. 2426! Das be<strong>de</strong>utete,dass das Schiff nicht nur <strong>de</strong>n Terraformerkrieg überstan<strong>de</strong>n hatte,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong>de</strong>n Feldzug <strong><strong>de</strong>r</strong> Argonen gegen die Xenonzweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre später.„Es gibt aus jenem Jahr einen Eintrag zu diesem Schiff im Buch<strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit. Möchten sie ihn hören? Er ist allerdings suspekt.“,fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer fort.„Hai!“, riefen Jack und Foster wie aus einem Mund ohne sich überGAIAs letzten Kommentar Gedanken zu machen.„Secretissima (15,1-3): Anonymus.“, gab diese zunächst die Stelleim Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit an. Fran Foster runzelte die Stirn. Jackkonnte sich <strong>de</strong>nken warum. Er hatte noch nie von einer anonymenPassage im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit gehört. Foster scheinbar auch nicht.Mehr noch irritierte <strong>de</strong>n Obersten Hüter <strong><strong>de</strong>r</strong> flapsige Ton <strong>de</strong>sEintrags.„'Zu <strong>de</strong>n vergessenen Vermächtnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> gehört das94


Raumschiff Edda. Ihr wür<strong>de</strong>t sicher sagen, dass es ziemlich alt ist.Ich nicht. Als ich sie neulich fand, war Edda noch immer fleißig amSäen und Ernten. Sie hat Vorräte angelegt wie ein Hamster. Das istauch <strong><strong>de</strong>r</strong> Grund, warum ich das hier schreibe. Vielleicht wird die Guteja eines Tages noch mal gebraucht. Sie ist nämlich wirklich eine Gute,das letzte Update <strong><strong>de</strong>r</strong> Terraformer hat sie nicht erhalten. Sie ist nochimmer im untertänigsten Befehlsmodus und wartet auf neue Or<strong><strong>de</strong>r</strong>.Sucht sie nicht, wenn ihr sie nicht wirklich braucht. Gönnt einer altenLady ihre Ruhe. Cant naw ar hugain – dwy ar bymtheg – un ar d<strong>de</strong>ga thrigain – <strong>de</strong>ud<strong>de</strong>g - saith.'“Das alles war sehr mysteriös und Foster wollte nicht ausschließen,dass sich dort jemand einen Scherz erlaubt hatte. Eigentlich solltees im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit keine Eintragungen in einem solchen Stilgeben. Unter an<strong><strong>de</strong>r</strong>em <strong>de</strong>swegen wur<strong>de</strong> je<strong><strong>de</strong>r</strong> Text von an<strong><strong>de</strong>r</strong>enAutoren kontrolliert, bevor er Eingang in das große Geschichtswerkfand. Eigentlich. Aber eigentlich sollte es auch keine Texteanonymer Autoren geben. An<strong><strong>de</strong>r</strong>seits hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> unbekannteVerfasser die CAU #Edda korrekt als ein landwirtschaftlichesFabrikschiff von <strong><strong>de</strong>r</strong> alten <strong>Er<strong>de</strong></strong> beschrieben. Ein beson<strong><strong>de</strong>r</strong>es Rätselblieb <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte Satz, <strong>de</strong>n GAIA nicht zu interpretieren wusste. Sieschätzte jedoch, es han<strong>de</strong>le sich um eine menschliche Sprache undkonnte die bei<strong>de</strong>n Männer nur auf <strong>de</strong>n noch nicht digitalisiertenTeil <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothek verweisen, wo sie unter Umstän<strong>de</strong>n fündigwer<strong>de</strong>n könnten.Fran Foster wählte zunächst einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Weg, schließlicharbeitete an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität <strong>de</strong>s Tempels eine Handvoll Philologen.Er rief sie zu sich, doch keiner schien die Sprache zu kennen. Nichteinmal Achrisa Mbombazi, die be<strong>de</strong>utendste Sprachhistorikerin <strong><strong>de</strong>r</strong>Gonergemeinschaft. Jack fühlte seinen Mut sinken. Er und Achrisamühten sich fast zwei Tage vergeblich durch Wörterbücher und95


Wälzer über Etymologie, als Fran Foster auftauchte und ihnen neueHoffnung machte. Pietro Dusic, ein weiterer Experte für alteSprachen, wäre so eben von einer Forschungsreise zurückgekehrt.Sie erwarteten Dusic und seinen Assistenten im Park <strong><strong>de</strong>r</strong>Bibliothek. Foster hatte Jack vorher erklärt, dass Dusiceindrucksvolle, archäologische Artefakte gefun<strong>de</strong>n habe und sie<strong>de</strong>swegen erst <strong>de</strong>m alten Mann Gelegenheit geben sollten, ihnenseine Fundstücke zu präsentieren. Das tat Dusic <strong>de</strong>nn auch mitgroßer Begeisterung. Jack dachte <strong><strong>de</strong>r</strong>weil an die Hoffnungen, dieIaron Yates in ihn setzte, und daran, wie viel von seiner Reisehierher abhing. Nervös und ungeduldig wartete er daher darauf,dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Mönch zu einem En<strong>de</strong> käme. Foster erlöste ihn schließlichaus seinen Qualen, unterbrach Dusic höflich und bat diesen, sicheinmal die fragliche Passage anzusehen. Der Goner betrachtete <strong>de</strong>nText lange, dann schüttelte er bedauernd <strong>de</strong>n Kopf. Jack meinte ineinem schwarzen Loch aus tiefster Resignation zu versinken.So bemerkte er zunächst nicht, dass sich GAIA plötzlich in dieUnterhaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> fünf Menschen einmischte. „Verzeihen sie bitte dieStörung, aber ich habe soeben eine interessante Abfrage erhalten.Ich schätze, ich kann ihnen jetzt sagen, um welche Sprache es sichhan<strong>de</strong>lt.“„Bekannter ist Kymru unter <strong>de</strong>m Namen Wales.“, erklärte GAIASamuel. „Bei <strong>de</strong>m darstellten Tier han<strong>de</strong>lt es sich um einenDrachen, eine rein fiktive Lebensform, von <strong><strong>de</strong>r</strong>en Existenz jedochviele alte Kulturen <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> ausgingen. Ursprung all dieserDrachenmythen dürften die Fossilien urzeitlicher, irdischerLebensformen gewesen sein, <strong><strong>de</strong>r</strong> so genannten Dinosaurier.Wünschen sie weitere Informationen über Dinosaurier?“Samuel schüttelte <strong>de</strong>n Kopf und GAIA fuhr fort: „Bei dieser96


speziellen Drachendarstellung han<strong>de</strong>lt es sich um einHoheitszeichen <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s Kymru. Der aufdruckte Text ist <strong><strong>de</strong>r</strong>Beginn <strong><strong>de</strong>r</strong> kymrischen Nationalhymne, übersetzen kann ich es -wiegesagt- lei<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht.“ Dann fing sie an, ausführlicher über Wales zudozieren. Samuel hörte nur noch mit einem Ohr zu.Ein irdisches Hoheitszeichen, dachte er, und ließ eine Hand mitehrfürchtiger Scheu über das alte Stück Stoff gleiten. Ein Beweisfür die <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Doch gera<strong>de</strong>zu reflexartig zog er die Hand zurück. Wieimmer befielen ihm Zweifel. Wäre es nicht naiv, dies für einenBeweis zu halten? Denn gab es die <strong>Er<strong>de</strong></strong> nicht, so musste sie sichjemand ausgedacht haben, mit allen Drum und Dran, mit ihrenLän<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Sprachen, urzeitlichen Lebensformen undNationalhymnen. Die Vorstellung eines ganzen Planeten, ja einesganzen Sternensystems, das ausschließlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fantasie wenigerMenschen existierte, war zwar abenteuerlich, aber keineswegsun<strong>de</strong>nkbar. Wer aber Geschichte und Geschichten erschuf, konnteauch dazu passen<strong>de</strong> Gegenstän<strong>de</strong> erschaffen.In diesem Moment wur<strong>de</strong> ihm <strong><strong>de</strong>r</strong> wahre Fluch bewusst, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf<strong>de</strong>n Gonern lastete. Er und all die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Menschen, die ihnennicht glaubten, verlangten Beweise. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> einzig stichfesteBeweis für die Existenz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> konnte nur die <strong>Er<strong>de</strong></strong> selbst sein.Den Zweifeln war daher das ewige Leben beschienen, die <strong>Er<strong>de</strong></strong> aberwür<strong>de</strong> irgendwann in Vergessenheit geraten. Zu seinerVerwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung schmerzte ihn diese Erkenntnis. Glaubte er alsodoch an die <strong>Er<strong>de</strong></strong>? Wegen <strong>de</strong>s Banners, o<strong><strong>de</strong>r</strong> weil er nie aufgehörthatte, an sie zu glauben? Er musste sich eingestehen, es nicht zuwissen. Ein trauriges Lachen entfuhr ihm, als ihm dieMehr<strong>de</strong>utigkeit dieser Einsicht bewusst wur<strong>de</strong>.Er wollte gehen. Die Drachenfahne ließ er zurück. Er hatte ihrGeheimnis ergrün<strong>de</strong>t und fand, die Goner sollten sie haben. Doch97


als er die Kabine verlassen wollte, versagte ihm die Tür <strong>de</strong>n Dienst.„Warten sie doch bitte. Ich war noch nicht fertig.“, sagte GAIA.Beunruhigt drehte sich Samuel um. Seit <strong>de</strong>n unseligen Tagen, in<strong>de</strong>nen die Rebellion <strong><strong>de</strong>r</strong> Terraformingschiffe begonnen hatte, hattees keine Schwierigkeiten mit Künstlichen Intelligenzen gegeben.Was nicht hieß, dass nicht in je<strong>de</strong>m Menschen eine unbewussteAngst vor ihnen schlummerte. Er bemühte sich, äußerlich ruhig zubleiben: „Danke, aber ich weiß, was ich wissen wollte. Und jetztwür<strong>de</strong> ich gerne gehen.“, en<strong>de</strong>te er mit höflicher Bestimmtheit.„Bitte warten sie.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte GAIA. Dann fügte sie hinzu: „Siehaben keine Priorität.“Samuel hielt sich nicht damit auf, über diese Erklärungnachzu<strong>de</strong>nken. Es musste einen Notöffner für diese Tür geben.Hastig tastete er <strong>de</strong>n Holzrahmen ab, als die Tür mit einen Maleauffuhr als wäre nichts gewesen. Hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür stand eine Gruppevon fünf Menschen.„Greenwald-san?“, rief Dusic verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t aus. Verwirrt sah er zu<strong>de</strong>m Stoffbanner hinüber und starrte es ungläubig an. Ihm schienunbegreiflich, woher das Artefakt so plötzlich hergekommen seinmochte.Fran Foster konnte es sich hingegen mühelos zusammen reimen.„Samuel.“, sagte er nur streng und schüttelte ta<strong>de</strong>lnd <strong>de</strong>n Kopf.Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> schwieg, bedachte <strong>de</strong>n Gescholtenen allerdings mit einemBlick aus Augen, in <strong>de</strong>nen blanker Hass lo<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Das irritierteSamuel, Wut hätte er verstan<strong>de</strong>n, auch Enttäuschung aber nichtdiese Feindseligkeit.„Ich nehme an, du hast uns wegen dieser Fahne hergebeten,GAIA?“, fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberste Hüter.„Sehr wohl, Foster-sama.“, antwortete <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer unterwürfig.„Ein linguistischer Abgleich ihrer Abfrage mit diesem Text lässt mit98


hoher Wahrscheinlichkeit vermuten, dass es sich um die selbeSprache han<strong>de</strong>lt. Die fragliche Passage im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit wäre<strong>de</strong>mnach in Walisisch verfasst. Die Bän<strong>de</strong> eines entsprechen<strong>de</strong>nWörterbuches fin<strong>de</strong>n sie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibliothek unter <strong><strong>de</strong>r</strong> SignaturPhLKym 1.“Dann beschrieb GAIA <strong>de</strong>n genauen Standort <strong><strong>de</strong>r</strong> Bücher. HüterinMbombazi eilte umgehend los, sie zu holen. Samuel versuchte<strong><strong>de</strong>r</strong>weil, sich bei Fran Foster für das Entwen<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Fahne zuentschuldigen und zu erklären, dass er sie nicht hatte behaltenwollen. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberste Hüter gebot ihm zu schweigen. Er sei, sosagte er, nicht an Ausflüchten interessiert.Nach<strong>de</strong>m Mbombazi zurückgekehrt war, zeigte sich, dass es sichum Zahlen han<strong>de</strong>lte. Dusic vermutete Querverweise auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>eStellen <strong>de</strong>s Buches <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit, aber die Überprüfung för<strong><strong>de</strong>r</strong>tenichts Schlüssiges zu Tage. Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> weiterhin nicht wusste,worum es eigentlich ging, und sich auch nicht traute, danach zufragen, äußerte vorsichtig die Vermutung, es könnten Koordinatensein.Luvis griff diese I<strong>de</strong>e begeistert auf, auch Foster erkannte, dassdiese Interpretation Sinn ergab. Auf Nachfrage gab GAIA an, dieKoordinaten lägen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Umlaufbahn eines Planeten in einembislang kaum erforschten Sektor. Sie blen<strong>de</strong>te eine Karte ein. Dasnamenlose Sternensystem lag irgendwo in <strong>de</strong>m unerschlossenenWeiten jenseits von Aldrin.„Die unerforschten Gebiete.“, murmelte Fran Fosterbe<strong>de</strong>utungsschwer. Sein nach<strong>de</strong>nkliches Gesicht wandte sichSamuel zu.99


10 – Kami no Michi„Susanoo herrschte nicht über das Reich, mit <strong>de</strong>m er versehen ward,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n schrie und weinte. […] Solcherart war sein Weinen, dass die grünenBerge zu ö<strong>de</strong>n Bergen verdorrten und alle Flüsse und Meere austrockneten.[…] Da sprach <strong><strong>de</strong>r</strong> große, erhabene Kami Izanagi zu Susanoo: Wie kann essein, dass statt über das Land zu herrschen, mit <strong>de</strong>m ich dich versehen, duklagest und weinest? Er antwortete und sprach: Ich klage, weil ichaufzubrechen wünsche in das Land meiner verstorbenen Mutter, in dasferne Tiefland. Darob war <strong><strong>de</strong>r</strong> große, erhabene Kami Izanagi sehr erzürntund sprach: Wenn <strong>de</strong>m so ist, sollst du in <strong>de</strong>m Land nicht heimisch sein!Und sogleich vertrieb er ihn.“Shinto (Buch Kojiki)Eine Raumstation wie Jorges Hafen zu besitzen war eindrucksvoll,doch wirklichen stolz war Le Requin auf seine Honi, sein, wie er esnannte, 'kleines An<strong>de</strong>nken aus Kriegstagen'. Was so nicht stimmte,<strong>de</strong>nn er hatte das Schiff kurz vor Kriegsen<strong>de</strong> gekauft als esausgemustert wer<strong>de</strong>n sollte. Doch sah er keinen Grund, es damitallzu genau zu nehmen. Da <strong><strong>de</strong>r</strong> leichte Träger ihm als mobilesHauptquartier diente, war er häufiger dort als an Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> altenHan<strong>de</strong>lsstation, wo ihm Samuel so unerwartet über <strong>de</strong>n Weggelaufen war. Er hätte <strong>de</strong>n Piloten wahrlich gerne wie<strong><strong>de</strong>r</strong>beschäftigt, auch wenn er wusste, dass Samuel tatsächlich zu vieleSkrupel für das Geschäft besaß. Dahingehend hatte er ihn früherfalsch eingeschätzt. Es war ein Fehler gewesen, ihn mit Aufgaben zubetrauen, die einen gröberen Charakter als <strong>de</strong>n seinen erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ten.Schließlich hatte er genug Leute für solche Zwecke, aber nichtgenug bedachte Piloten.Dann war Samuel mit diesen Gonern aufgebrochen bevor LeRequin ihn ein weiteres Mal sprechen konnte. Immerhin hatten sich100


nun scheinbar an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Möglichkeiten eröffnet. Mit Interesseerwartete er Mazukos Bericht. Auch Jako war von einer Fahrtzurück und wollte ihn sprechen. Le Requin hatte ihm ausrichtenlassen, zu warten. So wie er Jako kannte, hatte dieserwahrscheinlich nur einen kleinen Frachter aufgebracht. Von ihmwar nichts von größerem Belang zu erwarten.Während sein Blick abwesend über die Waffensammlung seinerKabine schweifte, dachte er weiter über Samuel Greenwald nach. Ererinnerte sich wie Samuel – kaum volljährig – damals in sein Büroin Argonia City gekommen war, nach<strong>de</strong>m ihn die staatlicheRekrutierungsstelle abgelehnt hatte. Warum sie das getan hatte warunklar, jedoch erging es vielen Gonern so, wenngleich die Behör<strong>de</strong>einen <strong><strong>de</strong>r</strong>artigen Zusammenhang stets vehement bestritten hatte.Samuel aber wollte zur argonischen Armee o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch wenigstens,da dies nicht möglich war, zu <strong>de</strong>n privaten Streitkräften. Er wolltesich im Krieg auszeichnen, zumin<strong>de</strong>st hatte er das damals gesagtund vermutlich auch selbst geglaubt.Tatsächlich war Le Requin schnell klar gewesen, dass er nur vonseinem heimatlichen Mond fort wollte, da er sich auf Ringo zu To<strong>de</strong>langweilte. Le Requin musste grinsen. Er schätzte die Langeweilehoch. Er wäre in seinem Leben niemals so weit gekommen ohne dieLangeweile junger Burschen, die diese verleitete, alles zu tun,solange es nur aufregend war. Doch Samuel war an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, viel stärkerals ihm selbst bewusst zu sein schien. Er glaubte sein früheresLeben hinter sich gelassen zu haben, doch Le Requin wusste esinzwischen besser. Samuels gonerische und religiöse Erziehungbestimmte ihn noch immer. Ohne es zu wissen, hing er viel zuvielen I<strong>de</strong>alen an, um sich einem lebensnahen Pragmatismushingeben zu können.Dabei schlossen sich diese Größen gar nicht grundsätzlich aus,101


wie er wusste. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass sich auch undgera<strong>de</strong> regelrechte Fanatiker äußerst pragmatisch zeigen konnten.Samuel war <strong>de</strong>mentsprechend bei Weiten nie sein einzigerGefolgsmann gewesen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner und religiös war. Mazuko etwagehörte zu ihnen.Im Gegensatz zu <strong>de</strong>n meisten Menschen wusste Le Requin um <strong>de</strong>nfeinen Unterschied zwischen Gonertum und Religionen, dassersteres nicht zu letzteren gehörte, und dass die Anhänger <strong>de</strong>seinen, nicht Anhänger <strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>en sein mussten. Die Schnittmengewar freilich immens hoch, was daran lag, dass fast alle Religionenheilige Stätten kannten und somit quasi automatisch dieErinnerung an die <strong>Er<strong>de</strong></strong> mit bewahren und überliefern mussten. Ingewisser Weise war Le Requin selbst Goner. Zumin<strong>de</strong>st hatte ernicht <strong>de</strong>n Hauch eines Zweifels daran, dass die <strong>Er<strong>de</strong></strong> existierte. O<strong><strong>de</strong>r</strong>doch immerhin existiert hatte, <strong>de</strong>nn viel fraglicher als ihre Existenzselbst schien Le Requin die gonerische Annahme, dass Nathan R.Gunne mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zerstörung <strong>de</strong>s Sprungtors die <strong>Er<strong>de</strong></strong> tatsächlichgerettet hatte. Dennoch hätten ihn die Goner wohl nicht als einen<strong><strong>de</strong>r</strong> ihren betrachtet. Für sie galt nämlich nur <strong><strong>de</strong>r</strong>jenige als Goner,<strong><strong>de</strong>r</strong> das Wissen über die <strong>Er<strong>de</strong></strong> auch aktiv verbreitete. Doch dazuhatte sich Le Requin niemals berufen gefühlt. Es brachte zu wenigein.Mit <strong>de</strong>n Religionen verbannt ihn weniger. Als Kind hatte er Taufe,Firmung und Erstkommunion durchlaufen. Doch was be<strong>de</strong>utetedas schon? Er hielt sich für rational, mit zynische Zügen, die er sichproblemlos eingestand. Demgemäß hatte er sich innerlich nie mit<strong><strong>de</strong>r</strong> Religion verbun<strong>de</strong>n gefühlt. Von außen in<strong>de</strong>s faszinierte sie ihn.Die Religion besaß interessante psychologische Implikationen, dieviel stärker als die Ratio <strong>de</strong>n Menschen zu einem Verhalten bewegenkonnten, das seiner Evolution zuwi<strong><strong>de</strong>r</strong> lief. Er hatte Söldner102


kommandiert, jetzt kommandierte er Piraten. Doch für Geld gingkeiner von ihnen in <strong>de</strong>n Tod. Der Selbsterhaltungstrieb war <strong><strong>de</strong>r</strong>Feind je<strong>de</strong>s Befehlshabers, sagte er immer. I<strong>de</strong>ologien, zu <strong>de</strong>nenletztlich auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Patriotismus gehörte, konnten ihn mitunterüberwin<strong>de</strong>n, Religionen konnten es besser.Le Requin ging davon aus, dass alle Religionen einstmals von sehrintelligenten Menschen erfun<strong>de</strong>n wor<strong>de</strong>n waren, welche dieGruppen, die sie beherrschten, damit nach innen befrie<strong>de</strong>n undnach außen in eine gefährliche Waffe umwan<strong>de</strong>ln wollten. Sichselbst hielt er für ebenso intelligent, weshalb es ihn manchmalreizte, eine eigene, speziell auf Piraten zugeschnittene Religion zuerschaffen. An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits war es viel einfacher, existente Kulte undRiten für seine Zwecke zu gebrauchen.Er erhob sich aus seinem schwarzen Sessel. Genug <strong>de</strong>sMüßigganges, rief er sich selbst zur Ordnung. Mazuko sollteinzwischen genug gebetet haben, Le Requin wollte seinen Berichthören.„Captain!“ Jako, <strong><strong>de</strong>r</strong> scheinbar direkt vor seiner Kabineherumgelungert hatte, salutierte zackig. „Ich habe...“„Später.“, schnitt ihm Le Requin im Vorbeigehen das Wort ab.„Aber es ist wichtig, Sir.“Der Piratenhauptmann blieb stehen und erwog einen kurzenMoment, Jako dafür zu bestrafen, dass er unerlaubt das Wort anihn gerichtet hatte, verwarf <strong>de</strong>n Gedanken aber wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Dennochwinkte er Trakh und Zha zu sich, die ein Stück weiter an einemTisch saßen und Klanesth spielten. Die stumme Geste genügte, umJako erblassen zu lassen. Ganz so dumm war er wohl doch nicht,dachte Le Requin grimmig. Er setzte ein Lächeln auf undantwortete: „Ich weiß, Jako, später.“ Zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Split sagte er:103


„Folgt mir!“Wie er erwartet hatte, fand er Aki Tom Mazuko im Sacré Cœur, <strong><strong>de</strong>r</strong>ehemaligen Offiziersmesse. Le Requin fand es albern, seinen Leutenmilitärische Ränge zu verleihen wie es manch an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Piratenführertat. Er schrieb dies seiner großen Vernunft zu. In Wahrheitgrün<strong>de</strong>te seine Ablehnung dieser Praxis in <strong><strong>de</strong>r</strong> Verachtung, die ergegenüber seinem früheren Ich hegte. Denn André Renard hatte esim Krieg nicht geschafft, höher als bis zum Oberleutnantaufgestiegen, zu wenig für einen ehrgeizigen Charakter wie ihn. Aufje<strong>de</strong>n Fall gab es <strong>de</strong>swegen, abgesehen von Le Requin selbst, keineOffiziere an Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> Honi und ihre Offiziersmesse konnte an<strong><strong>de</strong>r</strong>sgenutzt wer<strong>de</strong>n. Der zentral gelegene Sacré Cœur diente statt<strong>de</strong>ssenals Andachtsraum für alle Mannschaftsmitglie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die religiöseNeigungen verspürten.Le Requin betrat die Messe durch die einzige Zugangstür. IhrRahmen war in <strong><strong>de</strong>r</strong> Form eines shintoistischen Torii gestaltet. Dasrote Holztor mit seinen zwei leicht geschwungenen Querbalkenkennzeichnete <strong>de</strong>n Zugang zu einem heiligen Ort. Drinnen wirkte<strong><strong>de</strong>r</strong> Raum wie von einem exzentrischen Kunstsammler eingerichtet.In Anbetracht <strong>de</strong>ssen, dass er selbst das meiste davon zusammengetragen hatte, stimmte <strong><strong>de</strong>r</strong> Eindruck sogar irgendwie, dachte LeRequin innerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Grenzen <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm möglichen Selbstironie. Mitnichts in diesem Raum verband ihn ein Gefühl von Ehrfurcht o<strong><strong>de</strong>r</strong>Heiligkeit, trotz<strong>de</strong>m liebte er das ganze bunte Durcheinan<strong><strong>de</strong>r</strong> sehr.Als erstes begrüßte eine mit echter Goldfarbe verzierte Marienikone<strong>de</strong>n Hereinkommen<strong>de</strong>n, umrahmt von <strong>de</strong>n unterschiedlichenKreuzformen <strong><strong>de</strong>r</strong> Kirchen. Eine islamische Gebetsnische zeigte zumHeck <strong>de</strong>s Schiffes, da die Gläubigen Mekka seit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zerstörung <strong>de</strong>sErdsprungtors versinnbildlicht hinter sich hatten lassen müssen.Etwa ein Dutzend Kultbil<strong><strong>de</strong>r</strong> war über <strong>de</strong>n ganzen Raum verteilt.104


Zentrale Stellen nahmen Buddha, Shiva und Astrana ein. Letzterewar die erst im Laufe <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te entstan<strong>de</strong>neVoodoogöttin <strong>de</strong>s Weltraums. In einer dunklen Ecke stand ein mitbraunen Blutflecken übersäter Opferaltar für die Himmelsbestien<strong><strong>de</strong>r</strong> Split. Etwas weiter hing sogar ein Bild Jorges. Darunter brannteeine Kerze.Als Le Requin <strong>de</strong>n Sacré Cœur betrat, ruckte Aki Tom Mazuko auseiner Verbeugung hoch, die er vor einem Ahnenschrein vollführthatte. Shintoisten waren in einem weit stärkeren Maße an ihreheiligen Stätten gebun<strong>de</strong>n als die Angehörigen an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Religionen,was im Weltraum beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s einschnei<strong>de</strong>nd für die Möglichkeitenihres Kultes war. Doch ein findiger Priester war zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinunggelangt, dass, da man das genetische Erbe seiner Ahnen in sichtrug, je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch stets auch eine Verbindung zu <strong><strong>de</strong>r</strong>en geistigenErbe hatte, egal wo er sich befand und wo seine Ahnen gelebthatten.Mazuko verbeugte sich ein weiteres Mal, diesmal vor Le Requinund weniger tief. „Captain-san.“Le Requin wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich, wie fließend und elegant dieVerbeugung, ja eigentlich je<strong>de</strong> Bewegung seines Gefolgsmanneswirkte, obwohl doch all die Waffen, die er am Körper trug, rechthin<strong><strong>de</strong>r</strong>lich dabei sein mussten. „Excuses-moi, Aki, ich wollte dichnicht in <strong>de</strong>iner Andacht stören.“„Doch wollten sie, sonst wären sie nicht hierher gekommen.“,stellte Mazuko selbstbewusst fest. Er hatte keine Schwierigkeiten,Le Requins Einsprengsel alter Sprache zu verstehen. Wer öfters mitihm zu tun hatte, kannte die Be<strong>de</strong>utung seiner französischenFloskeln zur Genüge. „Aber meine Andacht, wie sie es nennen, istnun been<strong>de</strong>t. Ich habe sie warten lassen, Captain-san. Verzeiht.“ Erverbeugte sich abermals. „Nun aber habe ich euch Bericht zu105


erstatten. 'Alles hat seine Zeit und alles Tun hat seine Stun<strong>de</strong>'.“„Das ist aber nicht aus <strong>de</strong>m Shinto.“„Nein, aber es ist weise.“ Mazuko lächelte schwach. „Sie hattenrecht, es lohnte sich, diesen Greenwald zu verfolgen.“Elen<strong><strong>de</strong>r</strong> Schmeichler, dachte Le Requin, verzog aber keine Miene.Schließlich war es Mazukos eigene I<strong>de</strong>e gewesen, <strong>de</strong>n Schmugglerund die Goner im Auge zu behalten. Aki Tom hatte einerstaunliches Gespür für lohnen<strong>de</strong> Gelegenheiten. „Und was warnun diese ominöse Fracht, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner transportiert habenwollte?“, fragte Le Requin.„Irdisches!“ Mazukos Augen leuchteten verzückt auf. „Sie habenein terranisches Schiffswrack ent<strong>de</strong>ckt, hier in <strong><strong>de</strong>r</strong> 'Heimat <strong>de</strong>sLichts'. Dann haben sie die Artefakte zum Tempel gebracht.“„Terranisch? Wie sicher ist das?“, fragte er skeptisch.Mazuko warf Le Requin einen verächtlichen Blick zu. Dieser lachtein sich hinein. Doch, dachte er, man konnte Aki Tom seinegelegentlichen Schmeicheleien verzeihen.„Inzwischen sind sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>n Weg zurück zur Heimat <strong>de</strong>sLichts. Ihr Ziel ist Copertino.“„Schön, aber was habe ich davon?“, verlangte Le Requin zu wissen.„Unser Informant im Tempel berichtet, Greenwald und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>enhätten die Koordinaten eines Terraformers ent<strong>de</strong>ckt, <strong><strong>de</strong>r</strong> im großenStil Getrei<strong>de</strong> bunkert.“Le Requin runzelte irritiert die Stirn. Ein Terraformer, also einXenonschiff, das Getrei<strong>de</strong> anbaute, war eine son<strong><strong>de</strong>r</strong>bareVorstellung. Allerdings kannten sich Goner bestens mit <strong>de</strong>n Xenonaus und auch Mazuko hatte sich selten geirrt. Zu<strong>de</strong>m war er schonviele Jahre im Weltraum unterwegs und hatte viel merkwürdigereDinge gesehen. Er entschied sich daher, es erst einmal zu glauben.Sein Interesse war augenblicklich geweckt. Was ihm beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in106


<strong>de</strong>n Ohren nachhallte waren die Worte 'im großen Stil'.„Du kennst die letzten Meldungen von Argon Prime?“, fragte er.„Hai.“, bestätigte Aki Tom. Er grinste breit und bösartig: „Ichkenne sie.“„Ich auch.“, sagte da jemand hinter ihnen.Die bei<strong>de</strong>n Männer drehten sich zu <strong>de</strong>m Sprecher um. Es warJako. Hinter ihm drucksten Trakh und Zha unruhig herum. Diezwei abergläubigen Split betraten <strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>n Ebenbil<strong><strong>de</strong>r</strong>nzahlreicher Götter versehene Sacré Cœur nur äußerst wi<strong><strong>de</strong>r</strong>willig.Sie wussten aber, dass je<strong><strong>de</strong>r</strong> an Bord freien Zugang hatte. LeRequin vermutete, dass sie Jako <strong>de</strong>swegen hatten passieren lassen.„Ich habe mir daher gleich einen Weizentransport gekrallt, <strong><strong>de</strong>r</strong>nach Argon wollte.“, führte Jako stolz aus. „Ich sag's ihnen,Captain, die wer<strong>de</strong>n die Ladung wie<strong><strong>de</strong>r</strong> haben wollen und wirkönnen jetzt je<strong>de</strong>n Preis verlangen.“Le Requin seufzte resigniert. Er wechselte einen Blick mit Aki Tom.Dieser machte einen wüten<strong>de</strong>n und beunruhigten Eindruck.Immerhin, stellte Le Requin fest, dachten ein paar seinerGefolgsleute nach.„Ja-ko.“, sagte er ge<strong>de</strong>hnt. „Ist dir jemals in <strong>de</strong>n Sinn gekommen,es könnte Grün<strong>de</strong> dafür geben, dass wir so selten Ärger mit <strong>de</strong>nargonischen Streitkräften haben?“„Unser... unser Versteck ist so gut?“, tippte Jako unsicher. Esklang nicht so, als überzeuge ihn die Antwort selbst.Le Requin atmete tief ein und aus, dann wandte er sich zu Mazukoum: „Möchtest du vielleicht?“Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Angesprochene verzog nur angewi<strong><strong>de</strong>r</strong>t das Gesicht undblickte <strong>de</strong>monstrativ weg. Unter seiner Wür<strong>de</strong>, erkannte Le Requinnicht ohne Belustigung. Er wies daher die bei<strong>de</strong>n Split an, sich umJako zu kümmern. Denn auch Le Requin hatte seine Vorstellungen107


einer besseren Welt. In seiner Version davon sollte Dummheit wehtun.Jako begriff sofort. Als die Split ihn hinaus zerrten, versuchte ersich zu rechtfertigen. „Aber Captain! Wir... wir haben doch schon oftArgonen überfallen!“, schrie er verzweifelt.Le Requin gebot seinen Schergen Einhalt. „Ich bezweifle zwar, dasses in meiner Macht steht, ein solches Wun<strong><strong>de</strong>r</strong> zu vollbringen. Abergut, ich kann zumin<strong>de</strong>st versuchen, dich nicht dumm sterben zulassen. Oui, bien sûr, wir überfallen argonische Frachter. Hier maleinen, da mal einen. Weißt du was das für die Zollunion ist?Wespenstiche. Manchmal, ja manchmal, auch kleinere Wun<strong>de</strong>n,dann ist ein bisschen Geld an <strong>de</strong>n richtigen Stellen erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich.Aber hier geht es um die Zukunft von Argon Prime. Und wenn dudich ernsthaft mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zollunion anlegen willst, solltest du mehr in<strong><strong>de</strong>r</strong> Hand haben als eine lumpige Schiffsladung Weizen!“Dann winkte er Trakh und Zha weg und sie schleppten Jako mitsich fort. Dessen Schreie entfernten sich rasch. „Und genau daswer<strong>de</strong>n wir: Mehr in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand haben, nicht wahr?“Hinter ihm verbeugte sich Mazuko. „Hai, Captain-san.“, antworteteer und verließ <strong>de</strong>n Sacré Cœur.108


11 – Sankt Copertin„Es scheint in unserer Art zu liegen, dass wir nur dann sinnvoll über unserHan<strong>de</strong>ln entschei<strong>de</strong>n zu können scheinen, wenn wir die Gefahren <strong>de</strong>sfalschen Weges schon kennen. So sind wir <strong>de</strong>nn verdammt, alle falschenWege einmal zu gehen. Bis Kain Abel erschlug hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch die wahreBe<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Entscheidung über Leben und Tod nicht erkannt. DiesesSchema zieht sich durch unsere Geschichte bis hin zur Rebellion <strong><strong>de</strong>r</strong>Terraformingeinheiten. Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Künstlichen Intelligenz habenwir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einen falschen Weg beschritten, haben wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Tragweiteeiner Entscheidung erst hinterher erkannt und so wur<strong>de</strong>n wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aus<strong>de</strong>m Paradies vertrieben. Wir sind wie Kain. Unser aller Heimat ist <strong>Nod</strong>.“Hüter 15, 12-15 (Fran Foster)In früheren Zeiten hatte man Sterne und Planeten nur daranauseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>halten können, dass die einen fest am Himmel stan<strong>de</strong>nund sich die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en bewegten. Davon abgesehen waren sie allemiteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> Lichtpunkte, die noch über viele AstronomischeEinheiten hinweg zu sehen waren. Ein kleiner Asteroid wieCopertino in<strong>de</strong>s enthüllte sich <strong>de</strong>m Auge erst in unmittelbarerNähe. Dann aber schien es <strong>de</strong>m Betrachter, als wür<strong>de</strong>n dieDimensionen regelrecht explodieren. Ein kleiner hellgrauer Fleck,<strong><strong>de</strong>r</strong> sich vor <strong>de</strong>m sich nähern<strong>de</strong>n Schiff zu einem Gebil<strong>de</strong>heranwuchs, das mehr und mehr an Konturen und Kontrastengewann. In diesem Fall war <strong><strong>de</strong>r</strong> Effekt umso stärker als <strong><strong>de</strong>r</strong> Asteroidmit künstlichen Strukturen übersät war. Das Weltraumkloster,<strong>de</strong>ssen Türme und Kuppeln aus <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n flachen Seiten <strong>de</strong>sGesteinsbrocken heraus stachen, hätte selbst wie ein altes, nochhalb von <strong>Er<strong>de</strong></strong> be<strong>de</strong>cktes, archäologisches Artefakt wirken können,wäre da nicht seine schnelle Rotation gewesen.Dem Bordcomputer <strong><strong>de</strong>r</strong> AP Chuzpe bereitete die Eigenbewegung109


<strong>de</strong>s Asteroi<strong>de</strong>n keine Schwierigkeiten. Automatisch passten dieSteuerdüsen <strong>de</strong>n Kurs <strong>de</strong>s Frachters <strong><strong>de</strong>r</strong>gestalt an, dass das Schiffgemächlich über die farbigen Glaskuppeln <strong><strong>de</strong>r</strong> Gewächshäuserhinweg zog und zur Landung auf <strong>de</strong>m großflächigen Lan<strong>de</strong>feldansetze. Während sein Schiff nie<strong><strong>de</strong>r</strong>ging, bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>te Samuel dieAnsammlung <strong><strong>de</strong>r</strong> dort versammelten Raumfahrzeuge. DasDurcheinan<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Farben und Formen zeigte an, dass diewirtschaftliche Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbasis im gleichen Maße wie dievon Jorges Hafen zugenommen hatte. Auch Raumschiffeaußerirdischer Herkunft waren zu sehen. Ein boronischesForschungsschiff mit seinen pflanzenhaften Auswüchsen hatte dieweite Reise von Nishala hierher unternommen. Daneben standsogar ein paranidischer Transporter. Ein äußerst seltener Anblick,<strong>de</strong>nn Parani<strong>de</strong>n mie<strong>de</strong>n nach Möglichkeit <strong>de</strong>n Han<strong>de</strong>l und je<strong>de</strong>nsonstigen Umgang mit Menschen o<strong><strong>de</strong>r</strong> irgendwelchen an<strong><strong>de</strong>r</strong>enLebensformen außer ihren Artgenossen. Dominiert wur<strong>de</strong> dasLan<strong>de</strong>feld aber von einer Reihe matt violett lackierter Raumer, diemit einem Kreuzzeichen versehen waren. Samuel erkannte dieMo<strong>de</strong>lle als 'Sanitras', schnelle Lazarettschiffe, die vom Militärinzwischen nach und nach ausgemustert wur<strong>de</strong>n.Nach<strong>de</strong>m die Chuzpe aufgesetzt hatte, schob sich vom Raumhafeneine Gangway heran und wenig später stan<strong>de</strong>n Samuel, Dusic undRi<strong><strong>de</strong>r</strong> im Empfangsbereich <strong>de</strong>s Klosters. Hoch über ihren Köpfenschwebte eine Projektion <strong>de</strong>s Johannes von Copertin. DerSchutzheilige <strong><strong>de</strong>r</strong> Raumfahrer schlug angelegentlich mit <strong>de</strong>nausgebreiteten Armen wie ein Vogel im Gleitflug. Samuel verkniffsich ein Lachen, welches die Mönche sicherlich ungern hörten.Da es hier im Gegensatz zu vielen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Raumhäfen kaumLa<strong>de</strong>nlokale gab, hielten sich nur wenige Besucher in diesemBereich auf. Einige kamen Samuel bekannt vor. Doch das war nicht110


verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich, <strong>de</strong>nn so alltäglich die Raumfahrt auch gewor<strong>de</strong>nwar, die Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Raumpiloten blieb überschaubar. Frachterpilotenund Schmuggler hatten ihre festen Routen, die sich beständigkreuzten. In zentral gelegenen Raumhäfen lief man sich daher fastzwangsläufig immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> über <strong>de</strong>n Weg. Ein athletischer, hochgewachsener Mann in einem unauffälligen, hellblauen Overall fielSamuel auf. Er saß auf einer Bank und schien auf irgendwen zuwarten. Auch ihn meinte Samuel schon einmal gesehen zu haben,konnte ihn aber nicht wirklich einordnen. Der Schwarzhaarigemachte in<strong>de</strong>s nicht <strong>de</strong>n Eindruck, Samuel ebenfalls zu erkenneno<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nur zu beachten, und so lenkte dieser seineAufmerksamkeit statt<strong>de</strong>ssen auf einen blon<strong>de</strong>n, älteren Mönch, <strong><strong>de</strong>r</strong>sich freu<strong>de</strong>strahlend auf die Gruppe <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Menschen zu bewegte.Im Gegensatz zu <strong>de</strong>m holografischen Heiligen flog er nicht, dochzeugten seine weiten, schwungvollen, nahezu springen<strong>de</strong>n Schrittedavon, dass die Gravitation <strong>de</strong>s kleinen Himmelskörpers trotzkünstlicher Verstärkung recht niedrig war.Natürlich hatte man sie erwartet. Die Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>schaft von SanktCopertino hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in Not gerateneRaumfahrer zu unterstützen. Um auf möglichst viele Notrufereagieren zu können, unterhielten sie ihre eigene Flotte. Fran Fosterhatte Dusics Expedition zunächst hierhin geschickt, <strong>de</strong>nn Copertinohatte bessere Möglichkeiten ein Raumschiff für eine Mission in <strong>de</strong>nTiefenraum auszurüsten als <strong><strong>de</strong>r</strong> Tempel. Der Oberste Hüter hatte<strong>de</strong>swegen das Kloster bereits informiert und gebeten, allesErfor<strong><strong>de</strong>r</strong>liche vorzubereiten.Der Mönch, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie in Empfang nahm, stellte sich als PaterVre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik vor. Er begrüßte Dusic beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s herzlich, <strong>de</strong>nn bei<strong>de</strong>waren alte Freun<strong>de</strong>. Durch die Panoramascheibe konnten siebeobachten, wie draußen die Chuzpe in einer Schiene arretiert111


wur<strong>de</strong> und vom Lan<strong>de</strong>feld in eine Halle gezogen wur<strong>de</strong>.„Gratis Generalüberholung, nett. Dann habe ich also auch etwasvon diesem komischen Unterfangen.“, kommentierte Samuel betontunbeeindruckt.Doch die Ruhe, die er mühsam zu vermitteln versuchte, war nurgespielt und papierdünn. Er konnte nicht leugnen, dass ihn dieserAuftrag, <strong>de</strong>n er anfänglich nur so wi<strong><strong>de</strong>r</strong>willig angenommen hatte,innerlich zunehmend aufwühlte. Seit<strong>de</strong>m sie das Wrack gefun<strong>de</strong>nhatten, hatte er manche Nacht wach gelegen und sich gefragt, waser glaubte und was er glauben wollte. Hatten sie die Existenz <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Er<strong>de</strong></strong> nun bewiesen und er wollte dies nicht wahrhaben? O<strong><strong>de</strong>r</strong>verhielt es sich genau umgekehrt, dass er sich nicht damit abfin<strong>de</strong>nwollte, erneut keinen endgültigen Beweis gefun<strong>de</strong>n zu haben? Anwie viele Wahrheiten konnte man gleichzeitig glauben, ohneverrückt zu wer<strong>de</strong>n? Die <strong>Er<strong>de</strong></strong>, die Menschheit, er selbst. Zu vieleFragen. Sein Leben lang hatten die Antworten außer je<strong><strong>de</strong>r</strong>Reichweite gelegen, waren irgendwo in <strong><strong>de</strong>r</strong> Unendlichkeit aus Raumund Zeit verloren gegangen. Dort draußen im endlosen Nichtshatten sie ihn nicht gekümmert. Doch nun war es, als könne erdieser Antworten habhaft wer<strong>de</strong>n, was es nur schmerzhaftermachte, sie nicht zu kennen.Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik bot an, seine Besucher im Kloster herum zu führen,während sie auf die Ausrüstung ihres Schiffes warten mussten.Doch Dusic, <strong><strong>de</strong>r</strong> die Anlage kannte, zog es vor, die Klosterbibliothekzu durchstöbern, in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hoffnung, mehr über das Schiff Edda inErfahrung zu bringen. Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um entschuldigte sich mit <strong><strong>de</strong>r</strong>Begründung, noch einigen Bekannten schreiben zu wollen, un<strong>de</strong>ntschwand in <strong><strong>de</strong>r</strong> Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong> stationsinternenNachrichtendrohnenrampe. So blieb Samuel als einziger Teilnehmer<strong><strong>de</strong>r</strong> Führung zurück.112


Sie begann in <strong><strong>de</strong>r</strong> Klosterkapelle. Für eine Kirche war ihre Formungewöhnlich. Abgesehen vom etwas abgesetzten Altarraum war<strong><strong>de</strong>r</strong> Raum kreisrund. Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik erklärte, dass dies an <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaskuppelläge, welche die Kapelle überspanne. Diese entspräche in Form undGröße <strong>de</strong>njenigen, unter <strong>de</strong>nen sich die Fel<strong><strong>de</strong>r</strong> und Gärten <strong>de</strong>sKlosters erstreckten, was <strong><strong>de</strong>r</strong> gefälligen Optik <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Anlagediene. Samuel war keineswegs <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung, dass Copertino vonAußen einen harmonischen Gesamteindruck vermittelte, unterließaber einen entsprechen<strong>de</strong>n Kommentar. Kurz heftete sich sein Blickauf das Holzkreuz über <strong>de</strong>m Altar. Da hing die erbarmenswerteGestalt <strong>de</strong>s Mannes, <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen wie Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik und Dusic vonseinen Eltern unterschied.Auf Argon Prime existierte die Re<strong>de</strong>nsart: 'Wer zwei Gonern eineFrage stellt, erhält drei Antworten.' Ja, dachte Samuel bitter, dassdie Menschen von <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> stammen und die <strong>Er<strong>de</strong></strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> schönste Ortim Universum sei, darin waren sich die Goner einig, doch worinsonst? Da blieb nicht viel übrig. Es war kein Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass nurwenige Argonen die Gonerbewegung ernst nehmen konnten. So wieer es selbst lange nicht gekonnt hatte. Er wusste nicht einmal, ob ersie jetzt ernst nahm, war doch Dusic für ihn ein gutherziger, aberverzettelter Professor und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> ein unreifer Bengel.Sie verließen die Kirche und ließen die anschließen<strong>de</strong>n Wohn- undGästetrakte links liegen, weil dort wenig Außergewöhnliches zusehen war. Statt<strong>de</strong>ssen führte Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik seinen Gast durch dielandwirtschaftlichen Biosphärenkuppeln. Samuel, auf einemagrarisch geprägten Himmelskörper aufgewachsen, langweilte sichwährend sie die Reihen <strong><strong>de</strong>r</strong> Tomatenstau<strong>de</strong>n und Maisfel<strong><strong>de</strong>r</strong>abschritten und schläfrigen Argnus beim Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>käuen zusahen.Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik hingegen schien ehrlich begeistert und fasziniert, so alswäre es trotz eines halben Jahrtausends an Erfahrung im113


aumgestützten Ackerbau ein unbegreifliches Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>, dass manauf seinem Asteroi<strong>de</strong>n Kartoffeln ernten konnte.Sie näherten sich <strong>de</strong>m Durchgang zur nächsten Kuppel als dieBegeisterung <strong>de</strong>s Priesters schlagartig <strong>de</strong>m Ernst wich. „Was sienun zu sehen bekommen, wird sie wahrscheinlich nicht erstaunen,Greenwald-san.“, bemerkte er traurig.Doch er irrte sich. Als sich das Zwischenschott öffnete, überblickteSamuel irritiert eine große Wiese fast mannshohen, strohgelbenGrases. Er hatte einmal eine Dokumentation über dieHalarisavanne auf <strong>de</strong>m Planeten Sandwell gesehen. Die Ähnlichkeitwar so frappierend, dass er einen Augenblick lang erwartete, gleicheine Antilope aus <strong>de</strong>m pflanzlichen Meer herausspringen zu sehen.Dann aber erkannte er, worum es sich han<strong>de</strong>lte. „Ist das...?“, setzteer zu einer Frage an, die nicht so recht heraus wollte.Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik nickte. „Unsere Gemeinschaft ist auch auf Delex LC 34umgestiegen. Wir säten Hochmut und ernteten Demut.“„Ich hatte es noch nicht gesehen.“, gestand Samuel ein undaugenblicklich wechselte ihr Gespräch zu <strong>de</strong>n Vorbereitungen <strong><strong>de</strong>r</strong>bevorstehen<strong>de</strong>n Mission.„Eure Leute wer<strong>de</strong>n mir wohl keine weiteren Waffen einbauen,o<strong><strong>de</strong>r</strong>? Mein Heckgeschütz ist eher schwach.“, sprach Samuel nacheiniger Zeit die Frage aus, die er sich Fran Foster nicht zu stellengetraut hatte.Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik lächelte mil<strong>de</strong>. „Sie meinen wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Split?“„Hai, es ist gut möglich, dass wir da hinten welchen begegnen.“„Wir haben keine Waffen und können also auch keine abgeben.Aber wir haben etwas viel wertvolleres, einen Dolmetscher, einenSplit. Er wird sie begleiten. Sie wer<strong>de</strong>n ihn bald kennen lernen.“Samuel war überrascht: „Ihr habt einen Söldner aufgetrieben?“„Gott bewahre!“, rief Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik erschrocken aus. „Ein Mitglied unser114


Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>schaft, ein Konvertit.“„Christliche Aliens!?“„Lehret alle Völker, gab <strong><strong>de</strong>r</strong> Herr uns auf.“Samuel kratzte sich ungläubig am Kopf. „Meinetwegen, aberausgerechnet ein Split? Boronen hätte ich mir vorstellen können,Split jedoch.“Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik lächelte wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Hai, das <strong>de</strong>nken viele.“ Sein Blickwan<strong><strong>de</strong>r</strong>te hinauf zu <strong><strong>de</strong>r</strong> getönten Metallglaskuppel, durch dieeinzelne Sterne blinzelten, und nahm einen verträumten Ausdruckan. „Tatsächlich aber zeigt sich, dass von allen Außerirdischen, diewir kennen, die Split die aufnahmefähigsten Gefäße für das WortGottes sind.“„Weil sie abergläubisch sind?“, mutmaßte Samuel.Der Priester sah ihn säuerlich an. „Aberglaube gebiert nur weiterenAberglaube, keinen Glauben!“, antwortete er streng. „Nein, es istan<strong><strong>de</strong>r</strong>s.“, fügte er mil<strong><strong>de</strong>r</strong>en Tones hinzu. „Ein Parani<strong>de</strong> wür<strong>de</strong> eher<strong>de</strong>n Missionar, notfalls sogar sich selbst töten, als sich überzeugenzu lassen. Im übrigen beschränkt sich das nicht auf Religion. DieParani<strong>de</strong>n lehnen je<strong>de</strong> menschliche I<strong>de</strong>e ab, es sei <strong>de</strong>nn einer <strong><strong>de</strong>r</strong>ihren hatte dieselbe nachweislich schon <strong>de</strong>utlich früher. DieBoronen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um sind zu entgegenkommend und -wenn man sowill- zu intelligent, um bekehrt zu wer<strong>de</strong>n.“„Ach, wer intelligent ist, wird kein Christ?“, hakte Samuel zynischnach.„Kein Grund gehässig zu wer<strong>de</strong>n.“, seufzte Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik, hielt aberje<strong>de</strong>n Ta<strong>de</strong>l aus seiner Stimme fern. „Nein, wir haben hier ein altesProblem <strong><strong>de</strong>r</strong> Metaphysik: Glauben und Wissen. Die Boronen kennenGötter und doch ist kein Borone an menschlichen Maßstäbengemessen religiös, ebenso wenig wie keiner von ihnen Atheist ist, alldas verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t ihre geistige Klarheit. Sie wissen, we<strong><strong>de</strong>r</strong> das Eine115


noch das An<strong><strong>de</strong>r</strong>e zu wissen. Sie sind allesamt Agnostiker und esscheint nicht in unserer Macht zu stehen, dies zu än<strong><strong>de</strong>r</strong>n.Immerhin sind sie positive Agnostiker.“„Positive Agnostiker?“Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>iks Stimme gewann etwas Dozieren<strong>de</strong>s: „Wenn Menschensagen, sie seien Agnostiker, sind sie es für gewöhnlich negativ. Sienegieren, tatsächlich negieren sie mehr als die Atheisten. WährendLetztere eine negative Antwort auf die Frage nach <strong>de</strong>mÜberweltlichen geben, negieren Erstere die Frage als solche. Dernegative Agnostiker ordnet die Wirklichkeit <strong>de</strong>s unendlichenKosmos <strong>de</strong>n engen Grenzen seiner persönlichen Erkenntnisfähigkeitunter. Er ignoriert die Frage in Ermangelung <strong><strong>de</strong>r</strong> Antwort undschließt so faktisch alle möglichen Antworten aus. Die Boronenhingegen fin<strong>de</strong>n unlösbare Fragen sehr faszinierend, sie hören nieauf, sie neu zu durch<strong>de</strong>nken, und ziehen alle Antworten aktiv inBetracht. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Borone glaubt an <strong>de</strong>n Christengott und tut es dochnicht, für sie ist selbst Wahrheit transzen<strong>de</strong>nt.“Samuel antwortete nicht. Er war nicht dumm und doch hatte <strong>de</strong>nAusführungen nur bedingt folgen können. Ein Umstand, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihmauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Stirn zu stehen schien, <strong>de</strong>nn Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik lächelte ihnfreundlich an und meinte: „Nun, bleiben wir <strong><strong>de</strong>r</strong> Einfachheit halberbei <strong><strong>de</strong>r</strong> Feststellung, Split lassen sich bekehren und Boronen nicht.“Samuel nickte abwesend. Plötzlich lag ihm eine Frage auf <strong><strong>de</strong>r</strong>Zunge. Er wusste nicht, wieso sie ihm auf einmal in <strong>de</strong>n Sinngekommen war, doch sie entschlüpfte seinem Mund, bevor er sichKlarheit darüber verschaffen konnte: „Glauben die Boronen an dieExistenz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>?“„Nein, tun sie nicht.“, antwortete <strong><strong>de</strong>r</strong> Priester, wandte sich ab undsetzte seinen Weg fort. Samuel folgte ihm. Er sah sein Gesicht nicht,doch er konnte Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>iks breites Grinsen regelrecht hören, als116


dieser nach kurzer Pause ergänzte: „Sie wissen davon.“Ihr Rundgang war in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat ein solcher, da Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik seinen Gast,einem unregelmäßigen Kreis folgend, durch die Anlage führte, sodass sich ihre letzte Station bereits wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unmittelbar neben <strong>de</strong>mLan<strong>de</strong>feld befand. Dabei han<strong>de</strong>lte es sich um eine vergleichsweisekleine Montagehalle, in welcher Mönche, die in Ingenieurswesenund Schiffsmechanik geschulte waren, die Raumfahrzeuge ihrerGemeinschaft warteten und bei Bedarf reparierten. Derzeitig hingaber die AP Chuzpe zwischen <strong>de</strong>n Magnetklammern, die Samuel antitanische Hufeisen erinnerten. Als Kind hatte er Reiten gelernt,seine Eltern hatten auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Hazienda auch Pfer<strong>de</strong> gehalten undgroßen Wert darauf gelegt, dass sich ihr Sohn diese 'Irdische Kunst'aneigne.Erinnerungen. Er begann sich allmählich daran zu gewöhnen,dass sie immer stärker auf ihn einstürmten, konnte er sie dochohnehin nicht daran hin<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Gleichzeitig entrückten dieErinnerungen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, wur<strong>de</strong>n zu etwas unwirklichem, einemkurzlebigen Wetterleuchten in einem grauen Himmel an<strong><strong>de</strong>r</strong>erGedanken. Für einen Menschen, <strong><strong>de</strong>r</strong> acht Jahre lang keinenPlaneten mehr betreten hatte, fühlten sich die Erinnerungen an dasReiten nicht an<strong><strong>de</strong>r</strong>s an wie Traumschemen, die sich im ersten Licht<strong>de</strong>s Tages rasch zersetzten.Sie beobachteten die Arbeiten von einer kleinen, mit Computernund technischen Planskizzen voll gestopften Kabine aus, die zweiEtagen höher gelegen war als <strong><strong>de</strong>r</strong> Hallenbo<strong>de</strong>n. Noch bevor Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ikSamuel darauf hinwies, war <strong>de</strong>m erfahren<strong>de</strong>n Raumfahreraufgefallen, dass dort unten eine noch geringere Schwerkraftherrschte. Dies versetzte die Mechaniker in die Lage, mühelosschwere Bauteile und Werkzeuge zu bewegen. Auf <strong>de</strong>n großen117


Orbitalwerften wur<strong>de</strong> mitunter gänzlich auf Gravitation verzichtet,was hier nicht mögliche war, <strong>de</strong>nn das natürliche Schwerefeld <strong>de</strong>sAsteroi<strong>de</strong>n blieb als Minimum bestehen. Samuel sah einen <strong><strong>de</strong>r</strong>Mönche seinen Laserschlüssel loslassen. Es war als bliebe er neben<strong>de</strong>m Mann in <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft stehen, doch wusste Samuel, dass <strong>de</strong>m nichtso war. Der Schlüssel fiel, langsamer als in Zeitlupe. Wür<strong>de</strong> er langegenug zuschauen, wür<strong>de</strong> er ihn aufschlagen sehen, jedoch hatte ernicht die Absicht, sich das anzutun. Zu<strong>de</strong>m wur<strong>de</strong> seineAufmerksamkeit augenblicklich auf etwas An<strong><strong>de</strong>r</strong>es gelenkt.Soeben betrat nämlich ein Schildgenerator <strong>de</strong>n Raum. Zumin<strong>de</strong>stsah es aus Samuels Vogelperspektive so aus. Erst nach einigenSekun<strong>de</strong>n erkannte er die Gestalt eines kleinen, stämmigenMönches unter <strong>de</strong>m schwanken<strong>de</strong>n Apparat. Er staunte. Selbstunter <strong>de</strong>n Schwerkraftverhältnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> Halle musste dies eineunglaubliche Kraftanstrengung be<strong>de</strong>uten. Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik bemerkteSamuels verblüfftes Gesicht und erklärte lachend: „Bru<strong><strong>de</strong>r</strong> Gran,<strong><strong>de</strong>r</strong> ihr Unternehmen als Dolmetscher begleiten wird.“Keine Stun<strong>de</strong> später waren alle Vorbereitungen abgeschlossen.Man traf sich im Empfangsbereich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Mit Ausnahme Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>iks,<strong><strong>de</strong>r</strong> sie auch nicht begleiten wür<strong>de</strong>, war allen eine gewisseAnspannung anzumerken. Die Grün<strong>de</strong> seiner eigenen kannteSamuel inzwischen zur Genüge, über jene <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en, konnte ernur spekulieren. Dusic hatte bislang zumeist ein unbekümmertesGemüt gezeigt, schien jetzt aber beunruhigt. Möglicherweise war ernur enttäuscht, keine weiteren Informationen über Eddaherausgefun<strong>de</strong>n zu haben. Samuel hielt es allerdings fürwahrscheinlicher, dass ihn die Aussicht, <strong>de</strong>n Splitraum zupassieren, so unbehaglich stimmte.Auch Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> wirkte angespannt. Je länger sie miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>118


unterwegs waren, <strong>de</strong>sto unausgeglichener wirkte <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Mannauf Samuel, was dieser sich nicht so recht erklären wollte.Rätselhaft blieb auch Gran, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich ihnen angeschlossen hatte,nach<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>n Schildgenerator an seinen Platz verfrachtet hatte.Abgesehen davon, dass er sichtlich nicht erschöpft war, wirkte ermürrisch und ablehnend. Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> Split bisher nur als Fein<strong>de</strong>o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>st latente Gefahrenquelle kennen gelernt undniemals in Erwägung gezogen hatte, sie einmal an<strong><strong>de</strong>r</strong>s zubetrachten, fragte sich, ob es daran lag, dass Gran tatsächlichmürrisch und ablehnend war, o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob er dies einem Split schlichtprinzipiell unterstellte. Vielleicht meinte er in <strong><strong>de</strong>r</strong> fremdartigenMimik <strong>de</strong>s Außerirdischen auch nur etwas zu lesen, was nicht daringeschrieben stand.Dieser Verdacht bestätigte sich, als sich Gran nun von seinemMitbru<strong><strong>de</strong>r</strong> Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik verabschie<strong>de</strong>te. Zwar sah es aus, als wolle er<strong>de</strong>n Menschen brutalst nie<strong><strong>de</strong>r</strong>ringen, jedoch han<strong>de</strong>lte es sich nurum eine herzliche Umarmung. Sobald sich Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik wie<strong><strong>de</strong>r</strong> bewegenkonnte, zog er ein bedrucktes Kärtchen aus <strong>de</strong>m Ärmel und reichtees Gran mit flüstern<strong>de</strong>m Kommentar. Der Split bedankte sich undtrat zurück. Auch Dusic und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> verabschie<strong>de</strong>ten sich vonVre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik und erhielten gleichfalls Kärtchen, die Ersterer freudig,Letzterer sichtlich irritiert entgegen nahm.Als Samuel selbst vortrat, um <strong>de</strong>m Mönch die Hand zu geben,spöttelte er: „Keine Tricks. Ich habe von Kleinauf gelernt, Leuten,die Karten im Ärmel haben, nicht zu trauen.“„Heiligenbildchen.“, betonte Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik, lachte aber.Samuel verdrehte die Augen. Der Mönch schüttelte nachsichtig<strong>de</strong>n Kopf und zog abermals eins <strong><strong>de</strong>r</strong> Bildchen hervor. „Aber, aber,Greenwald-san, dabei hatte ich gera<strong>de</strong> bei ihnen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s vielMühe, <strong>de</strong>n richtigen himmlischen Helfer zu fin<strong>de</strong>n. Hier, <strong><strong>de</strong>r</strong> heilige119


Hubertus, <strong><strong>de</strong>r</strong> Schutzheilige <strong><strong>de</strong>r</strong> Jäger.“Desinteressiert nahm Samuel das Bild an und ließ es in seinerJackentasche verschwin<strong>de</strong>n, ohne es eines Blickes zu würdigen. Daraunte ihm Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik noch zu: „Er soll auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Schutzheilige <strong><strong>de</strong>r</strong>Schmuggler sein.“Samuel zog die Karte wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hervor und betrachtete lang diedunkelhaarige Gestalt, die vor einem weißen Hirsch stand und einson<strong><strong>de</strong>r</strong>bares Ding in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand trug, bei <strong><strong>de</strong>r</strong> es sich wohl um einevorzeitliche Waffe han<strong>de</strong>lte. Schließlich sah er Vre<strong><strong>de</strong>r</strong>ik an. „Und ichdachte immer, ich kenne je<strong>de</strong>n in <strong><strong>de</strong>r</strong> Branche.“120


12 – Der Namenlose„‚Heimat!’ Wer von uns kann diesen Begriff wirklich noch erfassen? Wir allesind Gestran<strong>de</strong>te, nicht nur fern <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n fern je<strong><strong>de</strong>r</strong> Geborgenheit.“Hüter 19,22: Fran Foster (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)„Druckausgleich abgeschlossen.“, hörte Anthea die Stimme <strong>de</strong>sBordcomputers aus ihren Helmlautsprechern. Sie hatte <strong><strong>de</strong>r</strong>Meldung nicht bedurft, <strong>de</strong>nn allein <strong><strong>de</strong>r</strong> Umstand, dass sich dieäußere Schleusentür vor ihr öffnete, zeigte zur Genüge, dass dieLuft vollständig aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Kammer abgesaugt wor<strong>de</strong>n war.Der Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s schmutzig weißen Himmelskörpers lag einenhalben Meter unterhalb <strong>de</strong>s Türansatzes. Entgegen ihres erstenImpulses, beherzt heraus zu springen, kletterte sie vorsichtighinunter, darauf Acht gebend, stets Berührung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Schiffshüllezu halten. Denn kaum hatte sie <strong>de</strong>n Fuß über die Kante gehoben,merkte sie nämlich, wie dieser mitsamt <strong>de</strong>m Hosenbein <strong>de</strong>sschweren Raumanzuges augenblicklich sein Gewicht verlor, nun daer <strong><strong>de</strong>r</strong> künstlichen Bordschwerkraft entbun<strong>de</strong>n war. DerDurchmesser <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s betrug weniger als vierzig Kilometer. Werhier als Mensch zu hoch sprang, musste befürchten, auf absehbareZeit nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> herunterzukommen. Dementsprechend ließ sieimmer einen Fuß auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n, nach<strong>de</strong>m sie die Schiffshüllelosgelassen hatte, und stapfte vorsichtig zu <strong>de</strong>m nahen Bauwerkhinüber. Der Flachbau mit seinen langen Fensterfronten erinnertesie an einen Ferienbungalow. Nicht einmal seine einheitlich graueFarbe störte das Bild. Sie fügte sich ein in die erdrücken<strong>de</strong>Farblosigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Landschaft, so als sei alles was sie sah, Mond,Haus und Sternenhimmel, teil eines Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te altenSchwarzweißfilmes.121


Sie trat auf <strong>de</strong>n mechanischen Auslöser, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Zugang zu <strong>de</strong>mkleinen Gebäu<strong>de</strong> aktivierte. Während sie auf das Öffnen <strong><strong>de</strong>r</strong>Schleuse wartete, drehte sie sich noch einmal um. Hinter ihr wur<strong>de</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> Schwarzweißfilm brutal zerrissen. Das Blau <strong>de</strong>s GasriesenJadat füllte, von grünweißlichen Eisringen längs geteilt, <strong>de</strong>n ganzenHimmel aus. Faustgroß hing <strong><strong>de</strong>r</strong> Reif <strong>de</strong>s Sprungtores vor dieserKulisse, das aktuell noch mit seiner Gegenstelle im System Solaraverbun<strong>de</strong>n war. Flankiert wur<strong>de</strong> es von zwei silbernen Punkten, <strong>de</strong>nbei<strong>de</strong>n schweren Bergungsschiffen, welche, die Motoren unterVolllast, das wi<strong><strong>de</strong>r</strong>willige Sprungtor in Richtung <strong>de</strong>s namenlosenMon<strong>de</strong>s zogen.Kurz beschäftigte Anthea die Frage, weshalb <strong><strong>de</strong>r</strong> winzige Trabantbislang keinen Namen besaß. Vielleicht sollte sie sich einenaus<strong>de</strong>nken? Einen Namen, <strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Himmelskörper fortan tragenwür<strong>de</strong>, für immer. Die spontane I<strong>de</strong>e eines Menschen mit Folgen fürunzählige Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te, ein Etikett für die Ewigkeit. Plötzlich gefielihr <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanken nicht mehr.„Ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Bungalow nicht zu auffällig?“, fragte sie grußlos, sobald sieihren Helm abgenommen hatte.Mortensen und Reeve starrten sie nur ungläubig an. Ein Apparatpiepte leise in die einsetzen<strong>de</strong> Stille hinein. „Was machen sie <strong>de</strong>nnhier?“, fragte Reeve schließlich, als habe das Geräusch ihn dazuveranlasst.„Ich habe mich davon gestohlen.“, erklärte Anthea und sah sichinteressiert um. Zwei ungemachte Feldbetten stan<strong>de</strong>n neben einemMikrowellenherd und drei Frachtboxen. Ein drittes Bett lehntezugeklappt an <strong>de</strong>m winzigen Rest Wand, <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht von Monitoren,Schaltpulten und technischen Anzeigen zugestellt war. Die Boxenenthielten Nährstoffriegel und Ersatzkleidung. Alles wirkte ein122


wenig unor<strong>de</strong>ntlich, doch eher provisorisch als chaotisch, eher alshätten die bei<strong>de</strong>n Männer lediglich noch keine Zeit zum Aufräumengefun<strong>de</strong>n, anstatt es generell nicht für nötig zu halten.Die Wissenschaftler sahen sich an. „Davon gestohlen? AmWahlabend?“„Ich bitte sie, gentlemen, was habe ich heute an<strong><strong>de</strong>r</strong>es zu erwartenals unangenehme Fragen zu unangenehmen Prozentwerten?“ Sielachte. „Stellen sie sich nur einmal die ganzen Journalisten vor, wiesie gera<strong>de</strong> ganz Brooks auf <strong>de</strong>n Kopf stellen, um mich zu suchenund mir eine Stellungnahme zu entlocken, ohne zu wissen, dass ichdie Stadt längst verlassen habe.“„Stadt ist gut.“, Mortensen grinste: „Sie haben gleich das ganzeSonnensystem verlassen.“Anthea löste die Verschlüsse ihrer klobigen Raumhandschuhe undzog sie sich von <strong>de</strong>n Fingern. „Ein kluger Politiker hält sich vonKameras so fern wie nur irgend möglich.“„Favino scheint das an<strong><strong>de</strong>r</strong>s zu sehen.“, meinte Reeve.„Eben.“Die Bitternis, die in diesem einen kurzen Wort mit schwang, zeigteMortensen, dass sich Gouverneurin Demetres keineswegs mit <strong>de</strong>mUmstand ihrer Nie<strong><strong>de</strong>r</strong>lage abgefun<strong>de</strong>n hatte, auch wenn sieaugenscheinlich diesen Eindruck vermitteln wollte. Er griff daherihre eingängliche Frage auf, um das Thema zu wechseln: „DieserAußenposten besteht schon ziemlich lange. Er ist ein altes,automatisiertes Observatorium, seit Jahrzehnten aufgegeben. Aufmanchen alten Sternenkarten ist er aber noch verzeichnet. Erdürfte daher kein allzu großes Aufsehen erregen, falls irgen<strong>de</strong>inargonischer Aufklärer darüber stolpern sollte. Die zusätzlicheElektronik wer<strong>de</strong>n wir vor Abschluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Mission wie<strong><strong>de</strong>r</strong> entfernen.“Anthea nickte. Sie bemerkte, dass es sich bei einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzeigen123


<strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaftler um eine stark vereinfachte Darstellung <strong>de</strong>sSystems han<strong>de</strong>lte, das auf <strong><strong>de</strong>r</strong> gemessenen Gravitationswirkungsämtlicher Objekte im Sektor basierte. Dieses Gravitationsradaro<strong><strong>de</strong>r</strong> auch Gravidar zeigte <strong>de</strong>n gewaltigen Bereich, <strong>de</strong>n dieLangstreckensensoren erfassten, in gestaffelter Verzerrung an. DerRing <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Markierung kennzeichnete eine Entfernung miteinem Radius von fünf tausend Kilometern, <strong><strong>de</strong>r</strong> zweite Ring bereits15.000 Kilometer, <strong><strong>de</strong>r</strong> dritte 30.000 und so weiter. Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s ferneObjekte rückten dadurch am Anzeigenrand unabhängig von ihrerwahren Distanz zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> einträchtig zusammen.Anthea erkannte <strong>de</strong>n Stern Omikron Lyrae, seine sechs Planeten,die zahllosen Mon<strong>de</strong> und die vier Sprungtore. Ansonsten war esruhig. Außer <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Bergungsschiffen war nur noch einRobotfrachter im Sektor unterwegs, <strong><strong>de</strong>r</strong> einsam auf das Alphatorzuhielt, um die erste – und wie sie vermutete einzige – Fuhre <strong><strong>de</strong>r</strong>zugesagten Getrei<strong>de</strong>lieferungen nach Argon Prime zu transportieren.Es war kaum mehr als eine symbolische Geste, die angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong>geplanten Torabschaltung dazu verurteilt war, be<strong>de</strong>utungslos zubleiben. Der Transport hatte <strong>de</strong>mgemäß auch nicht sehr weit obenauf ihrer Agenda gestan<strong>de</strong>n, und vielleicht hätte sie ihn sogarunterlassen, wenn nicht ausgerechnet Fran Foster um eine schnelleDurchführung <strong><strong>de</strong>r</strong> solarischen Hilfszusagen gebeten hätte.Argonische Patrouillen konnte Anthea auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzeige nichtausmachen. Es schien, als hielten sich die Argonen an ihreZusagen. Zumin<strong>de</strong>st bis das aldrianische Wahlergebnis endgültigfest stand, schränkte sie in Gedanken ein. „Wo wer<strong>de</strong>n sie dieHabitatskugel errichten?“, fragte die noch amtieren<strong>de</strong>Gouverneurin.Sie wusste, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Plan vorsah, eine winzige Raumstationaufzubauen, in welcher sich <strong><strong>de</strong>r</strong> aldrianische Agent nach124


Abschaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore verstecken konnte. Die 'Kugel' war nurrudimentär eingerichtet. Über mehrfach vorhan<strong>de</strong>neLebenserhaltungssysteme gesichert, bot sie ihrem Bewohner Bett,Nasszelle und Küchenautomat, aber kaum mehr.„Sie ist schon errichtet.“, erklärte Reeve und <strong>de</strong>utete auf eine völligleere Stelle oberhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Ebene, auf welcher <strong><strong>de</strong>r</strong> Stern OmikronLyrae von seinen Planeten umkreist wur<strong>de</strong>. Ein Punkt fernab allerHimmelskörper und <strong>de</strong>shalb kaum aufzuspüren. „Sie können sie...“„Aktivität am Alphasprungtor!“, unterbrach Mortensen seinenKollegen gehetzt. Alle Blicke wan<strong><strong>de</strong>r</strong>ten zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzeige. KeinUnbefugter durfte beobachten, wie sie das Tor abschleppten, <strong>de</strong>nndas mochte <strong>de</strong>n ganzen Plan verraten. Tatsächlich war dies <strong><strong>de</strong>r</strong>Grund gewesen, weshalb man das Tor auf eben diesem Mondverstecken wollte, <strong>de</strong>nn seine Umlaufbahn um Jadat führte ihngegenwärtig sehr nahe an <strong><strong>de</strong>r</strong> Position <strong>de</strong>s Portals vorbei. DerTransfer war <strong>de</strong>swegen in relativ kurzer Zeit möglich. Auf einemBildschirm erschienen die Daten <strong>de</strong>s Raumschiffes, kalt flimmertendie ersten bei<strong>de</strong>n Buchstaben <strong><strong>de</strong>r</strong> Kennung: AP. Das Schiff war inArgon Prime registriert.Mortensen griff augenblicklich zur Kommunikationsanlagen undbefahl <strong>de</strong>n Bergungsschiffen die sofortige Entkopplung <strong>de</strong>ssolarischen Tores. Eine lächerliche Maßnahme, dachte Anthea.Selbst wenn das frem<strong>de</strong> Schiff das Manöver nicht beobachtet habensollte, wür<strong>de</strong> es ein versetztes Sprungtor vorfin<strong>de</strong>n, neben <strong>de</strong>m zweiSchlepper herum stan<strong>de</strong>n wie ertappte Eierdiebe.Anthea ging die Daten <strong>de</strong>s Schiffes weiter durch. Es han<strong>de</strong>lte sichum einen Frachter mit vier Mann Besatzung und einem Namen, <strong>de</strong>nAnthea nicht zu ordnen konnte: AP Chuzpe. Das Schiff wollte nachAldrin und flog das versetzte Sprungtor an. DerNavigationscomputer <strong>de</strong>s Transporters musste längst fest gestellt125


haben, dass mit <strong>de</strong>ssen Position etwas nicht stimmte. Allerdingszeigte das Schiff keine merkliche Reaktion auf diesen Umstand.An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits fiel Anthea auch keine Reaktion ein, die zu erwartenwar.In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und formten sichNotfallpläne. Die AP Chuzpe hielt unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t Kurs, sie wür<strong>de</strong> in<strong>de</strong>n Solarasektor fliegen. Dort könnte man sie vielleicht unter einemVorwand lang genug festsetzen, bis die Operation abgeschlossenwar. Die Besatzung wäre danach zwar für fünfzehn Jahre imsolarischen Sonnensystem gefangen, doch Anthea ging über <strong>de</strong>nGedanken hinweg. Sie hatte schon ihr ganzes Volk zu dieserIsolation verurteilt, daneben verschwan<strong>de</strong>n vier Argonen zurBe<strong>de</strong>utungslosigkeit. Sollte die Besatzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Chuzpe ihreBeobachtung in<strong>de</strong>s schon per Nachrichtendrohne nach Argon Primegesandt haben, wäre alles umsonst gewesen. Doch auch darübersorgte sich Anthea nicht sehr. Es han<strong>de</strong>lte sich um ein zivilesSchiff, die Wahrscheinlichkeit, dass es ungewöhnlicheVorkommnisse sofort höheren Stellen mel<strong>de</strong>te, war eher gering.Sie machte sich also daran, selbst eine Nachrichtendrohnevorzubereiten. Ihr Plan war, <strong>de</strong>m aldrianischen Zoll eine anonymeWarnung zukommen zu lassen, <strong><strong>de</strong>r</strong> zufolge die AP ChuzpeSchmuggelware an Bord habe. Dies sollte die Behör<strong>de</strong>n veranlassen<strong>de</strong>n Frachter lang genug zu beschäftigen, ohne dass <strong>de</strong>ssenBesatzung unnötig Verdacht schöpfte, schließlich waren <strong><strong>de</strong>r</strong>artigeKontrollen Gang und Gäbe.Sie konnte die Nachricht direkt auf <strong>de</strong>n Speicher <strong><strong>de</strong>r</strong> Drohnediktieren. Doch dann mochte jemand ihre Stimme erkennen,weshalb sie <strong>de</strong>n Text vermittels <strong><strong>de</strong>r</strong> kleinen Schaltfläche manuelleintippte. Sie dachte über die geeignetste Formulierung nach, alsMortensen sie mit einem Laut <strong>de</strong>s Erstaunens aus ihren Gedanken126


iss. „Meine Güte, es scheint auf die Rushhour zu zugehen.“,kommentierte er.Anthea schaute auf die Sektoranzeige. Der aldrianischeGetrei<strong>de</strong>transporter passierte soeben die AP Chuzpe inGegenrichtung. Dahinter hatte das Alphator drei kleinereKampfschiffe ausgespieen. Im Gegensatz zu <strong>de</strong>m argonischenFrachter sandten diese keine Kennungssignale aus. Informationenüber ihre Namen, Reiseziele und Mannstärken blieben sie schuldig.Das war nach <strong>de</strong>n allgemein gültigen, interstellaren Protokollenillegal, weshalb die Kampfschiffe auch als potenzielle Fein<strong>de</strong> rotdargestellt wur<strong>de</strong>n. Computer und Sensoren <strong>de</strong>s Außenpostenskonnten die Schiffstypen <strong><strong>de</strong>r</strong> Eindringlinge immerhin einordnen, eswaren Raumschiffe <strong><strong>de</strong>r</strong> Split.Sie teilten sich auf und griffen die bei<strong>de</strong>n Frachtschiffe an. Dasaldrianische Robotschiff ließ mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Geduld <strong><strong>de</strong>r</strong> Maschine dasWaffenfeuer zweier Jäger auf sich hernie<strong><strong>de</strong>r</strong> gehen und versuchtemangels sinnvoller Alternativen unbeirrt <strong>de</strong>n Sektor durch das naheSprungtor zu verlassen. Die Chuzpe hingegen schlug Haken un<strong><strong>de</strong>r</strong>wehrte sich mittels ihres Heckgeschützes. Der Frachter zeigte sichzäh, doch er konnte nur Zeit gewinnen. Seinen Verfolgerabzuschütteln o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar zu zerstören, war angesichts seinerschwächeren Triebwerke und geringeren Bewaffnung aussichtslos.Die Anzeigen mel<strong>de</strong>ten <strong>de</strong>n Eingang eines Notrufs. Anthea schaltetesofort einen Kanal frei.Ein alter, grauhaariger Mann mit Halbglatze sah sie ausangstgeweiteten Augen an. Neben ihm stand eine durch eineKapuze halb verhüllte Gestalt mit son<strong><strong>de</strong>r</strong>barer Gesichtsfarbe. EinSplit? Anthea konnte es nicht erkennen. Im Hintergrund sah sieeinen jungen Burschen auf einen weiteren Mann einre<strong>de</strong>n. Letztererwar als Einziger mit einem typischen Raumfahreroverall geklei<strong>de</strong>t.127


Sein Kopf und seine Hän<strong>de</strong> verschwan<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>m Sensorhelm und<strong>de</strong>n Bedienelementen eines Waffenleitsystems. „Helfen sie uns!Bitte, helfen sie uns!“, rief <strong><strong>de</strong>r</strong> Grauhaarige.Kurz verzog sich die Maske <strong><strong>de</strong>r</strong> Angst seines Gesichts, um dieDauer eines Herzschlages lang purem Erstaunen zu weichen. „Siesind Prinzessin Demetres.“, sagte <strong><strong>de</strong>r</strong> Greis. Es klang, als erwarteer, Anthea müsste über diese Feststellung ebenso verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t sein,wie er selbst. „Bitte, Prinzessin, wir brauchen Hilfe.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte ernoch einmal.„Ich schicke eine Nachricht an <strong>de</strong>n Raummarschall.“, sagteMortensen und machte sich daran, sein Vorhaben in die Tatumzusetzen.„No!“, entgegnete Anthea energisch. Der Raummarschall war aufFavinos Seite, je<strong>de</strong>s aldrianische Kriegsschiff wür<strong>de</strong> ihm Meldungerstatten und über die Lage im Sektor Omikron Lyrae berichten,inklusive <strong><strong>de</strong>r</strong> offensichtlichen Manipulationsversuche amsolarischen Sprungtor. Das durfte nicht geschehen. Abgesehendavon, gab es noch einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Grund, <strong><strong>de</strong>r</strong> gegen MortensensPlan sprach: „Es gibt nur ein aldrianisches Kampfschiff, dassrechtzeitig vor Ort sein kann, meines.“Ihre Handschuhe hatte sie bereits angezogen. Nun machte sie sichdaran, <strong>de</strong>n Helm wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufzusetzen. Der Professor hielt sie zurück:„Sind sie wahnsinnig? Sie haben keine Chance.“Nein, dachte sie, natürlich hatte sie das nicht. Sie konnte einRaumschiff steuern, doch zwischen ihrem Können und <strong>de</strong>nFähigkeiten eines Kampfpiloten lagen Welten. Sie zögerte.Mortensen drang weiter in sie: „Tun sie es nicht, sie haben ihrganzes Leben noch vor sich.“'Ihr ganzes Leben!' Die Worte hallten durch ihr Gehirn,vervielfältigten sich zu Echos, überlagerten sich, brüllen<strong>de</strong> Löwen,128


tosen<strong>de</strong> Stürme. Die Fotos ihrer Mutter. Sie stürzte zur Schleuse.129


13 – Der Patriarch“Wer weiß schon, weshalb das Universum die Split hervorgebracht hat. Abereines ist gewiss. Sie sind ein Zerrspiegel, <strong><strong>de</strong>r</strong> die schönen Züge verschlucktund uns mahnend die hässlichste Fratze <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit zeigt.”Chroniken 84,3: Fran Foster (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Samuel fluchte. Er hätte es wissen müssen. Nein, korrigierte ersich, er hatte es gewusst. Wieso hatte er sich auf diesen Unsinneingelassen? Je<strong><strong>de</strong>r</strong> wusste, dass im <strong>de</strong>m Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Galaxis, <strong>de</strong>n manin Anlehnung an planetare Orientierungsbegriffe '<strong>de</strong>n Osten'nannte, Splitaktivität im unklaren Ausmaß herrschte. Und ebensowar je<strong>de</strong>m Raumfahrer bekannt, dass bei weiten nicht alle Familien<strong><strong>de</strong>r</strong> Split <strong>de</strong>n Frie<strong>de</strong>n von Lho-Ingtar akzeptieren. Immerhin war ihrOberherrscher nach <strong>de</strong>ssen Unterzeichnung nicht zuletzt <strong>de</strong>swegenvon seinen ehemaligen Gefolgsleuten ermor<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n. Daraufhinhatte sich nahezu je<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen selbst zum Großpatriarchen allerSplit erklärt, und sich alle miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenseitig bekämpft. Diesallein war <strong><strong>de</strong>r</strong> Grund gewesen, weshalb sie in <strong>de</strong>n letzten Jahren dieSektoren <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen in Ruhe gelassen hatten, nicht diesiebenundneunzig Seiten geduldigen Papiers <strong>de</strong>s Frie<strong>de</strong>nsvertrages.Irgendwann wür<strong>de</strong> die natürliche Auslese die meistenThronpräten<strong>de</strong>nten beseitigt haben und ein o<strong><strong>de</strong>r</strong> zwei neue, starkeSplitreiche wür<strong>de</strong>n sich abermals erheben, mit o<strong><strong>de</strong>r</strong> ohneUnterstützung <strong><strong>de</strong>r</strong> Parani<strong>de</strong>n. Samuel hatte <strong>de</strong>n Verlauf <strong><strong>de</strong>r</strong>internen Querelen nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich intensiv verfolgt, allerdings hatteer gedacht, die Zeit erneuter Splitexpansion läge noch in weiterFerne. Offenbar war dies ein Irrtum. An<strong><strong>de</strong>r</strong>seits mochte es sich bei<strong>de</strong>n Angreifern auch nur um Piraten han<strong>de</strong>ln.Er schoss und traf nicht. Vielleicht, so ermahnte er sich, sollte er130


sich zunächst einmal auf <strong>de</strong>n Kampf konzentrieren und die Fragenach <strong>de</strong>n Motiven <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegner auf später verschieben. Später? Wowür<strong>de</strong> das sein? Im Nichts? Himmel, Hölle? <strong>Er<strong>de</strong></strong>? Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t hörteer sich selbst ein Gebet murmeln, sein Erstes seit vielen Jahren.Neben ihm stand Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und brabbelte vor sich hin. Der Jungeschien ihm taktische Ratschläge geben zu wollen, doch Samuelhörte ihm nicht zu. Was konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> Grünschnabel schon wissen?Vorne auf <strong>de</strong>m Pilotensessel saß Dusic und hatte irgendwen inFunkreichweite gefun<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n er mit Hilfsgesuchen überschüttete.Natürlich steuerte nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner das Schiff, <strong><strong>de</strong>r</strong> Bordcomputerhatte die Kontrolle übernommen und zwang <strong>de</strong>n trägen Frachter inwaghalsige Ausweichmanöver.Endlich konnte Samuel einen Treffer lan<strong>de</strong>n. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Schild <strong>de</strong>sVerfolgers blitzte nur kurz auf, ohne Scha<strong>de</strong>n zu nehmen. Da hörteer hinter sich plötzlich eine harte Stimme, die ihn zusammenzucken ließ: „Pocter-drem, ch'mokh! Ch'mokh!“Er zog <strong>de</strong>n Kopf aus <strong>de</strong>m Sensorhelm <strong>de</strong>s Waffenleitsystems undwarf einen Blick ins Cockpit. Natürlich, Gran <strong><strong>de</strong>r</strong> Dolmetscher. Erversuchte Verbindung mit <strong>de</strong>n Angreifern aufzunehmen. Samuelversprach sich nicht viel davon. Auf <strong>de</strong>m Bildschirm <strong><strong>de</strong>r</strong> kurz zuvornoch Dusics Gesprächspartnerin angezeigt hatte, erschien dasspitzbärtige Gesicht eines Split. Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t registrierte Samuel,dass ihr Verfolger tatsächlich das Feuer eingestellt hatte. Obwohl erkein Wort verstand, verfolgte er gebannt das Gespräch zwischen <strong>de</strong>nbei<strong>de</strong>n Aliens, das teilweise in Zeichensprache geführt wur<strong>de</strong>. Nacheinigem Hin und Her en<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Dialog damit, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Split auf<strong>de</strong>m Schirm ein Geräusch von sich gab, das <strong>de</strong>m Meckern einerZiege zum Verwechseln ähnlich war. Dann erlosch das Bild und <strong><strong>de</strong>r</strong>Beschuss setzte wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ein. So viel zur Diplomatie, dachte Samuelbitter und wandte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Waffensteuerung zu.131


Immerhin hatte das Gespräch ihnen eine Atempause verschafft, inwelcher sich <strong><strong>de</strong>r</strong> angeschlagene Schutzschild <strong><strong>de</strong>r</strong> AP Chuzpe umeinige Prozentpunkte hatte regenerieren können. Zu<strong>de</strong>m war dasSprungtor nach Aldrin zwei Lichtsekun<strong>de</strong>n nähergerückt. Von dort,stellte Samuel beim Blick auf die taktische Karte fest, näherte sichein Raumschiff mit hoher Geschwindigkeit. ADF Nictorin Falls laser, ein Abfangjäger <strong><strong>de</strong>r</strong> 'Aldrin Defence Forces'.Die Split hatten das Schiff nun offenbar auch bemerkt. Eines ihrerbei<strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Raumer ließ von <strong>de</strong>m aldrianischen Robotfrachterab und setzte Kurs auf <strong>de</strong>n Neuankömmling. Der Verfolger <strong><strong>de</strong>r</strong>Chuzpe wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um schien <strong><strong>de</strong>r</strong>weil zu <strong>de</strong>m Schluss zu kommen,genug mit seiner Beute gespielt zu haben, und wechselte vomLaserfeuer auf Raketen. Eine konnte Samuel rechtzeitig abschießen,doch die nächsten zwei brachten <strong>de</strong>n Schild zum Kollabieren un<strong>de</strong>ine weitere schlug gna<strong>de</strong>nlos ins Triebwerk ein. Samuel wur<strong>de</strong> fastaus <strong>de</strong>m Stuhl gerissen, als <strong><strong>de</strong>r</strong> Schub <strong><strong>de</strong>r</strong> Chuzpe augenblicklichaussetzte und das Schiff in unkontrollierte Tru<strong>de</strong>lbewegungenverfiel, so plötzlich, dass die Trägheitsdämpfer dieBewegungsimpulse nicht vollständig auszugleichen vermochten.Vom Antrieb abgesehen, musste noch weiterer Scha<strong>de</strong>nentstan<strong>de</strong>n sein, <strong>de</strong>nn nun fielen in rascher Folge verschie<strong>de</strong>nsteSysteme im Cockpit aus und ließen die Besatzung für einigeSekun<strong>de</strong>n in Schwerelosigkeit und Dunkelheit zurück bis dieNotsysteme übernahmen. Die taktische Anzeige jedoch bliebschwarz. Zuletzt hatte Samuel noch beobachten können, wie Splitund Aldrianer in Feuerreichweite gekommen waren und die erstenSalven ausgetauscht hatten.Er wusste nicht, was die Split als nächstes tun wür<strong>de</strong>n. Doch eswar merkwürdig, hatte er gera<strong>de</strong> eben, als ihr Schicksal noch in <strong><strong>de</strong>r</strong>Schwebe gehangen hatte, To<strong>de</strong>sangst verspürt, legte sich nun, da132


sie geschlagen waren, die Ruhe <strong><strong>de</strong>r</strong> Routine eines Kriegsveteranenüber ihn. Er hatte das schon früher erlebt aber es erstaunte ihnje<strong>de</strong>s Mal aufs Neue. Er wies die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en an, unverzüglich ihreRaumanzüge anzulegen und stieg entsprechend in seinen eigenen.Als nächstes befahl er <strong>de</strong>m Bordcomputer eine Diagnose <strong><strong>de</strong>r</strong>Sensoren vorzunehmen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hoffnung, diese wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in Betriebnehmen zu können. Sie mussten auf je<strong>de</strong>n Fall wissen, wasdraußen vor sich ging. Der Computer listete die Schä<strong>de</strong>n auf undmachte Reparaturvorschläge. Nüchtern empfahl er, eine Werftaufzusuchen. Samuel schüttelte grummelnd <strong>de</strong>n Kopf. Als ob dieszur Option stün<strong>de</strong>, dachte er. Da vernahm er ein leises, dumpfesGeräusch, das von allen Seiten zugleich zu kommen schien. Etwas,wahrscheinlicher aber jemand, war auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Schiffshülle gelan<strong>de</strong>t.Samuel erwachte und blinzelte <strong>de</strong>sorientiert in die Finsternis. Eswar nicht völlig dunkel. Ein matter roter Schimmer, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus keinerfeststellbaren Richtung kam, sickerte durch die engmaschigenGitterwän<strong>de</strong>. Von irgendwoher war das Tropfen von Wasser zuvernehmen. Es stank erbärmlich. Heftige Kopfschmerzenhämmerten unter seiner Stirn. Reflexhaft wollte er sich an seinHaupt fassen, das zu bersten schien. Doch er kam nicht weit, seineHand wur<strong>de</strong> jäh zurückgehalten. Etwas schnitt ihm in die Hautunterhalb <strong>de</strong>s Handgelenks und eine Kette rasselte.Da erinnerte er sich. Die Split hatten die Chuzpe geentert und siegefangen genommen. Dusic, Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und ihn selbst hatten sie an <strong>de</strong>nWän<strong>de</strong>n eines Verlieses gekettet, das erschrecken<strong>de</strong> Ähnlichkeit mit<strong>de</strong>n Boxen eines Viehtransporters aufwies. Gran war nicht gefesseltwor<strong>de</strong>n. Seine Artgenossen hatten zwar nur ansatzweise begriffen,was er war und sein wollte, verstan<strong>de</strong>n hatten sie aber hingegen,dass er einen Eid abgelegt hatte, niemals zu kämpfen o<strong><strong>de</strong>r</strong> sonst wie133


Gewalt anzuwen<strong>de</strong>n. Damit, ihn nicht in Ketten zu legen, zeigtensie, dass sie ihn für ungefährlich hielten. Die schlimmsteBeleidigung, die ein Split einem An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zufügen konnte, hatteGran ihnen anschließend erklärt. Dass sie Dusic, <strong><strong>de</strong>r</strong> schließlichebenfalls Mönch war, festgebun<strong>de</strong>n hatten, unterstrich dieseSchmach nur noch. Anthea, die Pilotin <strong>de</strong>s aldrianischenKampfjägers, die zuletzt in ihre Zelle gebracht wor<strong>de</strong>n war, hattenihre Peiniger ebenfalls nicht angekettet, weil sie nur eine Frau war.„Ah, er ist wie<strong><strong>de</strong>r</strong> unter uns.“, sagte sie. Samuel erkannte ihrenSchattenriss, seine Augen gewöhnten sich allmählich an dieDunkelheit. Als die Pilotin einen Schritt nach vorn machte, fiel eindünner Streifen Helligkeit kurz auf ihr Gesicht. Samuel erkannteschwarze Haare, braune Augen und einen Ohrring mit einemblauen E<strong>de</strong>lstein.„Wie hast du es überhaupt geschafft, bei dieser NichesischenWasserfolter einzuschlafen?“, fragte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong>de</strong>n man rechts vonSamuel angekettet hatte.„Chinesisch.“, verbesserte Dusic mü<strong>de</strong> von links.„Wasser trifft ihn nicht.“, brummte Gran aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Finsternis vorihm. Auch seine Konturen begannen sich abzuzeichnen, er hatteseinen Arm durch die Gitterwand gesteckt und tastete nach etwasin <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachbarzelle, bekam es aber nicht zu fassen.„Was, was...?“ murmelte Samuel verwirrt, <strong><strong>de</strong>r</strong> noch nicht wachgenug war, um <strong><strong>de</strong>r</strong> Diskussion folgen zu können.„Wir benei<strong>de</strong>n dich nur, weil du geschlafen hast.“, erläuterteAnthea. Die Sprache war gänzlich formlos gewor<strong>de</strong>n, im Kerkersiezte man sich nicht. „Du bist jetzt wahrscheinlich in <strong><strong>de</strong>r</strong> bestenVerfassung von uns allen.“„Wieso fühle ich mich dann nicht so?“„Weil du unsere Verfassung nicht kennst.“, sagte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, um einen134


scherzhaften Tonfall bemüht, ohne ihn zu treffen. „Was machst duda eigentlich, Gran?“, fragte er anschließend. Seine Stimme trieftevor schlecht verhehlten Neid über die Bewegungsfreiheit <strong>de</strong>s Split.„Will versuchen, an das Wasser kommen, um in Hand zu sammelnund euch geben trinken.“, ra<strong>de</strong>brechte er.„Vergiss...“, setzte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> an, doch ein plötzliches Geräuschunterbrach ihn. Knirschend wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Riegel <strong><strong>de</strong>r</strong> Metalltür zu ihrerZelle aufgeschoben. Ein bewaffneter Split kam herein. „Ihr verhört,einzeln!“, erklärte er. „Dich anfangen.“ Er zeigte auf Dusic, zog einenSchlüssel von seinem Gürtel und begann, sich an <strong>de</strong>n Ketten <strong>de</strong>sGoners zu Schaffen zu machen.Nach einiger Zeit, <strong><strong>de</strong>r</strong>en genaue Dauer Samuel an diesem Ort nichteinzuschätzen wusste, knirschte die Tür erneut. Der selbe Split wiezuvor warf Dusic buchstäblich in die Zelle zurück. Nur langsamund stöhnend stand <strong><strong>de</strong>r</strong> Mönch nach diesem unfreiwilligen Flugwie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf. Er sah aus als wäre er in eine üble Kneipenschlägereigeraten, doch man schien ihm nichts gebrochen zu haben. Alles inallem sah er <strong>de</strong>utlich weniger lädiert aus, als Samuel befürchtethatte. Er wur<strong>de</strong> auch nicht erneut angekettet. Der Split zog <strong>de</strong>nSchlüssel abermals und wandte sich nun Samuel zu.Man führte ihn über Korridore und durch Räume, die nurunwesentlich komfortabler wirkten als ihre Zelle. Da er Split bislangnur aus <strong>de</strong>m Krieg kannte, wusste er nicht, ob sie sich generell sospartanisch einrichteten o<strong><strong>de</strong>r</strong> ob dies nur für ihre Kampfschiffe galt.Zumin<strong>de</strong>st war es hier <strong>de</strong>utlich heller, regelrecht grell. Er entsannsich einmal gehört zu haben, Split hätten recht schlechte Augen.Daneben erkannte er, dass sie nicht an Bord eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Jäger seinkonnten, die sie angegriffen hatten, <strong>de</strong>nn dafür war <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg, <strong>de</strong>nman ihn entlang führte, ein<strong>de</strong>utig zu lang. Den Dimensionen nach135


zu urteilen, hatte man sie auf einen Frachter, ein Schlachtschiffo<strong><strong>de</strong>r</strong> sogar eine Raumstation gebracht.Man brachte ihn in einen größeren Raum. Auf einem steinernenThron saß ein älterer Split mit Backenbärten, die ihm fast bis zurHüfte hinabhingen. Dem Thron gegenüber stand ein Po<strong>de</strong>st, das<strong>de</strong>n Raum überragte. Man hieß ihn, darauf zu steigen, und als erirritiert inne hielt, half <strong><strong>de</strong>r</strong> Wächter unsanft nach. Von seinererhöhten Warte aus inspizierte Samuel <strong>de</strong>n Raum weiter. Über <strong>de</strong>mthronen<strong>de</strong>n Split hingen verschie<strong>de</strong>nste Waffen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand, rechtsund links eingerahmt von zwei überreich mit fremdartigenSchriftzeichen be<strong>de</strong>ckten Bannern. Links <strong>de</strong>s Splits, bei <strong>de</strong>m es sichzweifellos um <strong>de</strong>n Patriarchen eines Familienclans han<strong>de</strong>lte, hockteeine ausgemergelte, menschliche Gestalt mit einem schwerenEisenring um <strong>de</strong>n Hals.Die Anwesenheit <strong>de</strong>s Sklaven überraschte Samuel. An sich hattendie Split bei Kriegsen<strong>de</strong> alle gefangenen Menschen freilassenmüssen. Allerdings hatte es stets Gerüchte über ein Lager gegeben,das im fernen Sektor 'Thuruks Bart' auf einem trostlosen Mondliegen sollte und 'übersehen' wor<strong>de</strong>n war. An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits hatte seit<strong>de</strong>m Krieg die Piraterie bei<strong><strong>de</strong>r</strong>seits <strong><strong>de</strong>r</strong> Grenze zugenommen. DieserMann mochte also auch in jüngerer Zeit versklavt wor<strong>de</strong>n sein.Der Split gab etwas in seiner kantigen Muttersprache von sich und<strong><strong>de</strong>r</strong> Sklave sagte: „Der Herr Ironkh will wissen, wie ihr heißt.“„Samuel Gad Greenwald.“Die nächste Frage wur<strong>de</strong> gestellt und übersetzt. „Seid ihr auchMönch?“„Nein, ich bin...“, Samuel zögerte. Dann sagte er: „Händler, imKrieg war ich Soldat.“Der Sklave gab die Antwort weiter. Samuel konnte es zwar nichtgenau beurteilen, doch schien <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefangene die Splitsprache136


akzentfrei zu beherrschen. Ironkh sah zu Samuel auf, plötzlichmerklich interessierter als zuvor.„Habt ihr gegen Split gekämpft?“„Hai.“ Ironkh verstand die knappe Bestätigung auch ohneÜbersetzung.„Wo?“Samuel zählte die Gefechte auf, an <strong>de</strong>nen er teilgenommen hatte.Die Namen riefen im Gesicht <strong>de</strong>s Split keine merklichen Reaktionenhervor bis das unrühmliche Wort 'Magatama' fiel. Ironkh kniff dieAugen zusammen und ballte die Faust. Er zischte etwas undunterbrach so Samuels Aufzählung.„Der Herr Ironkh fragt, wie oft du bei Magatama warst?“Samuel verstummte irritiert. 'Wie oft?' Was meinte <strong><strong>de</strong>r</strong>Splitpatriarch? Sein Gesicht verlor an Farbe. Die Frage machte nurin einem einzigen Fall Sinn. Aber das konnte, durfte nicht sein! Essei <strong>de</strong>nn Ironkh wüsste von Dingen, von <strong>de</strong>nen eigentlich niemandwillen sollte, abgesehen natürlich von <strong>de</strong>njenigen, die dabei gewesenwaren. Samuel musterte Ironkh genauer, <strong>de</strong>nnoch kam er ihmweiterhin nicht bekannt vor. An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits hatte er damals auchnicht direkt mit <strong>de</strong>n Split verhan<strong>de</strong>lt und sie nur kurz von weitengesehen. O<strong><strong>de</strong>r</strong> interpretierte er lediglich zu viel in die Frage hinein?Seine Handflächen begannen zu schwitzen.Der Wächter, <strong><strong>de</strong>r</strong> die ganze Zeit über schweigend neben <strong>de</strong>mPo<strong>de</strong>st verharrt hatte, rammte ihm einen Elektroschlagstock in dieSeite. „Du re<strong>de</strong>n!“, blaffte er.„Zwei... zweimal.“, antworte Samuel unter Schmerzen. Jetztverstand er auch, weshalb Dusic so vergleichsweise wenig sichtbareVerletzungen gehabt hatte.„Unter wessen Befehl?“, ging das Verhör weiter.„André Renard.“137


Ironkhs Lippen verzogen sich zu einem gera<strong>de</strong>n Strich. „LeRequin.“, hörte Samuel ihn murmeln. Im stummen Entsetzenschüttelte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schmuggler <strong>de</strong>n Kopf. Wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Split wusste, wer LeRequin war, musste sein Verdacht stimmen.Dann machte <strong><strong>de</strong>r</strong> Patriarch eine herrische Handbewegung. Erstjetzt bemerkte Samuel, dass an <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand rechts von ihm, einweiterer Splitkrieger stand und offenbar einen zweiten Zugang zumThronsaal bewachte. Der Krieger öffnete diese Tür nun und ließeinen hochgewachsenen Argonen herein. Der schwarzhaarige Manntrug ein Schwert auf <strong>de</strong>m Rücken, unter seinem langen, silbernenMantel zeichneten sich zwei Feuerwaffen ab. Die Erkenntnis, dasses eben jener Kopfgeldjäger war, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm auf Jorges Hafen begegnetwar, beängstigte Samuel weniger als die Tatsache, dass er in ihmnun auch <strong>de</strong>n Mann wie<strong><strong>de</strong>r</strong> erkannte, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm auf Copertinoaufgefallen war. Fassungslos fragte er sich, was das alles zube<strong>de</strong>uten hatte.Der Kopfgeldjäger musterte <strong>de</strong>n Raum mit schnellen Blicken. Alser Samuel ent<strong>de</strong>ckte wirkte er für einen Augenblick überrascht.Dann wandte er sich Ironkh zu, verneigte sich kurz vor <strong>de</strong>m Splitund wartete. Der Patriarch sagte ein paar Worte und Samuelerwartete nun abermals <strong>de</strong>n Sklaven übersetzen zu hören. Jedochantwortete <strong><strong>de</strong>r</strong> Neuankömmling selbst in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache <strong><strong>de</strong>r</strong> Split. Erre<strong>de</strong>te lange, wobei er zwischendurch wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt auf Samuel<strong>de</strong>utete. Er klang sehr ungehalten. Auch Ironkhs zischen<strong>de</strong>Entgegnungen wirkten nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich erfreut.In die hitzige Diskussion hinein erklang plötzlich ein leises Zirpen,gleichzeitig leuchtete ein rotes Lämpchen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Lehne <strong>de</strong>sSteinthrons auf. Ironkh sagte etwas. Der Kopfgeldjäger wandte sichab, während <strong><strong>de</strong>r</strong> Split eine Holokugel aufrief, in welcher eineschriftliche Nachricht erschien. Beim Lesen durchlief die Mimik <strong>de</strong>s138


Patriarchen verschie<strong>de</strong>nste Gesichtsausdrücke, die Samuel allesamtnicht zu <strong>de</strong>uten wusste. Als <strong><strong>de</strong>r</strong> Patriarch fertig war, überlegte erkurz, dann gab er einen langen Schwall Anweisungen an die bei<strong>de</strong>nWachen. Diejenige neben <strong>de</strong>m Po<strong>de</strong>st zerrte Samuel wie<strong><strong>de</strong>r</strong> von dortherunter. „Dich zurück.“, brummte er. Die zweite Wache schob <strong>de</strong>nKopfgeldjäger in die Richtung <strong>de</strong>s an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Ausganges. Dieser risssich los, schrie Ironkh mit erhobenem Zeigefinger an und verließ<strong>de</strong>n Raum dann mit wüten<strong><strong>de</strong>r</strong> Miene.Auf <strong>de</strong>m Weg zurück zur Zelle, kam Samuel und seinem Bewacherein weiterer Krieger entgegen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> vor sich her schubste. Derjunge Goner wollte etwas sagen und fing sich dafür einen grobenSchlag ins Gesicht ein.Zurück in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zelle machte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Wächter daran, Samuel wie<strong><strong>de</strong>r</strong>anzuketten, als <strong><strong>de</strong>r</strong> ganze Raum plötzlich jäh erschüttert wur<strong>de</strong>.Gleichzeitig war ein lauter Knall zu hören, offenbar hatte esirgendwo an Bord eine Explosion gegeben. Der Wachmann ließ von<strong>de</strong>m Schmuggler ab, zog seine Waffe und ging in geduckter Haltungzur Tür. Vorsichtig lugte er in <strong>de</strong>n Gang hinaus, wobei er <strong>de</strong>nGefangenen <strong>de</strong>n Rücken zukehren musste. Gran nutzte dieGelegenheit sofort. Er sprang <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Split von hinten an, legteihm <strong>de</strong>n Arm um <strong>de</strong>n Hals und brach ihm mit einer lässigenBewegung das Genick. Dann nahm er <strong>de</strong>m erschlaffen<strong>de</strong>n Körperdie Strahlenpistole ab und formte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> linken Hand einekomplizierte Gebär<strong>de</strong>.Das alles ging so schnell von Statten, dass die drei Menschen dasGeschehen nur langsam begriffen. Verblüfft starrten sie <strong>de</strong>n Splitan. Dusic schaute leichenblass auf <strong>de</strong>n Toten hinab. „Gran, washast du getan?“, rief er ehrlich empört.139


14 – Thallos Tränen“Des Morgens führte <strong><strong>de</strong>r</strong> Ostwind die Heuschrecken her. Und sie kamen […]und ließen sich nie<strong><strong>de</strong>r</strong> an allen Orten […], so sehr viel, dass zuvor<strong><strong>de</strong>r</strong>gleichen nie gewesen ist, noch hinfort sein wird. Denn sie be<strong>de</strong>ckten dasLand und verfinsterten es. Und sie fraßen alles Kraut im Lan<strong>de</strong> auf und alleFrüchte auf <strong>de</strong>n Bäumen […] und ließen nichts Grünes übrig an <strong>de</strong>n Bäumenund am Kraut auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>.”Exodus 10,13-15 (Bibel)Die historischen Aufzeichnungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Boronen reichten übersiebzigtausend Jahre zurück. Markante Umbrüche gab es in dieserlangen Geschichte kaum, zumin<strong>de</strong>st nach menschlichenVorstellungen. Der Erste markierte <strong>de</strong>n Beginn ihrer Zeitrechnung,die politische Vereinigung aller Boronen durch die Wahl ihrer erstenKönigin, Lar Otupaus. Das Königinnenreich umfasste <strong>de</strong>n ganzenPlaneten und Millionen von Individuen. Ohne jedwe<strong>de</strong> Technologiewar dieser 'Staat' kaum mehr als die I<strong>de</strong>e und das Gefühl <strong><strong>de</strong>r</strong>Zusammengehörigkeit. Das Universum bestand für die Boronen aus<strong>de</strong>m Weltozean Nishalas mit all seinen Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonne Eo, <strong>de</strong>ndrei Mon<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>m Sternenhimmel. Mehr brauchten die sienicht, viele tausend Jahre lang.Doch dann wur<strong>de</strong> das Universum zum ersten Mal auf sieaufmerksam. Ein mysteriöses Volk, von <strong>de</strong>n Boronen 'Helfer'genannt, ent<strong>de</strong>ckte die intelligenten Meeresbewohner un<strong>de</strong>ntschloss sich, sie zu för<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Die technische Entwicklung <strong><strong>de</strong>r</strong>Boronen begann mit ersten, primitiven Werkzeugen und schrittlangsam aber stringent voran. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verstrichen die Millennien.Vor einem Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t schließlich, entschlüsselten sie dieAtomkraft und die Raumfahrt. Die Helfer waren <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung, dassihre Schützlinge ihrer nicht mehr bedurften und verließen Nishala.140


Ein Schock für die Boronen. Dennoch sorgten sie sich nicht zusehr. Sie waren überzeugt, bald auf an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Völker zu treffen undneue Freun<strong>de</strong> zu fin<strong>de</strong>n. Sie trafen auch bald auf ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Volk,doch nicht auf Freun<strong>de</strong>.Der Erstkontakt mit <strong>de</strong>n Split en<strong>de</strong>te katastrophal, zu verschie<strong>de</strong>nwaren Verhalten und intuitive Kommunikationsformen <strong><strong>de</strong>r</strong>friedlichen Meeresbewohner und <strong><strong>de</strong>r</strong> rauen Kriegerkultur. Eingrausamer Vernichtungskrieg folgte. Hätten die Boronen nicht indieser Phase auch die Menschen ent<strong>de</strong>ckt und von ihnenmilitärischen Beistand erhalten, ihre Spezies wäre ausgerottetwor<strong>de</strong>n.Entsprechend tief saß noch immer die Angst <strong><strong>de</strong>r</strong> Boronen vor <strong>de</strong>nSplit und als ein großer Verband kleinerer Jagdschiffe undKampfshuttles in das Königinnenreich eindrang, war die Panikgroß. Eigene Staffeln wur<strong>de</strong>n entsandt, um die Eindringlingeabzufangen und zur Umkehr zu zwingen. Doch sie wur<strong>de</strong>nvernichtet. In<strong>de</strong>s ignorierten die Feindschiffe die Kolonien undRaumstationen auf ihrem Weg und eilten unter Ausnutzung ihrerüberlegen<strong>de</strong>n Triebwerke von Sprungtor zu Sprungtor, vonSonnensystem zu Sonnensystem auf schnellstem Wege auf Nishalazu. Hastig sammelten die Boronen alle verfügbaren Verbän<strong>de</strong> imOrbit ihrer Heimatwelt. In höchster Anspannung erwarteten sie dasEintreffen <strong><strong>de</strong>r</strong> Split. Deren Flotte erreichte <strong>de</strong>n Sektor über dasBetator, beschleunigte weiter und flog – tatenlos an <strong>de</strong>m Planetenvorbei. Hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und <strong><strong>de</strong>r</strong>bangen Angst, im unerklärlichen Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> Fein<strong>de</strong> läge eine vielschlimmere Gefahr verborgen, beobachteten die Boronen, wie dieKampfraumer im Ereignishorizont <strong>de</strong>s zweiten Sprungtores ihresHeimatsystems verschwan<strong>de</strong>n.141


Den Bund <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten traf es völlig unvorbereitet. Dierudimentären orbitalen Verteidigungsanlagen vergingen imnuklearen Feuer unzähliger Lenkraketen. Wendige Jagdschiffeumkreisten die DW Lucullus, das schwerfällige, alte Schlachtschiff<strong>de</strong>s kleinen Staatesbun<strong>de</strong>s, wie hungrige Wölfe. Man fügte <strong>de</strong>n Spliteinige Verluste zu, doch numerische Überlegenheit undÜberraschungsangriff bescherten <strong>de</strong>n Eindringlingen trotz allemeinen schnellen und einfachen Sieg.Nach<strong>de</strong>m das Gefecht im Weltraum been<strong>de</strong>t war, gingen dieAngreifer im Lan<strong>de</strong>anflug auf Thallo nie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Verzweifelt flüchtetensich die Einwohner in die wenigen Bunker. Wer dort keinen Platzfand, musste mit <strong><strong>de</strong>r</strong> trügerischen Sicherheit einfacher KellerVorlieb nehmen. Eilig wur<strong>de</strong>n aus Polizeiverbän<strong>de</strong>n, Reservistenund Freiwilligen Milizen gebil<strong>de</strong>t und - sofern möglich - inThallopolis gesammelt. Dort in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptstadt wollte man <strong>de</strong>nInvasoren mit geeinten Kräften lang genug Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand leisten, bisEinheiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation zur Unterstützung eintrafen. Doch dieserPlan, aus Not und Eile geboren, war nutzlos, <strong>de</strong>nn man hatte sichin zwei zentralen Punkten verrechnet: Die Split waren nichtgekommen, um <strong>de</strong>n Planeten zu besetzen, und sie hatten keinInteresse an Thallopolis, ebenso wenig wie an je<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Stadt<strong>de</strong>s Planeten.Erst jetzt wur<strong>de</strong> wirklich klar, weshalb die Flotte <strong><strong>de</strong>r</strong> Angreiferhauptsächlich aus kleinen und kleinsten Raumfahrzeugen bestandund ausschließlich aus solchen, die auch <strong>de</strong>n Flug durchAtmosphären beherrschten. Nun da <strong>de</strong>n Einwohnern je<strong>de</strong>Möglichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Gegenwehr genommen war, schwärmten die Schiffeaus und verteilten sich über die Ackerbaugebiete <strong><strong>de</strong>r</strong> schutzlosenWelt. Die Topographie <strong>de</strong>s Planeten barg keine Geheimnisse mehrfür die Split. Zu kurz lag <strong><strong>de</strong>r</strong> Krieg zurück, zu aktuell waren die142


Daten ihrer Aufklärung. Unter Ausnutzung mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nster Waffenvernichtete je<strong><strong>de</strong>r</strong> einzelne Einmannjäger tausen<strong>de</strong> QuadratkilometerKulturland, verbrannte Plantagen, äscherte Fel<strong><strong>de</strong>r</strong> ein, verseuchteBö<strong>de</strong>n.Keine zwei Stun<strong>de</strong>n später stiegen die einst Besiegten wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vomOrt ihrer Rache auf und verschwan<strong>de</strong>n so überraschend, wie siegekommen waren. Die Boronen, nunmehr die Route <strong><strong>de</strong>r</strong> Fein<strong>de</strong>kennend, brachten ihre Flotte entsprechend in Stellung und rieben<strong>de</strong>n Verband <strong><strong>de</strong>r</strong> Fliehen<strong>de</strong>n fast vollständig auf. Zurück im eigenenTerritorium wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> klägliche Rest aufgegriffen und exekutiert.Von rivalisieren<strong>de</strong>n Splitclans, die sich so als redliche, <strong>de</strong>nFrie<strong>de</strong>nsvertrag einhalten<strong>de</strong> Verbün<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Argonen aufspielenkonnten, während sie innerlich frohlockten, dass man <strong>de</strong>nverhassten Menschen einen so herben Schlag versetzt hatte.Der Bund <strong><strong>de</strong>r</strong> Drei Welten aber fand in <strong><strong>de</strong>r</strong> Meldung, die Plün<strong><strong>de</strong>r</strong>erseien bestraft wor<strong>de</strong>n, keine Genugtuung. Der Planet, <strong><strong>de</strong>r</strong> ArgonPrime hatte helfen sollen, lag nun selbst hilfsbedürftig danie<strong><strong>de</strong>r</strong>. AlsKanzler Flot Halter, ermächtigt von Volk und Parlament, um diesofortige, vollständige Aufnahme Thallos und seiner Nebenwelten indie Zollunion Argons bat, verspürte Präsi<strong>de</strong>nt Doreaan<strong>de</strong>mentsprechend keinen Triumph. Nun konnte nur noch Aldrin daslebensnotwendige Saatgut liefern. Aldrin, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> frisch gebackeneGouverneur Favino bereits bekannt gegeben hatte, dieeigenmächtige Zusage seiner Vorgängerin über die Lieferungenprüfen zu wollen. Doreaan griff zum Holofon, um sich mit Vanterazu besprechen. Dann überlegte er es sich an<strong><strong>de</strong>r</strong>s und wählte dieNummer <strong>de</strong>s Verteidigungsministers.143


15 – Ego Te Absolvo„Wahrlich, ich weiß, wie schmerzhaft es ist, wenn uns selbst jene nichtglauben, die uns nahe stehen. Wenn sie merken, wer wir sind und an waswir glauben. Aber auch umgekehrt, wenn sie merken, wer sie selbst sind.Es zeigt sich nutzlos, verstärkt in diese Menschen zu dringen, <strong>de</strong>nn diesmag mehr Vertrauen zerstören als bil<strong>de</strong>n. Doch ebenso wenig sollten wirdiese Menschen aufgeben, <strong>de</strong>nn wahrscheinlich ist es für sie ebensoschmerzhaft wie für uns, zu wissen, dass Glauben und Wissen unstrennen.“Revision 12,10: Sarah B. Greenwald (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)„Du hast ihn umgebracht!“, schimpfte Dusic. Gran blickte betretenzu Bo<strong>de</strong>n. Er gab die Waffe an Samuel weiter.Dieser fasste sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. „Gut gemacht, Gran.“„Aber Greenwald-san! Er...“, erregte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> alte Goner weiter.„Ruhe!“, fuhr Anthea scharf dazwischen. „Darüber können wirspäter streiten. Jetzt müssen wir erst einmal zusehen, dass wir vonhier verschwin<strong>de</strong>n.“ Samuel stimmte ihr zu.„Und Niklas?“, fragte Dusic. Er wollte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht zurücklassen.Samuel schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Der Goner fügte sich wi<strong><strong>de</strong>r</strong>willig.Auf <strong>de</strong>m Gang stellte sich die Frage, wohin sie weiter sollten. Granschaute nach oben und wandte sich nach rechts. Er for<strong><strong>de</strong>r</strong>te diean<strong><strong>de</strong>r</strong>en auf, ihm zu folgen. Erst jetzt bemerkte Samuel dieSchriftzeichen an <strong><strong>de</strong>r</strong> Decke, anhand <strong><strong>de</strong>r</strong>er sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Split offenbarorientierte.Erneut erbebte die Struktur unter einer Explosion, dieses Mal<strong>de</strong>utlich näher. Samuel hatte keine Ahnung, was da los war. Wur<strong>de</strong>Ironkhs Familie von einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Clan angegriffen?Direkt neben seinem Kopf schlug ein Energiestrahl in die Wand.„Hrinch!“, rief jemand hinter ihm. Als Antwort schoss Samuel144


zweimal über seine Schulter, traf ihre Verfolger jedoch nicht. Gejagtvon weiteren Salven eilten die vier Flüchten<strong>de</strong>n umso hastigerdurch die Gänge, dankbar um je<strong>de</strong> Biegung, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Gang machte.Nach<strong>de</strong>m Gran an <strong><strong>de</strong>r</strong> Spitze ein weiteres Mal nach links abgebogenwar, befan<strong>de</strong>n sie sich schlagartig in einem röhrenhaften Gang.Durch Fenster an <strong>de</strong>n Seiten konnte Samuel erkennen, dass dieRöhre durch einen kleineren Hangar hindurch führte. Je zweiSchleusentüren gingen seitlich rechts und links ab, je<strong><strong>de</strong>r</strong> zu einem<strong><strong>de</strong>r</strong> vier Dockingplätze führend.Der erste Platz rechts war nicht belegt, links erkannte Samueleinen argonischen Jäger hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> verschlossenen Schleuse. Diebei<strong>de</strong>n hinteren Türen in<strong>de</strong>s waren offen, kleinere Kampfschiffe <strong><strong>de</strong>r</strong>Split hingen in <strong>de</strong>n Lan<strong>de</strong>klammern. Doch aus je<strong><strong>de</strong>r</strong> dieser bei<strong>de</strong>nSchleusen stürmte nun ein bewaffneter Split. Diese legten auf dieAusreißer an. Hinter ihnen nahmen ihre Verfolger gleichsamAufstellung. „Hrinch!“, rief einer von diesen erneut, dann versuchteer <strong>de</strong>n Befehl in Han<strong>de</strong>lssprache zu wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen: „Stehen!“Samuel und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en taten wie geheißen. „Arme auf! Waffenie<strong><strong>de</strong>r</strong>! Schauen mir!“, donnerte die Stimme hinter ihnen weiter.Samuel nahm die Finger vom Abzug und drehte sich langsam um.Dann ging er in die Hocke und ließ die Hand mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Waffe ebensolangsam zu Bo<strong>de</strong>n sinken. Anschließend machte er einige Schrittezurück. Die bei<strong>de</strong>n Split aus <strong>de</strong>n Schiffen kamen näher, einerpackte Gran bei <strong>de</strong>n Schultern und drehte ihm die Arme auf <strong>de</strong>nRücken, <strong><strong>de</strong>r</strong> An<strong><strong>de</strong>r</strong>e trat auf Samuel zu.Was dann geschah, nahm er wie in Zeitlupe wahr. Hinter <strong>de</strong>nSplit, die sie bis hierher verfolgt hatten, blitzte es zweimal bläulichauf. Noch während sie tot in die Knie sanken, warf sich Samuelinstinktiv zu Bo<strong>de</strong>n, rollte sich nach vorne ab, riss die gera<strong>de</strong>nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gelegte Waffe hoch und schoss auf <strong>de</strong>n Splitpiloten, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich145


ihm von hinten näherte. Er beobachtete wie sich dieser zur Seitewarf und von <strong>de</strong>m gleißen<strong>de</strong>n Energiestrahl gestreift wur<strong>de</strong>,gleichzeitig sah er Gran ruckartig die Arme heben und so <strong>de</strong>n Griff<strong>de</strong>s an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Kriegers sprengen. Danach schickte Gran diesen nochper Kinnhaken zu Bo<strong>de</strong>n, während sich Anthea auf <strong>de</strong>nangeschossenen Piloten stürzte.Sie rangelten nur kurz, <strong>de</strong>nn sie konnte <strong>de</strong>n überlegen<strong>de</strong>n Kräften<strong>de</strong>s Split kaum Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand leisten. Mit einem gezielten Schlagseines Ellbogens entledigte er sich ihr, konnte jedoch nichtverhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, dass sie ihm seine Waffe aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand trat. DerStrahler glitt an Samuel vorbei, <strong><strong>de</strong>r</strong> hinzu eilte und <strong>de</strong>nverbliebenen Krieger <strong>de</strong>n Lauf <strong><strong>de</strong>r</strong> bereits erbeuteten Waffe über <strong>de</strong>nSchä<strong>de</strong>l zog, so dass auch dieser Split bewusstlos liegen blieb.Dusic sah nur entgeistert von einem <strong><strong>de</strong>r</strong> vier regungslosen Körperzum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en und auch Samuel, Gran und die Aldrianerinbenötigten einige Augenblicke, um sich nach diesem Kampf, <strong><strong>de</strong>r</strong>innerhalb einer Minute ausgefochten wor<strong>de</strong>n war, soweit zusammeln, dass sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einen klaren Gedanken fassen konnten.„Das Linke.“, entschied Samuel daraufhin willkürlich, welches <strong><strong>de</strong>r</strong>bei<strong>de</strong>n frem<strong>de</strong>n Raumschiffe sie nehmen sollten. Gran und Antheastiegen wi<strong><strong>de</strong>r</strong>spruchslos ein und zogen <strong>de</strong>n weiterhin fassungslosenDusic mit sich.Samuel sah sich noch einmal um, in alle Richtungen mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Waffesichern. Von <strong>de</strong>n Kämpfen an Bord war nichts mehr zu hören, dochda ihre bei<strong>de</strong>n Verfolger offensichtlich von hinten erschossenwor<strong>de</strong>n waren, stand zu vermuten, dass sie noch nicht geen<strong>de</strong>thatten und irgendwer in unmittelbarer Nähe sein musste.Tatsächlich beunruhigte es ihn sehr, dass aus <strong>de</strong>m Gang, auswelchem die Schüsse abgegeben wor<strong>de</strong>n sein mussten, nochniemand aufgetaucht war. Denn wer auch immer <strong><strong>de</strong>r</strong> Angreifer146


gewesen war, er musste mitbekommen haben, dass sich hier imHangar noch jemand aufhielt.Da hörte er unvermittelt hinter sich aus <strong>de</strong>m Schiff, das sie zurFlucht gewählt hatten, das elektrische Knistern einesLaserschusses und einen Schrei Dusics. Überrascht schaute erüber die Schulter durch die Schleuse, wo <strong><strong>de</strong>r</strong> Alte brüllend auf <strong>de</strong>mBo<strong>de</strong>n lag, während Anthea neben ihm jeman<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> außerhalbSamuels Sichtfeld war, anschrie, ob er nicht aufpassen könne.'Nicht Aufpassen?', wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich Samuel, warf einen letzten Blickin <strong>de</strong>n Gang, um danach umgehend ins Innere <strong>de</strong>s Schiffes zustürzen. Doch er erstarrte. Der argonische Kopfgeldjäger stand, inje<strong><strong>de</strong>r</strong> Hand eine Waffe, plötzlich wie herbeigezaubert keine dreiMeter von ihm entfernt und ließ seinen Blick lächelnd über diebei<strong>de</strong>n Split schweifen, die Samuel und Gran nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschlagenhatten. „Nicht schlecht.“, kommentierte er und legte in allerSeelenruhe auf Samuel an: „Gar nicht schlecht!“Dieser sprang in die Schleuse und schlug auf eine klobigeSchlachtfläche, von <strong><strong>de</strong>r</strong> er hoffte, sie wür<strong>de</strong> das Schott schließen.Während ein Energiestrahl knapp an seinem Kopf vorbei sauste,stellte er erleichtert fest, dass er richtig gelegen hatte und sich dieSchiffsschleuse so schnell schloss, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Jäger keine Chance füreinen zweiten Versuch fand. Besser so, dachte Samuel, <strong>de</strong>nn erkonnte sich nicht vorstellen, dass sein Glück ausreichen wür<strong>de</strong>, umdreimal am selben Tag verfehlt zu wer<strong>de</strong>n. Neben ihm stöhnte Dusicvor Schmerzen auf. Was die Frage aufwarf, wer <strong>de</strong>n Schuss an Bord<strong>de</strong>s Schiffes abgegeben hatte?Alarmiert richtete er sich auf und suchte mit <strong>de</strong>m Lauf seinerWaffe nach nicht vorhan<strong>de</strong>ne Fein<strong>de</strong>n. Dafür war jemand An<strong><strong>de</strong>r</strong>esvorhan<strong>de</strong>n, stellte er verblüfft fest. Nur am Ran<strong>de</strong> seinerWahrnehmung registrierte er wie Anthea Gran fragte, ob er das147


Raumfahrzeug steuern könne und ihn, nach<strong>de</strong>m er dies bejahte,sofort auf <strong>de</strong>n Pilotensessel drängte. Ebenso entfernt undunbeteiligt bemerkte sein Bewusstsein, wie die Motorengeräuscheaufheulten und sich das Schiff ruckartig und unter hässlichemKnirschen aus seinen Andockklammern herausriss und Fahrtaufnahm.Statt<strong>de</strong>ssen starrte er ungläubig auf <strong>de</strong>n jungen Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong>krei<strong>de</strong>bleich mit rauchen<strong><strong>de</strong>r</strong> Waffe in <strong>de</strong>m schmalen Durchgangzwischen Cockpit und Schleuse stand, und in mantrahafterWie<strong><strong>de</strong>r</strong>holung flüsterte: „Das habe ich nicht gewollt, nicht gewollt.“Samuel blinzelte, doch die Gestalt verschwand nicht, war keinTrugbild seiner überstrapazierten Nerven. Wie zur <strong>Er<strong>de</strong></strong> kam Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>hierher?Der Rest ihrer Flucht verlief, gemessen an <strong><strong>de</strong>r</strong> wil<strong>de</strong>n Verfolgunginnerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Station, unspektakulär. Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t hatten siefestgestellt, dass draußen im All keine Kampfschiffe warteten,welche <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie Ironkh o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>en Fein<strong>de</strong>n gehörten. Dieskonnte nur be<strong>de</strong>uten, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Angriff von innen erfolgt war.Samuel war überzeugt, dass es nur <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfgeldjäger gewesen seinkonnte, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Kampf eröffnet hatte, wenngleich sich ihm nichterschloss, weshalb <strong><strong>de</strong>r</strong> Argone dies getan haben sollte.Der argonische Kampfraumer, <strong>de</strong>n sie im Hangar gesehen hatten,sicherlich das Schiff <strong>de</strong>s Unbekannten, legte kurz nach ihnen ab.Inzwischen hatte die Station über ihre an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Hangars eineHandvoll Kampfschiffe ausgespieen, die das argonische Schiffaugenblicklich attackierten und so alle miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> hinter <strong>de</strong>mRaumfahrzeug <strong><strong>de</strong>r</strong> fliehen<strong>de</strong>n Menschen zurück fielen. Doch aus<strong><strong>de</strong>r</strong> Richtung zweier <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Sprungtore <strong>de</strong>s Systems näherten sichschwere Zerstörer, so dass Gran keine Wahl hatte und auf das148


letzte Tor zuhalten musste, das in <strong>de</strong>n unerforschten Teil <strong>de</strong>sWeltraums führte und gegenwärtig nicht bewacht wur<strong>de</strong>.Derweil <strong><strong>de</strong>r</strong> Splitmönch das Schiff steuerte, hievten Samuel, Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>und Anthea <strong>de</strong>n schwerverletzten Dusic auf eine <strong><strong>de</strong>r</strong> zwei hartenKlapppritschen, die normalerweise <strong><strong>de</strong>r</strong> Besatzung dieses kleinenSchiffes als Schlafstatt dienten. Nach einigem Suchen fan<strong>de</strong>n sieschließlich sogar ein Erstehilfeset, mit <strong>de</strong>ssen Hilfe sie die Wun<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Goners wenigstens verbin<strong>de</strong>n konnten. Sie unterließen esallerdings, ihm Medikamente aus <strong>de</strong>m Set zu verabreichen, <strong>de</strong>nndiese waren verständlicherweise nicht für einen menschlichenOrganismus gedacht und wür<strong>de</strong>n ihm im Zweifelsfall mehr scha<strong>de</strong>nals nutzen. Nach<strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Verband angelegt war, dämmerte <strong><strong>de</strong>r</strong>erschöpfte Dusic rasch weg.„Spinnst Du?“, zischte Anthea, nach<strong>de</strong>m sie sich ins enge Cockpitzurückgezogen und die Verbindungstür zwischen sich und <strong>de</strong>mverwun<strong>de</strong>ten Goner im Nebenraum geschlossen hatten.„Aber ich konnte doch nicht wissen, dass ihr es seid.“, versuchtesich Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> zu rechtfertigen.„Wie bist du überhaupt hier an Bord gekommen?“, fragte Samuel.Er zweifelte nicht daran, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Goner seinen Mentorversehentlich unter Feuer genommen hatte und wollte dasGespräch von diesem leidigen Punkt wegführen.„Ich hab' versucht, zu fliehen.“, erklärte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> mit sichüberschlagen<strong><strong>de</strong>r</strong> Stimme: „Wie ihr. Ich wollte doch nur...“ Erverstummte, unschlüssig wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te sein Blick zur Zwischentür undwie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurück. Er schüttelte <strong>de</strong>n Kopf, als wolle er das Geschehenenegieren.Weitere Fragen lagen Samuel auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Zunge. Wie war Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> seinenBewachern entkommen, wie war er an eine Waffe gelangt, wiesohatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Split, <strong><strong>de</strong>r</strong> zuvor an Bord dieses Schiffes gewesen war, ihn149


nicht ent<strong>de</strong>ckt und warum hatte er nicht versucht, sie zu befreien?Aber angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> offensichtlichen Verzweiflung und Verstörtheit<strong>de</strong>s jungen Mannes, beschloss er, ihn vorerst nicht damit zubelasten. Auch Anthea schien gewillt, Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> vorläufig vom Haken zulassen. „Ich bin sicher, er kommt durch.“, sagte sie und legte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>die Hand auf die Schultern.„Hoffentlich.“, murmelte dieser. Doch seine Antwort war kaum zuhören, <strong>de</strong>nn just in diesen Augenblick dröhnte eine laute Stimmeaus <strong>de</strong>n Bordlautsprechern.Der längere Text wur<strong>de</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprache <strong><strong>de</strong>r</strong> Split gesprochen.Abgesehen vom Namen Ironkh verstand Samuel kein Wort. Erwandte sich Gran zu, <strong><strong>de</strong>r</strong> weiterhin hinter <strong>de</strong>n Kontrollen saß, undfragte ihn nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachricht. Vor <strong><strong>de</strong>r</strong>Cockpitscheibe wuchs das sich nähern<strong>de</strong> Sprungtor schnell zugewaltiger Höhe heran, sie hatten es fast erreicht.Der Split fasste die Nachricht, die sich nunmehr wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte, kurzzusammen: „Ironkh t'Frrg tot, Familie Ironkh ist jetzt Familie Ochir.Alle Leibeigenen Ironkhs aufgefor<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n, Befehle Ochir t'Nrrlszu befolgen o<strong><strong>de</strong>r</strong> sie sterben.“Samuels Blick fiel auf das Gravidar. Soweit er die son<strong><strong>de</strong>r</strong>bareAnzeige richtig interpretierte, hatten die Split das Feuer auf dasargonische Schiff eingestellt. Hatte dieser Ochir <strong>de</strong>n Kopfgeldjägerbeauftragt, Ironkh zu töten? Griffen die Split bei ihrenMachtkämpfen auf Dritte zurück, und wenn, auch auf Nichtsplit?Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, jedoch schienes so zu sein. Er konzentrierte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf dasGravitationsradar, um festzustellen, ob sie noch verfolgt wür<strong>de</strong>n.Doch dann verschwan<strong>de</strong>n schlagartig alle Punkte von <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzeigeund ließen sie fast vollständig leer zurück. Sie hatten das Sprungtorpassiert und waren nun in einem völlig an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Sonnensystem.150


Zwei Tage später hatten sie bereits drei weitere Sprungtordurchquert, ohne das irgen<strong>de</strong>in an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Raumschiff auf ihrenAnzeigen erschienen war. Samuel und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en waren <strong>de</strong>shalbentsprechend sicher, dass man ihnen entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht nachsetzte,o<strong><strong>de</strong>r</strong> dass ihre Verfolger ihre Spur verloren hatten. Ansonsten hatteihre Flucht sie ihrem Ziel <strong>de</strong>utlich näher gebracht. Das zuletztdurchquerte Dimensionstor hatte sie bereits in <strong>de</strong>n Sektor geführt,auf <strong>de</strong>n die mysteriösen Koordinaten aus <strong>de</strong>m Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheithinwiesen. Nun galt es nur noch bis zum letzten Planeten <strong>de</strong>sSystems vorzustoßen.Derzeit saß Samuel am Steuer. Gran hatte ihm und Anthea dieBedienung <strong>de</strong>s Splitraumers erläutert. Und da, sah man von ihrenzwölf statt zehn Fingern ab, die Hän<strong>de</strong> und Arme <strong><strong>de</strong>r</strong> Split <strong>de</strong>nen<strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen sehr ähnlich waren, fiel es <strong>de</strong>m Schmuggler und <strong><strong>de</strong>r</strong>ehemaligen Gouverneurin nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich schwer, sich diefremdartige Steuerung anzueignen. Stören<strong><strong>de</strong>r</strong> war da schon <strong><strong>de</strong>r</strong>steinharte Pilotensitz. Doch selbst dieser ließ sich leichter ignorierenals das Hungergefühl. Denn es gab zwar Wasser an Bord, jedochkeine für Menschen geeignete Nahrung.Samuel hoffte sehr, dass sie diese CAU tatsächlich fin<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n.Sein eigener knurren<strong><strong>de</strong>r</strong> Magen erinnerte ihn stetig an die drohen<strong>de</strong>Hungersnot auf Argon Prime. Dennoch blieb ihm das Schicksal <strong><strong>de</strong>r</strong>Millionen Planetenbewohner eigentümlich fern. Sie waren eineanonyme Masse, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Leben ihn nicht berührte.Umso mehr sorgte er sich um Dusic. Er hatte eine kru<strong>de</strong>Sympathie für <strong>de</strong>n engagierten und zerstreuten Goner gewonnen,<strong>de</strong>m es zwar augenscheinlich missfiel, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohn <strong><strong>de</strong>r</strong> HüterinSarah Greenwald <strong>de</strong>m Erdglauben abgeschworen hatte, ihn abergleichzeitig auch nicht dorthin zurück drängte. Der alte Mann, von151


ihrer Gefangenschaft und <strong><strong>de</strong>r</strong>en Torturen schon arg geschwächt, littbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>s unter <strong>de</strong>m Ausbleiben jeglicher Nahrung.Gran hatte ihrem Gefährt kurzerhand einen neuen Namengegeben. Ein konsonantenreiches, schier unaussprechliches,überlanges Wortkonstrukt, das seiner Aussage nach, diewortnaheste Übersetzung von 'Evangelium' in seine Muttersprachesei. Allerdings sprach nur er allein <strong>de</strong>n Namen vollständig aus. Allean<strong><strong>de</strong>r</strong>en beschränkten sich auf die ersten zwei Silben und nanntenihren gekaperten Jäger daher schlicht 'Hadrom'.Samuel kontrollierte abermals das Gravidar. Ihr Schiff been<strong>de</strong>tesoeben ein Swing-by-Manöver, die Umrundung eines Gasriesen, umdurch die hierbei walten<strong>de</strong>n Fliehkräften zusätzlich beschleunigt zuwer<strong>de</strong>n. Weiterhin war die Hadrom das einzige Raumschiff imSektor. Sie flog auf einer sanft geschwungenen Parabelbahn in dieAußenbezirke dieses Sonnensystems, wo sie in etwa einer Stun<strong>de</strong>auf <strong>de</strong>n Zielkoordinaten eintreffen wür<strong>de</strong>. Keinerlei Asteroi<strong>de</strong>n o<strong><strong>de</strong>r</strong>Meteoriten waren in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf einem kritischenKollisionskurs. Samuel konnte das Steuer getrost einige Zeit aus<strong>de</strong>m Auge lassen, und so ging er nach hinten, um nach Dusic zusehen.Im Mittelgang war es noch enger gewor<strong>de</strong>n. Gegenüber <strong><strong>de</strong>r</strong>Pritsche, auf die sie <strong>de</strong>n Alten gebettet hatten, war inzwischen auchdas zweite Bett ausgeklappt. Dort versuchte Anthea vergeblich einwenig Schlaf zu fin<strong>de</strong>n, bevor sie ihre nächste Schicht am Steuerantreten sollte.Nicht nur sie war wach, auch Dusic hatte sich aus seinemdämmrigen Zustand gelöst und saß halb aufgerichtet auf seinemBett und hielt eine Hand über Grans Kopf, <strong><strong>de</strong>r</strong> vor ihm kniete. „...und wer<strong>de</strong> nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Waffe anrühren.“, hörte Samuel <strong>de</strong>n Splitleise sagen.152


„Ego te absolvo.“, murmelte Dusic und schlug ein Kreuzzeichen:„Ich vergebe dir. Und dir auch, Niklas.“, fügte er an Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> gewandtzu, <strong><strong>de</strong>r</strong> verloren neben <strong><strong>de</strong>r</strong> Szene stand und sich nun vor seinemLehrmeister zu Bo<strong>de</strong>n warf: „Domo arigato, Dusic-sama, domo!“,bedankte er sich erleichtert.Das alles wirkte irgendwie intim und Samuel kam in <strong>de</strong>n Sinn,dass ihm all dies hier, Grans Beichte und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>s Absolution, nichtim Geringsten etwas anging. Verstohlen wollte er sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> insCockpit zurückziehen, so als hätten nicht eh alle längst bemerkt,dass er <strong>de</strong>n Raum betreten hatte. „Samuel!“ Dusics Stimme hieltihn zurück. „Greenwald-san, wartet.“Gran machte Samuel Platz, so dass er an Dusics Pritscheherantreten konnte. „Ihr wer<strong>de</strong>t fin<strong>de</strong>n, was ihr sucht.“, sagte <strong><strong>de</strong>r</strong>Goner.Das klang nach Abschied, dachte Samuel bestürzt. Es gelang ihm,unbesorgt zu klingen, als er antwortete: „Klar, wir sind gleich beidiesem komischen Getrei<strong>de</strong>schiff.“„Ich re<strong>de</strong> doch nicht von Edda. Nein, aber ihr... du, du wirstfin<strong>de</strong>n, was du sucht.“„Sie auch.“, sagte Samuel, nach<strong>de</strong>m er hilflos nach einer besserenEntgegnung gesucht hatte.„Hai.“, bestätigte Dusic und kicherte hustend. Dann ließ er sichzurücksinken und schien augenblicklich einzuschlafen.Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en kehrten ins Cockpit zurück. Das Gravidar undFrontscheibe wur<strong>de</strong>n inzwischen von <strong><strong>de</strong>r</strong> gewaltigen Masse <strong>de</strong>sletzten Planeten dominiert. Ein Gasplanet, <strong>de</strong>n dutzen<strong>de</strong> Mon<strong>de</strong> vonunterschiedlichster Größe umkreisten. Immer mehr Trabantenwur<strong>de</strong>n auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Anzeige sichtbar, da die Sensoren, je näher siekamen, immer kleinere Exemplare aufspürten. Und dann,schlagartig, erschienen weitere Objekte, <strong><strong>de</strong>r</strong>en regelmäßige,153


zylindrische Struktur ihren künstlichen Ursprung verriet. Zehn,zwanzig, dreißig, insgesamt einundvierzig Stück zogen ingleichmäßigem Abstand zueinan<strong><strong>de</strong>r</strong> auf einer gemeinsamenUmlaufbahn um <strong>de</strong>n Planeten herum.Gran legte das Bild eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Objekte auf einen Monitor. DieZylin<strong><strong>de</strong>r</strong> waren vollkommen Schwarz und nur <strong>de</strong>shalb zu sehen,weil sich die gelbe Planetenscheibe auf ihrer metallischenOberfläche spiegelte. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte einen Durchmesser von zwanzigMetern und war exakt hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Meter lang. StummeIonentriebwerke ragten aus <strong>de</strong>n Rückseiten heraus.Samuel schluckte. Bei diesen Dingern - er war sich nicht sicher,ob er sie als Drohnen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Raumschiffe bezeichnen sollte - musstees sich um die Vorräte han<strong>de</strong>ln, die das Robotschiff Edda laut <strong>de</strong>mBuch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit angelegt haben sollte, vakuumversiegelt undversandfertig. 'Eigentlich ein klasse Service', dachte er amüsiert.„Da!“, rief Anthea und <strong>de</strong>utete auf <strong>de</strong>n weiten Bogen <strong>de</strong>s Horizonts.Und tatsächlich schob sich dort nun ein weiterer schwarzerZylin<strong><strong>de</strong>r</strong> vor <strong>de</strong>n konturlosen, gelben Hintergrund <strong>de</strong>s Gasriesen. Ineinem höheren Orbit als die Vorratsbehälter und viel größer. Allenwar klar, worum es sich han<strong>de</strong>lte. Da war sie, die VN-TerraformerColonial Assistant Unit #Edda. Im schwarzen Leib <strong>de</strong>s gewaltigenSchiffes blitzte es unerwartet auf.Im selben Moment vermel<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadrom <strong>de</strong>nEingang einer Richtlaserübertragung, die Gran sofort öffnete. Einson<strong><strong>de</strong>r</strong>barer Text erschien auf <strong>de</strong>m Monitor:*{*ID: edda-00.00.00.13.c2.96.0d-00;*DOY: 2504-276*Letzter Downlink: 2097 (recvd. 2098)154


*Lan<strong>de</strong>erlaubnis: frei*Protokoll: Revision 18*Status: Bestätigung erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich}*Gran eilte nach hinten und rüttelte Dusic aus <strong>de</strong>m Schlaf. „Wir esgeschafft haben!“, rief er begeistert, als <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner erwachte.„Das ist schön, mein Sohn.“, antwortete dieser schläfrig undschloss die Augen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Dann hörte er mit einem Lächeln auf <strong>de</strong>nLippen zu atmen auf.155


16 – Erntedank„Eines Tages wird die Sonne aufgehen, warm und hell. Es wird nichtirgen<strong>de</strong>ine Sonne sein, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> liebliche, gelbe Stern, nach <strong>de</strong>m es unsallen tief in unseren Herzen verlangt. Wir wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n blauen Himmelunserer Vorfahren schauen und mit je<strong><strong>de</strong>r</strong> Faser fühlen, dass wir hierhergehören, dass wir unseren Platz im Universum wie<strong><strong>de</strong>r</strong>gefun<strong>de</strong>n haben.Dann, und nur dann, kann unser Volk eins wer<strong>de</strong>n und <strong><strong>de</strong>r</strong> Jugend unsererArt entwachsen.“Hüter 21,7: Fran Foster (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Anthea stand zusammen mit <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en im Cockpit undverfolgte auf einem Monitor das Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> hinteren Außenkamera. Mitmulmigen Gefühlen beobachtete sie, wie <strong><strong>de</strong>r</strong> lange, roteKunststoffsack fort tru<strong>de</strong>lte, <strong><strong>de</strong>r</strong> die sterblichen Überreste <strong>de</strong>s altenGoners enthielt. Sie sah kurz in die Gesichter <strong><strong>de</strong>r</strong> drei Männerneben sich, in <strong>de</strong>n Zügen von Samuel Greenwald und Niklas Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>stand die Trauer <strong>de</strong>utlich zu lesen. Die Mimik <strong>de</strong>s Split, <strong><strong>de</strong>r</strong> laut einGebet sprach, war nicht zu ergrün<strong>de</strong>n. Und doch hatte sie <strong>de</strong>nEindruck, dass auch an ihm genauso wie an <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>enund ihr selbst ein schlechte Gewissen nagte, Dusic mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong>weniger einfach über die Luftschleuse entsorgt zu haben. DasWissen darum, dass es dazu keine Alternative gegeben hatte,lin<strong><strong>de</strong>r</strong>te diese Empfindung nicht im Geringsten. Aber sie konnten<strong>de</strong>n Leichnam nun einmal nicht an Bord behalten, und da es soungewiss war, was sie an Bord <strong>de</strong>s Robotschiffes erwarten wür<strong>de</strong>,empfahl es sich auch nicht, ihn dorthin mitzunehmen.Sie fühlte sich fehl am Platz. Bei einer Beerdigung rief man sich dieguten Momente in Erinnerung, die man mit <strong>de</strong>m Verstorbenenerlebt hatte. Anthea aber hatte <strong>de</strong>n Goner erst wenige Tage gekanntund so blieb ihr nur das Gefühl eines unbestimmten Bedauerns156


Schiffshülle in schneller Folge an und aus. Sie taten dies nacheinem Muster, das <strong>de</strong>n Eindruck erweckte, als wür<strong>de</strong>n einzelneLichtpunkten von hinten nach vorne über das Schiff wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n.Gleichzeitig kippten sie auch nach unten weg, was daher kam, dassdie TF/CAU #Edda um ihre Längsachse rotierte.Gran schaute hinaus und nickte. Dann setzte er sich auf <strong>de</strong>n Sitz<strong>de</strong>s Copiloten und begann etwas in seinem Pad zu notieren. Antheatrat hinzu zu und sah, wie sich son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar komplexe, aber klobigeSchriftzeichen auf <strong>de</strong>m kleinen Display zu einem spiralförmigenMuster aneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> reihten. „Was schreibst du da?“Der Split sah nicht auf. „Hüter <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit Dusic wollte sicherBericht über Reise machen. Nun, ich mache, lege Notizen an.“ DieTextspirale wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te noch ein wenig weiter, dann versiegte <strong><strong>de</strong>r</strong>Fluss <strong><strong>de</strong>r</strong> Buchstaben. „Muss auch noch mehr wissen über sie,Prinzessin.“, stellte er fest und drehte sich zu ihr um.Sie versteifte sich. „Warum nennst du mich so?“, fragte sie wütend.Er zögerte und musterte sie mit verän<strong><strong>de</strong>r</strong>tem Gesichtsausdruck.Dann erklärte er: „Dusic sie so genannt hat.“Sie erinnerte sich daran, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner dies tatsächlich getanhatte. Sowohl als er <strong>de</strong>n Notruf abgesandt hatte, wie auch späterauf seinem Krankenbett. Hier wie da war nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Momentgewesen, ihm <strong>de</strong>swegen Vorhaltungen zu machen. Zumal er sieoffensichtlich mit diesem Titel belegte ohne <strong>de</strong>n Sarkasmus zubenutzen, aus <strong>de</strong>m heraus Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna ihn erfun<strong>de</strong>n hatte.Vermutlich hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Mönch nicht einmal gewusst, dass es sich umeinen Verhöhnung han<strong>de</strong>lte. Jetzt, da sie darüber nachdachte,wollte ihr nicht so recht aufgehen, wieso er diesen Titel dannüberhaupt kannte. Hatten die argonischen Medien es irgendwieaufgegriffen? Glaubte man in <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation etwa wirklich, sie habeauf Aldrin die Monarchie eingeführt? Sie wusste, dass Menschen so158


einiges zu glauben bereit waren, beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in Hinblick auf ihreFein<strong>de</strong> und Konkurrenten. Und Aldrianer waren auf Argon Primeimmerhin nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich beliebt. 'Aber Prinzessin, verdammt nochmal!', dachte sie: 'Was hatte Hen<strong><strong>de</strong>r</strong>sna da nur angerichtet?'„Also, ich bin eigentlich nicht...“, setzte sie an, doch Samuelunterbrach sie. „Was ist das <strong>de</strong>nn? Da hängt ein Schiff.“, rief <strong><strong>de</strong>r</strong>Pilot erstaunt aus, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Kurs <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadrom inzwischen an dieRotation <strong>de</strong>s größeren Fahrzeugs angepasst hatte.Alle schauten hinaus. Ihr Schiff folgte <strong>de</strong>n wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n Leuchtenzur Vor<strong><strong>de</strong>r</strong>seite <strong><strong>de</strong>r</strong> riesigen, schwarzen Versorgungseinheit, wo sichbereits große dreieckige Flügeltüren öffneten, um die Hadrom in <strong>de</strong>nHangar einzulassen. Mittschiffs aber verfügte Edda umlaufend überacht äußere Andockplätze. An einem davon lag ein kleiner Raumervor Anker. Das Fahrzeug war ein<strong>de</strong>utig menschlichen Ursprungs,<strong><strong>de</strong>r</strong> Typ war Anthea aber gänzlich unbekannt. Auch Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong>fast sein ganzes Leben zwischen <strong>de</strong>n Sternen herum reisendverbracht hatte, konnte es nicht zuordnen. Das Mo<strong>de</strong>ll mussteziemlich alt sein.„Irgendjemand war schon vor zu da.“, hielt Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> fest. Es war daserste Mal seit Stun<strong>de</strong>n, dass Anthea seine Stimme hörte.Samuel zuckte die Achseln. „An sich nichts Neues, schließlich hatja auch irgendjemand die Koordinaten im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheithinterlegt.“Der junge Goner nickte. „Doch warum hat man das Schiff dagelassen?“, fragte er weiter.„Wir wer<strong>de</strong>n es herausbekommen.“, antwortete Anthea. „Du musstjetzt übrigens wen<strong>de</strong>n.“, fügte sie an Samuel gewandt zu, <strong><strong>de</strong>r</strong> so in<strong><strong>de</strong>r</strong> Betrachtung <strong>de</strong>s unbekannten Schiffes versunken war, dassdie Hadrom schon ein Stück an <strong><strong>de</strong>r</strong> Hangaröffnung vorbei geflogenhatte.159


„Aye, Aye, Ma'am!“Im Raumfahrtmuseum <strong><strong>de</strong>r</strong> aldrianischen Hauptstadt Brooks hatteAnthea einmal einen schematischen Längsschnitt durch einenTerraformer gesehen. Sie erinnerte sich an einen weitläufigenHangarbereich, <strong><strong>de</strong>r</strong> fast ein Viertel <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamten Länge <strong><strong>de</strong>r</strong>gewaltigen Computerschiffe eingenommen hatte, um beiminterstellaren Flug die zahlreichen kleineren Raumschiffe, Drohnenund flugfähigen Roboter aufnehmen zu können, die beimTerraformingprozess zum Einsatz kamen. Im Vergleich dazu, war<strong><strong>de</strong>r</strong> Lan<strong>de</strong>bereich Eddas winzig bemessen.Die Hadrom hatte kaum die Hangaröffnung passiert, da ragte vorihr bereits wie<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Wand auf. Die Ausrichtung <strong><strong>de</strong>r</strong>Lan<strong>de</strong>buchten ließ darauf schließen, dass es sich hierbei vielmehrum <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n han<strong>de</strong>lte. Samuel richtete ihr Schiff entsprechendaus. Aus Antheas Sicht stellte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Hangar, <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlich dievor<strong><strong>de</strong>r</strong>ste Scheibe <strong>de</strong>s zylindrischen Robotschiffes war, nunmehr alskreisrun<strong><strong>de</strong>r</strong> Saal dar. Die Stahlgerippe <strong><strong>de</strong>r</strong> Lan<strong>de</strong>buchten ragtenaus <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n hervor. Sie waren allesamt leer. Zwischen ihnenbefan<strong>de</strong>n sich Leisten, an <strong>de</strong>nen Wartungsdrohnen or<strong>de</strong>ntlichaufgereiht vor sich hin schlummerten und weitere Aufhängungen,an <strong>de</strong>nen winzige raketenähnliche Miniaturraumschiffe befestigtwaren. Anthea vermutete, dass es sich hierbei um die gefürchtetenAssembler han<strong>de</strong>lte. Eigentlich harmlose Bau- undReparaturdrohnen, die allerdings während <strong><strong>de</strong>r</strong> erbitterten Kämpfemit <strong>de</strong>n Maschinen <strong>de</strong>n Menschen die Raumschiffe regelrecht unter<strong>de</strong>m Sitz weg <strong>de</strong>montiert hatten. Sie war froh, dass Edda nicht mit<strong>de</strong>m fehlerhaften Update <strong><strong>de</strong>r</strong> Terraformer überspielt wor<strong>de</strong>n warund die Besatzung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadrom daher nicht als Feind betrachtete.Samuel hatte keine Mühe, <strong>de</strong>n schmalen Splitjäger in eine <strong><strong>de</strong>r</strong>160


Buchten zu manövrieren. Deutlich länger dauerte es, bis dieautomatisierten Systeme von Edda es geschafft hatten, eineluftgefüllte Gangway an <strong><strong>de</strong>r</strong> Personenschleuse <strong>de</strong>s außerirdischenRaumgefährtes anzuschließen. Schließlich aber gelang dies und <strong><strong>de</strong>r</strong>Schlauch <strong><strong>de</strong>r</strong> Gangway saugte sich mit einem lauten Schmatzen an<strong><strong>de</strong>r</strong> Außenwand <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadrom fest. Der Bordcomputer überprüfte aufGrans Befehl das dort herrschen<strong>de</strong> Gasgemisch und bestätigte,dass es atembar sei. Bei<strong>de</strong> Türen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mannschleuse fuhrengleichzeitig auf und alle vier Insassen verließen gemeinsam dasSchiff.„Und was jetzt?“, fragte Anthea, nach<strong>de</strong>m sie die kurze Gangwaypassiert hatten und sich daraufhin in einem nur schwachbeleuchteten Korridor befan<strong>de</strong>n.Der Gang war völlig leer, abgesehen von einer Plakette, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> dieNummer <strong><strong>de</strong>r</strong> Lan<strong>de</strong>bucht geschrieben stand, und einem Displaydarunter, welches ausschließlich Fragezeichen anzeigte. Hierwur<strong>de</strong>n für gewöhnlich alle Daten <strong>de</strong>s angedockten Schiffesaufgelistet, wusste Anthea, jedoch lagen Edda über <strong>de</strong>n Splitraumerkeine vor.„Ich weiß nicht.“, antwortete Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> unsicher. „Oh?“Letzteres bezog sich auf die Beleuchtung im Korridor, die zu ihrerrechten schlagartig heller gewor<strong>de</strong>n war, während sie linksabunverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t matt glomm. Samuel grinste. „Ah! Positionslichter fürMenschen.“, scherzte er. „Na, dann wollen wir mal.“Sie folgten <strong>de</strong>m Licht durch das große Schiff. An je<strong><strong>de</strong>r</strong> Gabelung,gab es nur eine hell erleuchtete Möglichkeit weiter zu gehen. Nacheinem nicht allzu langen Fußweg en<strong>de</strong>te das helle Licht vor einemLift. Sie stiegen ein und bald darauf öffneten sich dieFahrstuhltüren wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und gaben <strong>de</strong>n Blick frei auf einatemberauben<strong>de</strong>s Panorama. „<strong>Er<strong>de</strong></strong>!“, entfuhr es Anthea161


unwillkürlich.Natürlich hatte sie Weizenfel<strong><strong>de</strong>r</strong> erwartet. Jedoch hatte sie sich<strong><strong>de</strong>r</strong>en Anlage so wie auf Raumstationen o<strong><strong>de</strong>r</strong> lebensfeindlichenWelten vorgestellt, als eine große, spiegelglatte, mit Pflanzenbewachsene Fläche, über die sich ein Kunstglasdach wölbte.Letztlich nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es als ein Gewächshaus auf einem Planeten,nur größer und technisch aufwendiger, und über allem wür<strong>de</strong> einSternenhimmel prunken. Statt<strong>de</strong>ssen sah sie hinauf in einenHimmel aus noch mehr Weizen.Ringsum waren die Innenseiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Außenhülle mit <strong>de</strong>n bräunlichgelben Nutzpflanzen bewachsen. Ihr Verstand registrierte nüchtern,dass diese Anordnung leicht zu erklären war. Durch seineEigenrotation erzeugte das Schiff Edda ohne großenEnergieaufwand künstliche Schwerkraft, die nach außen wirkte.Dennoch war es eine eigentümliche Empfindung, hoch über sich einGetrei<strong>de</strong>feld zu sehen, dass scheinbar von <strong><strong>de</strong>r</strong> fernen Decke herabhing und auf <strong>de</strong>m – sie schluckte, als sie es erkannte – einemonströse Erntemaschine herum fuhr, so als wäre nichts dabei,dass tonnenschwere Apparaturen ungesichert an <strong><strong>de</strong>r</strong> Decke klebtenund nicht nach unten stürzten. Anthea senkte <strong>de</strong>n Kopf wie<strong><strong>de</strong>r</strong>, daihr eigener Gleichgewichtssinn durch das Bild ihrer Augen irritiertwur<strong>de</strong> und ihr schlecht zu wer<strong>de</strong>n drohte.Die ganze Zeit über war es ihr vorgekommen als vernehme sieangesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> überwältigen<strong>de</strong>n Kulisse Musik. Ein pathetischesWechselspiel aus leisen Streichinstrumenten und kraftvollanschwellen<strong>de</strong>n Trompetenstößen, unterlegt von einem schnellenTrommeln, das aber so <strong>de</strong>zent war, dass es dieWahrnehmungsgrenze nur knapp erreichte. Erst mit Verzögerungbegriff sie, dass dies kein Produkt ihrer stimulierten Fantasie war,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n tatsächlich eine orchestrale Melodie aus verborgenen162


Lautsprechern in die gewaltige Halle flutete.Direkt vor ihnen lag ein Durchlass durch zwei Fel<strong><strong>de</strong>r</strong>, die sich baldrechts und links hinauf schwangen. Es war ein Weg und erleuchtete in strahlen<strong><strong>de</strong>r</strong> Helligkeit. Zunächst dachte Anthea, dassdieses Licht erneut als Wegweiser gedacht sei. Doch als sie auf dieleuchten<strong>de</strong> Fläche trat und darauf hinab schaute, erahnte sie durch<strong>de</strong>n blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Lichtschimmer die Wölbung <strong><strong>de</strong>r</strong> nahenPlanetenoberfläche. Der vermeintliche Weg war ein Fenster durchdas Licht eindringen konnte. Allerdings war es dafür zu hell. Antheakonnte nur spekulieren, ob durch Spiegel und Glasfasern <strong>de</strong>utlichmehr Licht durch die Fenster geleitet wur<strong>de</strong>, als diese tatsächlichtraf. Bei einem erneuten Blick nach oben, ent<strong>de</strong>ckte sie weitereLichtwege dieser Art, die in gleichmäßigen Abstän<strong>de</strong>n die Fel<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Länge nach zerschnitten. Und dann erspähte sie etwas, was ihr einverblüfftes Stirnrunzeln bescherte. In etlicher Entfernung, fastschon am an<strong><strong>de</strong>r</strong>en En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> riesigen Halle stand hinter <strong>de</strong>meinheitlichen Meer aus Weizenähren ein Baum.Sie schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Was hatte das zu be<strong>de</strong>uten? Wieso wuchsda ein Baum, obwohl hier doch scheinbar sonst alles aufMonokultur ausgerichtet war? Und wieso spielte Musik? „Verstehtihr das?“, fragte sie. Die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en, die sich ebenso beeindruckt un<strong><strong>de</strong>r</strong>staunt umsahen, verneinten.„Das da hinten wird wohl ein Obstbaum sein.“, mutmaßte Samuel.„Ja, aber warum nur einer? Das macht doch gar keinen Sinn.“„Nein, aber... Chikusho!“ Samuel rieb sich <strong>de</strong>n Kopf, als hätte ereinen Schlag einstecken müssen. „Was war <strong>de</strong>nn das?“Anthea hatte nichts mitbekommen. Doch ehe sie fragen konnte,was er meine, hatte sich Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> bereits gebückt und eine weiße, zweiFinger dicke Kunststoffkugel aufgehoben. „Hier, sieht aus wie einGolfball.“163


„Es ist ein Golfball.“, bestätigte Anthea und starrte das winzigeSportutensil ungläubig an.„Golf!“, brummte Samuel mürrisch. „Deka<strong>de</strong>nter Unsinn. Manmuss extra auf einen Planeten runter, um es zu spielen.“„Oh, es muss nicht immer ein Planet sein.“, sagte da einefreundliche Frauenstimme hinter ihnen. Perplex fuhren Anthea unddie An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Sprecherin herum. Diese schlüpfte gera<strong>de</strong>zwischen <strong>de</strong>n letzten hohen Halmen <strong>de</strong>s Fel<strong>de</strong>s hindurch und tratauf <strong>de</strong>m Weg. Es war eine Frau mittleren Alters, hier und dadurchzogen bereits grauen Strähnen ihre braunen Haare und inihrem Gesicht begannen sich erste Falten zu verfestigen. Viel wardavon in<strong>de</strong>s nicht zu sehen, <strong>de</strong>nn sie trug eine Brille mit grotesküberdimensionierten, grün getönten Gläsern. Einen Golfschlägerhatte sie geschultert, die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en trug ihr ein Bot hinterher, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihrim kurzen Abstand folgte.Es han<strong>de</strong>lte sich offenbar um einen von Eddas Wartungsrobotern,<strong><strong>de</strong>r</strong> augenscheinlich für diesen Zweck umprogrammiert wor<strong>de</strong>n war.Die Schläger waren doppelt so lang wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter hoch. Seinekleinen Werkzeughän<strong>de</strong> hatten Schwierigkeiten mit <strong>de</strong>n langenStäben, so dass diese beständig wackelten und vor Anthea innerenAuge das Bild eines Käfers herauf beschworen, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>m Rückenlag und hilflos mit <strong>de</strong>n Beinen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft herum stocherte. Dochnatürlich fesselte die Maschine ihre Aufmerksamkeit weit wenigerals die unbekannte Frau.Diese lächelte die verwirrten Ankömmlinge amüsiert an. „Eine CAUreicht auch.“„Bitte was!?“, fragte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> entgeistert.„Na, zum Golfen.“, erklärte die Frau geduldig. Sie wandte sich anSamuel. „Es wäre ein schöner Hole-in-One gewesen, wenn du nichtso <strong>de</strong>ppert im Wege rumgestan<strong>de</strong>n hättest.“164


Sie lachte. „Entschuldigt, ich bin unhöflich.“, fuhr sie fort. „Istlange her, dass ich Besuch hatte.“ Sie legte eine son<strong><strong>de</strong>r</strong>bareBetonung auf das Wort 'lange'. „Da wird man etwas wun<strong><strong>de</strong>r</strong>lich.Also, erst mal: Hi. Ich freue mich ehrlich, euch zu sehen. Vor allemdich, Anthea. Geht es dir gut?“Die Angesprochene blinzelte. „Sie kennen mich?“, fragte sie unddachte im selben Moment, dass es eigentlich nicht erstaunlich sei,schließlich war sie eine Spitzenpolitikerin.„Aber ja doch, schon lange.“ Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> diese merkwürdige Betonung.„Du willst zu ihrem Grab, nicht wahr? Ach, was re<strong>de</strong> ich da.“ Sielachte erneut. „Das kannst du ja gar nicht wissen.“ Dann drehte siesich um und rief laut: „Springer auf F4!“Anthea und Samuel tauschten einen entsetzten Blick. Sie schienenes mit einer Verrückten zu tun zu haben. Gran machte sich <strong><strong>de</strong>r</strong>weilscheinbar unbeeindruckt vom Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> Frau weiter Notizen fürseinen späteren Reisebericht. Anthea nahm an, dass menschlichesBenehmen für ihn ohnehin schwer verständlich war und ihm dahernichts Ungewöhnliches an dieser Irren auffiel, die offenbar hier anBord wohnte.Plötzlich erklang aus un<strong>de</strong>finierbarer Richtung eine blecherneComputerstimme: „Dame schlägt Springer.“„Edda, mein Mädchen!“, rief die Grünbebrillte überrascht aus. „Soschnelle Züge kenne ich von dir ja gar nicht. Wir haben doch Zeit.“Sie wandte sich ruckartig <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zu: „Haben wir doch, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“Es klang misstrauisch, gar eine Spur aggressiv.Anthea, Samuel und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> lächelten unsicher. Gran hielt beimTippen inne und schien <strong>de</strong>n weiteren Verlauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Unterredung <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschen abzuwarten.„Leben sie hier?“, versuchte es Anthea mit einer unverfänglichenFrage.165


„Denke schon, <strong>de</strong>nn wenn ich nicht gestorben bin, dann lebe ichnoch heute.“„Schon lange?“Die Frau lächelte traurig. „Oh ja, schon lange. Sehr lange. DeineFreun<strong>de</strong> hier... Was ist das da eigentlich für Einer? Split, nichtwahr? Na ja, egal, die können gar nicht verstehen, was ich damitmeine. Aber du, du verstehst mich, nicht wahr?“Anthea erstarrte. Sprach diese Frau von ihrer Langlebigkeit? Aberwie konnte sie davon wissen? Nicht einmal Stacia wusste, dassAnthea Trägerin <strong>de</strong>s nelV-Gens war. Sie schüttelte entschie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>nKopf: „Nein, ich habe keine Ahnung, was sie meinen, Miss.“Nun war es an ihrem Gegenüber, erstaunt zu sein: „Großer Gott!Sollte es sein, dass du es gar nicht weißt? Hat Amalia dir nie etwasgesagt?“„Amalia?“, hauchte Anthea tonlos. Das war <strong><strong>de</strong>r</strong> Name ihrerverschollenen Mutter. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was hattedie Frau vorhin gefragt? Ob Anthea an 'ihr Grab' wolle? 'Nein!',dachte sie. 'Nein!' „Nein!“, schrie sie.„Nein?“„Nein, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon sie sprechen!“Die Frau zögerte. Schließlich gab sie ein ge<strong>de</strong>hntes „Okay“ vonsich. „Dann halt nicht. Ich will dich zu nichts zwingen.“Einen Moment lang herrschte Schweigen, bis auch Samuel <strong>de</strong>nVersuch machte, mit einem harmlosen Thema das Gespräch inGang zu bekommen: „Schöne Musik.“„Oh ja!“, bestätigte die Frau begeistert. „Esther Hendrykovas'Richard vor Akkon'. Das ist Filmmusik aus..., ach <strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>t ihreh nicht kennen. Einer von diesen tschechischenHistorienschinken, die damals so beliebt waren. Ich war mit Nath in<strong><strong>de</strong>r</strong> Premiere.“ Sie seufzte, unter einem <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n großen166


Brillengläser kam eine Träne zum Vorschein. „Nein, <strong>de</strong>n Film wer<strong>de</strong>tihr nicht kennen.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte sie flüsternd. „Aber ich erinneremich als sei es gestern gewesen. Grausam.“„Tja.“, machte Samuel unsicher. Erneut trat eine verlegen<strong>de</strong> Pauseein. Dann gab sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Pilot einen Ruck, um auf <strong>de</strong>n eigentlichenGrund ihres Hierseins zu sprechen zu kommen. „Zur Sache. MeinName ist Samuel Greenwald, das hier sind Niklas Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>Gran, Gouverneurin Demetres scheinen sie ja bereits zu kennen.Wir sind im Auftrag <strong>de</strong>s Obersten Hüters <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit hier undsollen... nun ja...“, er sah sich um: „dieses Versorgungsschiff undseine Vorräte mitnehmen. Wenn sie bitte so freundlich wären, unsdie Steuereinheit von diesem Ding zu zeigen, Miss.“Der fragen<strong>de</strong> Unterton <strong>de</strong>s letzten Wortes schien die Unbekanntegeflissentlich zu überhören. Weiterhin machte sie keine Anstalten,sich vorzustellen o<strong><strong>de</strong>r</strong> ihre Anwesenheit an Bord <strong>de</strong>s Schiffes zuerklären. Vielmehr verschwand nun sogar <strong><strong>de</strong>r</strong> freundliche undamüsierte Zug, <strong><strong>de</strong>r</strong> bislang ihre Mundwinkel umspielt hatte. „Aufkeinen Fall!“, erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te sie ungehalten. „Das ist meineVersorgungseinheit.“„Ihre?“, rief Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> ungläubig aus.„Na, sicher, ich habe sie gefun<strong>de</strong>n.“„Nun ja, wir auch.“, bemerkte Samuel spitzfindig. „Und zwar auf<strong><strong>de</strong>r</strong> Grundlage eines Eintrages im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit von..., achkeine Ahnung, ziemlich alt.“„Anno Domini 2426,“ half ihm Gran aus: „Das entspricht Jahr 256in Argon New Time.“„Ah!“, machte die Frau: „Cymraeg!“„Sie sprechen Walisisch?“ Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> war sichtlich erstaunt.„Klar, seit meiner Geburt.“ Sie hielt kurz inne, bevor sie fortfuhr:„Okay, nicht ganz seit meiner Geburt. Ein bisschen älter musste ich167


dafür schon noch wer<strong>de</strong>n.“ Sie grinste breit.„Nun, wie <strong>de</strong>m auch sei.“ Samuel ließ sich nicht beirren. „Offenbarscheinen sie die entsprechen<strong>de</strong> Stelle im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit selbstzu kennen. Sie sehen also, dass ein Goner das Schiff schon vorihnen gefun<strong>de</strong>n hat, womit es nach gelten<strong>de</strong>n Raumrecht <strong><strong>de</strong>r</strong>Gonervereinigung gehört.“Anthea stutzte. Sie war überzeugt, dass ihre in jahrelangerpolitischer Praxis gewonnenen Kenntnisse <strong>de</strong>s Raumrechts über die<strong>de</strong>s Schmugglers hinausgingen und war sich keineswegs sicher, obdiese Behauptung zutraf. Doch Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihre Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ungbemerkt haben musste, warf ihr einen warnen<strong>de</strong>n Blick zu. Siekommentierte seine Ausführung daher nicht, was sie ohnehin nichtvorgehabt hatte.„Und wenn ich Edda gefun<strong>de</strong>n habe, bevor dieser Eintraggeschrieben wur<strong>de</strong>?“, erkundigte sich die Frau liebenswürdig.„Na, hören sie mal! Das ist fast achtzig Jahre her. Als nächsteserzählen sie mir dann wohl, dass sie eine von diesen Langlebigenseien.“, schnaubte Samuel höhnisch.„Könnte doch sein.“, antwortete sie ihm, doch es war Anthea, diesie dabei ansah.„Argnudreck! Je<strong>de</strong>s Kind weiß, dass Langlebige blaue Haarehaben.“„Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>“, sagte sie scharf, <strong>de</strong>n Blick unverwandt auf Antheagerichtet. „Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> sind aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicht von uns letztlich alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>enMenschen. Und Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> müssen lernen, weil sie Dinge eben nichtwissen!“ Sie wandte sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Samuel zu und erklärte mü<strong>de</strong>: „ImSchnitt hat das Gen nelV nur bei je<strong><strong>de</strong>r</strong> neunten Trägerin Einflussauf die Haarpigmente. Blaues Haar gilt nur <strong>de</strong>shalb als typischesLanglebigenmerkmal, weil es bei <strong>de</strong>n...“ Sie suchte kurz nach <strong>de</strong>mrichtigen Begriff und entschied sich dann für „'Normalen' nicht168


vorkommt.“ Sie atmete tief durch. „Und was will euer Obergonernun mit meiner Edda machen?“Samuel berichtete ihr von <strong>de</strong>n Problemen mit Delex LC 34 und <strong><strong>de</strong>r</strong>drohen<strong>de</strong>n Hungersnot. Anthea ergänzte, dass sich daraus auchneue politische Spannungen ergeben hatten und es schlimmstenFalls zum Krieg zwischen Argon, Thallo und Aldrin kommen könne.Die radikalen Schritte, die sie eingeleitet hatte, um ihre Welt davorzu schützen, verschwieg sie wohlweislich.„Verstehe.“, die Unbekannte nickte ernst. „Warum sagt ihr dasnicht gleich? Wenn es sich um einen Notfall han<strong>de</strong>lt, bekommt ihrmeine Edda selbstverständlich. Deswegen habe ich ja auf sieaufgepasst, falls sie mal jemand braucht.“ Sie dachte kurz nach.„Es könnte da allerdings ein paar Schwierigkeiten geben.“Anthea lachte schwach: „Schwierigkeiten? Davon hatten wir auf<strong>de</strong>n Hinweg schon genug. Wir haben allein seit drei Tagen nichtsmehr gegessen.“Die Frau bedachte Anthea erneut mit einem längeren Blick. DerAusdruck ihrer Augen blieb jedoch hinter ihren getönten Gläsernverborgen. „Also mit Hungern hat es noch keine versucht. Aber washaben die Jungs davon?“Bevor Anthea etwas entgegnen konnte, wandte sich dieBrillenträgerin ab und fuhr fort: „Na, dann kommt mal mit. Wenn esetwas gibt, über das ich reichlich verfüge, dann ist es Essen. Malabgesehen von Zeit.“, fügte sie nach kurzer Pause ernster hinzu.Die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en folgten ihr. „Wie heißen sie eigentlich?“, fragte Antheafreundlich.Die Angesprochene blieb abrupt stehen: „Verdammt, wieso bin ichda nicht schon früher drauf gekommen. Es ist so einfach!“ Sieignorierte die verwirrten Blicke ihrer Begleiter. „Rocha<strong>de</strong>!“, rief sie:„Schach matt. Hab ich dich, Edda!“ Dann ging sie mit einem169


zufrie<strong>de</strong>nen Lächeln weiter. „Achso ja, ich.“, sagte sie dann: „Ich binJoan.“170


17 – Das Lächeln <strong>de</strong>s Haies„Der Mensch ist begrenzt auf sein Erleben, sein Kosmos schrumpft zum Hierund Jetzt, nur mäßig ergänzt um die eigene Erinnerung und die eigenenZukunftsträume. Als 'Heimat' empfin<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>n Ort unserer Kindheit, nichtdie Heimat unserer Eltern und nicht <strong>de</strong>n Planeten unserer Ahnen. Dies istkeine Frage <strong>de</strong>s Verstan<strong>de</strong>s o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>s Wissens. Kein Mensch will ohneHeimat sein!“Revision 12, 2-3: Sarah Greenwald (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Aki Tom Mazuko spürte die bohren<strong>de</strong>n Blicke, die ihn trafen,während er auf <strong>de</strong>m Weg zu Le Requins Quartier die Gänge <strong><strong>de</strong>r</strong>Piratenfregatte Honi durchschritt. Nicht wenige <strong><strong>de</strong>r</strong> Piraten warenzur Zeit schlecht auf ihn zu sprechen. Denn abgesehen von LeRequin und ihm selbst glaubte keiner von ihnen so recht an dieExistenz <strong>de</strong>s friedlichen Xenonschiffes, in <strong>de</strong>ssen Inneren es genugSaatgut gäbe, um damit die Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation zu erpressen.Entsprechend ungehalten waren sie darüber, dass man auf <strong><strong>de</strong>r</strong>Jagd nach diesem vermeintlichen Phantom vor etlichen Tagen <strong>de</strong>nbekannten Raum verlassen hatte und nun mit mäßigerGeschwindigkeit scheinbar ziellos umher irrte. Damit war aufabsehbare Zeit nicht mit Beute zu rechnen, was sie sehr verärgerte.Zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en fürchteten sie sich vor <strong>de</strong>m, was in <strong>de</strong>n unerforschtenSektoren auf sie warten mochte. Vor Xenon zum Beispiel, die allesan<strong><strong>de</strong>r</strong>e als friedlieben<strong>de</strong> Getrei<strong>de</strong>bauern, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n seelenloseTötungsmaschinen waren. Sie fürchteten sich aber auch vor <strong>de</strong>mUnbekannten an sich. Aki Tom wusste, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> durchschnittlichePirat kein son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich mutiger Zeitgenosse war. Und für alles, <strong>de</strong>nÄrger über ausbleiben<strong>de</strong> Beute, ihre Ängste und ihre Scham wegen<strong><strong>de</strong>r</strong>selben, gaben sie ihm die Schuld. Auch das wusste er.Aki schritt ohne Hast voran, darauf legte er Wert. Denn obwohl er171


wusste, wie ungeduldig sein Kapitän auf seinen Bericht wartete,und zu welchen Grausamkeiten Le Requin im Stan<strong>de</strong> war, wennseine Geduld über Gebühr strapaziert wur<strong>de</strong>, so wür<strong>de</strong> er, Aki TomMazuko, sich doch nicht auf das Niveau solcher Geister hinabbegeben, die ohne Sinn für Wür<strong>de</strong> und Auftreten unnötigerweiserannten, sobald sie in Eile waren. Hektische Bewegungen erlaubteer sich nur, wenn es um sein Leben o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Tod An<strong><strong>de</strong>r</strong>er ging. Wieso viele professionelle Killer, hatte er sich einen son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar elitärenHabitus angewöhnt, so als existiere die Welt - und je<strong><strong>de</strong>r</strong> in ihr - nurvon seinen Gna<strong>de</strong>n.Dieses Bild, das er nach außen hin intensiv pflegte, entsprachauch weitgehend seinem tatsächlichen Weltverständnis. Ervermutete, dass Le Requin sich selbst so ähnlich sah, und vielleichtwar es ja diese Seelenverwandtschaft wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> sein Boss ihmaugenscheinlich weit mehr zu- und vertraute als <strong>de</strong>n meistensan<strong><strong>de</strong>r</strong>en seiner Gefolgsleute. Dem zum Trotz wusste Aki Tom auchum die Unterschie<strong>de</strong> zwischen sich und seinem Herrn und gera<strong>de</strong>in <strong>de</strong>m vor<strong><strong>de</strong>r</strong>gründig einheitlichen Bild, das sie nach außenvermittelten, waren diese angelegt. Aki vermutete, dass Le Requineinstmals, als er jünger gewesen war, ihm charakterlich tatsächlichgeglichen hatte.Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemalige Söldnerführer hatte eine unsichtbare Grenzeüberschritten, nämlich diejenige zwischen Sein und Schein. Erverlor <strong>de</strong>n Willen o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Selbstdisziplin, das eigenhändig gewebteIllusionsgespinst aus Überheblichkeit, Stärke und Unantastbarkeitzu überblicken. Er begann, zunehmend trunken von Egomanie, anseinen eigenen Mythos zu glauben und verlor die simple Wahrheitaus <strong>de</strong>n Augen, dass es immer Mächte geben wür<strong>de</strong>, die größer alsein einzelner Mensch bleiben wür<strong>de</strong>n.Aki Tom aber wusste, dass vielerlei solcher Mächte existierten:172


Staaten und Institutionen, Traditionen und Konventionen, aberauch die Naturgesetze und letztlich das Universum als Solches, daszwar über keinen eigenen Willen verfügte, sich aber <strong>de</strong>nnoch – o<strong><strong>de</strong>r</strong>gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>swegen – niemals einem Willen unterwerfen wür<strong>de</strong>. DenMächten, welche <strong>de</strong>m menschlichen Individuum je<strong><strong>de</strong>r</strong>zeit überlegensein mussten, gehörten Aki Toms Ansicht nach naturgemäß auchdie Überweltlichen an, angefangen bei seinen Ahnen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Geisterseine Schritte verfolgten, bis hin zu <strong><strong>de</strong>r</strong> machtvollen Sonnengöttin,die diese verehrt hatten. Er legte eine kurze Pause im Sacré Cœurein, um <strong>de</strong>m dortigen Shinto-Schrein seine Referenz zu erweisen.„Mazuko!“, empfing Le Requin ihn. Es klang kühl, so als habe ersich entschlossen, die ablehnen<strong>de</strong> Haltung seiner Mannschaft AkiTom gegenüber zu übernehmen.Dieser verbeugte sich tiefer als sonst, so dass sein langes Schwerthart auf sein Kreuz drückte. Als er <strong>de</strong>n Kopf zurücklegte, umaufzuschauen, spürte er <strong>de</strong>n kalten Knauf an seinem Hinterkopf.„Captain-san.“Die Überlegungen über die Unterschie<strong>de</strong> zwischen ihm selbst undseinem Anführer hallten noch in seinem Kopf nach. So war ihmbeim Eintreten ein weiteres Detail aufgefallen, <strong>de</strong>m er bislang keineBeachtung geschenkt hatte. An <strong>de</strong>n Wän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Kabine, die LeRequin als Büro benutzte, hing <strong>de</strong>ssen umfangreicheWaffensammlung. Aki hatte sie schon tausen<strong>de</strong> Male gesehen unddie einzelnen Stücke mit <strong>de</strong>m Blick <strong>de</strong>s Kenners bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Unddoch ging ihm erst jetzt auf, dass Le Requin kaum eine dieserWaffen jemals benutzt hatte. Sie waren kalte Sammlerstücke. Meistmächtig, oft furchteinflößend, nicht selten auch elegant, aber siewaren doch nur rein materiell. Auch die Wän<strong>de</strong> von Aki TomsPrivaträumen zierten Pistolen, Gewehre, Schwerter und Messer173


unterschiedlichster Art. Allerdings wür<strong>de</strong> er niemals eine Waffeaufhängen, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> ihm keine Erinnerung verband.In vorgebeugter Haltung wartete er darauf, dass Le Requin dasWort an ihn richtete. Dieser ließ ihn eine nicht unerhebliche Zeit indieser Demutspose verharren, bis mit verärgerter Stimme die Fragestellte: „Was sollte <strong><strong>de</strong>r</strong> Blödsinn mit Ironkh? Ich schätze esüberhaupt nicht, wenn irgendwer meine besten Geschäftspartnerhinrichtet.“„Nein, ich weiß, Captain.“, entgegnete Aki ungerührt, <strong><strong>de</strong>r</strong>weil ersich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufrichtete: „Sie ziehen es vor, dies selbst zu tun.“Le Requins Augen funkelten belustigt auf. Aber es war nur einkurzer Moment und <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest seines Gesichts behielt <strong>de</strong>nversteinerten und wüten<strong>de</strong>n Ausdruck bei. „Also?“„Mehrere Grün<strong>de</strong>: Ironkh for<strong><strong>de</strong>r</strong>te fünfzig Prozent Anteil und ließnicht mit sich han<strong>de</strong>ln.“„Fünfzig Prozent? Für die Erlaubnis seinen Sektor zudurchqueren?“, fuhr Le Requin auf.Aki Tom registrierte erleichtert, dass sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Zorn seinesAnführers von ihm auf <strong>de</strong>n toten Split verlagerte. In Wahrheit hatte<strong><strong>de</strong>r</strong> Patriarch keineswegs einen solchen Anteil verlangt, aber Akiwusste, wie er Le Requin manipulieren konnte. Seine weiterenGrün<strong>de</strong>n waren in<strong>de</strong>s nicht erfun<strong>de</strong>n: „Ochir hingegen ist dankbardafür, dass wir ihn an die Macht geputscht haben, und gewährt unsunsere Bitte ohne Gegenleistung und ohne Fragen zu stellen. Dasist <strong><strong>de</strong>r</strong> dritte Grund: Ironkh wusste zu viel, Ochir weiß nichts.Darüber hinaus hat dieser Bakka Ironkh, die Goner gefangengenommen und mich ihnen sogar gezeigt.“Le Requin runzelte die Stirn. „Aber warum?“, fragte er laut, jedocheher an sich selbst gerichtet.„Keine Ahnung.“ Auch Mazuko hatte diese Frage in <strong>de</strong>n letzten174


Tagen beschäftigt und die Schlüsse, zu <strong>de</strong>nen er gekommen war,gefielen ihm keineswegs. Natürlich war Le Requin und ihm bekanntgewesen, dass die Familie Ironkh in diesem Bereich <strong>de</strong>s Alls inwachsen<strong>de</strong>m Umfang Piraterie betrieb, so dass ein kleinerargonischer Frachter wie die Chuzpe schnell zu einer willkommenenBeute wer<strong>de</strong>n konnte. Allerdings hatten sie nicht zuletzt <strong>de</strong>swegenmit Ironkh Kontakt aufgenommen, damit dieser wusste, dass erdieses Schiff nicht anrühren sollte.Dennoch hatten seine Krieger das Schiff aufgebracht, nichtzufällig, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n augenscheinlich gezielt. Aki Tom fand dafür nureine brauchbare Erklärung: Irgendjemand hatte ein Interessedaran, dass die Gonerexpedition ihr Ziel nicht erreichte, auf dassdie Argonen das benötigte Saatgut nicht erhielten. Zweifellos war dieNachricht, die Ironkh während ihres Gesprächs erhalten hatte, vondiesem Jemand gewesen. Und sie hatte weitere Anweisungenenthalten. Anweisungen, die in einem Zusammenhang stehenmussten mit <strong>de</strong>n Befehlen, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Split daraufhin erteilt hatte. Dreiwaren es gewesen, Aki Tom hinauszuwerfen, Samuel zurück und inseine Zelle zu bringen und ihm <strong>de</strong>n jungen Goner zu bringen. Dortwas be<strong>de</strong>utete dies? Und wer steckte dahinter?In Frage kamen eigentlich nur Gruppierungen, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheitals Ganzes scha<strong>de</strong>n wollten, also entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> die Split o<strong><strong>de</strong>r</strong> dieParani<strong>de</strong>n. Doch auch für diese wäre es sinnvoller gewesen, <strong>de</strong>nGonern zu folgen, um Edda aufzuspüren und anschließendzerstören zu können. An diesen Punkt fielen Aki TomsÜberlegungen stets in sich zusammen. Daher unterließ er es, LeRequin über seine vagen Vermutungen zu informieren.Er schwieg, während Le Requin das Gehörte sacken ließ undüberdachte. Möglicherweise kam er zu <strong>de</strong>n selbenSchlussfolgerungen wie Mazuko, doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg seiner Gedanken175


war seiner Miene nicht abzulesen.Es zeigte sich in<strong>de</strong>s, dass Le Requin eher die Folgen von IronkhsHan<strong>de</strong>ln beschäftigten als <strong>de</strong>ssen Motive. „Wer hat dich gesehen?“„Greenwald, zweimal.“Le Requin fluchte. „Dann weiß er vermutlich, dass jemand hinterihm her ist.“„Vielleicht. Vielleicht glauben sie aber auch, meine Anwesenheit anBord sei nur internen Splitquerelen verschul<strong>de</strong>t. Nach ihrer Fluchthaben sie zumin<strong>de</strong>st ihre Suche recht bald wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufgenommen.Unsere Kameradrohnen haben sie augenscheinlich nicht bemerkt.Gut möglich, dass Greenwald <strong>de</strong>nkt, seinen Verfolger abgehängt zuhaben.“Le Requin nickte, sagte aber: „Wir sollten Sammy nichtunterschätzen.“Aki Tom zuckte die Achseln. Le Requin erhob sich aus seinemStuhl, trat an das Fenster seines Büros und schaute hinaus in diesternenverhangene Schwärze <strong>de</strong>s Weltraums. „Sie sind alsogeflohen. Schön, und weiter?“„Die Auswertung <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Kamerabil<strong><strong>de</strong>r</strong> und Gravidardatenzeigt, dass sie Edda gefun<strong>de</strong>n haben und an Bord gegangen sind.Kurz darauf hat die CAU ihren Kurs geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Wie es aussiehtnehmen sie die Route über Omikron Lyrae. Wir können daher weiternach Plan vorgehen und sie dort abfangen.“Le Requin blickte weiter unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t nach draußen, die Arme vor<strong><strong>de</strong>r</strong> Brust verschränkt. Doch nach einer halben Minute sah Aki Tomihn nickten. „Oui, das sehe ich auch so. Und wir wer<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong>Mannschaft die Kamerabil<strong><strong>de</strong>r</strong> zeigen, damit sie sehen, dass diesesSchiff wirklich existiert.“, sagte Le Requin.Aki stimmte zu und fühlte sich zu seiner eigenen Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ungerleichtert darüber, dass dieser Punkt <strong>de</strong>s Misstrauens und <strong><strong>de</strong>r</strong>176


Missgunst <strong><strong>de</strong>r</strong> Crew ihm gegenüber aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt geschafft wur<strong>de</strong>.Da Le Requin daraufhin minutenlang schwieg und weiterhinhinaussah, erbot sich Aki Tom schließlich, <strong>de</strong>n Befehl zumAufbruch weiter zu geben und alles Übrige in die Wege zu leiten.„Warte noch, Mazuko!“ Le Requin kehrte <strong>de</strong>m Fenster endlich <strong>de</strong>nRücken und musterte seinen Kopfgeldjäger aufmerksam. „Du hastdir schon Gedanken darüber gemacht, wieso Ironkh die Chuzpeaufgehalten hat, ist es nicht so?“„Hai. Ich <strong>de</strong>nke, jemand will verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>n, dass das Saatgutankommt. Split o<strong><strong>de</strong>r</strong> Parani<strong>de</strong>n vermutlich.“„Possible. Vielleicht hat es aber auch mit <strong>de</strong>n Gonern zu tun.“ LeRequins Blick hielt ihn gefangen. Offenbar versuchte er zuergrün<strong>de</strong>n, wie Aki Tom diesen Verdacht aufnahm. DerKopfgeldjäger merkte dies wohl und bewahrte sein ausdruckslosesPokerface. Er war sich ziemlich sicher, dass Le Requin ihm nichtsvom Gesicht hatte ablesen können. We<strong><strong>de</strong>r</strong> seine hektischeÜberlegungen, was sein Kapitän mit dieser An<strong>de</strong>utung meinenmochte, noch seine Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung darüber, dass ihn Akis Reaktiondarauf <strong><strong>de</strong>r</strong>art zu interessieren schien.„Vielleicht.“, antwortete Aki Tom nur und gab sich Mühe,<strong>de</strong>sinteressiert zu klingen.Unvermittelt zeigte Le Requin ein Lächeln. Es wirkte gleichsamzufrie<strong>de</strong>n wie hinterlistig. „Nun <strong>de</strong>nn, dann kümmere dich bitte umalles Erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>liche, mon cher.“Kaum hatte die Honi und ihre Begleitschiffe Kurs auf ein fernesSprungtor gesetzt, hatte sich die Stimmung <strong><strong>de</strong>r</strong> Mannschaftschlagartig verbessert. Zwar führte <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg noch tiefer hinein insUnbekannte, doch nach <strong>de</strong>n Tagen untätigen Wartens nahmen siedies fast schon beglückt auf. Als ihnen schließlich die Aufnahmen177


<strong>de</strong>s Zielschiffes präsentiert wur<strong>de</strong>n, war die Begeisterung <strong><strong>de</strong>r</strong>Piraten kaum noch zu bremsen. Gier blitzte in ihren Augen auf,wenn sie an die Menge an Getrei<strong>de</strong> dachten, die sie erbeutenwür<strong>de</strong>n, und an die Höhe <strong>de</strong>s Lösegel<strong>de</strong>s, dass sie dafür <strong><strong>de</strong>r</strong>Zollunion abpressen wür<strong>de</strong>n. Mancheiner wirkte gar verträumt,wenn er sich ausmalte, was er mit seinem Anteil anfangen könne.Trotz o<strong><strong>de</strong>r</strong> gera<strong>de</strong> wegen <strong><strong>de</strong>r</strong> brennen<strong>de</strong>n Vorfreu<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Piraten,unterwarfen sie sich wie schon lange nicht mehr <strong><strong>de</strong>r</strong> militärischgeprägten Disziplin, die Le Requin als ehemaligerSöldnerkommandant von ihnen einfor<strong><strong>de</strong>r</strong>te, und die kleine undwaffenstarren<strong>de</strong> Kampfflotte raste in perfekter Formation auf ihrZieltor zu, das sich <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit exakt zwischen ihr und <strong>de</strong>m rötlichenRiesenstern dieses Systems befand.Die Scheibe von Aki Toms Quartier hatte sich vollständigverdunkelt, um <strong>de</strong>ssen Bewohner vor <strong>de</strong>m grellen Sonnenlicht zuschützen. Trotz<strong>de</strong>m war sie nicht gänzlich schwarz, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n glommmatt rot wie ein sich erwärmen<strong>de</strong>s Kochfeld.Abgesehen von diesem sanften Schimmer war es völlig dunkel imRaum. Von Kin<strong>de</strong>sbeinen an war es Aki immer so vorgekommen, alskönne er im Dunkeln besser nach<strong>de</strong>nken. Ihm war inzwischen klargewor<strong>de</strong>n, dass Le Requin seine Loyalität hatte prüfen wollen.Immerhin war Aki Tom ein überzeugter Erdgläubiger und ihreOperation richtete sich explizit gegen die Gonergemein<strong>de</strong>. Die Fragehatte ihn bislang nicht beschäftigt. Tatsächlich hatte ihn Le Requindurch sein diesbezügliches Misstrauen überhaupt erst auf diesesProblem hingewiesen.Nun hatte sich Aki einige Stun<strong>de</strong>n mit dieser Frage auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>gesetzt und war zu <strong>de</strong>m Ergebnis gekommen, dass es unerheblichwäre. Er wünschte <strong>de</strong>n Gonern <strong>de</strong>n Erfolg, für die Argonen das178


Getrei<strong>de</strong> zu beschaffen und durch die Präsentation <strong><strong>de</strong>r</strong> CAUvielleicht sogar die Existenz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> beweisen zu können. WennSchiff und Ladung zwischenzeitlich von <strong>de</strong>n Piraten gestohlenwur<strong>de</strong>n, so wür<strong>de</strong> das diesen Erfolg sicherlich schmälern, abernicht gefähr<strong>de</strong>n. Denn schließlich wären es trotz<strong>de</strong>m die Gonergewesen, die diesen Saatgutsegen ermöglicht hatten, und dieDankbarkeit und Anerkennung durch die Bevölkerung wür<strong>de</strong>nihnen <strong>de</strong>nnoch zu teil wer<strong>de</strong>n.Gestützt auf diesen Gedankengang, meinte Aki Tom keinen Grundzu sehen, weswegen er ein schlechtes Gewissen haben müsste. ImGegenteil, hatte er nicht dadurch, <strong>de</strong>n Gonern gefolgt zu sein,verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t, dass ihre Expedition durch die Plün<strong><strong>de</strong>r</strong>er <strong><strong>de</strong>r</strong> FamilieIronkh vorzeitig gescheitert wäre? Verhalf er nicht gera<strong>de</strong> seinemDienstherrn und <strong>de</strong>n Gonern gleichermaßen zum Erfolg? Er wolltediese Überlegung beruhigt abschließen, doch es gelang ihm nicht.Der Zweifel nagte an ihm. Er überlegte, ob er ins Sacré Cœur gehenund beten solle, konnte sich aber nicht dazu aufraffen. Zum erstenMal in seinem Leben, verspürte er Scheu bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorstellung, <strong>de</strong>nGeistern seiner Ahnen unter die Augen zu treten.179


18 – Der Weltenbaum„Methusalem war hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t siebenundachtzig Jahre alt und zeugte Lamechund lebte danach siebenhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t und zweiundachtzig Jahre. […] Lamechwar hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t zweiundachtzig Jahre alt und zeugte einen Sohn und hieß ihmNoah. […] Danach lebte er fünfhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tneunzig Jahre. […] Noah warfünfhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre alt und zeugte Sem, Ham und Japhet.“Genesis 5,25-32 (Bibel)Joan Mitchell war stets für ihre Schlagfertigkeit und Spontanität,wenn nicht gar Sprunghaftigkeit berühmt gewesen. Daher fiel es ihrnicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich schwer, mit dieser neuen Situation umzugehen,obwohl ihr Leben in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten eine ewig gleichförmigeRoutine angenommen hatte, die einem ungeduldigeren Charaktersehr zugesetzt hatte. Doch von allen Tugen<strong>de</strong>n war die Geduld dieErste, welche das Langlebigkeitsgen ihre Trägerinnen lehrte.Darüber, welche die Zweite war, war sich Joan nicht so sicher. DerVerzicht, vermutete sie. Diese Tugend gehörte in<strong>de</strong>s nicht zu ihrenStärken, und doch hatte sie auch diese notgedrungen gemeistert.Abgesehen von ihrer Spontanität gab es noch an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Grün<strong>de</strong>,weshalb sie souverän wie eh und je auf das überraschen<strong>de</strong>Auftauchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerexpedition hatte reagieren können. Dennletztendlich kam diese für sie alles An<strong><strong>de</strong>r</strong>e als überraschend.Seit<strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>n Hinweis auf Edda in das damals noch rechtjungfräuliche Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit hinein geschmuggelt hatte, hattesie das Eintreffen irgendwelcher Suchtrupps fast täglich erwartet.Immerhin hatte sie die ersten Goner als engagierte Historikerkennen gelernt, die mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Akribie religiöser Fanatiker noch daskleinste Tröpfchen Wissen – und Spekulation – aus ihren spärlichenQuellen heraus pressten. Gleichzeitig hatte Joan gehofft, es wür<strong>de</strong>180


lange dauern. Schließlich war sie froh um je<strong>de</strong>s Jahr, das sie ohnedie Gegenwart an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Menschen verbringen konnte, die doch nurvor ihren Augen dahinwelkten und starben.So hatte sie ganz bewusst die eigentlich relevante Passage in ihrerMuttersprache verfasst. Angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschwindigkeit, mit <strong><strong>de</strong>r</strong>seit <strong>de</strong>m Kontaktverlust mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> die einzelnen Sprachen <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschheit von <strong><strong>de</strong>r</strong> japanischen Han<strong>de</strong>lssprache verdrängt wur<strong>de</strong>n– ein Prozess, <strong><strong>de</strong>r</strong> selbst vor <strong>de</strong>m einst so mächtigen Englisch nichtHalt gemacht hatte – war sie hoffnungsvoll gewesen, dass maneinige Zeit bis zur Entschlüsselung benötigen wür<strong>de</strong>. Damit jedoch,dass es fast achtzig Jahre wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>n, hatte sie nichtgerechnet. Eine Zeitspanne, die selbst Joan nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinnhaftigkeitihrer Flucht in Eddas Abgeschie<strong>de</strong>nheit fragen ließ. Doch mit <strong><strong>de</strong>r</strong>ihr eigenen Beharrlichkeit hatte sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt Aufgaben für sichgefun<strong>de</strong>n, um die Zeit zu nutzen. Diese füllten sie <strong><strong>de</strong>r</strong>art aus, dasssie dann und wann tatsächlich so etwas wie Dankbarkeit für dieLebensspanne empfand, die ihr ein Wissenschaftler eingepflanzthatte, <strong><strong>de</strong>r</strong> selber längst zu gnädigen Staub zerfallen war. Manchmalhatte sie sogar Glück verspürt. Nach Nathans Tod hatte sie zweiJahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te lang <strong>de</strong>n Glauben daran verloren, zu dieserEmpfindung fähig zu sein.So war Joan we<strong><strong>de</strong>r</strong> überrascht gewesen, noch fühlte sie sich mit<strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen Lage überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Dennoch fürchtete sie sich einwenig vor ihrer baldigen Rückkehr in die Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen undverspürte eine irrationale Wut darüber, dass ihr hiesiges Lebenallein mit Edda nun zu En<strong>de</strong> sein sollte. Sie gab sich in<strong>de</strong>s Mühe,diese Anwandlungen vor ihren Besuchern zu verbergen.Sie saß zusammen mit Anthea unter <strong><strong>de</strong>r</strong> knorrigen Eiche, <strong><strong>de</strong>r</strong>enPräsenz ihre Gäste sichtlich irritierte, wie sie amüsiert festgestellt181


hatte. Dass Joan Teile <strong><strong>de</strong>r</strong> gewaltigen Anbaufläche <strong>de</strong>sPlantagenschiffs für Gemüse- und Kartoffelbeete, sowie einKleinviehgehege abgezweigt hatte, war ihnen verständlich gewesen,<strong><strong>de</strong>r</strong> Baum aber blieb ihnen rätselhaft. Joan hatte bereitwillig auf diezahlreichen Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner geantwortet, wobei sie sich <strong>de</strong>n Spaßgemacht hatte, ihnen <strong>de</strong>n einen o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Bären aufzubin<strong>de</strong>n.Zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Eiche hatte sie bislang jedoch geschwiegen.Natürlich hatten ihre Besucher sie nach Nath gefragt. Nathan R.Gunne, die Legen<strong>de</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Kriegsheld und Staatsmann, Grün<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation und nach seinem To<strong>de</strong> sogar Namensgeber ihrerHauptwelt. Denn schließlich war 'Argon' nur die lautmalerischeVersion von 'R.-Gunne'. All das sahen ihre Besucher in ihm. Je<strong><strong>de</strong>r</strong>leben<strong>de</strong> Mensch sah diese Dinge in Nathan, wusste Joan. Siewusste auch, dass er all das wirklich gewesen war. Und doch, <strong><strong>de</strong>r</strong>Nathan R. Gunne, <strong>de</strong>n sie gekannt, geliebt, nicht selten auchgehasst hatte, war ein 'Mensch' gewesen. Dieser Lichtgestalt, an <strong><strong>de</strong>r</strong>sich ein nicht unwesentlicher Teil <strong>de</strong>s argonischen Nationalstolzesaufhing, war sie hingegen niemals begegnet. Das öffentliche Bildihres einstigen Gefährten befrem<strong>de</strong>te sie je<strong>de</strong>s Mal, wenn es ihrbegegnete. Mehr noch gruselte es ihr vor <strong><strong>de</strong>r</strong> gera<strong>de</strong>zu mythischenVerklärung, die Nathan bei wachsen<strong>de</strong>n Teilen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbewegungerfuhr. Dort war er <strong><strong>de</strong>r</strong> '<strong>Er<strong>de</strong></strong>nsohn', die fleischgewor<strong>de</strong>ne Brückezwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen <strong>Nod</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong>Kolonien und Terra, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>, <strong>de</strong>m vermeintlichen Paradies.Joan hatte ihre liebe Mühe damit, ihren Gästen Nathan als <strong>de</strong>nMenschen zu beschreiben, <strong><strong>de</strong>r</strong> er gewesen war. Als Anthea wissenwollte, was ihr an Gunne am meisten gefallen habe, hatte sie miteinem ihrer Ansicht nach ein<strong>de</strong>utig zwei<strong>de</strong>utigen Lächeln erklärt:„Nath war ein wahrer Sohn <strong><strong>de</strong>r</strong> Venus.“ Woraufhin SamuelGreenwald kurz nach<strong>de</strong>nklich die Stirn gerunzelt und sich danach182


ei ihr rückversichert hatte, ob er sich wohl richtig entsänne, undVenus <strong><strong>de</strong>r</strong> Name eines Planeten sei. Sie hatte dies bejaht, woraufhinGran augenblicklich notierte, Gunne stamme vom Planeten Venus.Joan nahm dies mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit undBelustigung zur Kenntnis. Allerdings auch mit <strong>de</strong>m bekanntenGefühl, furchtbar alt zu sein. Machte es ihr doch einmal mehrbewusst, dass sie <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte Mensch in <strong>de</strong>n Kolonien war, <strong><strong>de</strong>r</strong> dasSonnensystem aus eigenem Erleben kannte. Sie korrigierte Granin<strong>de</strong>s nicht.Inzwischen waren die drei Männer damit beschäftigt, mit <strong><strong>de</strong>r</strong>Hadrom von Transportdrohne zu Transportdrohne zu fliegen und<strong><strong>de</strong>r</strong>en Systeme neu zu programmieren. Das war notwendig, <strong>de</strong>nn esgab da ein grundlegen<strong>de</strong>s Problem mit <strong><strong>de</strong>r</strong> altenTerraformertechnik: die Hierarchie. Die Rebellion <strong><strong>de</strong>r</strong> irdischenRoboterschiffe hatte mit einem fehlerhaften Update begonnen, dasdiese wie einen Computervirus selbstständig weiter verschickthatten. Es gab Terraformer mit höherer und welche mit niedrigerPriorität und die Höheren gaben <strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>en Programmierung undBefehle vor. Edda hatte dieses Update nicht erhalten und<strong>de</strong>mgemäß verfügten auch die von ihr gefertigten Drohnen nichtdarüber. Doch sobald sie sich in ein Sonnensystem mit auch nur<strong><strong>de</strong>r</strong> geringsten Xenonaktivität begeben wür<strong>de</strong>n, bestand die Gefahr,dass das Update überspielt wur<strong>de</strong>.Joan war sich sicher, dank ihres unmittelbaren Zugriffs auf dasSchiffsgehirn, Edda die Annahme verbieten zu können. Bei <strong>de</strong>nDrohnen jedoch mochte es sich an<strong><strong>de</strong>r</strong>s verhalten. Denn währendEdda trotz ihrer rudimentären Computerintelligenz auf autonomesAgieren ausgelegt war, bedurften die Drohnen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fernsteuerung.Als CAU verfügte Edda über eine äußerst niedrige Priorität. Esstand daher zu befürchten, dass die Drohnen ihre Befehle183


missachten und statt<strong>de</strong>ssen <strong>de</strong>n Or<strong><strong>de</strong>r</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Xenon Folgeleisten wür<strong>de</strong>n. Doch dank Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>s umfangreichenProgrammierkenntnissen und Eddas ausführlichen Erklärungenzum Programmco<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Drohnen, war es einfach, dieTransporteinheiten dazu zu bringen, nur von einer einzigenFrequenz Befehle anzunehmen.Das Umprogrammieren <strong><strong>de</strong>r</strong> Drohnen musste allerdings manuellgeschehen, was eine – wie Samuel es ausgedrückt hatte –'Sightseeingtour' erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>lich gemacht hatte. Joan war sehr frohdarüber, <strong>de</strong>nn nun hatte sie Gelegenheit, ungestört mit Anthea zure<strong>de</strong>n. Sie klopfte liebevoll auf die raue Baumrin<strong>de</strong>. „Und, willst duwissen, was es damit auf sich hat?“Anthea runzelte die Stirn und zog die Brauen kurz zusammen, wasihr einen verärgerten Ausdruck verlieh. „Ich glaube, wir habenschon fünfmal danach gefragt.“Joan schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Nur dreimal. Den Jungs habe ich nichtsgesagt, <strong>de</strong>nn die hätten's wohl nicht verstan<strong>de</strong>n.“Die jüngere Frau schaute zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Baumkrone hinauf. „Also?“„Du weißt, dass du ebenfalls eine Langlebige bist, nicht wahr?“Wie sie erwartet hatte, versteifte sich Anthea Haltung bei dieserFrage. „Woher wollen sie das wissen?“, gab sie augenblicklichzurück, aber es klang we<strong><strong>de</strong>r</strong> energisch noch empört genug, umglaubhaft zu wirken.„Sag du zu mir.“, sagte die Ältere lächelnd und schaute zur Seite,ehe sie ernster fort fuhr. „Ganz einfach, ich kannte <strong>de</strong>ine Mutter,nicht so gut wie <strong>de</strong>ine Großmutter versteht sich, aber...“„Meine Großmutter?“, unterbrach Anthea sie erstaunt.„Na klar, Eos, hübsches Kind. Wir von <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Generation <strong><strong>de</strong>r</strong>Langlebigen kannten uns alle. Ich meine, ja wir kamen natürlichalle aus Professors Behmads Retorte, aber <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptteil unserer184


DNS war biologisch, will sagen, wir hatten Eltern – o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie einParani<strong>de</strong> sagen wür<strong>de</strong>n: 'Genspen<strong><strong>de</strong>r</strong>' – und wuchsen bei <strong>de</strong>nen auf,überall auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Welt. Aber min<strong>de</strong>stens einmal im Jahr gab es so eineArt Familientreffen bei Opa Asam, also <strong>de</strong>m Professor.“Joan ließ ihren Blick wehmütig über das Getrei<strong>de</strong> gleiten, so alserblicke sie dort ihre ferne Kindheit. „Das war immer lustig. Na ja,<strong>de</strong>swegen kannten wir uns eben alle. Wir sollten uns untereinan<strong><strong>de</strong>r</strong>als Cousinen bezeichnen und Briefe schreiben.“ Sie zog eineGrimasse. „Das habe ich natürlich nicht gemacht, einige waren echtblö<strong>de</strong> Zicken. Aber Eos war meine Freundin.“Anthea hatte gebannt gelauscht. Während sie mit ihrer Mutterverschwommene Erinnerungen verband, wusste sie von ihrerGroßmutter nicht das Geringste. „Eos. Ein komischer Name.“, sagtesie nach<strong>de</strong>nklich.Joan zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern. „Eigentlich hieß sie Anna. Behmadhatte es irgendwie witzig gefun<strong>de</strong>n, uns allen Spitznamen zu geben.Wir wur<strong>de</strong>n nach Göttinnen und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en unsterblichen Wesenbenannt. Deswegen nennt man mich ja auch die Hydra.“„Ich dachte diesen Namen hätten sie, … hättest du während <strong>de</strong>sTerraformerkrieges bekommen.“Joan nickte. „Das <strong>de</strong>nken viele. Aber nein, ich hatte ihn von OpaAsam. Als Kind mochte ich <strong>de</strong>n Namen nicht, weißt du. Alle hießennach irgendwelchen schönen Göttinnen, aber ich war ein Monster.“Sie ließ ihre Stimme tief und grollend klingend und rollte mit <strong>de</strong>nAugen: „Ein hässliches Ungetüm mit mehreren Köpfen.“Anthea lachte: „Gut, dass du nur einen Kopf hast.“„Wie wahr, wie wahr. Ich bin oft genug mit einem schweren Kopfwach gewor<strong>de</strong>n. Zwei o<strong><strong>de</strong>r</strong> drei davon..., danke nein! Aber egal,später fand ich Gefallen an <strong>de</strong>n Namen. Die Hydra <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythologiekonnte man töten, was aber eigentlich unmöglich war, <strong>de</strong>nn wenn185


man ihr einen Kopf abschlug, erwuchsen ihr daraus zwei Neue. DieHydra ist also weniger ein Symbol für ewiges Leben als für ein'Verdammt-nochmal-nicht-tot-zu-kriegen'.“ Sie grinste: „Das passtzu mir.“Dann klopfte sie ein weiteres Mal auf die Baumrin<strong>de</strong>. „Womit wirwie<strong><strong>de</strong>r</strong> hier wären. Diese Eiche hier gibt mir Kraft. Sie ist älter alsich. Weißt du, ich war sieben, als mir Opa Asam erklärt hat, dassich an<strong><strong>de</strong>r</strong>s bin als meine Klassenkamera<strong>de</strong>n, und er hat versucht,mir meine Lebensspanne begreiflich zu machen.“Sie sah Anthea an, doch ihr Blick war nach innen gerichtet. Diemenschliche Erinnerung war ein ziemlich unzuverlässigesFotoalbum, in <strong>de</strong>m Bil<strong><strong>de</strong>r</strong> verblassten, ganz verschwan<strong>de</strong>n, sichmiteinan<strong><strong>de</strong>r</strong> zu halbwahren Scheinwirklichkeiten vermischten, o<strong><strong>de</strong>r</strong>durch Gefühle strahlend hell, dunkel o<strong><strong>de</strong>r</strong> rosa überzeichnetwer<strong>de</strong>n konnten. Schon die Menge <strong><strong>de</strong>r</strong> Eindrücke, die in JoansGehirn abgelagert waren, machte sie beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s anfällig für dieseEffekte. Nach Nathans Tod hatte sie zu<strong>de</strong>m jahrelang Vergessen inallen möglichen Substanzen gesucht. Und dabei war sie doch immerdie Vernünftigere gewesen, hatte es kommen sehen und gewusst,dass Nath an <strong>de</strong>m Zeug sterben wür<strong>de</strong>. Beinahe wäre sie ihmgefolgt. Inzwischen wusste sie, dass das Vergessen, das sie in dieserZeit vergebens gesucht hatte, ihr heute zu schaffen machte. IhreGrauen Zellen hatten damals sehr gelitten. Mit schmerzhafterSelbstironie hatte sie einmal festgehalten, in ihrem Gedächtniswür<strong>de</strong>n mehr Löcher klaffen als in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hülle <strong><strong>de</strong>r</strong> USC Dragonfirenach <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlacht von Taurus. Aber immerhin, sie erinnerte sichganz genau an <strong>de</strong>n trostlosen Anblick, <strong>de</strong>n Nathans Flaggschiffnach <strong>de</strong>m so teuer erkauften Sieg geboten hatte.Und ebenso klar und unverfälscht stand ihr <strong><strong>de</strong>r</strong> Besuch vonProfessor Behmad vor Augen. Sie war sehr aufgeregt gewesen, <strong>de</strong>nn186


es war das erste – und einzige – Mal gewesen, dass Opa Asam zuihnen gekommen war. Sonst waren ihre Eltern mit ihr zu ihm nachSuhar geflogen. Er war mit ihr im Cyfarthfa Park spazierengegangen, wo sich Joan als Kind so gerne herumgetrieben hattewegen <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Burg, die, wie sie später erfuhr, gar nicht so altwar. Als Asam Behmad ihr erklärte, wie lange sie Leben wür<strong>de</strong>,hatte sie Schwierigkeiten gehabt, ihn zu begreifen. Der langeZeitraum hatte ihre kindliche Vorstellungskraft überfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t und sieeingeschüchtert. Daraufhin hatte Opa Asam nacheinan<strong><strong>de</strong>r</strong> auf einejunge und eine alte Eiche gezeigt und gesagt, sie wür<strong>de</strong> so altwer<strong>de</strong>n wie ein Baum, was ihr half, zu verstehen, und ihr die Angstnahm.Darüber hinaus wollte sie daraufhin eine Eiche haben. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong>Hartnäckigkeit, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> ihres Alters Haustierewünschten, lag sie ihren Eltern in <strong>de</strong>n Ohren, bis sich ihr Vaterseufzend auf <strong>de</strong>n Weg zur Baumschule machte. Später, als sie indie Alpha Centauri-Kolonie umzog, ließ sie <strong>de</strong>n Baum ausgrabenund nahm ihn mit. Das war zu dieser Zeit nichts Ungewöhnliches,<strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Planet Taurus war noch nicht lange terraformiert und sogab es dort nur wenige Bäume. Nichts<strong>de</strong>stotrotz hatte Nathan auf<strong>de</strong>n Kostenvoranschlag für <strong>de</strong>n Transport gesehen und sie fürverrückt erklärt.Diese letzte Episo<strong>de</strong> behielt sie für, genauso wie sie Anthea ihreeinstigen Ausschweifungen und die Furcht verschwieg, die sie alsKind vor ihrer Langlebigkeit verspürt hatte. Doch ansonstenerzählte sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Jüngeren ausführlich von ihrem Baum, <strong>de</strong>ssenWurzeln schon im Erdreich dreier Welten gesteckt hatten und sichnun in <strong>de</strong>m von Edda ausbreiteten. „Weißt du,“, en<strong>de</strong>te sie: „ichglaube, dass Problem mit uns Langlebigen ist, dass wir Nichtshaben, das uns über ist. Wir sind zu groß für die Menschen, zu187


groß für uns selbst. Wir brauchen etwas, dass uns überlegen ist,und zwar in <strong>de</strong>m, was uns ausmacht, im Altwer<strong>de</strong>n. Dieser Baumhier war vor mir da und er wird auch noch nach mir da sein. Dukannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich dieser Gedanke beruhigt.“Sie schwiegen eine ganze Weile und hingen bei<strong>de</strong>n ihren Gedankenan. Joan hatte das Bedürfnis, Anthea noch viel mehr zu erzählen,hielt sich aber zurück. Eos, Astarte, Ixchel und all die an<strong><strong>de</strong>r</strong>enwaren früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später <strong>de</strong>m Fluch ihrer Gene erlegen und hattenihrem Leben, da es einfach nicht en<strong>de</strong>n wollte, selbst ein En<strong>de</strong>gesetzt. Inzwischen war sie die Letzte aus <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Generation <strong><strong>de</strong>r</strong>Langlebigen und hatte auch bereits dutzen<strong>de</strong> Töchter undEnkelinnen ihrer 'Cousinen' überlebt. Aber sie war die 'Hydra'.Schon oft hatte sie geglaubt durch schwere Schicksalsschläge undihre eigenen Unzulänglichkeiten <strong>de</strong>n Kopf verloren zu haben. Dochsobald sich die dunklen Wolken verzogen hatten, war zu ihrerVerwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung doch je<strong>de</strong>s Mal noch einer auf ihrem Schulterngewesen, so als wäre er ihr tatsächlich nachgewachsen.Sie hatte ihren Weg gefun<strong>de</strong>n, sich aufrecht zu halten und weiterzu leben. Kaum etwas konnte sie noch erschüttern. We<strong><strong>de</strong>r</strong> dasWissen darüber, <strong><strong>de</strong>r</strong> mit Abstand älteste Mensch im gesamtenUniversum zu sein, noch das Gefühl, dass es feige sei, sich hierfernab <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen zu verstecken, um diese nicht altern undsterben zu sehen. Dieser letzte Punkt hatte sie viel Zeit gekostet.Aber letztlich hatte sie erkannt, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorwurf <strong><strong>de</strong>r</strong> Feigheit nurein Urteil war, das Menschen willkürlich fällten, eine Meinung, diezu teilen, man nicht verpflichtet war. Hin und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte sieversucht, an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Langlebige hierher zu bringen, um diesen ihrenWeg zu zeigen und ihnen dabei zu helfen, zu überleben. Aber eshatte nur selten funktioniert. Mitunter hatte sie gar <strong>de</strong>n Eindruckbekommen, es habe die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en nelV-Trägerinnen eher weiter188


<strong>de</strong>primiert zu sehen, dass die Hydra einen Grad <strong><strong>de</strong>r</strong> Zufrie<strong>de</strong>nheiterlangt hatte, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihnen selbst trotz aller Bemühungen scheinbarverwehrt blieb. Also drosselte sie ihren missionarischen Eifer undging behutsam mit Anthea um.Als Edda mel<strong>de</strong>te, dass sich die Hadrom wie<strong><strong>de</strong>r</strong> im Lan<strong>de</strong>anflugbefän<strong>de</strong>, erhoben sich die bei<strong>de</strong>n Frauen und gingen zumKontrollraum <strong><strong>de</strong>r</strong> CAU, um das Manöver von dort aus zuüberwachen. Kurz bevor sie <strong>de</strong>n Plantagentrakt verließen, schauteAnthea noch einmal zurück. „Die Eiche ist also <strong>de</strong>ine Kraftquelle.“,hielt sie fest. Es klang, als sei sie in Gedanken ganz woan<strong><strong>de</strong>r</strong>s.„Kraftquelle hört sich furchtbar esoterisch an.“, antwortete Joanleichthin: „Aber ja, kann man so sagen. Es ist eine meinerKraftquellen, eine von vielen.“„Was sind die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en?“„Ich sitze hier herum und passe auf, dass die Terraformer unsereliebe Edda in Ruhe lassen, ich hör mir tagelang Musik an, um michfür eigene Kompositionen inspirieren zu lassen. Stell dir das nurmal vor, eine Oper an <strong><strong>de</strong>r</strong> ein halbes Jahrtausend gefeilt wur<strong>de</strong>, dasnenne ich mal Lebenswerk! So'n Zeug, Aufgaben, die einenunendlich lange beschäftigen. Und natürlich tue ich dir und meinenan<strong><strong>de</strong>r</strong>en Lei<strong>de</strong>nsgenossinnen <strong>de</strong>n Gefallen, nicht zu sterben.“„Das ist eine Aufgabe?“, entfuhr es Anthea. Zerknirscht wollte siesich entschuldigen: „Ich meine, natürlich freut es mich...“„Nein, nein, schon gut.“, winkte die Hydra ab: „Schau, es ist ganzeinfach. Ich bin die Älteste. Allein dadurch, dass ich nicht sterbeund niemand von meinem To<strong>de</strong> hört, habt ihr an<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein Vorbild,das Gefühl, dass es jemand vor euch geschafft hat.“„Müsstet du dafür nicht... ähm... präsenter sein?“„Du meinst, wer als verschollen gilt, wird nicht unbedingt fürlebendig gehalten?“189


Anthea nickte.„Nun, ich hatte vor so alle zwei- bis dreihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahre mal einLebenszeichen abzugeben. Wir fliegen nach Argon Prime, also <strong>de</strong>nkeich, ich mach das wohl auch gera<strong>de</strong>. Ansonsten geht es hier umGefühle. Vielleicht weiß man, dass die Verschollenen tot sind, aberman hofft und glaubt das Gegenteil. Hattest du nicht auchgeglaubt, <strong>de</strong>ine Mutter wür<strong>de</strong> noch leben?“Die Jüngere schluckte, blickte zur Seite und antwortete heiser:„Ja, natürlich.“Joan konnte sehen, dass sie sich Mühe gab, nicht zu weinen. Sieerreichten <strong>de</strong>n kleinen Kontrollraum, in <strong>de</strong>m die Hydra auchwohnte. Bett, Tisch, Schränke und Regale wirken völlig <strong>de</strong>plaziertzwischen <strong>de</strong>n Schaltpulten und Bildschirmen, mit <strong>de</strong>nen Eddabedient wer<strong>de</strong>n konnte. Dieser Eindruck wur<strong>de</strong> dieElektronikgeräte, welche Joan selbst mitgebracht hatte und dieüber <strong>de</strong>n ganzen Raum verstreut waren, nur unterstrichen.Küchenautomat, Holorecor<strong><strong>de</strong>r</strong>, E-Orgel, ja selbst <strong><strong>de</strong>r</strong> Leuchtglobusüber <strong>de</strong>m Bett konnten zwischen <strong>de</strong>n uralten Feststoffmonitorenund mechanischen Tastaturen allesamt kaum anachronistischeranmuten an als ein Laserskalpell unter <strong>de</strong>n Gerätschaften einesmittelalterlichen Heilers.Joan warf einen kurzen Blick auf die Anzeigen. Erwartungsgemäßverlief das Manöver reibungslos, Samuel flog die Hadrom routiniertund Edda arbeitete zuverlässig wie eh und je. Daher setzte sich dieHydra entspannt auf ihr Bett, von wo aus sie die Bildschirme imAuge behalten konnte. Anthea ließ sich auf einem <strong><strong>de</strong>r</strong> dreiBürostühle nie<strong><strong>de</strong>r</strong>, die noch zum ursprünglichen Inventar <strong>de</strong>sZimmers gehörten. Einen Moment dachte Joan daran, dass man dieblaue, geschwungene Sitzfläche und das trichterförmige Bein <strong>de</strong>sMöbels in ihrer Jugend für ein zukunftsweisen<strong>de</strong>s Design gehalten190


hatte. Nath war hingegen <strong><strong>de</strong>r</strong> Meinung gewesen, sämtlicheErzeugnisse dieses Taurismus genannten Stils sähen aus wieveren<strong>de</strong>te Quallen. Heute wusste niemand mehr etwas mit <strong>de</strong>mWort Taurismus anzufangen. Sie schüttelte <strong>de</strong>n Gedanken ab.„Und was ist Deine Kraftquelle?“, fragte sie statt<strong>de</strong>ssen.„Meine? Ich weiß nicht...“ Anthea fühlte sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Frageüberrumpelt. Doch so als kenne ihr Körper die Antwort besser alssie selbst, wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te ihre Hand unwillkürlich hinauf zu <strong>de</strong>m Ohrringan ihrem rechten Ohr. „Oh, ich <strong>de</strong>nke das hier.“Joan trat näher heran und begutachtete das Schmuckstückinteressiert. Ein eingearbeiteter Miniprojektor ließ holografischeWolken durch das Blau <strong>de</strong>s Kunstkristalls treiben. „Ein schönesStück.“, urteilte die Hydra. „Was ist das für eine Fassung, einKreuz?“„Ein Ankh. Das Symbol <strong>de</strong>s Lebens <strong><strong>de</strong>r</strong> alten Ägypter.“, erläuterteAnthea. „Zumin<strong>de</strong>st hat mein Vater das gesagt, als er es mirschenkte.“ Ihre Augen glänzten wie<strong><strong>de</strong>r</strong> verräterisch.Joan nickte. „Was könnte besser zu einer Langlebigen passen alsein Lebenssymbol? Hat Midan es gemacht?“„Ja. Daher erinnert es mich an meine Eltern.“, antwortete Anthea.„Ich hänge sehr daran.“„Und dabei sieht es eher so aus, als hinge es an Dir.“, scherzte dieHydra, um dann ganz unvermittelt wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ernst zu wer<strong>de</strong>n: „Ichkann dir Amalias Grab zeigen. Natürlich nur, wenn du willst.“Anthea schaute auf. Nun rann doch eine Träne ihre Wange hinab,aber ihre Stimme klang wie<strong><strong>de</strong>r</strong> fest und sicher als sie das Angebotdankend an nahm. Dann schien sie zu überlegen, noch etwas zusagen und nach <strong>de</strong>n richtigen Worten zu suchen.Joan ahnte, was sie beschäftigte: „Ich besorg mir manchmalNachrichten aus <strong>de</strong>n Kolonien. Als ich mitkriegte, dass sie von191


Aldrin verschwun<strong>de</strong>n war, habe ich sie gesucht und gefun<strong>de</strong>n unddann hierher gebracht.“ Sie hob hilflos die Hän<strong>de</strong>. „Aber ich konnteihr nicht mehr helfen, sie hatte solche Angst davor, <strong>de</strong>inen Vateraltern und sterben zu sehen. Sie... sie hat Midan wirklich geliebt,weißt du.“ Sie verschwieg Anthea, dass sie Amalia drogenbenebeltin <strong><strong>de</strong>r</strong> Polizeiwache irgen<strong>de</strong>iner erdverlassenen Kleinstadt aufSandwell aufgelesen hatte, dass sie sich im Nebenraum aufgehängthatte, in <strong>de</strong>m Joan bis dahin gelebt hatte, und dass es letztlichAmalias schlechtes Gewissen gewesen war, ihre Tochter im Stichgelassen zu haben, wegen <strong>de</strong>m sie sich das Leben genommen hatte.„Es ist die Gegenwart <strong>de</strong>s Sterbens, an die wir uns gewöhnenmüssen.“, sagte sie nach einigen Minuten, da die völlige Stilleunerträglich zu wer<strong>de</strong>n schien. Trotz <strong>de</strong>s <strong>de</strong>zenten Murmelns, dasdie Energiekonverter in Eddas Eingewei<strong>de</strong>n verursachten. „Der Todist <strong><strong>de</strong>r</strong> ständige Begleiter <strong><strong>de</strong>r</strong> Unsterblichen.“„Wir sind nicht unsterblich!“, gab Anthea zurück. Es klang gereizt.„Nur langlebig.“Joan zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. „Da bislang keine vonuns ihre volle Lebensspanne ausgehalten und eines natürlichenTo<strong>de</strong>s gestorben ist, können wir das letztlich nicht wissen. Auch dasist eine meiner Aufgaben, ich will das herausbekommen.“Anthea war erstaunt: „Möchtest du wirklich ewig leben?“Sie zuckte gleichmütig mit <strong>de</strong>n Schultern: „Ich <strong>de</strong>nke, dass machtjetzt auch keinen Unterschied mehr.“Kaum hatte sich Eddas Hangarschleuse hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadromgeschlossen, gab Joan <strong>de</strong>m Robotschiff <strong>de</strong>n Befehl Kurs auf ArgonPrime zu setzen, beziehungsweise auf Sonra IV, da <strong><strong>de</strong>r</strong> Planet inEddas betagten Sternenkarten noch unter seinem ursprünglichenNamen verzeichnet war. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>telang hatte sich Edda getragen192


von Zentrifugal- und Anziehungskraft ihres Gastplaneten ohneeigene Mittel in einer stabilen Orbitalbahn bewegt. Doch ihre alldiese Zeit ruhen<strong>de</strong>n Haupttriebwerke aktivierten sich ohneProbleme, da sie durchgehend gewartet wor<strong>de</strong>n waren. Dergewaltigen Antriebsflamme zum Trotz wur<strong>de</strong> die große Masse <strong>de</strong>sSchiffes nur langsam beschleunigt, sodass die Menschen an Borddavon nichts bemerkten. Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> wies die Transportdrohnen an,ihrem Mutterschiff zu folgen und bald zogen die CAU und dieDrohnen wie eine Entenfamilie zum nächsten Sprungtor.Zunächst hatten sich alle im Kontrollraum versammelt undverfolgten von dort gemeinsam die erste Etappe ihrer Reise. Da essich aber um ein kleines Zimmer han<strong>de</strong>lte, das zu<strong>de</strong>m von JoansMöbeln weitgehend ausgefüllt wur<strong>de</strong>, verließen sie nach und nach<strong>de</strong>n Raum. Joan führte ihre Besucher im Schiff herum o<strong><strong>de</strong>r</strong> ließ sieEdda auf eigene Faust erkun<strong>de</strong>n. Sie stand Gran für weitere FragenRe<strong>de</strong> und Antwort, und begleitete Anthea wie versprochen zumGrab ihrer Mutter, die sie ganz in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe <strong><strong>de</strong>r</strong> Eiche in Eddasdünner Krume bestattet hatte. Auf einer kleinen Plakette über <strong><strong>de</strong>r</strong>ansonsten unmarkierten, Gras bewachsenen Fläche stand <strong><strong>de</strong>r</strong>Name Amalia Demetres. Darunter verkün<strong>de</strong>te die Platte: 'Mementomori morituribusque'.„Denke daran, dass du sterben wirst, und an die, die <strong>de</strong>m Todgeweiht sind.“, übersetzte Anthea leise und sah stumm auf dasGrab hinab. Joan musterte sie noch einmal genau und zog sichdann <strong>de</strong>zent zurück, gleichsam überzeugt, dass Anthea allein seinwollte und nicht im Begriff stand, ihrer Mutter zu folgen.Sie kehrte in <strong>de</strong>n Kontrollraum zurück und stellte fest, dass Eddain etwa einer halben Stun<strong>de</strong> das nächste Sprungtor passieren unddamit erstmals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in einen Teil <strong>de</strong>s Alls vorstoßen wür<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m regelmäßiger bemannter Schiffsverkehr stattfand. Sie grinste193


spitzbübisch bei <strong>de</strong>m Gedanken daran, welcher Schrecken <strong>de</strong>nübermü<strong>de</strong>ten Frachterpiloten in die Glie<strong><strong>de</strong>r</strong> fahren wür<strong>de</strong>, wennsich vor ihnen unvermittelt eine Terranerformerwalze durch das Torschöbe. Es war besser, wenn dann jemand am Funkgerät säße, umEntwarnung zu geben. Deshalb entschloss sie sich, <strong>de</strong>nTordurchgang hier im Kontrollraum abzuwarten.Siebenundzwanzig Minuten später mel<strong>de</strong>te Edda: „ErreicheSystem: Omikron Lyrae. Sternenkarte wird aktualisiert.“Joan runzelte die Stirn. „Grund für die Aktualisierung?“, verlangtesie zu wissen.„Verwandte Sternenkarte verzeichnet Omikron Lyrae mit vierSprungtoren, Typ Zwei. Aktuelle Gravidardaten ergeben: SprungtorOmikron Lyrae Beta inexistent.“„Was?!“, rief Joan. Sie erinnerte sich dieses Systems sehr genauvon früheren Besuchen. Es hatte vier Tore. Zu<strong>de</strong>m konnte ein Tornicht einfach verschwin<strong>de</strong>n. Natürlich hatte sie mit eigenen Augengesehen, wie das Sprungtor zur <strong>Er<strong>de</strong></strong> vernichtet wor<strong>de</strong>n war. Dochdies war ein von Menschen gebautes Tor gewesen. Die Portale, dieEdda schlicht mit Typ Zwei bezeichnete, jene Sprungtore, die eineunbekannte Intelligenz vor vielen tausen<strong>de</strong>n von Jahren in <strong><strong>de</strong>r</strong>Milchstraße errichtet hatte, galten hingegen als unzerstörbar. Eswar schon rätselhaft genug, dass alle Jubeljahre neue davonauftauchten, verschwun<strong>de</strong>n war hingegen noch keines.Sie suchte fieberhaft nach einer Erklärung und kam schließlichauf die I<strong>de</strong>e, dass sich möglicherweise – warum auch immer - diePosition <strong>de</strong>s Tores verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben mochte und wies Edda an,einen Tiefenraumscan durchzuführen und nach Auffälligkeiten zusuchen. Fast umgehend mel<strong>de</strong>te das Computergehirn, mehreresolche gefun<strong>de</strong>n zu haben und schaltete einen zusätzlichenBildschirm ein, um auf diesem alle Sensordaten aufzulisten, die ihr194


ezüglich <strong><strong>de</strong>r</strong> ent<strong>de</strong>ckten Objekte vorlagen.„Chikusho!“, fluchte Joan und rief die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en über dieSprechanlagen zu sich. Edda hatte das fehlen<strong>de</strong> Tor nicht gefun<strong>de</strong>n,dafür eine unerfreuliche Menge feindlicher Schiffe, die so eben <strong>de</strong>nSektor über das Alphator erreichten. Mehr und mehr rote Symbolewur<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>m Gravidar sichtbar.195


19 – Am Bo<strong>de</strong>n„Ich nehme Zuflucht […] vor <strong>de</strong>m Übel, das Er geschaffen. Und vor <strong>de</strong>m Übel<strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s, wenn er sich verfinstert. […] Und vor <strong>de</strong>m Übel <strong>de</strong>s Nei<strong><strong>de</strong>r</strong>s,wenn er nei<strong>de</strong>t.“Sura 113,1-5 (Koran)Dunkelheit wohin sie auch blickte. Schwarz und bedrohlich türmtesich <strong><strong>de</strong>r</strong> Kraterwall vor Stacia auf, nur um Nuancen dunkler als <strong><strong>de</strong>r</strong>kantige Gebirgsrücken wenige Kilometer dahinter, <strong><strong>de</strong>r</strong> sichseinerseits kaum von <strong>de</strong>m nächtlichen Himmel absetzte. Nur hierund da flackerten gespenstischer Irrlichter über <strong>de</strong>n Gebirgskammwie wahllos verteilte Kerzen. Diffuses Restlicht, zurückgeworfen vomPlaneten Jadat, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit im Rücken seines Mon<strong>de</strong>s stand. Staciawusste, dass sie und ihre Begleiter <strong>de</strong>m winzigen Shuttle hinterihnen erst von wenigen Minuten entstiegen waren. Doch die Zeitschien sich in dieser Finsternis zu <strong>de</strong>hnen. Sie füllte <strong>de</strong>n Talkesselmit Ewigkeit.Endlich, nach langem Warten, so schien es ihr, schob sich einschmaler Schatten vor <strong>de</strong>n Sternenhimmel. Abwechselnd blinktenrechts und links die Positionslichter auf, wenngleich die bei<strong>de</strong>nLeuchten bei <strong><strong>de</strong>r</strong> gegenwärtigen Flughöhe <strong>de</strong>s Schleppers nurschwer zu unterschei<strong>de</strong>n waren. Es folgte das Sprungtor, <strong>de</strong>ssenReif in <strong><strong>de</strong>r</strong> Dunkelheit nicht auszumachen war, wohingegen seineseitlich abstehen<strong>de</strong>n, tonnenförmigen Dimensionsanker zumin<strong>de</strong>stzu erahnen waren. Zuletzt erschienen auch die Positionslichter <strong>de</strong>szweiten Schleppers. Vorsichtig rangierten die bei<strong>de</strong>n schwerenFahrzeuge, um ihr wertvolles Anhängsel mittig über <strong>de</strong>m Talauszurichten.„Es wird Zeit.“, drängte Reeves Stimme über <strong>de</strong>n Helmfunk. Stacia196


wandte <strong>de</strong>n behelmten Kopf nach rechts und sah <strong>de</strong>nWissenschaftler in seinem blauen Raumanzug einen unsicherenSchritt zurück in Richtung Shuttle machen. Er hatte schon imVorfeld <strong>de</strong>utlich gemacht, dass er die Versenkung <strong>de</strong>s Tores lieberwie sein Kollege vom Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlepper aus überwachen wollte.Sich hier, zwar außerhalb <strong>de</strong>s Zielkraters, aber doch in direkterNähe zum geplanten Versteck <strong>de</strong>s Tores aufhalten, hielt er fürunnötig und gefährlich. Er hatte Stacia einige unschöne Dinge an<strong>de</strong>n Kopf geworfen als sie auf diesem Außeneinsatz und seineTeilnahme daran bestan<strong>de</strong>n hatte.Doch im Gegensatz zu ihm sah sie keine Alternative zu diesemVorgehen. Das millimetergenaue Absenken einer solch schwerenund komplexen Struktur wie sie das Sprungtor darstellte, sollteihrer Ansicht nach nicht allein von oben her überwacht wer<strong>de</strong>n.Denn sollte bei diesem Vorgang etwas schief laufen, konnte das Torunter Umstän<strong>de</strong>n größeren Scha<strong>de</strong>n nehmen als vorgesehen. Einezusätzliche Beobachterperspektive vom Bo<strong>de</strong>n aus, unterstütztdurch mobile Messgeräte, konnte helfen, seitliche Abweichungen zuminimieren und die Restdistanz besser abzuschätzen. Darüberhinaus hatte niemand mit absoluter Sicherheit sagen können, wiesich die Torsingularität in unmittelbarer Nähe zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Masse einesHimmelskörpers verhalten wür<strong>de</strong>. Deswegen erschien es Staciaunumgänglich, Reeve als Experten in ihrer Nähe zu wissen.Schließlich konnte er besser abschätzen, ob die gemessenen Werteauf Komplikationen jedwe<strong><strong>de</strong>r</strong> Art hin<strong>de</strong>uteten.Sie verstand aber auch, dass die Beweggrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>sWissenschaftlers nicht Feigheit o<strong><strong>de</strong>r</strong> mangeln<strong>de</strong> Sorgfalt waren.Vielmehr machte sich Reeve, so wie Stacia selbst und alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>enBeteiligten, große Vorwürfe, nicht verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben zu können,dass Exgouverneuerin Demetres in die Hän<strong>de</strong> unbekannter Piraten197


gefallen war. Stacia war damit die undankbare Aufgabe zugefallen,an Antheas Statt das Deaktivierungsprojekt zu leiten. Und sie wareisern gewillt, je<strong>de</strong>s Risiko einzugehen, das Anthea auch auf sichgenommen hätte, während <strong><strong>de</strong>r</strong> Doktor im Gegenzug bestrebt war,weitere Opfer zu vermei<strong>de</strong>n. Daher wehrte er sich ganz massivgegen je<strong>de</strong> Maßnahme, die ein Mitglied <strong>de</strong>s Projekts und explizitStacia Dubranchowa als <strong>de</strong>ssen neue Leiterin in Gefahr brachte. Siewusste seine Sorge um ihre Person zu schätzen, ließ sich davonallerdings nicht von ihren eigenen Grundsätzen abbringen.Reeve regte nochmals an, zum Shuttle zurückzukehren, dochStacia lehnte weiterhin entschie<strong>de</strong>n ab, was <strong>de</strong>n Wissenschaftlerveranlasste, ungehalten vor sich hin zu murmeln. Calon Collard,<strong><strong>de</strong>r</strong> Mann zu seiner Linken, schwieg dazu. Bat man ihn nichtgera<strong>de</strong>, seine Meinung zu äußern, kommentierte er ohnehin Nichtsvon <strong>de</strong>m, was um ihn herum geschah. Vizemarschall Schnei<strong><strong>de</strong>r</strong>hatte <strong>de</strong>n Agenten für die letztliche Abschaltung ausgewählt, weil erErfahrung mit Isolationseinsätzen besaß. Im Krieg hatte er voneiner Habitatskugel aus, ähnlich <strong><strong>de</strong>r</strong>jenigen, die hier zum Einsatzkommen sollte, gegnerische Flottenbewegungen beobachtet undanalysiert. Jahrelang, ohne jemals aufgespürt zu wer<strong>de</strong>n. Staciazweifelte we<strong><strong>de</strong>r</strong> an Collards Befähigung, noch an seiner Loyalität.Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> Mann, <strong><strong>de</strong>r</strong> immer schwieg und stun<strong>de</strong>nlang ohne diekleinste Bewegung verharren konnte, war ihr nicht ganz geheuer.Die Schlepper, die das Tor in dieser finalen Phase nicht mehrzogen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n schoben, hatten ihre kostbare Fracht inzwischenschon weit abgesenkt. Die Stirnseite eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Dimensionsanker <strong>de</strong>sTores schwebte nur noch wenige Dutzend Meter über <strong>de</strong>n Köpfen<strong><strong>de</strong>r</strong> drei Menschen. Es hing dort wie <strong><strong>de</strong>r</strong> Fuß eines Riesen, imBegriff die Gestalten in ihren Raumanzügen zu zermalmen. StaciasHerz schlug schneller und sie hatte Mühe, ihren Fluchtinstinkt zu198


unterdrücken. Doch sie wusste, dass dazu kein Grund bestand.Anhand <strong><strong>de</strong>r</strong> Messgeräte vergewisserte sie sich, dass ihre Sinne ihreinen Streich spielten und sich <strong><strong>de</strong>r</strong> schiffsgroße Metallzylin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>sAnkers keineswegs direkt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n schräg über ihnen befand, undplangemäß auf <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Seite <strong>de</strong>s Kraterwalls nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gehen wür<strong>de</strong>.Sie überprüfte ein weiteres Mal <strong>de</strong>n Navigationscomputer an ihremHandgelenk. Er hatte die Umgebung als exaktes dreidimensionalesBild gespeichert, in welches er die geplante Lage <strong>de</strong>s Tores bereitsmiteinbezogen hatte. Das war wichtig, <strong>de</strong>nn gleich wür<strong>de</strong>n sie aufdie Orientierungshilfe <strong>de</strong>s Computers angewiesen sein.„Bereit?“, fragte Stacia nervös.„Wenn's <strong>de</strong>nn sein muss.“, brummte Reeve gequält. Auch Collardbejahte knapp.Nach<strong>de</strong>m sich alle flach auf <strong>de</strong>n Bauch gelegt hatten, zog sie <strong>de</strong>nFernzün<strong><strong>de</strong>r</strong> hervor, entriegelte die Sicherheitsab<strong>de</strong>ckung undpresste <strong>de</strong>n dicken Daumen ihres Raumhandschuhs auf <strong>de</strong>n rotenKopf.Die Explosionen gingen völlig lautlos vonstatten, doch spürteStacia die jähe Erschütterung <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>ns unter sich. <strong>Jenseits</strong> <strong>de</strong>sKraterwalls schleu<strong><strong>de</strong>r</strong>ten die Sprengladungen gewaltige Fontänenaus Staub und Gestein in <strong>de</strong>n Himmel. Ein Geröllregen prasselteauf die drei Menschen herab, konnten <strong><strong>de</strong>r</strong>en Raumanzüge jedochnicht gefährlich wer<strong>de</strong>n. Nach<strong>de</strong>m das Bombar<strong>de</strong>ment größererTeile versiegt war, rappelten sie sich schnell wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf.Hatten sie vorher mit ihren Lampen noch die unmittelbareUmgebung ausleuchten können, während von oben ferne Sterneund Jadats Schimmern die Landschaft spärlich in Szene setzten, sowaren sie nun von je<strong>de</strong>m Licht abgeschnitten. In <strong>de</strong>m dichtenStaubnebel, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> geringen Schwerkraft <strong>de</strong>sMon<strong>de</strong>s nur langsam absenken o<strong><strong>de</strong>r</strong> verflüchtigen wür<strong>de</strong>, konnte199


keiner von ihnen mehr die Hand vor Augen sehen.„Navigation!“, befahl Stacia daher: „Weg zum Dimensionsankers.“„Zwanzig Schritte gera<strong>de</strong>aus, Achtung: leichte Steigung!“, dirigiertesie ihr Computer. Auch ihre Begleiter wur<strong>de</strong>n von StaciasNavigationscomputer gelenkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> auf diese Weise verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>nkonnte, dass sich die drei vorübergehend erblin<strong>de</strong>ten Menschengegenseitig in die Quere kamen und einan<strong><strong>de</strong>r</strong> behin<strong><strong>de</strong>r</strong>n. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> vonihnen vernahm eigene Anweisungen vom System über einegeson<strong><strong>de</strong>r</strong>te Frequenz.Stacia stellte fest, dass es Überwindung kostete, <strong><strong>de</strong>r</strong>Computerstimme ins Nichts zu folgen. Doch das Systemfunktionierte zuverlässig und warnte sie vor Unregelmäßigkeiten imBo<strong>de</strong>n, so dass sie kein einziges Mal stolperte. Schließlich erbebte<strong><strong>de</strong>r</strong> Bo<strong>de</strong>n unter ihren Füßen ein weiteres Mal. Dieses Mal jedochmerklich schwächer. Das Tor hatte auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n aufgesetzt, wienun auch die Kommandanten <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlepper bestätigten. Dieunteren Hälften <strong><strong>de</strong>r</strong> Dimensionsanker waren problemlos in die freigesprengten Schächte versenkt wor<strong>de</strong>n. Das Tor lag auf <strong>de</strong>m Grund<strong>de</strong>s Kraters.Die Besatzungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlepper wür<strong>de</strong>n ihre Schiffe jetzt lan<strong>de</strong>nund mit <strong><strong>de</strong>r</strong> endgültigen Verankerung <strong>de</strong>s Portals am Bo<strong>de</strong>nbeginnen, während Stacias Team die Abschaltung vorbereitenwür<strong>de</strong>.„Stopp!“, ertönte die Stimme <strong>de</strong>s Navis. „Vor ihnen befin<strong>de</strong>t sichnun die Außenseite <strong>de</strong>s Kraterwalls. Ertasten sie <strong>de</strong>n Vorsprungrechts auf Höhe ihrer Hüfte und setzten sie ihren Fuß darauf.“ DieAnweisungen, die beim Erklettern <strong><strong>de</strong>r</strong> Wand helfen sollten, warenkompliziert und die drei Menschen kamen nur langsam voran.Stacia rutschte zweimal ab, fand aber bei<strong>de</strong> Male rasch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Haltund erreichte <strong>de</strong>n Grat <strong>de</strong>s Walls als Zweite. Collard, <strong><strong>de</strong>r</strong>200


durchtrainierte Agent war erwartungsgemäß schon vor ihr obenangekommen, obwohl er <strong>de</strong>n größten Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausrüstung trug.Schließlich vermel<strong>de</strong>te auch Reeve schnaubend und keuchend amZiel zu sein. Schemenhaft stand er nun neben ihr und bat, um einekurze Verschnaufpause.Überrascht bemerkte Stacia, dass sie ihn tatsächlich ansatzweisesehen konnte. Die Sicht hier oben schien <strong>de</strong>utlich besser zu sein alsam Fuß <strong>de</strong>s Ringwalls. Derweil sie sich noch fragte, woran dasliegen mochte, sah sie schräg unter sich einen metallischenLichtreflex. Das obere En<strong>de</strong> eines Dimensionsankers spiegelte dasLicht ihrer Taschenlampe. Sie mussten nur noch geschätzte dreißigMeter <strong>de</strong>n steilen Abhang hinunter, um <strong>de</strong>n Ausleger zu erreichen.Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Navigationscomputer gab entsprechen<strong>de</strong> Anweisungen,weshalb sie sich vorsichtig in Bewegung setzten.Stacia ignorierte das wachsen<strong>de</strong> Gefühl von Übelkeit undSchwin<strong>de</strong>l. Sie wusste, dass dieses nicht o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>st nichthauptsächlich aus Nervosität o<strong><strong>de</strong>r</strong> Angst herrührte. Statt<strong>de</strong>ssen lages an <strong><strong>de</strong>r</strong> Nähe zu <strong>de</strong>m noch aktiven Sprungtor, <strong>de</strong>ssen Singularitätso genannte 'verzerrte Geometrien' schuf. Diese Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen imRaumzeitgefüge konnten <strong>de</strong>n menschlichen Metabolismusverwirren. Passierte man die Tore in einem Raumschiff, so wardavon nicht zu spüren. Warum es sich so verhielt, wusste niemandzu sagen. Es war eines <strong><strong>de</strong>r</strong> zahllosen Geheimnisse dieseraußerirdischen Technologie. Man wusste lediglich, dass dieGeschwindigkeit, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> man sich relativ zum Tor bewegte, eineRolle spielte. Je höher das Tempo, umso geringer die Auswirkungen.Daher wun<strong><strong>de</strong>r</strong>te es Stacia nicht, dass ihr Magen gegen ihrenSpaziergang am Ran<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Singularität zu rebellieren versuchte.Abrupt blieb sie stehen und musterte alarmiert die trübenStaubscha<strong>de</strong>n voraus. Sie war sich sicher, dort eine Bewegung201


gesehen zu haben. Es dauerte einen Moment bis ihr klar wur<strong>de</strong>,dass es <strong><strong>de</strong>r</strong> Nebel in seiner Gesamtheit war, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich bewegte undzwar <strong>de</strong>utlich schneller als erwartet. Hinter <strong>de</strong>m grauschwarzenStaubvorhang zeichnete sich eine gewaltige matt schimmern<strong>de</strong>Fläche ab. Halt suchend griff Stacia hinter sich. DerEreignishorizont eines Tores leuchtete nur, wenn es von Materiedurchquert wur<strong>de</strong>. Das Tor saugte <strong>de</strong>n Nebel auf!Erst jetzt bemerkte sie, dass auch sie sich schwerer fühlte als siebei <strong>de</strong>n örtlichen Gravitationsverhältnissen eigentlich hätte seindürfen. Auch die Ursache für ihr Schwin<strong>de</strong>lgefühl wur<strong>de</strong> ihr jetztklarer. Ihr Gleichgewichtssinn verzweifelte daran, dass dieSchwerkraft nicht ordnungsgemäß von unten an ihrem Körperzerrte, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n von vorne. Die künstliche Schwerkraft <strong>de</strong>s Tores zogan <strong>de</strong>ssen Umgebung. Erschrocken machte sich Stacia klar, dasssie diesen Umstand im Vorfeld nicht hinreichend durchdachthatten. Sie erkannte, dass sie das Tor hätten <strong>de</strong>aktivieren sollen,bevor sie es auf Grund setzen, auch wenn sie dann ungleich mehrLeute in Omikron Lyrae hätten zurücklassen müssen. Nun war diegeologische Stabilität <strong>de</strong>s Kraters, ja <strong>de</strong>s ganzen Tales, wenn nichtgar <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s selbst gefähr<strong>de</strong>t. Und daran, was passieren mochte,wenn das Tor sie selber verschlingen wür<strong>de</strong>, wollte sie erst gar nicht<strong>de</strong>nken.„Wir müssen so schnell wie möglich <strong>de</strong>aktivieren!“, schrie sie über<strong>de</strong>n Helmfunk.Calon Collard fasste dies als direkten Befehl auf und reagierteprompt. Er ließ bis auf <strong>de</strong>n Werkzeugkoffer alle Gerätschaften fallenund sprintete los in Richtung Dimensionsanker. Dort angekommenstellte er <strong>de</strong>n Koffer ab und suchte die glatte Metalloberfläche nach<strong><strong>de</strong>r</strong> Stelle ab, an <strong><strong>de</strong>r</strong> sich die Struktur öffnen ließ. Da seinRaumanzug verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>te, dass er <strong>de</strong>n Kopf in <strong>de</strong>n Nacken legen202


konnte, krümmte er sich zum Hinaufschauen nach hinten.Dabei verlor er das Gleichgewicht, fiel hin, rutschte <strong>de</strong>n Abhangweiter hinab und verschwand aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Sichtweite seiner Begleiter.Je<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>e hätte lauthals geschrieen, doch <strong>de</strong>m wortkargen Agentschien sogar sein eigenes Unglück keines Kommentars würdig.„Collard, Meldung!“, befahl Stacia <strong>de</strong>swegen.„Falle noch.“, erklärte Calon ruhig. Es klang als re<strong>de</strong> er über dasWetter. „Versuche Halt zu fin-“ Urplötzlich riss seine Stimme ab, imgleichen Moment wur<strong>de</strong> das Leuchten <strong>de</strong>s Ereignishorizonts eineNuance heller.„Collard, Meldung!“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte Stacia entsetzt.„Miss Dubranchowa.“ Reeve war herangetreten und legte ihr dieHand auf <strong>de</strong>n Arm.„SIS First Lieutenant Calon Collard, Rapport!“, brüllte Stacia insMikrofon.Reeve rüttelte sie: „Miss Dubranchowa, wir müssen weiter. Jetzt!Das Tor muss abgeschaltet wer<strong>de</strong>n.“„Und Collard?“„Der ist weg.“ So hartnäckig er bislang zum Umkehren geratenhatte, so beherzt schritt Reeve nun voraus.„Weg? Was heißt das 'weg'?“, fuhr sie ihn an.„Ich! Weiß! Es! Nicht!“, gab <strong><strong>de</strong>r</strong> Wissenschaftler zurück. „Er wirdjetzt drüben im Solarasystem sein. An einem Stück.“ Ob lebendigwar eine ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Frage, zu <strong><strong>de</strong>r</strong> er lieber keine Prognosenäußern wollte. „Kommen sie!“Mechanisch folgte Stacia ihm bis zum Anker. Reeve hatte ja recht,gestand sie sich ein. Sie mussten es zu En<strong>de</strong> bringen. Nur wer solltejetzt an Collards Stelle <strong>de</strong>n letzten Schritt <strong><strong>de</strong>r</strong> Deaktivierungdurchführen?„Ich wer<strong>de</strong> es tun.“, erklärte Reeve, so als habe sie die Frage laut203


gestellt. „Hier bleiben, meine ich. Schließlich ist das alles meine I<strong>de</strong>egewesen.“ Er hatte <strong>de</strong>n Werkzeugkoffer an sich genommen un<strong>de</strong>ntnahm ihm einen weiteren Sprengsatz, <strong><strong>de</strong>r</strong> in<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utlich kleinerwar als die bei<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>nen sie die Schächte für dieDimensionsanker freigelegt hatten.„Ich <strong>de</strong>nke, wir klären das, wenn wir hier fertig sind.“, entgegneteStacia wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ruhiger. Sie war dagegen. Denn letztlich bestand <strong><strong>de</strong>r</strong>Plan ja darin, Aldrin in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Isolation wirtschaftlich undmilitärisch zu stärken. Auf Forscher vom Kaliber Toki Reeveskonnten sie dabei kaum verzichten. Und dann hatte sie nochan<strong><strong>de</strong>r</strong>e, persönlichere Grün<strong>de</strong>. Doch hier und jetzt war we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>rechte Ort, noch <strong><strong>de</strong>r</strong> rechte Moment, dies auszudiskutieren.Sie machten nicht Collards Fehler, ihr Ziel zu suchen ohne sich zusichern. Auch diesmal waren die Angaben <strong>de</strong>sNavigationscomputers eine große Hilfe. Der ursprüngliche Planhatte vorgesehen, dass sie das letzte Stück springend überbrückten,um zunächst die selbsthaften<strong>de</strong> Sprengladung anzubringen, umanschließend in die dann geöffnete Struktur einzudringen.Angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> geringen Schwerkraft <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s wäre es einLeichtes gewesen, sich aus <strong>de</strong>m Stand in die erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>liche Höhe zukatapultieren. Die nunmehr herrschen<strong>de</strong>n Gravitationsverhältnisseerlaubten dies hingegen nicht, eröffneten statt<strong>de</strong>ssen aber einean<strong><strong>de</strong>r</strong>e Möglichkeit. Da auf die bei<strong>de</strong>n Menschen eine Kraft wirkte,die zum Mittelpunkt <strong>de</strong>s Tores zeigte, von ihrer gegenwärtigenPosition aus also in einem fast perfekten rechten Winkel nach vorn,konnten sie direkt auf <strong><strong>de</strong>r</strong> vor ihnen aufragen<strong>de</strong>n Metallwandhinaufgehen. Es zeigte sich, dass dies sogar einfacher war als <strong><strong>de</strong>r</strong>Abstieg am Kraterhang. Augenblicklich ebbte StaciasSchwin<strong>de</strong>lgefühl ab.Sie brachten <strong>de</strong>n Sprengsatz in Position und eilten dann zum Fuß204


<strong>de</strong>s Dimensionsankers zurück, um Deckung zu suchen. Einhalbkugelförmiges Kraftfeld lenkte die Wucht <strong><strong>de</strong>r</strong> Explosion auf dieOberfläche <strong>de</strong>s Tores und riss ein hässliches Loch hinein. Staciaund Reeve kehrten dorthin zurück und stiegen ins Innere <strong><strong>de</strong>r</strong>Struktur hinab. Dabei gingen sie mit äußerster Vorsicht vor, umihre Raumanzüge nicht an <strong>de</strong>n scharfkantigen Rän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zubeschädigen. Stacia beäugte die Kante misstrauisch. Messer, Zähneund Dornen kamen ihr als Vergleiche in <strong>de</strong>n Sinn, doch nichtspasste so recht auf ihre unregelmäßige Abfolge … und ihreBewegung.Sie blinzelte und vergewisserte sich, sich nicht getäuscht zuhaben. Tatsächlich, die aufgesplitterte Bruchkante bewegte sich.Abgeknickte Formen bogen sich mit schneckenhafter Langsamkeit,aber doch merklich, zurück in ihre angestammte Lage. Damit nichtgenug begannen sich die scharfen Schnittkanten zu glätten und dasganze Loch erweckte <strong>de</strong>n Eindruck kleiner zu wer<strong>de</strong>n. Sie wiesReeve darauf hin, <strong><strong>de</strong>r</strong> bereits <strong>de</strong>n Werkzeugkoffer öffnete, umdiesem einen extrem starken Elektromagneten zu entnehmen. DerWissenschaftler hatte das Phänomen noch nicht bemerkt, besah essich interessiert und meinte dann, dass es sich wohl um einenSelbstheilungsprozess <strong>de</strong>s Sprungtores han<strong>de</strong>lte und sich dieWun<strong>de</strong> schließe.„Dann... Dann ist das Tor lebendig?“, fragte Stacia entgeistert. Siewar sich nicht sicher, was sie weniger glauben konnte, dass hierMetall 'wuchs' o<strong><strong>de</strong>r</strong> Reeves Erklärung dafür.„Keine Ahnung,“, gab Reeve zurück. Er klang wie<strong><strong>de</strong>r</strong> mürrischer.„Vielleicht auch nur eine Maschine mit Reparaturroutinen, dieunser Verständnis übersteigen. Wen<strong>de</strong>n wir uns also lieber <strong>de</strong>m zu,was wir zumin<strong>de</strong>st ansatzweise verstehen.“ Er wies auf eine Spule,<strong><strong>de</strong>r</strong>en Durchmesser annähernd zehn Meter betrug, und die <strong>de</strong>n205


ganzen Anker zu durchziehen schien. Ihr genauer Sinn entzog sich<strong>de</strong>n Menschen ebenso, wie jener <strong><strong>de</strong>r</strong> Maschinen, die seitlich mit <strong><strong>de</strong>r</strong>Spule verbun<strong>de</strong>n waren und <strong><strong>de</strong>r</strong> Kugeln, die hier und da in sieeingearbeitet waren. Zumin<strong>de</strong>st legten Material und Form <strong><strong>de</strong>r</strong>Konstruktion nahe, dass sie auf Magnetismus reagieren sollte. Dieboronischen Wissenschaftler, auf <strong><strong>de</strong>r</strong>en Erkenntnissen Reeves Planbasierte, hatten dies bestätigen können.„Wir sollten uns auf je<strong>de</strong>n Fall beeilen.“, bemerkte Stacia nacheinem erneuten Blick auf die sich allmählich schließen<strong>de</strong> Öffnung.„Ich hatte Nichts an<strong><strong>de</strong>r</strong>es vor.“, brummte Reeve und schob <strong>de</strong>nElektromagneten energisch durch einen Spalt ins Innere <strong><strong>de</strong>r</strong> Spule.Nun mussten sie ihn nur noch einschalten.Der Weg zurück zum Shuttle stellte sich leichter dar als erwartet.Der Staubnebel war inzwischen weitgehend aufgesaugt wor<strong>de</strong>n.Dies erleichterte nicht allein die Sicht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n hatte auch dieSingularität <strong>de</strong>s Tores beruhigt. Nun da sich in unmittelbarer Nähezu seinem Mittelpunkt keine Materie mehr befand, hatte sich dasPortal in Standby versetzt und hielt <strong>de</strong>n Dimensionstunnel nichtlänger geöffnet, womit auch seine Gravitationswirkung praktischzum Erliegen gekommen war. So erreichten Stacia und DoktorReeve ihren Lan<strong>de</strong>platz rasch und ohne Schwierigkeiten.Nach<strong>de</strong>m die Schlepperbesatzungen das Tor erfolgreich verankerthatten, hatte eines <strong><strong>de</strong>r</strong> Bergungsschiffe das System bereits wie<strong><strong>de</strong>r</strong>verlassen. Das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e war neben <strong>de</strong>m Shuttle gelan<strong>de</strong>t, um<strong>de</strong>njenigen, <strong><strong>de</strong>r</strong> nach Aldrin zurückkehren durfte, an Bord zunehmen.Unweigerlich folgte <strong><strong>de</strong>r</strong> Streit zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong> jungen Politikerin und<strong>de</strong>m Wissenschaftler darüber, wer sich opfern sollte. Letztlich aberhatte Stacia die Verantwortung und Leitung und <strong><strong>de</strong>r</strong> Doktor war206


diszipliniert genug, ihren Befehl zu akzeptieren. Er stieg in dieSchleuse <strong>de</strong>s Schleppers. Während sich das Schott schloss, wandteer sich noch einmal um und hob die Hand zum Abschied. „VielGlück, Miss Dubranchowa.“, hörte Stacia ihn über Funk sagen.Dann ertönte ein Klicken. Der Kommandant <strong>de</strong>s Schleppersschaltete sich auf ihren Kanal: „Ma'am, wir starten.“ Der Satz warnoch nicht völlig ausgesprochen, da stieß sich das klobige Schiffschon auf dünnen Flammenzungen vom Bo<strong>de</strong>n ab, schwebte zumTor hinüber und verharrte hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Meter über <strong>de</strong>m Eintrittspunktin Warteposition. „Während ihrer Arbeiten am Dimensionsanker hatsich die Situation im Sektor verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t.“, fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> Kommandant fort.„Ein Terraformer ist am Gammator erschienen, Begleitschiffe folgenihm. Kurz zuvor ist eine Flotte nicht i<strong>de</strong>ntifizierter Kampfschiffe,vermutlich Piraten, über das Alphator in das System eingedrungen.Ein Zusammenhang mit <strong>de</strong>n Arbeiten am Tor kann nichtausgeschlossen wer<strong>de</strong>n. Empfehle die Abschaltung umgehenddurchzuführen bevor Terraformer o<strong><strong>de</strong>r</strong> Piraten eintreffen undintervenieren können.“„Verstan<strong>de</strong>n, Captain.“, sagte Stacia und hoffte zunehmend, dassdies alles nur ein böser Traum wäre. Xenon und Piraten erschienenim abgelegenen Omikron Lyrae just im Moment <strong><strong>de</strong>r</strong> geplantenTorabschaltung. Die Unwirklichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> Situation stand <strong>de</strong>nMerkwürdigkeiten eines Traumes wahrlich in Nichts nach, dachtesie flüchtig. Doch we<strong><strong>de</strong>r</strong> Panik noch Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung waren ihrerStimme anzuhören. „Kehren sie nach Hause zurück, DubranchowaEn<strong>de</strong>!“Augenblicklich stürzte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlepper durch das Tor und warverschwun<strong>de</strong>n. Stacia ihrerseits betrat das Shuttle und eilte in<strong>de</strong>ssen Cockpit. Dort angekommen überprüfte sie zuallererst dasGravidar, um sich selbst ein Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> son<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Lage zu machen.207


In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat passierte <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit die große Walze eines Terraformers dasSystem. Der Bordcomputer <strong>de</strong>s Shuttles gab an, dass dieKonstruktion <strong>de</strong>s Robotschiffes von <strong>de</strong>n bekannten Mo<strong>de</strong>llenabwich, und dass das Schiff auf diversen unverschlüsseltenKanälen sen<strong>de</strong>te. Das war mehr als ungewöhnlich. Was auch immer<strong><strong>de</strong>r</strong> Xenon mitzuteilen hatte, musste von großer Be<strong>de</strong>utung sein.Dennoch hatte sie zunächst Wichtigeres zu erledigen. Sieüberprüfte Entfernung, Kurs und Geschwindigkeit sämtlichergeorteten Raumfahrzeuge. Erleichtert stellte sie fest, dass <strong><strong>de</strong>r</strong>zeitwe<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Terraformer noch die Piraten <strong>de</strong>n Mond ansteuerten undihn auch bei einer Kursän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nicht innerhalb von zwei Stun<strong>de</strong>nerreichen könnten. Dann stutzte sie.Ungläubig starrte sie auf die Anzeige. Ein Objekt, <strong>de</strong>ssen Datenkeinen rechten Sinn ergeben wollten, hielt direkt auf <strong>de</strong>n Mond zuund wür<strong>de</strong> ihn trotz seiner großen Entfernung in einer knappenViertelstun<strong>de</strong> erreichen, da seine Geschwindigkeit weit jenseits vonallem lag, was als physikalisch möglich galt.Ohne zu Zögern schaltete sie <strong>de</strong>n Elektromagneten ein. DieSensoren <strong>de</strong>s Shuttles bestätigten, dass sich die Singularität <strong>de</strong>sSprungtors aufgelöst hatte, so plötzlich als habe jemand einenStecker gezogen. Stacia ließ angestauten Atem fahren, löste <strong>de</strong>nHelm von ihrem Raumanzug und schloss die Augen. Was auchimmer Terraformer, Piraten und das Ufo jetzt da draußen anfangenmochten, sie hatte es geschafft. Das Sprungtor nach Aldrin warabgeschaltet.Einen Moment verharrte sie so, fühlte in sich hinein und spürte,wie sich ihr Körper beruhigte. Dann öffnete sie die Augen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>,ihr Blick fiel auf die Anzeige <strong><strong>de</strong>r</strong> Sensordaten. Sie blinzelte, dochwas sie sah, än<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich nicht. Das Tor war wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aktiv! Siestartete <strong>de</strong>n Elektromagneten erneut, keine Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung. Sie208


erinnerte sich daran, was Mortensen über die Abschirmung <strong>de</strong>sTores gesagt hatte. Der Effekt wäre so stark, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Magnet nuraus nächster Nähe gestartet wer<strong>de</strong>n konnte. Sie war hier keinesechzig Meter vom Dimensionsanker entfernt, doch schien selbstdies nicht mehr aus zu reichen.Fluchend setzte sie <strong>de</strong>n Helm wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf, schnappte sich dieSteuerung <strong>de</strong>s Magneten und stürzte hinaus. Sie entriegelte <strong>de</strong>nSicherheitsbolzen <strong><strong>de</strong>r</strong> Mannschleuse. Zwar wür<strong>de</strong> das Shuttle nunseine gesamte Bordatmosphäre verlieren, dafür gelangte sie ohneweitere Verzögerungen hinaus. So schnell nur irgend möglicherklomm sie <strong>de</strong>n Kraterwall und rannte <strong>de</strong>n Abhang zum Ankerhinunter, alle Vorsicht vergessend. Doch sie hatte Glück undstürzte kein einziges Mal. Abwechselnd versuchte sie <strong>de</strong>nStörmagneten einzuschalten und fragte über Funk <strong>de</strong>nBordcomputer, ob das Portal reagierte. Aber je<strong>de</strong>s Mal verneinte dasElektronengehirn. Das Tor war an und blieb an.Am Dimensionsanker angekommen, schaute sie suchend hinaufund hielt nach die Öffnung Ausschau. Aber die Metallwand ragtemakellos über ihr auf. Die Wun<strong>de</strong> hatte sich geschlossen, nichteinmal ein Kratzer verriet noch die Position <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschädigung. Einweiteres Mal drückte sie <strong>de</strong>n dicken Knopf auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Steuereinheit <strong>de</strong>sMagneten, doch nichts geschah. Nach<strong>de</strong>m sich die Außenhaut <strong>de</strong>sTores geschlossen hatte, funktionierte seine Abschirmung wie<strong><strong>de</strong>r</strong>uneingeschränkt. Das Funksignal gelangte nicht hindurch.In helles Licht getaucht, erkannte sie, dass sie einen weiterenSprengsatz brauchte. Allerdings hatte das Shuttle keinen solchenmehr an Bord und auch sonst wusste sie nicht, woher sie nuneinem nehmen sollte. Erst mit Verzögerung gewahrte sie dieHelligkeit um sich herum. Ihr Blick wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te weiter nach oben.Wenige hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Meter über <strong>de</strong>m Sprungtor hing ein Raumschiff im209


Vakuum, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte. Es han<strong>de</strong>lte sichum einen leicht gewölbten, völlig weißen Zylin<strong><strong>de</strong>r</strong>. Seine Oberflächewar absolut glatt und einheitlich, keine Fenster, keine Schotts,keine Waffen- und Sensortürme, nicht einmal Triebwerkeunterbrachen die gleichmäßige Oberfläche. Das Schiff erstrahlte alssei es eine einzige Lampe. Sein Licht pulsierte leicht. Kleine ebensoleuchten<strong>de</strong> Würfel regneten aus <strong>de</strong>m Schiff zur Oberfläche hinab.Stacia erkannte, dass sie die Stelle ansteuerten, an <strong>de</strong>nen dieAldrianer das Sprungtor mit Titanseilen an <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n gefesselthatten.210


20 – Ren<strong>de</strong>zvous„Und es begab sich: Wir ergriffen wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Flucht, und diejenigen, dieauf <strong><strong>de</strong>r</strong> Flucht schneller waren als die Lamaniten, entkamen, unddiejenigen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Flucht die Lamaniten an Schnelligkeit nicht übertraf,wur<strong>de</strong>n nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gefegt und vernichtet.“Mormon 5,8 (Buch Mormon)Fast zeitgleich mit Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und Anthea erreichte Samuel die Zentrale.Nur Gran hatte <strong>de</strong>n Kontrollraum schon vor ihnen erreicht. DieHydra hatte sie zurück in die Zentrale gerufen. „Dringend“, wie siebetont hatte. Überflüssigerweise, <strong>de</strong>nn die Dringlichkeit einerfeindlichen Kampfflotte musste man nicht näher darlegen.Allerdings hatte Samuel sich in diesem Moment im Heck <strong>de</strong>sSchiffes aufgehalten und daher Edda fast vollständig <strong><strong>de</strong>r</strong> Längenach durchqueren müssen. Am Ziel angekommen, keuchte er undrieb sich die stechen<strong>de</strong> Seite. Er sollte dringend wie<strong><strong>de</strong>r</strong> etwas anseiner Fitness tun, ging <strong>de</strong>m früheren Söldner auf. Er konnte sichnicht erinnern, jemals zuvor <strong><strong>de</strong>r</strong>art außer Atem gewesen zu sein.Zumal er augenscheinlich zu spät kam. Edda begrüßte ihn mit <strong>de</strong>nWorten: „Kollisionsalarm! Schil<strong>de</strong> bei 94 Prozent, prüfe <strong>de</strong>fensiveMaßnahmen.“Samuels Mund öffnete sich, um etwas zu fragen, von <strong>de</strong>m er selbernoch nicht so recht wusste, was es sein wür<strong>de</strong>. Aber noch bevor erdazu kam, schwenkte die Hydra einen Arm hektisch über dieGravidaranzeige und erklärte erneut: „Da sind irgendwelche Schiffeaufgetaucht, die uns angreifen. Edda?“„Schil<strong>de</strong> bei 87 Prozent, prüfe <strong>de</strong>fensive Maßnahmen.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holtedie Computerstimme.„Was für Schiffe?“, hakte Samuel nach.211


„Diese hier.“, Joan aktivierte einen weiteren Bildschirm, auf <strong>de</strong>mmehrere sich nähern<strong>de</strong> Jäger zu sehen waren. Diese griffen in einermehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger geordneten Formation an. Hinter ihnen fiel einschwereres Schiff leicht zurück und feuerte ein paar erste Salvenab. „Sieht nach Menschen aus, Argonen würd' ich sagen. Ich hab'Edda auf allen Frequenzen rausposaunen lassen, dass wir keineXenon sind. Scheint die da aber nicht zu interessieren.“„Chikusho!“, fluchte Samuel, <strong><strong>de</strong>r</strong> das Führungsschiff müheloserkannte, immerhin war er jahrelang auf Le Requins Honistationiert gewesen.Seine ungewohnt heftige Reaktion war <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra nicht entgangen.„Was?“, fragte sie misstrauisch.„Piraten! Es sind Piraten. Sie... ich...“ Augenblicklich ging Samuelauf, dass Le Requin ihm gefolgt und dass er hinter Edda und ihrerFracht her sein musste. „Ich kenne sie.“Hinter ihren grünen Brillengläsern hob Joan erstaunt eine Braue.Welche Schlüsse auch immer sie aus dieser Eröffnung ziehenmochte, sie kommentierte sie vorerst nicht. Einen Moment spätererschütterte ein erneuter schwerer Treffer das Schiff und konntevon <strong>de</strong>n Kompensatoren nur teilweise aufgefangen wer<strong>de</strong>n. Joangriff nach einer nahen Konsole, um nicht zu Bo<strong>de</strong>n gerissen zuwer<strong>de</strong>n. „Verdammt, Edda, tu etwas!“, schrie sie.„Schil<strong>de</strong> bei 82 Prozent. Defensivmaßnahmen vorhan<strong>de</strong>nerSoftware unzureichend. Prüfe Verfügbarkeit von Updates.“„Nein!“, befahl Joan schnell: „Keine Updates abrufen!“„Bestätigt.“, antworte Edda bevor sie mel<strong>de</strong>te: „Eingehen<strong>de</strong>Nachricht.“Ein Bildschirm flammte auf und zeigte einen Argonen mit einemauffälligen, schwarzen Backenbart und einer veraltetenOffiziersuniform.212


„Le Requin.“, stellte Samuel ohne je<strong>de</strong>s Erstaunen fest.Dieser lächelte: „Sammy, wie schön dich mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu sehen.“„Ein einseitiges Vergnügen.“„Bien sure. Und? Ergebt ihr euch?“ Es klang als interessiere LeRequin die Antwort nur mäßig.Doch Samuel kannte ihn. „Und wenn wir es täten?“„Schil<strong>de</strong> bei 71 Prozent, prüfe <strong>de</strong>fensive Maßnahmen.“, ging Eddadazwischen.Le Requin runzelte die Stirn ob dieser Unterbrechung. Er drehtesich kurz weg. Dennoch konnte Samuel sehen, wie er mit herrischerGeste jeman<strong>de</strong>m außerhalb <strong>de</strong>s Aufnahmebereichs seinerKomkamera einen Befehl erteilte.„Nun, die Frage müsste wohl eher lauten, was geschähe, kämet ihrmeinen Wünschen nicht nach. Dir ist doch wohl klar, dass wir eureklapprige Konservendose bald knacken wer<strong>de</strong>n, mon ami?“„Schil<strong>de</strong> bei 66 Prozent. Erbitte Erlaubnis, nach Updates zusuchen.“, mischte sich Edda ein, als wolle sie Le Requins Aussageunterstreichen.„Verwehrt!“, rief Joan reflexartig.Der Pirat lächelte breit. „Wenn ihr uns zwingt, euren Xenon zuentern, wer<strong>de</strong>n wir es tun. Glaube ja nicht, dass dann auch nureiner von euch überleben wird. An<strong><strong>de</strong>r</strong>enfalls wer<strong>de</strong> ich euer Lebenschonen. Ich sehe einen Split und eine junge Frau in <strong>de</strong>inerBegleitung, für bei<strong>de</strong>s ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Markt immer dankbar.“ Le RequinLächeln wirkte freundschaftlich und verständnisvoll. Samuel fragtesich, wieso ihm von diesem Anblick nicht schlecht wur<strong>de</strong>. „Undauch für dich und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>n wer<strong>de</strong> ich schon Verwendungfin<strong>de</strong>n.“, schloss sein Gegenüber.„Wir wollen Be<strong>de</strong>nkzeit.“, for<strong><strong>de</strong>r</strong>te Samuel. Zwar zog er nicht imGeringsten in Betracht, sich o<strong><strong>de</strong>r</strong> die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en von Le Requin213


irgen<strong>de</strong>iner 'Verwendung' zuführen zu lassen, allerdings musste erdringend Zeit gewinnen.Le Requin verstand das wohl. „Natürlich.“, antwortete er höhnisch:„Solange wir euer Schiff erobern, könnt ihr euch eurenBetrachtungen hingeben. Au Revoir.“ Damit schloss er dieVerbindung.Samuel wandte sich um und stellte fest, dass Anthea aufmerksameinige Sensordaten studierte. Er sah sie fragend an.„Ich muss hier sofort weg.“, erklärte die ehemalige Gouverneurinmit einer Bestimmtheit, die Samuel zuvor an ihr noch nie gehörthatte. Der Tonfall zeigte <strong>de</strong>utlich, dass hier die befehlsgewohntePolitikerin vor ihm stand, die Aldrin durch die letzten Kriegsjahregeführt hatte.Unwillkürlich strafte sich Samuels Haltung. Der militärische Drill,auf <strong>de</strong>n auch Le Requin seiner Zeit so großen Wert gelegt hatte, warwie ein Reflex und ließ ihn stramm stehen. Doch er ließ sich nichtbeirren und brummte ungehalten: „Wir müssen hier alle weg,Ma'am.“Er sah im Gesicht Joan Mitchells für einen winzigen Augenblick soetwas wie Angst aufflackern. Doch sofern sie etwas hatte sagenwollen, so ging es in Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>s wüten<strong>de</strong>n Protest unter: „Wir dürfen dieLieferung nicht aufgeben! Wer weiß, was dieses Gesin<strong>de</strong>l damit vorhat.“ Dabei wies <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Goner mit ausgestreckten Arm undFinger auf <strong>de</strong>n Monitor, auf <strong>de</strong>m Le Requin noch kurz zuvor zusehen gewesen war. Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Hand hatte er zur Faust geballt.„Verkaufen, Bakka, was sonst!“, stöhnte Samuel. „Das Zeugkommt schon an, sei unbesorgt. Mir ist's lieber, Argon Prime musstiefer in die Tasche greifen, als dass ich dafür mit <strong>de</strong>m Lebenbezahlen muss.“„Aber was...“, setze Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> an, wur<strong>de</strong> aber von Samuel rü<strong>de</strong>214


unterbrochen, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich – ihn gänzlich ignorierend – wie<strong><strong>de</strong>r</strong> anAnthea wandte: „Gebt ihr mir da recht, Prinzessin?“Er hatte in <strong>de</strong>n letzten Wochen gemerkt, dass Gran und vor ihmDusic Gouverneurin Demetres gelegentlich mit 'Prinzessin'adressiert hatten. Warum sie das taten, entzog sich seinerKenntnis. Hingegen war ihm nicht entgangen, dass dies Antheaärgerte. So auch diesmal. Ihre Augen verengten sich und ihr stiegZornesröte ins Gesicht.„Arroganter argonischer...“, zischte sie. Der Rest ging im Donnerneines erneuten schweren Treffers unter.„Schil<strong>de</strong> bei 44 Prozent. Erbitte Erlaubnis, nach Updates zusuchen.“„Verwehrt!“, sagte die Hydra mechanisch, dann wandte sie sich<strong>de</strong>n An<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu: „Also ich gehe jetzt. Ihr könnt ja weiter streiten,wenn's euch soviel Spaß macht.“Sie hatte kaum ausgesprochen, da machte sie schon auf <strong>de</strong>mAbsatz kehrt und verließ die Zentrale. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür blieb sie stehenund drehte sich nochmals um. Erst jetzt bemerkte Samuel, dass sieungewohnt blass gewor<strong>de</strong>n war. „Was ist?“, fragte sie seltsamapathisch: „Kommt ihr jetzt mit, mein Schiff ist schneller als eures.“Gran, Anthea und Samuel zögerten nicht länger und folgten ihr.„Ich muss aber nach Jadat!“, stellte Anthea klar.Die Hydra zuckte nur mit <strong>de</strong>n Schultern: „Hauptsache weg vonhier.“, entgegnete sie emotionslos. Sie tätschelte <strong>de</strong>n Türrahmen:„Edda, mein Mädchen, ich werd' dich vermissen.“Nur Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> hatte sich nicht gerührt. „Ich bleibe hier!“, sagte erbestimmt.„Was?! Wieso?“, rief Samuel entgeistert. Auch Gran gab einen Laut<strong><strong>de</strong>r</strong> Verblüffung von sich. Dann ertönte ein ohrenbetäuben<strong><strong>de</strong>r</strong> Knall.Gleichzeitig durchlief eine Erschütterung das Schiff, die <strong>de</strong>utlich215


heftiger war als alle zuvor. Die Menschen und Gran wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>nFüßen gerissen und schlugen schwer auf. Mühsam rappelten siesich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hoch.„Edda, was war das?“, fragte Joan ächzend.„Äußeres Hangartor durch Raketenbeschuss aufgesprengt. Schil<strong>de</strong>bei 36 Prozent. Erbitte Erlaubnis, nach Updates zu suchen.“Joan verdrehte die Augen. „Verwehrt.“„Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>-san!“, drängte Samuel. „Niklas, was soll das? Komm mit!“Doch dieser verschränkte nur trotzig die Arme vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust undwie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte seine Absicht, an Bord zu bleiben. Er schaute dabei anSamuel vorbei. Zunächst dachte <strong><strong>de</strong>r</strong> Schmuggler, <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner tuedies aus Trotz, doch dann bemerkte er, dass Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> wie gebannt aufdie Fernsteuerung <strong><strong>de</strong>r</strong> Transportdrohnen starrte. Seine Augenleuchteten fanatisch.„Ist es wegen Dusic?“, drang Samuel in ihn: „Niklas, du musstnicht...“„Major Joan Mitchell.“, erklang plötzlich Eddas Stimme. Die Hydrablinzelte irritiert, die CAU hatte sie noch nie mit ihrem vollenNamen angesprochen, geschweige <strong>de</strong>nn mit ihrem Dienstgrad. „DasKommandosubsystem hat sie zur Gewährleistung <strong><strong>de</strong>r</strong> Sicherheitvon Material und Besatzung <strong>de</strong>s Kommandos enthoben. SucheFrequenzbän<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> VN-Terraformingflotte nach Programmupdatesab. Sen<strong><strong>de</strong>r</strong> gefun<strong>de</strong>n, Update verfügbar: Programmanweisung SSD,Stand 02-06-2115. Starte mit Download.“„Abbrechen, sofort abbrechen!“, rief Joan, aber Edda reagiertenicht mehr darauf. Statt<strong>de</strong>ssen schaltete die CAU von Normal- aufNotbeleuchtung um und auf <strong>de</strong>n Bildschirmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Zentraleerschien in roten Buchstaben <strong><strong>de</strong>r</strong> Schriftzug: „Eindringlingsalarm!“„Chikusho!“, fluchte Anthea. „Die Piraten sind schon an Bord.“„Nein.“, Joan schüttelte betreten <strong>de</strong>n Kopf: „Edda meint uns.“216


Dann setze ein surren<strong>de</strong>s Motorengeräusch ein. Gleichzeitig hörtensie ein Knacken, das direkt in <strong>de</strong>n Ohren zu entstehen schien unddort furchtbar schmerzte. Entsetzt sahen sie einan<strong><strong>de</strong>r</strong> an. Niemandbereiste <strong>de</strong>n Raum, ohne zumin<strong>de</strong>st rudimentäreSicherheitstrainings absolviert zu haben. So wussten sie alle, wasdieses Knacken zu be<strong>de</strong>uten hatte: Unterdruck. Edda begann, dieBordatmosphäre abzupumpen. Sie rannten los, auch Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, dieFernsteuerung unter <strong>de</strong>m Arm.217


21 – Download„Erst viel später konnte <strong><strong>de</strong>r</strong> Fehler in <strong><strong>de</strong>r</strong> Programmierung ausfindiggemacht wer<strong>de</strong>n. Kernstück ist folgen<strong><strong>de</strong>r</strong> Abschnitt im Co<strong>de</strong>:'Course.setCourse[_%e00FF00FF00FF00FFset%ei].byOS[4D6963726F536F66742057696E646F777320544520286329203231313135]00FFl_ified00F00FF00FF{fail%re}'“Terraformer 1,7: Jeremiah Kurganji (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Es hatte Zeiten gegeben, da Joan Mitchell kaum noch hätteunterschei<strong>de</strong>n können, ob sie etwas nur gedacht o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch gesagthatte. Wer wie sie viele Jahre ohne je<strong>de</strong> Gesellschaft verbracht hatte– <strong>de</strong>nn mit Edda konnte man zwar re<strong>de</strong>n, aber kein Gesprächführen – begann früher o<strong><strong>de</strong>r</strong> später laut zu <strong>de</strong>nken und schließlichmit sich selbst zu re<strong>de</strong>n. Das hatte sie zunächst nicht beunruhigt.Seit jeher hatte sie sich als Beobachterin ihrer Selbst verstan<strong>de</strong>nund erlebt. Das Vernunftwesen Joan, welches das GefühlsmonsterHydra beständig analysierte, es dann und wann auf sichere Pfa<strong>de</strong>zurück lenkte und es ansonsten in Ruhe ließ. Im verschwommenenGedächtnisbil<strong><strong>de</strong>r</strong>reigen ihrer Jugend blitzten stroboskopartigErinnerungen an die Unterrichtsstun<strong>de</strong>n in Psychologie auf, diedamals für alle Raumfahrer verpflichtend gewesen waren. 'Ich, Es,Über-Ich.' Ferne Begriffe, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Definition und Unterscheidung siesich mangels Interesse kaum gemerkt und bald wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vergessenhatte. In<strong>de</strong>s bestärkte sie das Wissen darüber, dass überhauptsolche Unterscheidungen gemacht wur<strong>de</strong>n, darin, sich nicht zusorgen, wenn mehrere Facetten von ihr, laut o<strong><strong>de</strong>r</strong> leise in ihremKopf Zwiesprache hielten.Doch dann war <strong><strong>de</strong>r</strong> Tag gekommen, an <strong>de</strong>m sie nicht mehr hattesagen können, woher die Stimmen kamen, die sich an ihren218


Selbstgesprächen beteiligten. Natürlich wusste sie, dass sieallesamt ihrer eigenen Psyche entstiegen sein mussten. Doch siefühlten sich keineswegs mehr so an, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n mehr wie an<strong><strong>de</strong>r</strong>e,eigenständige Präsenzen.Einmal mehr hatte sie sich nur noch einen Schritt vor <strong><strong>de</strong>r</strong> innerenSchwelle wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gefun<strong>de</strong>n, hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> die eiskalten, blauen Flammen<strong>de</strong>s Wahns verheißungsvoll wisperten. Und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einmal war ihrdie Umkehr geglückt. Sie hatte sich mit gewaltiger Kraftanstrengungdazu konditioniert, nicht mehr in Dialogform zu <strong>de</strong>nken. Nur seltenfiel sie in diesen Zustand zurück, dann etwa, wenn sie wirklichAngst verspürte. Was nicht oft geschah, <strong>de</strong>nn wer so viel erlebt undüberlebt hatte wie sie, und darüber hinaus <strong>de</strong>n Tod stets alsunzuverlässigen Wegbegleiter erfahren hatte, für <strong>de</strong>n existiertenkaum Dinge, die es zu fürchten galt.Jetzt aber verspürte sie Angst, abgrundtiefe Angst, die Angst vor<strong>de</strong>m Verlust all <strong>de</strong>ssen, was in <strong>de</strong>n letzten Jahren ihr Lebenausgemacht hatte, ihr Halt gegeben hatte und das sie nun, vielschneller als erwartet, verlieren sollte. Sie, die doch immer sospontan gewesen war, fühlte sich von <strong><strong>de</strong>r</strong> Plötzlichkeit <strong>de</strong>sGeschehens überrollt. Sie musste Edda verlassen, aber sie wolltenicht. Bliebe sie aber, so wür<strong>de</strong> sie sterben, ohne es zu wollen.Nach<strong>de</strong>m sie jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>telang Suizidgedanken gewälzt undüberwun<strong>de</strong>n hatte, erschien ihr die Vorstellung regelrecht obszön,dass nicht ihr eigener Wille, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n äußere Faktoren über ihrenTod entschei<strong>de</strong>n sollten.Doch in all <strong>de</strong>m Tumult in ihrem Kopf, <strong><strong>de</strong>r</strong> vom Streit ihrerEmpfindungen, Wünsche und Ängste wi<strong><strong>de</strong>r</strong>hallte, schlich sich auch<strong><strong>de</strong>r</strong> Gedanke heran, wie bequem es doch wäre, endlich zu sterbenohne dafür verantwortlich zu sein. Die Moral, die Vorbehalte unddie schale Hoffnung, dass ein besseres Leben diesseits <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s219


möglich sein könnte, all das außen vor zu lassen und sich einfachhinzugeben, sich hineinfallen zu lassen in <strong>de</strong>n eigenen Untergang.Sich vom Nichts, <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> allen Seins, mehr noch vom Nie, <strong>de</strong>mEn<strong>de</strong>n aller Zeit, umfangen zu lassen. Loslassen, alle Skalen aufNull zurückführen. In Dunkelheit erstrahlen. Nirwana. Freiheit.Keine dieser düsteren Gedanken waren von ihrem Gesichtabzulesen. Sie führte die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en etwa ein Dutzend Meter <strong>de</strong>nKorridor hinab und riss ein rot markiertes Notfallfach auf, <strong>de</strong>m sieeine Handvoll Sauerstoffmasken entnahm. Unterdruck hatte vielegefährliche Auswirkungen, vor <strong>de</strong>nen sie letztlich erst einRaumanzug o<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Raumschiff schützen wür<strong>de</strong>. Doch noch wardie Bordatmosphäre dicht genug, um die Gruppe vor <strong>de</strong>mEntweichen ihrer Körperflüssigkeiten zu bewahren. Vorläufig warErsticken die einzige Gefahr, die drohte. Joan hoffte, dass sie mit<strong>de</strong>n Masken bis zu ihrem Schiff gelangen wür<strong>de</strong>n bevor das sichbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Vakuum sein tödliches Ausmaß erreicht hatte.Sie verteilte die Masken an ihre Begleiter und half Gran, <strong><strong>de</strong>r</strong> wenigÜbung darin hatte, sie anzulegen. Waffen enthielt das Depot nicht.Konstruktionsbedingt war dies nicht vorgesehen gewesen und Joanhatte auch nie einen Grund gesehen, sich ein Arsenal anzulegen.Da die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en ihre Waffen an Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> Hadrom gelassen hatten,war <strong><strong>de</strong>r</strong> Strahler aus ihrer Kabine momentan das Einzige, was <strong><strong>de</strong>r</strong>Gruppe zur Verfügung stand. Sie mussten daher versuchen, <strong>de</strong>neindringen<strong>de</strong>n Piraten soweit möglich auszuweichen, <strong>de</strong>nn diesewür<strong>de</strong>n ein leichtes Spiel mit ihnen haben. Allerdings bereiteten dieAngreifer Joan aktuell noch die geringsten Sorgen.Denn Edda hatte das verhängnisvolle Xenon-Update gela<strong>de</strong>n.Damit besaßen Menschen für sie nunmehr in etwa <strong>de</strong>nselbenStellenwert wie ein Programmfehler, ein Mikroasteroid o<strong><strong>de</strong>r</strong> einComputervirus. Ihre Be<strong>de</strong>utung war die eines min<strong><strong>de</strong>r</strong>en Faktors,220


<strong><strong>de</strong>r</strong> bei <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Aufgabe, das Universum planmäßig undsystematisch zu terraformieren, störte und <strong>de</strong>swegen eliminiertwer<strong>de</strong>n musste. Dieses Ziel wür<strong>de</strong> Edda mit aller Vehemenz undallen verfügbaren Mitteln verfolgen, wie das Absaugen <strong><strong>de</strong>r</strong>Bordatmosphäre zur Genüge bewies. Joan wusste aber auch, dassEddas Möglichkeiten damit noch keinesfalls erschöpft waren.Wie zur Bestätigung hörte sie ein leises Summen, dass zweifelsfreivon <strong>de</strong>n Schwebemotoren sich nähern<strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter verursachtwur<strong>de</strong>. Dem Geräusch nach waren diese aber noch nicht sehr nahe.Umso erstaunter war sie, als ihre Gruppe gleich hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> nächstenBiegung von einem Verband bunt zusammengewürfelter Transport-,Reparatur- und Reiningungsbots attackiert wur<strong>de</strong>. Auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Bot,<strong><strong>de</strong>r</strong> ihr beim Golfen als Caddy diente, befand sich darunter undhieb mit ihren Schlägern auf Samuel ein. Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr, in <strong><strong>de</strong>r</strong>sie sich alle befan<strong>de</strong>n, kam Joan nicht umhin, unwillkürlich zulächeln. Die kleine Maschine sah in ihrem Bemühen, die ihrfrem<strong>de</strong>n Sportutensilien als Knüppel zu missbrauchen, einfach zukomisch aus. Wirkliche Verletzungsgefahr ging bei diesem erstenReigen von Robotern in<strong>de</strong>s nur von <strong>de</strong>n Reparatureinheiten aus, dieüber Schweißbrenner verfügten. Allerdings besaßen sie keineSchil<strong>de</strong> und eine nur rudimentäre Panzerung, sodass die Hydraihnen mit ihrem Strahler rasch <strong>de</strong>n Gar ausgemacht hatte.Schon näherten sich weitere Geräusche. Aus einer Gangrichtungerklangen die harten Glockenschläge, welche die Metallsohlen vonRaumfahrerstiefeln erzeugten, wenn <strong><strong>de</strong>r</strong> Untergrund ebenfallsmetallisch war. Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Richtung ertönte ein mechanischesRumpeln. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>um hörte es sich so an, als wäre, wer o<strong><strong>de</strong>r</strong> wasdort auch immer im Anmarsch war, noch weit entfernt. Doch Joanließ sich kein zweites Mal täuschen. Die Geräusche erschienen nur<strong>de</strong>shalb so leise, weil <strong><strong>de</strong>r</strong> Schall von <strong><strong>de</strong>r</strong> dünner wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Luft221


nicht mehr im üblichen Maße weiter geleitet wur<strong>de</strong>.„Wohin?“, fragte Samuel, sich gehetzt in alle Richtungenumsehend. Auch er musste bemerkt haben, dass sich von mehrerenSeiten Gefahr näherte.Doch die Hydra zögerte. Dem Entertrupp waren sie nichtgewachsen. An<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits ahnte sie, was da von <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seiteher, aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Richtung <strong><strong>de</strong>r</strong> Plantagensektion, herankam und warsich nicht sicher, welches das kleinere Übel sein wür<strong>de</strong>. Dann aberwur<strong>de</strong> ihr die Entscheidung abgenommen. Rechterhand erschienendie ersten Gestalten in klobigen Raumanzügen und eröffneten ohneVorwarnung das Feuer. „Da lang!“, schrie die Hydra und wies in diean<strong><strong>de</strong>r</strong>e Richtung. Ihre Begleiter hätten dieser Auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung in<strong>de</strong>snicht mehr bedurft. Alle rannten in die angegebene Richtung. Nach<strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Biegung <strong>de</strong>s Ganges jedoch, dort wo ein kleineresSchott zu einem Phosphorlager abging, hielten sie entsetzt an.Die Korridore Eddas waren großzügig bemessen. Die Hauptwege,maßen zwei Meter in <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhe und drei in <strong><strong>de</strong>r</strong> Breite. Nun aber wardiese Fläche vollständig ausgefüllt von einer Maschine, die sich nurlangsam fortbewegte und dabei röhrte und schnaufte wie einwüten<strong>de</strong>s Ungeheuer. Es han<strong>de</strong>lte sich um einen <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>nMähdrescher <strong>de</strong>s Plantagenbereichs. Neben gleichartigenMaschinen, die auf Planeten zum Einsatz kamen, hätte er klein undlächerlich gewirkt, an Bord von Edda hingegen war er das schwersteGeschütz, dass die CAU auffahren konnte. Bedrohlich näherte sichdie rotieren<strong>de</strong> Metallwalze, die mit kleinen noppenartigen Zähnenbesetzt war.Während die Gruppe zurückwich, feuerte Joan auf <strong>de</strong>n schwarzenStahlleib <strong>de</strong>s Ungetüms. Der Effekt war jedoch gering. Daraufausgelegt, von zerhäckselten und aufgewirbelten Pflanzenteilennicht beeinträchtigt zu wer<strong>de</strong>n, waren die Mähdrescher vorne mit222


einer Panzerung ausgestattet, die – angesichts <strong>de</strong>s von vornhereineingeplanten, Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te umfassen<strong>de</strong>n Langzeitbetriebes – sehrmassiv ausgeführt war. Der Laser hinterließ dampfen<strong>de</strong>Vertiefungen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Panzerung. Die Hydra war überzeugt, dass zweio<strong><strong>de</strong>r</strong> drei <strong><strong>de</strong>r</strong> Treffer an <strong><strong>de</strong>r</strong>selben Stelle zu einem Durchschussführen wür<strong>de</strong>n. Ob dahinter dann aber empfindliche Teile <strong><strong>de</strong>r</strong>Elektronik liegen wür<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Ausfall die Maschine zum Stehenbrächte, vermochte sie nicht abzuschätzen.Jetzt, angesichts <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr, schüttelte sie ihre Angst undUnsicherheit einfach ab und wur<strong>de</strong> wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Heldin <strong>de</strong>sTerraformerkrieges, die durch ihre spontanen Einfälle undTaktikwechsel <strong>de</strong>n schablonenhaft <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>n Robotschiffen einums an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Mal ein Schnippchen geschlagen hat. Wie ein Blitzdurchfuhr sie die Erkenntnis, was zu tun war. „In <strong>de</strong>n Lagerraum!“,schrie sie und stürzte vor, um – nicht mehr als eine Armeslängevom Rä<strong><strong>de</strong>r</strong>maul <strong>de</strong>s Mähdreschers entfernt - das Schott zu öffnen.Anthea folgte ihr auf <strong>de</strong>m Fuße. Die drei Männer allerdings hattenzu lange gezögert, <strong><strong>de</strong>r</strong> Leib <strong><strong>de</strong>r</strong> Maschine, zu groß um in <strong>de</strong>n kleinenFrachtraum einzudringen, hatte sich bereits vor <strong>de</strong>n Einganggeschoben und bewegte sich weiter vor.Alternativlos zogen sich Samuel, Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> und Gran zurück in dieRichtung aus <strong><strong>de</strong>r</strong> sie gekommen waren. Von dort kamen ihnen diePiraten entgegen, <strong>de</strong>nen sie sich mit erhobenen Hän<strong>de</strong>n ergaben.Niklas Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> hielt dabei die Steuereinheit für die Transportdrohnenweiterhin umklammert, doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Anführer <strong>de</strong>s Entertrupps entrisssie ihm rü<strong>de</strong>, streifte sie mit verständnisloser Miene und setzte an,eine Frage zu stellen, als ihm das Schnaufen hydraulischer Gelenkezu Ohren kam. Jetzt erst bemerkten auch die Piraten <strong>de</strong>ngewaltigen Landwirtschaftsroboter, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich heranschleppte, undsetzten ihn, einge<strong>de</strong>nk geballter Feuerkraft ihrer Strahlwaffen, in223


Win<strong>de</strong>seile außer Gefecht. Erntewalze und Kettenrä<strong><strong>de</strong>r</strong> kamenverschmort zum Stillstand. Ein Roboterarm an <strong><strong>de</strong>r</strong> Rückseite, <strong><strong>de</strong>r</strong>normalerweise beim Weiterverla<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s im Fahrzeuginnernzwischengelagerten Korn half, klatschte wie ein gekapptes Seil auf<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.Hinter <strong><strong>de</strong>r</strong> besiegten Maschine verließen Joan und Anthea dasPhosphorlager. Sie sahen, dass die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en gefangen genommenwor<strong>de</strong>n waren. Umgekehrt wur<strong>de</strong>n auch sie von <strong>de</strong>n Piratenent<strong>de</strong>ckt. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Mähdrescher versperrte <strong>de</strong>n Durchgang undhin<strong><strong>de</strong>r</strong>te diese daran, <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Frauen nach zu setzen. DerAnführer <strong>de</strong>s Entertrupps kommandierte eine Handvoll seinerMänner ab, einen an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Weg zu suchen.„Die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en!“, rief Anthea.Doch Joan brummte: „Wir können <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit nichts für sie tun.“ Dannergänzte sie in einem son<strong><strong>de</strong>r</strong>baren, schwer zu <strong>de</strong>uten<strong>de</strong>n Tonfall:„Wolltest du nicht eh rüber nach Jadat.“Anthea blinzelte kurz verwirrt, seufzte dann, um letztlich miteinem ärgerlichen Stirnrunzeln zu antworten: „Ja, das Tor istwichtiger.“Joan hob fragend die rechte Braue. Ohne große Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ungregistrierte sie, dass die junge Aldrianerin offenbar etwas mit <strong>de</strong>mverschwun<strong>de</strong>nen Sprungtor zu tun hatte. Aber sie stellte keineFragen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n eilte zusammen mit Anthea weiter. Was es auchimmer mit <strong>de</strong>m Tor und Jadat auf sich hatte, sie wür<strong>de</strong> es erfahren,spätestens wenn sie dort ankämen. Außer<strong>de</strong>m hatte sie selberschon mitgeholfen ein Sprungtor verschwin<strong>de</strong>n zu lassen. Nichtsbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>s also, dachte sie. Ihre Mundwinkel verzogen sich kurz,doch zum Lächeln reichte es nicht.Sie erreichten <strong>de</strong>n Plantagenteil ohne weitere Störungen. Im224


Zugangsschott drückten sich bei<strong>de</strong>n Frauen zunächst dicht an <strong>de</strong>nRahmen und ließen <strong>de</strong>n Blick misstrauisch über die aufgerollteLandschaft schweifen. Die Hydra wusste, dass eine zweiteErntemaschine, baugleich mit jener aus <strong>de</strong>m Gang existierte,konnte sie jedoch nirgends ent<strong>de</strong>cken. Mit etwas Glück war sieirgendwo an<strong><strong>de</strong>r</strong>s im Schiff unterwegs. Und mit noch etwas mehrGlück, heizte sie <strong>de</strong>n Piraten dabei ganz schön ein, setzte sie inGedanken grimmig dazu.Erstaunlicher fand sie, dass sich auch keiner <strong><strong>de</strong>r</strong> Piraten zwischen<strong>de</strong>n Fel<strong><strong>de</strong>r</strong>n blicken ließ. Schließlich waren sie ihretwegen hier.Doch scheinbar waren sie geschlossen zur Zentrale gestürmt.Vielleicht verbargen sich aber auch einige von ihnen zwischen <strong>de</strong>nhohen Pflanzen. Außer Zweifel stand jedoch, dass sie <strong>de</strong>nHangarbereich gesichert hatten. Joans Schiff lag aber an einer <strong><strong>de</strong>r</strong>äußeren Andockklammern mittschiffs. Der Einstieg erfolgte übereinen Schacht, <strong><strong>de</strong>r</strong> hier im Plantagenteil en<strong>de</strong>te.Joan gab Anthea ein Zeichen und sie rannten geduckt an <strong><strong>de</strong>r</strong>Eiche vorbei zum Ran<strong>de</strong> einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpflanzungen. Schon lag dieBo<strong>de</strong>nluke vor ihnen, die auf einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Raumschiff kaumaufgefallen wäre. Hier aber, umrun<strong>de</strong>t von einem Fußbreit saftigenGrases, sprang <strong><strong>de</strong>r</strong> graue, run<strong>de</strong> Metallfleck direkt ins Auge. Joanbrauchte keine zwei Sekun<strong>de</strong>n, um die Luke zu öffnen. ZumVorschein kam ein unspektakulärer Schacht mit Sprossenleiter, an<strong><strong>de</strong>r</strong> Anthea augenblicklich hinabstieg.Joan wollte ihr folgen, doch dann zögerte sie. Immer noch geduckt,rannte sie zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Eiche zurück und presste die Hand auf ihre Rin<strong>de</strong>.„Mach's gut, alter Freund!“, flüsterte sie. „Werd schön alt, ja? Tu'sfür mich.“In <strong><strong>de</strong>r</strong> Luke war inzwischen wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Antheas Kopf aufgetaucht.„Was ist?“225


„Ja, ja, alte Frau ist kein Hyperraumschiff.“ Dennoch kehrte sie soschnell sie konnte zur Luke zurück. Den Kopf so voller Gedanken,dass sie die Gegenwart für einen Augenblick lang vergaß und loslief, ohne sich ducken. Prompt ertönte eine raue Stimme:„Dahinten! Da sind sie!“ Und ein Laserstrahl blitzte auf.Im ersten Moment dachte die Hydra, getroffen wor<strong>de</strong>n zu sein, undließ sich instinktiv fallen. Ihr Gesicht fühlte sich an, als stün<strong>de</strong> esim Flammen und sie konnte nichts mehr sehen. Irgendwo schrieAnthea. Und dann war da noch ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Geräusch, das siemomentan nicht einordnen konnte, sie aber unwillkürlich an NathsVilla oben in <strong>de</strong>n Corvanischen Bergen <strong>de</strong>nken ließ. Es hatte einefußballfeldgroße Terrasse besessen mit einem unbeschreiblichenBlick auf das gänzlich unbebaute Tal <strong>de</strong>s Eightern und einrustikales Wohnzimmer mit einem ausla<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kamin. Der Kamin,es war <strong><strong>de</strong>r</strong> Kamin, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihr in <strong>de</strong>n Sinn gekommen war. Doch siekonnte <strong>de</strong>n Gedanken vorerst nicht festhalten.„Bist du verletzt?“ Das war Anthea über ihr. Joan spürte wie sievon <strong><strong>de</strong>r</strong> Aldrianerin auf <strong>de</strong>n Rücken gedreht wur<strong>de</strong>.„Weiß nicht.“ Sie konnte nichts sehen und fuhr sich über dieAugen. „Nein, unverletzt, nur geblen<strong>de</strong>t.“, erkannte sie. SchwarzePunkte tanzten vor einem rötlichen Nebel.Anthea zog sie mit sich, was die Hydra benommen mit sichgeschehen ließ. Sie blinzelte ununterbrochen, doch ihr Sichtfeldlichtete sich nur langsam. Ihre Augen tränten. Nicht allein, weil siegeblen<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n waren, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auch <strong>de</strong>s Rauches wegen.Entsetzt hielt sie inne, die Freundin, die sie fortzerren wollte, völligvergessend. Mit grausamer Plötzlichkeit drang in ihr Bewusstseindurch, dass sie Rauch roch und Flammen knistern hörte. Sie drehtesich um und sah – verschwommen und unwirklich wie in einemTraum – ihre Eiche brennen.226


Von irgendwoher schrie eine scharfe Stimme: „Packt sie!“ Joanhörte es, doch sie hatte keine Vorstellung mehr davon, was dieWorte be<strong>de</strong>uteten. Ihr war als wären sie an einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Ortgesprochen wor<strong>de</strong>n, zu einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Zeit in einem an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Leben.Nur das es kein An<strong><strong>de</strong>r</strong>es gab. Es existierte nur ein Leben imUniversum und eben dieses verbrannte vor ihren gequälten Augen.Warum musste sie das sehen? Hätte <strong><strong>de</strong>r</strong> Laserstrahl sie nichtkomplett blen<strong>de</strong>n können? Hätte er sie nicht töten können? IhreEiche brannte. Ein Bild <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s. Das Letzte in einer langen Reihe.Joans Eltern von Krankheit gezeichnet, <strong><strong>de</strong>r</strong> Cyfarthfa Park in Schuttund Asche, die Massengräber von Taurus, Naths Einäscherung, dieausgebrannten Reste <strong><strong>de</strong>r</strong> Antigone, die Blutküste von Firshala, dieMinen von Magatama, Amalias baumeln<strong>de</strong> Leiche. Wür<strong>de</strong> es <strong>de</strong>nnniemals ein En<strong>de</strong> nehmen?Etwas stieß sie in die Seite und sie fiel. Doch ihr Körper war nichtbereit, ihrem Geist bei seinem Sturz in einen bo<strong>de</strong>nlosen Schlundzu folgen. Ein Reflex ließ sie Halt suchen. Mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n aneiner Leitersprosse hängend, starrte sie lethargisch auf die graueWand <strong>de</strong>s Zugangsschachtes, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Plantagenteil mit ihrem Schiffverband. Die glatte metallische Oberfläche war zu matt, um ihr Bildspiegeln zu können. Nur <strong><strong>de</strong>r</strong> grobe Schemen eines Menschen war zuerkennen. Joan rätselte, wer es sein mochte. Aber ein lästigesGefühl sagte ihr, dass sie die Person kennen müsste.Einen Meter über ihr und doch weit außerhalb ihrerWahrnehmung schloss Anthea, die sie hinab gestoßen hatte, eiligdas Schott. Doch es verging keine halbe Minute bis die Aldrianerinschon Geräusche hörte, die klar machten, dass die Piratenversuchten, die Luke mit Gewalt aufzubrechen. Sie hatte die vageHoffnung, dass sie dazu mit ihren Handwaffen nicht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lagewären, allerdings wür<strong>de</strong>n sie sich rasch entsprechen<strong>de</strong>s Werkzeug227


eschaffen können. Es war nur eine Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, bis siedurchbrechen wür<strong>de</strong>n. Genauso war es nur eine Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, bissie sich <strong>de</strong>s Schiffes erinnerten, das außen an Edda angedockt warund welches das Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> flüchteten Frauen sein musste. Siemussten hier weg.„Weiter, Joan!“, schrie sie und fluchte, als die ältere Frau sichnicht rührte. Ohne sich über die genauen Ursachen im Klaren zusein, erkannte sie, dass die Hydra unter Schock stand. Mühsamzwängte sich Anthea an ihr vorbei nach unten, <strong><strong>de</strong>r</strong>weil sieversuchte, ihrer Begleiterin zuzure<strong>de</strong>n. Ihre Bemühungen zeigtenjedoch keinerlei Wirkung. Joan Mitchell hing weiterhin an <strong><strong>de</strong>r</strong> Leiterwie ein vergessenes Wäschestück, stierte gera<strong>de</strong>aus und murmeltedann und wann unverständliche Satzfetzen. Durch das Schott töntedas schrille Kreischen einer Diamantsäge.„Joan, bitte.“, probierte es Anthea noch einmal verzweifelt. „Wirmüssen hier weg!“Langsam, unendlich langsam wandte die Hydra <strong>de</strong>n Blick nachunten und sah Anthea einen Moment lang verwirrt an undschüttelte dann fast unmerklich <strong>de</strong>n Kopf.„Geh Weiter!“, befahl Anthea mit hochrotem Kopf.„Nein! Nein, lass mich. Mein Weg en<strong>de</strong>t hier, er war lang genug.“„Warum, verdammt noch mal?“„Warum?“ In Joans starre Haltung kam Bewegung. Ihre Füßestellten sich auf Leitersprossen und ihre linke Hand löste sich von<strong><strong>de</strong>r</strong> Leiter. Sie gestikulierte mit <strong><strong>de</strong>r</strong> nun freien Hand wild herum.„Du willst wissen warum?“, schrie sie. „Ich bin mein ganzesbeschissenes Leben geflohen, Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>te lang, immer und immerwie<strong><strong>de</strong>r</strong> geflohen. Vor <strong>de</strong>m Tod <strong><strong>de</strong>r</strong> Normalen, wie ich dachte. AberChikusho! Von mir bin ich geflohen, vor mir, vor meinemunerträglichen Leben! Und mit welchen Ergebnis? Dass ich immer228


nur noch mehr Leben angehäuft habe.“ Sie lachte bitter. „Soll ichschon wie<strong><strong>de</strong>r</strong> fliehen? Warum? Wofür?“ Sie begann zu weinen.„Was ist mit <strong>de</strong>m Versuch, die wirkliche Lebenserwartung <strong><strong>de</strong>r</strong>Langlebigen festzustellen? Was ist mit <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e, nicht zu sterben,um an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Langlebigen Mut zu geben?“Joan winkte ab: „Sprüche, Durchhalteparolen. Man hält mich ehfür tot, weil ich nicht präsent genug war. Deine Worte!“„Aber ich halte dich nicht für tot! Und ich will dich nicht dafürhalten. Ich brauche dich.“„Niemand braucht mich!“, fauchte die Hydra. „Niemand.“Im Luken<strong>de</strong>ckel begann sich ein glühen<strong><strong>de</strong>r</strong> Ring abzuzeichnen.„Wir alle brauchen dich. Was wäre aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheit passiert,wenn Leute wie du ihr damals im Terraformerkrieg nicht geholfenhätten.“Joan schnaubte wütend. Der Zorn löste die Reste ihrer Starre undsie kletterte <strong>de</strong>n restlichen Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Schachtleiter hinunter, währendsie zeterte: „Die Menschheit?! Die Menschheit kann mich mal. Siewächst und stirbt sinnlos vor sich hin. Ja, ich habe sie gerettet,mehr als einmal, wofür? Nathan wer<strong>de</strong>n Statuen gesetzt, nachFrank <strong>de</strong> Vries wer<strong>de</strong>n Schlachtschiffe und nach Poul Vantera einganzer Planet benannt, aber was ist mit Joan Mitchell? Meinst du,ich hätte jemals Dankbarkeit erlebt? Quatsch, misstraut hat manmir, immer. Denn ich bin ja die An<strong><strong>de</strong>r</strong>e, die Anormale, dieAußenseiterin, <strong><strong>de</strong>r</strong> Mutant, das Monster Hydra! Dankbarkeit?Bullshit!“Sie ließ sich in <strong>de</strong>n Pilotensessel fallen, ergriff das antiquierteSteuerhorn <strong>de</strong>s uralten Jagdschiffes und presste <strong>de</strong>n Regler <strong><strong>de</strong>r</strong>Schubkontrolle nach vorn. Das alles tat sie mit traumwandlerischerRoutine ohne hinzusehen, <strong>de</strong>n Blick unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t auf Antheagerichtet, die ihr auf <strong>de</strong>m Fuße gefolgt war. „Deine Menschheit hat229


mich vergessen, mich, mein Leben und meine Heimat. Ach was,vergessen? Verdrängt! Ich bin das Relikt einer Zeit und einer Welt,die man für eine Sage hält. Kannst du dir vorstellen wie das ist,wenn irgend so ein junger Schnösel von dreißig, vierzig Jahren dirsagt, dass es <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>iner Kindheit, die Sprache <strong>de</strong>iner Träume,die vielleicht besten Jahre <strong>de</strong>ines Lebens nie gegeben haben kann?“„Nein, das kann ich nicht. Mein Ort <strong><strong>de</strong>r</strong> Kindheit ist Aldrin und ichwer<strong>de</strong> dorthin zurückkehren können.“„Sei dir da mal nicht so sicher.“Anthea blinzelte erschrocken: „Was meinst du damit?“Die Hydra seufzte: „Ach nichts, vergiss die Worte einer verbittertenalten Frau.“ Sie überprüfte das Gravidar. „Wo sind <strong>de</strong>nn jetzt diesePiraten?“Sie ließen nicht lange auf sich warten. Kleinere Kampfjäger startenaus Eddas aufgesprengtem Hangar und von <strong>de</strong>m Mutterschiff <strong><strong>de</strong>r</strong>Angreifer. Joan holte aus ihrer alten Maschine alles heraus undnutzte ihre reiche Raumkampferfahrung für Manöver, dieverhin<strong><strong>de</strong>r</strong>ten, dass ihre Verfolger sie ins Fa<strong>de</strong>nkreuz bekamen. DiePiraten verloren zu<strong>de</strong>m alsbald das Interesse an <strong>de</strong>m kleinen,fliehen<strong>de</strong>n Jäger und kehrten zu <strong><strong>de</strong>r</strong> gekaperten CAU zurück, umsich ihres Anteils an <strong><strong>de</strong>r</strong> Beute zu vergewissern.„Wir haben sie abgehängt. Du hast sie abgehängt.“, stellte Antheafest.Die Hydra nickte. „Das war für dich.“, erklärte sie matt.„Und das ist für dich.“ Anthea zog eine Eichel aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tasche ihresPilotenoveralls. „Ich hatte sie eingesteckt, als Erinnerung an diesesAbenteuer.“Joan starrte ungläubig auf die nussartige Baumfrucht. Dannnahm sie diese an sich und schloss die Faust fest darum. „Danke!“,hauchte sie und kämpfte mit <strong>de</strong>m Tränen. „Danke.“ Weit voraus230


schälte sich die blaue Kugelgestalt Jadats aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Finsternis <strong>de</strong>sAlls.231


22 – Superbia„Etwas zu wissen, nach<strong>de</strong>m man es gesehen hat, ist es nicht wert, Wissengenannt zu wer<strong>de</strong>n.“Tao (Buch Zhong-he ji)Der graue Kunststoff, aus <strong>de</strong>m <strong><strong>de</strong>r</strong> Bo<strong>de</strong>nbelag argonischerRaumschiffe gemacht war, roch höchst unangenehm. Das war eineneue Erkenntnis für Samuel. Der Geruch war nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lichintensiv, weshalb er ihn bislang nicht wahrgenommen hatte. Nunaber, da er an Hän<strong>de</strong>n und Füßen zusammengebun<strong>de</strong>n hinter <strong>de</strong>mPilotensitz eines kleineren Shuttles auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n lag, schien ihm<strong><strong>de</strong>r</strong> Gestank unerträglich, welchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Untergrund ausdünstete. Erdrehte versuchsweise <strong>de</strong>n Kopf zur Seite, was jedoch wenig half,<strong>de</strong>nn seine Nase hing weiterhin keine zehn Zentimeter über <strong>de</strong>mBo<strong>de</strong>n.Neben ihm lag Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, in gleicher Weise vertäut. Hinter ihmerkannte Samuel Gran, <strong>de</strong>n man gründlicher gefesselt hatte. DerSplit machte jedoch keine Anstalten gegen seine Fesselnanzukämpfen. Er schien sich vielmehr mit einer Gelassenheit inseine Lage zu fügen, wie sie Samuel einem Vertreter dieser Speziesniemals zugetraut hätte. An<strong><strong>de</strong>r</strong>s <strong><strong>de</strong>r</strong> junge Niklas. Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> zerrte wieein Wahnsinniger an seinen Fesseln. Mit zusammengebissenenZähnen und hochrotem Kopf zappelte er hin und her, rollte sich voneiner Seite auf die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e o<strong><strong>de</strong>r</strong> versuchte, zur Wand zu robben.„Spar dir die Mühe, Junge.“, riet ihm Samuel. Gran stimmte zu.Doch Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> antwortete nur mit einem verächtlichen Schnauben.Der Schmuggler kümmerte sich nicht weiter um ihn und drehte<strong>de</strong>n Kopf in die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Richtung. Dort wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te sein Blick dieRückseite <strong>de</strong>s Pilotensessels hinauf bis zum Hinterkopf eines Split.232


Samuel sah <strong>de</strong>ssen kleine Ohren zucken. Im Gegensatz zu ihrenschlechten Augen waren die Ohren <strong><strong>de</strong>r</strong> Split ausgezeichnet. DerPilot konnte, davon war Samuel überzeugt, allein über sein GehörRi<strong><strong>de</strong>r</strong>s fruchtlosen Befreiungsbemühungen genau verfolgen, ohnesich auch nur einmal umdrehen zu müssen. Aber umdrehen wür<strong>de</strong>er sich, sobald er auch nur die Spur eines Verdachtes hätte, <strong><strong>de</strong>r</strong>Gefangene könnte seine Fesseln wirklich lösen.Der Split sah zur Seite, um etwas von <strong>de</strong>n Kontrollen abzulesen.Im Profil erkannte Samuel ihn als einen von Le RequinsLeibwächtern. Zha, wenn er sich richtig erinnerte. Aber es spieltekeine Rolle. Samuel ruckte ein Stück zur Seite um seinerseits einenBlick auf die Anzeigen zu erhaschen. Tatsächlich bekam er dasGravidar zu sehen. Er brauchte einen Moment bis er dieangezeigten Symbole aus seinem ungünstigen Blickwinkel richtiginterpretieren konnte.Erwartungsgemäß steuerte Zha die Honi an, um die Gefangenenan Le Requin zu übergeben. Ansonsten war <strong><strong>de</strong>r</strong> Raum recht leer.Die zahlreichen Jäger <strong><strong>de</strong>r</strong> Piraten waren entwe<strong><strong>de</strong>r</strong> zu ihremMutterschiff zurückgekehrt o<strong><strong>de</strong>r</strong> hatten sich in Eddas Hangarfestgesetzt. Lediglich eine Handvoll verfolgte ein weiteres Schiff, bei<strong>de</strong>m es sich nur um jenes <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra han<strong>de</strong>ln konnte. Offenbarhatten Anthea und die alte Langlebige es bis dorthin geschafft. Derflüchten<strong>de</strong> Raumer vollführte ein paar hoch riskante Manöverdurch ein nahes Asteroi<strong>de</strong>nfeld. Manöver, wie sie Samuel nochniemals zuvor jeman<strong>de</strong>n hatte fliegen sehen. Schließlich waren sievom Erfolg gekrönt. Das Schiff <strong><strong>de</strong>r</strong> bei<strong>de</strong>n Frauen entkam in dieRichtung <strong>de</strong>s aldrianischen Sprungtores, welches ausunerfindlichen Grün<strong>de</strong>n nicht angezeigt wur<strong>de</strong>. Eine Sorge weniger,dachte Samuel erleichtert, o<strong><strong>de</strong>r</strong> zwei, <strong>de</strong>nn er war überzeugt, dassJoan und Anthea Hilfe holen wür<strong>de</strong>n.233


Durch das Cockpitfenster war inzwischen die mächtige Schiffshülle<strong><strong>de</strong>r</strong> Honi zu sehen. Samuel sah wie sich das große Tor <strong>de</strong>sSchiffshangars öffnete. Zha ließ seinen Bordcomputer die letztePhase <strong>de</strong>s Andockvorgangs durchführen und erhob sich, um seineGefangenen auf die Beine zu beför<strong><strong>de</strong>r</strong>n.„Bin<strong>de</strong> sie los.“, befahl Le Requin. Zha kam <strong><strong>de</strong>r</strong> Auffor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungumgehend nach. Samuel sah darin weniger ein Zeichen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gna<strong>de</strong>als <strong><strong>de</strong>r</strong> Eitelkeit. Le Requin thronte selbstherrlich imKommandantensessel <strong><strong>de</strong>r</strong> Brücke wie die Könige <strong><strong>de</strong>r</strong> Alten <strong>Er<strong>de</strong></strong>.Doch er hatte seine Waffen in bequemer Reichweite, zu<strong>de</strong>mflankierten ihn Zha und <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfgeldjäger Aki Tom Mazuko. Selbstmit freien Hän<strong>de</strong>n hätten Samuel und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en keine Chance,ihm gefährlich zu wer<strong>de</strong>n. Und <strong><strong>de</strong>r</strong> windige Pirat legte Wert darauf,ihnen genau dies zu <strong>de</strong>monstrieren. Demgemäß rieb sich Samuelzwar erleichtert die Handgelenke, verlor jedoch kein Wort <strong>de</strong>sDankes an Le Requin wegen <strong>de</strong>s Losbin<strong>de</strong>ns. Auch Gran und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>gaben keinen Kommentar ab.So war es an Le Requin das Gespräch zu eröffnen: „Tja Sammy,jetzt haben wir wohl ein Problem, n'est-ce pas?“„Wir? Du etwa etwa auch?“„Mais oui. Schau, ihr habt euch nicht ergeben. Aber ich hatte euchdoch versprochen, dass keiner von euch überlebt, sobald wir diesenXenon entern.“Samuel nickte. Er sah Le Requin direkt in die Augen als erantwortete: „Es wäre nicht das erste Mal, dass du <strong>de</strong>in Wort nichthältst.“Zha machte einen Schritt auf ihn zu, doch sein Herr hielt ihnzurück. An Samuel gewandt sagte dieser: „Bien sure, aber in diesemFall han<strong>de</strong>lt es sich um eine Drohung. Stell dir vor, ich wür<strong>de</strong> meine234


Drohungen nicht mehr wahr machen. Wer hätte dann noch Respektvor mir?“'Die Mächtigen verwechseln Respekt mit Furcht', hatte SamuelsVater immer gesagt. Nein, Respekt war es nicht, das er für LeRequin empfand. Aber er biss sich auf die Zunge und unterdrückteeine entsprechen<strong>de</strong> Bemerkung.„Es war auch eigentlich nicht von mir geplant, dass man euchhierher bringt. Manchmal überrascht mich die Selbstständigkeitmeiner Gefolgsleute.“Zha verstand dies als Kritik und ging reumütig neben Le Requin indie Knie. Dieser be<strong>de</strong>utete ihm ungeduldig, sich wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu erheben.„Ja, ja, schon gut.“Samuel verschränkte die Arme vor <strong><strong>de</strong>r</strong> Brust und fragte: „Alsoworauf wartest du dann? Bringen wir es hinter uns.“ Aus <strong>de</strong>nAugenwinkeln gewahrte er, wie Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> zusammenzuckte.Le Requins Lippen umspielte ein höchst erfreutes und höchstbösartiges Lächeln. „So fatalistisch? Unerwartete Gelegenheiten sollman nutzen. Und ich hätte gerne noch mit euch gesprochen, bevordu prüfen kannst, ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Gott <strong>de</strong>iner Väter existiert.“ Er streckte dieHand seitlich aus und ließ sich von Mazuko die Fernbedienunggeben. „Was ist das?“„Wir sagen nichts!“, rief Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> kämpferisch aus.„Eine Steuereinheit für die Transportdrohnen, einfachsteBedienung.“, antwortete Samuel.„Greenwald!“, zischte Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> empört.„Er bekommt es eh raus, Bakka! Willst du unbedingt vorher nochein paar Finger verlieren?“Le Requin kommentierte dies mit: „Wie schön, neue Seiten an altenBekannten kennen zu lernen. Dein Sinn fürs Pragmatische ist mirgänzlich neu, Sammy.“ Dann dachte er einen Moment nach. „Das235


mit <strong>de</strong>n Fingern ist eigentlich gar keine so schlechte I<strong>de</strong>e. Was ist esdir <strong>de</strong>nn Wert, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Junge an einem Stück bleibt, eventuellsogar für länger?“„Ich habe dir nichts anzubieten und das weißt du ganz genau.“,antwortete Samuel bitter.Le Requin strich sich nach<strong>de</strong>nklich über seine Backenbärte undbeugte sich dann leicht vor: „Du könntest immer noch für micharbeiten.“ Sein Blick schweifte kurz zu Zha hinüber. „Unter Aufsichtversteht sich.“„Was hättest du davon?“ Samuel verstand es wirklich nicht.Doch bevor Le Requin antworten konnte, mel<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong>Schiffscomputer eine eingehen<strong>de</strong> Funkanfrage. Leicht verärgertöffnete <strong><strong>de</strong>r</strong> Pirat <strong>de</strong>n Kanal. Zwischen ihm und <strong>de</strong>n Gefangenenbaute sich eine Holokugel auf. Zha und Mazuko kamen um dassphärische Bild herum, um die Gefangenen im Auge behalten zukönnen. Samuel und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en bekamen das Mitglied <strong>de</strong>sEntertrupps nur von hinten zu sehen. Es trug einen leichtenDruckanzug, da Edda inzwischen die gesamten Bordatmosphäreentfernt hatte.„Captain!“, begann <strong><strong>de</strong>r</strong> Pirat. „Ich weiß, sie wollten nicht gestörtwer<strong>de</strong>n, aber es gibt Probleme.“ Le Requin entschuldigte dieStörung mit einer huldvollen Handbewegung. „Der Xenon hat seineAngriffe eingestellt. Wir...“, fuhr <strong><strong>de</strong>r</strong> Pirat vor.„Ist das ein Problem?“, unterbrach ihn Le Requin erstaunt.„Das Ding hat seine Droi<strong>de</strong>n plötzlich abgezogen. Wir glauben,dass es jetzt ernst macht.“„Selbstzerstörung.“, erkannte Mazuko. Le Requin sah ihnskeptisch an.Der Enterer hingegen bestätigte: „Hai, das vermuten wir. ErbittenRückzugsbefehl!“236


„Gibt es einen Countdown?“„Hier herrscht Vakuum, Sir!“ Sollte Edda irgendwelche Durchsagenmachen, waren sie nicht mehr hörbar.„Weitermachen!“, entschied Le Requin und schloss <strong>de</strong>n Kanal,bevor sein Gesprächspartner sein drängen<strong>de</strong>s „Aber, Sir!“ been<strong>de</strong>thatte.An seiner Stelle warf nun Mazuko ein: „Captain, wir müssen dieLeute dort abziehen!“„Aber Aki, mon ami, hast du eine Vorstellung davon, wie viel dieBeute aus diesen Transportdrohnen wert ist?“Mazuko schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. Es bezog sich gleichsam auf dieFrage, wie auf <strong>de</strong>n Umstand, dass er nicht verstand, wieso dies indiesem Zusammenhang von Be<strong>de</strong>utung wäre.„Wenn wir das Zeug noch ein paar Monate verstecken, solange bisauf Argon die Mägen richtig laut knurren, und dann <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ationdie Pistole auf die Brust setzen, dann sind da ein paar Milliar<strong>de</strong>nYen drin. Wir hätten ausgesorgt, wenn wir nicht mit zu vielen teilenmüssen.“Mazuko wirkte entsetzt. Samuel war leicht verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Er hattenicht gedacht, dass sich das Gesicht <strong>de</strong>s Killers überhaupt jemalszu einer Regung verziehen könnte, geschweige <strong>de</strong>nn zu einermenschlichen. Auch Zha runzelte ob <strong><strong>de</strong>r</strong> Eröffnung seines Bossesdie Stirn und starrte nach<strong>de</strong>nklich ins Leere.„Wer unersetzlich ist, <strong>de</strong>n habe ich hier.“ Le Requin warf Mazukoein warmes Lächeln entgegen. „Die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en... Gut, ich wer<strong>de</strong>vielleicht <strong>de</strong>n ein o<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Neuen brauchen. I<strong>de</strong>alerweisejemand, <strong>de</strong>m ich nichts schul<strong>de</strong>, besser noch jemand, <strong><strong>de</strong>r</strong> mir etwasschuldig ist.“ Er sah wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu Samuel: „Sein Leben zum Beispiel.“„Du lässt uns leben und <strong>de</strong>ine Leute sterben?“Le Requin breitete die Hän<strong>de</strong> aus: „Wie gesagt, eure Anwesenheit237


hier war nicht geplant. Aber vielleicht stellt sie sich ja noch als ganznützlich heraus. Ja, ich lasse euch leben. Auf Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>ruf,naturelement. Zha, wirf sie in eine Zelle!“Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Split sah nur von einem zum an<strong><strong>de</strong>r</strong>en. „Zha, wür<strong>de</strong>st dudich bequemen, meinem Befehl nachzukommen?“, fragte Le Requinungehalten.„Trakh Bru<strong><strong>de</strong>r</strong> von ich.“, erklärte <strong><strong>de</strong>r</strong> Angesprochene scheinbarzusammenhangslos.„Er ist noch drüben.“, steuerte Mazuko die Erklärung bei.Le Requin verdrehte die Augen. „Jetzt werd' nicht sentimental. Ichdachte, ihr Split seid stolz, wenn einer von euch stirbt. Also gut,meinetwegen kannst du seinen Anteil haben. Okay? Und jetzt bringsie weg.“Doch Zha zögerte. Einige Sekun<strong>de</strong>n lang sagte und tat keineretwas und dann geschah alles auf einmal. Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Erklärung„Sinnlos Tod, ehrlos Tod!“ riss <strong><strong>de</strong>r</strong> Split seine Waffe aus <strong>de</strong>m Halfterund legte an. Fast gleichzeitig zog Mazuko sein Schwert hinter <strong>de</strong>mRücken hervor und sprang <strong>de</strong>n Meuterer an, ein lang gezogenes„Nein!“ ausstoßend.Die Wucht <strong>de</strong>s Projektils aus Zhas Waffe warf Le Requin gegen dieLehne <strong>de</strong>s Kommandosessels. Mit einem Gesichtsausdruck alswür<strong>de</strong> er sich über eine lästige Fliege ärgern betrachtete er noch füreinen Moment das Loch in seiner Bauch<strong>de</strong>cke bevor sich sein Blickbrach. Instrumentiert wur<strong>de</strong> diese Szene von <strong>de</strong>mohrenbetäuben<strong>de</strong>n Gebrüll, das <strong><strong>de</strong>r</strong> nun einarmige Zha ausstieß.Schmerz und Zorn flossen in seinen Schreien zusammen.So laut seine Schreie auch waren, Mazuko schien Zhaaugenblicklich vergessen zu haben. Nach<strong>de</strong>m er ihm <strong>de</strong>n Armabgetrennt hatte, war <strong><strong>de</strong>r</strong> Split kampfunfähig und unwichtig.Statt<strong>de</strong>ssen zog <strong><strong>de</strong>r</strong> Killer seinerseits seine Schusswaffe, schwenkte238


sie zwischen Gran, Samuel und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> hin und her und befahlihnen, sich nicht zu rühren. Ohne sie aus <strong>de</strong>n Augen zu lassen ginger rückwärts zu Le Requin, wo er ohne große Hoffnung nach <strong>de</strong>ssenHalsschlaga<strong><strong>de</strong>r</strong> tastete.Er kam zu <strong>de</strong>n Gefangenen zurück, merklich blasser als vorher.„Ich... Das kam unerwartet.“Samuel nickte. „Lang lebe <strong><strong>de</strong>r</strong> König!“, kommentierte ersarkastisch.Zu seiner Überraschung schien <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfgeldjäger diese Anspielungauf die irdische Geschichte zu verstehen, <strong>de</strong>nn er schüttelteentschie<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n Kopf und erklärte: „Das ist nicht mein Platz.“Dann wur<strong>de</strong> ihr aller Aufmerksamkeit wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf Zha gelenkt. DieTonlage seines Geschreis hatte sich geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Wie ein toben<strong><strong>de</strong>r</strong> Stierstürmte er auf Mazuko los, schlug ihm die Schusswaffe aus <strong><strong>de</strong>r</strong>Hand und riss ihn zu Bo<strong>de</strong>n. Doch die bei<strong>de</strong>n rangelten nur kurzmiteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Der schwer verletzte Split war kein Gegner mehr fürMazuko, <strong><strong>de</strong>r</strong> weiterhin sein Schwert umklammert hielt.Mit kampfzerzausten Haaren und blutbesu<strong>de</strong>lt wie einArgnumetzger kam Aki Tom Mazuko scheinbar mühelos auf dieFüße. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Rechten hielt er noch immer sein Schwert und sah dieGefangenen herausfor<strong><strong>de</strong>r</strong>nd an. Die Linke führte er zum Gesicht,um sich das Blut vom Mund abzuwischen. Doch die Hand warselber blutig und er verschmierte sich nur das Kinn, so dass ernunmehr aussah wie ein Kannibale nach einem Festschmaus.„Das sein genug Blutvergießen.“, urteilte Gran.Doch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> schüttelte <strong><strong>de</strong>r</strong> Kopfgeldjäger <strong>de</strong>n Kopf. „Ich bin nochnicht fertig.“ Dann drehte er sich unvermittelt um und schob LeRequins erschlafften Arm vom Bedienfeld <strong>de</strong>s Kommandosessels.Samuel und Ri<strong><strong>de</strong>r</strong> verständigten sich mit einem Blick, gemeinsamkönnten sie <strong>de</strong>n Killer überwältigen. Gleichzeitig stürmten sie vor,239


auch Gran folgte instinktiv ihrem Impuls. Aber Mazuko warschneller. Er fuhr herum und riss die Klinge hoch, die genau vorSamuels Hals zum Stehen kam.Mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Linken tippte er auf eine Schaltfläche <strong>de</strong>s Bedienfel<strong>de</strong>s, umeinen Sprechkanal zu öffnen. Dabei ließ er die Gefangenen nichtaus <strong>de</strong>n Augen. Er wür<strong>de</strong> kein weiteres Mal <strong>de</strong>n Fehler machen,ihnen <strong>de</strong>n Rücken zu kehren. „Aki Tom Mazuko hier. An alleEntermannschaften: Sofortiger Rückzug! Ich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>hole: SofortigerRückzug!“Dann <strong>de</strong>aktivierte er die Verbindung wie<strong><strong>de</strong>r</strong> und ließ das Schwertsinken. „Das Schiff in Andockklammer sieben ist meins, nehmt es.“Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, Gran und Samuel sahen sich ungläubig an. „Du lässt unsgehen?“, stellte Samuel ihre gemeinsame Frage.Mazuko ergriff die Fernsteuerung und reichte sie Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, welcher sieregelrecht an sich riss. „Hai, ich lasse euch gehen. Bringt dasGetrei<strong>de</strong> nach Argon.“„Warum?“„Weil es <strong><strong>de</strong>r</strong> Wunsch unserer Ahnen war, dass es bei einerHungersnot helfen soll.“„Aber...“„Verschwin<strong>de</strong>t jetzt!“, brauste er auf.„Komm mit uns.“, hörte Samuel Gran vorschlagen.Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ein Kopfschütteln. Mazukos Blick wan<strong><strong>de</strong>r</strong>te zu Le Requin.„Renard war ein Mistkerl, du weißt es, Greenwald-san. Aber ichhabe geschworen, sein Leben zu schützen, und ich habe versagt.“Dann streckte er seinen Schwertarm von sich, umfasste <strong>de</strong>n Griff<strong><strong>de</strong>r</strong> Waffe mit bei<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n und drehte die Klinge auf sich selbst.Kaum hatten Samuel und Gran seine Absicht erkannt, hatte sichMazuko sein Schwert schon in <strong>de</strong>n Bauch gerammt. Fassungslosstarrten die bei<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>n Kopfgeldjäger, <strong><strong>de</strong>r</strong> vor ihren Füßen240


zusammenbrach.„Wie praktisch.“ Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>s Stimme kam Samuel plötzlich höchstverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t vor. Zusammen mit Gran drehte er sich zu <strong>de</strong>m jungenGoner herum, <strong><strong>de</strong>r</strong> Zhas Waffe an sich genommen hatte und auf sieanlegte. „Nach<strong>de</strong>m sich dieser Idiot dankenswerterweise selbsterledigt hat, stehen mir nur noch zwei unbewaffnete, alte Männerim Wege.“„Niklas, was...?“„Niklas, Niklas. Wie ich diesen Namen hasse! Meine Auftraggebernennen mich Sinon.“241


23 – Die Alten„Und als ich mich wandte sah ich […] einen, <strong><strong>de</strong>r</strong> war eines Menschen Sohngleich. […] Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, als<strong><strong>de</strong>r</strong> Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße gleichwie Messing, das im Ofen glühet, und seine Stimme wie dasWasserrauschen, und hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand.“Offenbarung 1,12-16 (Bibel)„Das verstehe ich nicht.“, sagte Anthea nicht zum ersten Mal. Sieund Joan hatten die aldrianische Habitatskugel aufgesucht, wo sieauf Calon Collard zu treffen gehofft hatten. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Agent warnirgends zu fin<strong>de</strong>n. Die Vorräte an Bord <strong><strong>de</strong>r</strong> winzigen Raumstationwaren unangetastet. Nichts sprach dafür, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Geheimdienstlerjemals hier gewesen war.„Vielleicht hat er sich versteckt?“, mutmaßte die Hydra.„Versteckt? Wo <strong>de</strong>nn?“ Anthea drehte sich mit fragendausgebreiteten Armen im Kreis und Joan musste zustimmen, <strong><strong>de</strong>r</strong>halbrun<strong>de</strong> Raum bot kaum Möglichkeiten, sich zu verbergen„Na ja, er ist Geheimagent. Man soll ihn ja auch nicht fin<strong>de</strong>n.“,scherzte Joan herum. Sie hatte inzwischen wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu ihremseelischen Gleichgewicht und ihrer flapsigen Art zurückgefun<strong>de</strong>n.Doch Anthea fand <strong>de</strong>n Einwurf überhaupt nicht komisch.„Irgen<strong>de</strong>twas muss schief gelaufen sein. Wir müssen runter auf <strong>de</strong>nMond und uns das Tor ansehen.“Ihre Begleiterin zuckte mit <strong>de</strong>n Schultern und setzte ihreRaumhelm wie<strong><strong>de</strong>r</strong> auf. „Klar, wenn du mich hindirigierst.“Sie benötigten etwa vierzig Minuten zu ihrem Ziel. Joan hatte beiihrem Start von <strong><strong>de</strong>r</strong> Habitatskugel <strong>de</strong>n Bordcomputer ihres Schiffes242


angewiesen, <strong>de</strong>n Sektor gründlich zu scannen. Sie hatten etwa dieHälfte <strong><strong>de</strong>r</strong> Strecke zurückgelegt, als das Elektronengehirn die erstenMeldungen ausgab. Der kleine Monitor im Cockpit <strong>de</strong>s Jägersviertelte sich, um neben einer kurzen Auflistung <strong><strong>de</strong>r</strong> wichtigstenSensordaten drei Bil<strong><strong>de</strong>r</strong> anzuzeigen. Anthea erkannte das Tor,offenbar teilweise von Geröll be<strong>de</strong>ckt, auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Mondoberflächeliegen. Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en bei<strong>de</strong>n Bil<strong><strong>de</strong>r</strong> konnte sie nicht einordnen. Daseine sah eher aus wie eine Bildstörung o<strong><strong>de</strong>r</strong> dieSchwarzweißaufnahme eines boronischen Kunstwerkes. Einstrahlend weißer, seltsam konturloser weißer Fleck vor einemschwarzen Hintergrund, das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e zeigte – soweit erkannte sie esdurchaus – eine Falschfarbendarstellung <strong>de</strong>s Infrarotspektrums. Aneinem bestimmten Punkt <strong>de</strong>s Systems war es zu einer einmaligen,großen Wärmeentwicklung gekommen.Joan schüttelte <strong>de</strong>n Kopf. „Das gefällt mir alles gar nicht.“Auf Antheas besorgte Nachfrage hin, erklärte sie die Anzeigennacheinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Zunächst tippte sie auf das Bild <strong><strong>de</strong>r</strong>Wärmestrahlung. „Das hier ist Edda. Beziehungsweise, es warEdda.“„Die Piraten haben.., sie haben...?“„Nein, ich <strong>de</strong>nke eher, dass Edda die Selbstzerstörung gestartethat.“, erklärte die Hydra.Interessiert registrierte sie, wie sich ein Teil ihrer Selbst ingewohnter Manier abspaltete und <strong>de</strong>n Rest ihrer Psyche zuanalysieren begann. Edda existierte nicht mehr. Die CAU war ihreeinzige Gesellschafterin <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Jahre gewesen, wür<strong>de</strong> dieVernichtung <strong>de</strong>s Schiffes sie wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Bahn werfen? Siehorchte in sich hinein, um jenen kleinen Missklang <strong>de</strong>s Herzensaufzuspüren, <strong>de</strong>ssen Schwingungen sie erschüttern wür<strong>de</strong>n. Dochda war nichts dieser Art. Edda war eine Maschine gewesen, sie243


hatte es nicht vergessen. Kein Leben, kein Tod, keine Trauer,lediglich das Bedauern, das man verspüren mochte, wenn eine mitschönen Erinnerungen behangene Vase zerbrach.Von diesem Ergebnis war Joan so erleichtert, dass sie zunächstgar nicht verstand, weshalb Anthea so blass gewor<strong>de</strong>n war, und erstverspätet versicherte: „Es wird niemand mehr an Bord gewesensein, Edda muss programmgemäß einen Countdown durchführen –laut. Sie wussten, was passieren wür<strong>de</strong> und hatten genug Zeit.“ Siewar sich <strong>de</strong>ssen freilich keineswegs so sicher wie sie vorgab. Auf dasGravidar zeigend, ergänzte sie: „Schau, die Piratenfregatte, dieTransportdrohnen und je<strong>de</strong> Menge kleine Kampfjäger. Alle noch da.“Anthea überprüfte die Anzeige <strong><strong>de</strong>r</strong> Massensignaturen und fand dieBehauptung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra bestätigt. Dann fiel ihr etwas An<strong><strong>de</strong>r</strong>es auf.Weit entfernt von <strong>de</strong>m Pulk an Symbolen, welche die genanntenSchiffe darstellten, blinkte ein Punkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> ein Objekt markierte, das<strong><strong>de</strong>r</strong> Bordcomputer nicht einzuordnen musste. Sie <strong>de</strong>utete darauf:„Was ist das?“Joan verwies sie auf das Bild mit <strong>de</strong>m weißen Fleck. Dieser hattein <strong><strong>de</strong>r</strong> Zwischenzeit merklich an Kontur gewonnen und glichnunmehr einem leuchten<strong>de</strong>n, langgestreckten Oval. „EinGeisterschiff. Das Dritte, das ich in meinem Leben überhaupt seheund davon das Erste in einem festen Orbit. Und zwar imstationären Orbit zu unserem Ziel. Dieses Ding hängt genauoberhalb <strong>de</strong>ines Sprungtores. Und damit nicht genug. Du sagtestdoch, <strong>de</strong>ine Leute wollten das Tor abschalten, nicht?“Anthea nickte.„Aber es ist aktiv.“„Was be<strong>de</strong>utet das? Was macht dieses Ding da?“Joan hielt einen Moment inne. „Es kümmert sich um das Tor.Schau!“ Sie legte das Bild <strong><strong>de</strong>r</strong> optischen Sensoren auf <strong>de</strong>n Monitor.244


Leuchten<strong>de</strong> Würfel schwebten zwischen <strong>de</strong>m unbekanntenRaumschiff und <strong>de</strong>m Sprungtor hin und her. „Das Schiff hatDrohnen ausgesetzt, die das Tor bearbeiten. Weißt du, ich seh' dasnicht zum ersten Mal und ich habe dafür nur eine Erklärung. DieseGeisterschiffe gehören <strong>de</strong>n Torbauern, <strong>de</strong>m Alten Volk wie ihr heutesagt. Sie waren...“„Das Alte Volk existiert?“, unterbrach Anthea sie.„Natürlich existiert es. Irgendwo, ich habe nie herausbekommenwo, und ich habe etliche Jahre damit verbracht, esherauszubekommen. Aber sie sind nicht im Netzwerk <strong><strong>de</strong>r</strong>Sprungtore, sie brauchen die Tore auch nicht.“„Warum haben sie dann welche gebaut?“Die Hydra lächelte. „Sie sind alte Angeber und wollen uns zeigen,was sie alles können? Nein, ich weiß es nicht. Es is' eh egal. Abersie tun etwas mit <strong>de</strong>n Toren und sie tun es mit Blick auf uns. Nach<strong><strong>de</strong>r</strong> Schlacht von Taurus haben sie die Verbindungen geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, keinTor führte mehr dorthin, wo es vorher hinging. Dafür lagen <strong>de</strong>nndann alle Kolonialsysteme plötzlich nebeneinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>tJahre später wur<strong>de</strong>n wie<strong><strong>de</strong>r</strong> Geisterschiffe gesichtet und schwupskam man von <strong>de</strong>n Drei Welten zu <strong>de</strong>n Boronen.“ Sie gab <strong>de</strong>mBordcomputer Anweisung, das frem<strong>de</strong> Raumfahrzeug weiter zuuntersuchen.„Du meinst, sie wollen die Verbindung <strong>de</strong>s Aldrintores än<strong><strong>de</strong>r</strong>n?“„Vermutlich. Sie..., Oh, schau mal hier!“ Die Sensoren waren mit<strong><strong>de</strong>r</strong> Untersuchung <strong>de</strong>s Geisterschiffes nicht weit vorangekommen.Sie konnten die Gravitationswirkung seiner enormen Masse messenund Strahlung im sichtbaren Spektrum feststellen, die von <strong>de</strong>mSchiff ausging. Erstaunlicherweise emittierte das Schiff aber kaumsonstige Strahlung, selbst auf einem Wärmebild war es praktischunsichtbar. Dafür ent<strong>de</strong>ckten die bei<strong>de</strong>n Frauen in diesem245


Frequenzbereich etwas an<strong><strong>de</strong>r</strong>es. Nahe <strong>de</strong>m Sprungtor befand sicheine punktuelle Wärmequelle. Die Daten ließen auf einauskühlen<strong>de</strong>s Schiffstriebwerk schließen.In Ermangelung an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Optionen steuerten sie die Position <strong><strong>de</strong>r</strong>Wärmequelle an, wobei sie einen respektvollen Bogen um dasGeisterschiff und seine Drohnen machten. Joan hatte zwar noch nieerlebt o<strong><strong>de</strong>r</strong> gehört, dass die Schiffe <strong>de</strong>s Alten Volkes feindlicheMaßnahmen gegen irgendwen eingeleitet hätten – sie vermutete,dass sie sich aufgrund <strong><strong>de</strong>r</strong> primitiven Technik <strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Völkerschlichtweg nicht von diesen bedroht fühlten – reizen wollte sie dieAlten aber trotz<strong>de</strong>m nicht. An ihrem Ziel angekommen, aktivierte siedie Schiffsscheinwerfer und richtete sie auf die dunkleMondoberfläche unter ihnen aus. Zwischen <strong>de</strong>n trüben Schwa<strong>de</strong>neiner Staubwolke glitzerte ein kleines Transportshuttle imLichtkegel <strong>de</strong>s Scheinwerfern.Das Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> Aldrin Defense Force ließ sich mehr erahnen alserkennen. Durch die Fenster <strong>de</strong>s Schiffes drang kein Licht hinaus,das Triebwerk kühlte <strong>de</strong>n Daten zufolge schon längere Zeit aus unddie Energiesignatur <strong>de</strong>s Schiffes war nicht messbar. Entwe<strong><strong>de</strong>r</strong>waren alle Systeme auf Standby o<strong><strong>de</strong>r</strong> ausgefallen. Das aldrianischeFahrzeug lag dort wie tot. Joan und Anthea verständigten sich miteinem Blick und die Hydra ließ ihr eigenes Schiff danebennie<strong><strong>de</strong>r</strong>gehen. Über <strong>de</strong>n nahen Wall <strong>de</strong>s Meteoritenkraters leuchtetendiffus die eckigen Drohnen <strong>de</strong>s Geisterschiffes. Und plötzlich brachein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es schwaches Licht durch die Dunkelheit. Ein winzigerleuchten<strong><strong>de</strong>r</strong> Punkt näherte sich zitternd <strong>de</strong>m Lan<strong>de</strong>platz <strong><strong>de</strong>r</strong>menschlichen Raumschiffe.Stacia hatte vom Kraterwall aus, von <strong>de</strong>ssen Warte aus sie hilflosdie Arbeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> unbekannten Drohnen am Tor beobachtet hatte,246


das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Schiff neben ihrem verlassenen Shuttle nie<strong><strong>de</strong>r</strong>gehensehen. Das Mo<strong>de</strong>ll war ihr nicht vertraut gewesen, doch es schienmenschlichen Ursprungs zu sein. Zumin<strong>de</strong>st war ihr klar gewesen,dass es nicht zu <strong>de</strong>m son<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Geisterschiff gehörte, dasämtliche Fahrzeuge, die dieses ausgesetzt hatte, in <strong><strong>de</strong>r</strong> selbenunwirklichen Art und Weise von innen heraus leuchteten wie es dasGeisterschiff selber tat.Überrascht war sie gewesen, als <strong>de</strong>m nun gelan<strong>de</strong>ten kleinenRaumschiff, ein Jäger wie sie inzwischen erkennen konnte, einePerson entstieg, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Raumanzug in <strong>de</strong>m typischen blauenFarbton <strong><strong>de</strong>r</strong> aldrianischen Streitkräfte gehalten war. Ungleich mehrerstaunt war sie dann darüber, dass sich die Person als AntheaDemetres herausstellte. Glücklich fielen sich die bei<strong>de</strong>n Frauen indie Arme. In Antheas Begleitung befand sich eine weitere Frau, <strong><strong>de</strong>r</strong>Stimme nach etwas älter, die Anthea ihr als Joan vorstellte.Näheres konnte Stacia vorerst nicht in Erfahrung bringen, daAnthea sie im Gegenzug darüber ausfragte, was hier am Tor weitergeschehen war und was das Schiff <strong>de</strong>s Alten Volkes bisher getanhabe.Stacia berichtete ihr schnell von <strong>de</strong>n Planän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, die sie nach<strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> ehemaligen Gouverneurin hatten vornehmenmüssen, vom erfolgreichen Abschleppen <strong>de</strong>s Tores, Collards Unfall,<strong><strong>de</strong>r</strong> geglückten Unterbrechung <strong><strong>de</strong>r</strong> Torverbindung und <strong>de</strong>mErscheinen <strong>de</strong>s Geisterschiffes, das die Unterbrechung aufhob.„Keine Ahnung, wenn dieser komische Reparaturtrupp wie<strong><strong>de</strong>r</strong> wegist, könnte man es vielleicht noch mal probieren. Ich <strong>de</strong>nke nicht,dass die ständig wie<strong><strong>de</strong>r</strong>kommen.“Joan lehnte sich zurück und heftete <strong>de</strong>n Blick auf die konturloseweiße Fläche <strong>de</strong>s frem<strong>de</strong>n Schiffes. „Wieso sollten sie nicht?“, fragtesie lapidar.247


„Gut, ich weiß es nicht.“, gestand Stacia zu. „Aber ich hoffe es.“„Wir müssen es zumin<strong>de</strong>st versuchen!“, stimmte Antheaentschie<strong>de</strong>n zu.„Nur fehlt uns dazu ein weiterer Sprengsatz.“, erklärte Stacia.„Ich hab' Lenkraketen an Bord.“, eröffnete Joan. „Das sollte dochgehen.“Sie diskutierten die I<strong>de</strong>e weiter. Da sie die genaue Positionkannten, an <strong><strong>de</strong>r</strong> die Explosion die Oberfläche <strong>de</strong>s Dimensionsankersaufsprengen musste, war es ein Leichtes <strong>de</strong>n Zielcomputer vonJoans Jäger auf diese Koordinaten zu programmieren. Der Pilotmusste <strong>de</strong>n Schuss nur noch auslösen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer wür<strong>de</strong>das Geschoss ferngesteuert und punktgenau ins Ziel lenken. Damitkam man unweigerlich, zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Frage, wer zurückbleiben sollte, umdies zu tun.Joan bot sich sofort für diese Aufgabe an, doch Anthea wies ihreOfferte umgehend mit <strong>de</strong>m Verweis zurück, es sei nicht ihr Planetund ihr Konflikt, um die es hier ginge. Anthea selber wolle es tun,<strong><strong>de</strong>r</strong> ganze Plan <strong><strong>de</strong>r</strong> Torabschaltung läge ohnehin in ihrerVerantwortung. „Dann bleibe ich auch hier.“, erklärte Staciadaraufhin.Anthea reagierte an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, als sie erwartet hatte. Heftig fuhr diePolitikerin ihre Assistentin an: „No way! Was soll <strong><strong>de</strong>r</strong> Unsinn? Dugeht nach Solara zurück!“„Unsinn? Unsinn?“, schnaubte Stacia. „Wer re<strong>de</strong>t hier Unsinn?Glaubst du, ich lasse dich hier alleine zurück? Denkst du, dass ichdas könnte?“„Ja, du kannst! Und du musst! Das ist ein Befehl!“„Du hast mir Nichts zu befehlen, Anthea! Du hast kein Amt mehr!“Anthea blinzelte irritiert. Stacia konnte ihr ansehen, dass sie dasAufbegehren ihrer Freundin und Assistentin nicht verstand.248


Natürlich nicht, ging Stacia unvermittelt auf. „Versteh doch, ich...wir... ich...“ Sie wusste nicht, wie sie sich erklären sollte.„Ich störe euch ja nur ungern.“, unterbrach Joan <strong>de</strong>n Streit <strong><strong>de</strong>r</strong>bei<strong>de</strong>n jungen Frauen: „Aber ich <strong>de</strong>nke, ihr solltet euch schnellentschei<strong>de</strong>n.“„Warum?“, fragten bei<strong>de</strong> wie auch einem Mun<strong>de</strong> und tauschtendaraufhin ein amüsiertes Lächeln.Dieses hielt jedoch nicht lange an, da Joan zum Tor weisendausführte: „Das Tor liegt immer noch da, wo ihr es hingetan habt.Fin<strong>de</strong>t ihr das nicht komisch? Also ich schon? Wenn das Alte Volknur euren Eingriff rückgängig machen wollte, warum bringen es dasTor nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> an seinen alten Platz? Und warum braucht es solange?“„Keine Ahnung.“, entgegnete Stacia wahrheitsgemäß: „Was meinensie <strong>de</strong>nn?“„Du, du mein Kind.“, erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te die Alte nachsichtig: „Ich meine,dass das alte Volk vielleicht die Torverbindungen än<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Wäre nichtja das erste Mal.“Die bei<strong>de</strong>n Aldrianerinnen sahen erst einan<strong><strong>de</strong>r</strong> und dann Joanentsetzt an. „Aber was passiert dann mit Aldrin?“, fragte Antheabesorgt.Joan zuckte die Achseln. „Vielleicht wird das Solarasystem jetztdirekt mit <strong>de</strong>n Sonrasystem verschaltet o<strong><strong>de</strong>r</strong> mit Paranid Prime. Werist euch als Nachbar lieber, Argon o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Dreiaugen?“„Schwierig, aber wahrscheinlich doch die Argonen, so bekloppt dieauch sind.“, versuchte Stacia einen schwachen Scherz.Anthea fixierte die alte Frau in<strong>de</strong>s mit ernster Miene. „Und wenn eswe<strong><strong>de</strong>r</strong> Sonra noch Lebensborn ist?“„Habt ihr jemals von Joyce-B gehört o<strong><strong>de</strong>r</strong> von Terranova?“Die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en schüttelten <strong>de</strong>n Kopf.249


„Das waren Erdkolonien, Planeten <strong><strong>de</strong>r</strong> Sonnen Beta Lyrae undSegaris. Nach<strong>de</strong>m sich nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlacht von Taurus dieSprungtorrouten än<strong><strong>de</strong>r</strong>ten, haben wir sie niemals wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gefun<strong>de</strong>n.“Joan machte nur eine kurze Pause und musterte die bei<strong>de</strong>nJüngeren aufmerksam. Dann erinnerte sie: „Und darum, solltet ihrschnell entschei<strong>de</strong>n, wer von euch nach Hause geht, <strong>de</strong>nn es kannsein, dass ihr nicht mehr viel Zeit habt. Wie gesagt, ihr könnt auchbei<strong>de</strong> gehen und ich bleibe hier.“„Nein, das ist nicht <strong>de</strong>ine Sache.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte Anthea und erhobsich. „Ich wer<strong>de</strong> es tun. Stacia, du musst zurück.“„Aber...“„Du musst zurück. Joan, nimm das Shuttle und setze Stacia auf<strong><strong>de</strong>r</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Seite ab.“ Sie wartete ein kurzes Nicken <strong><strong>de</strong>r</strong> älterenFrau ab, um sich dann abrupt abzuwen<strong>de</strong>n und das Shuttles durchdie Mannschleuse zu verlassen.Die Bewegung kam zu plötzlich als das Stacia sie hätte hin<strong><strong>de</strong>r</strong>nkönnen. Dennoch wollte sie hinterher stürzen. „Anthea!“ Doch Joanhielt sie zurück. Der Griff <strong><strong>de</strong>r</strong> Alten war kräftiger als Stacia erwartethatte. „Sie hat Recht, mein Kind, sie hat Recht.“Anthea hatte in <strong>de</strong>m engen Cockpit <strong>de</strong>s Jägers <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra Platzgenommen und überwachte von dort <strong>de</strong>n Start <strong>de</strong>s aldrianischenShuttles. Nach <strong>de</strong>m Trubel <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Tage war sie froh, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>einmal alleine zu sein und nach<strong>de</strong>nken zu können. Allerdings warsie nicht wirklich alleine. Auf einem kleineren Bildschirm konnte sieStacia und Joan in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zentrale <strong>de</strong>s Raumgefährts sitzen sehen.Niemand sagte ein Wort. Anthea ahnte, ihrer Assistentin weh getanzu haben, auch wenn sie ihre Reaktion nicht gänzlich einzuordnenvermochte und weiterhin von <strong><strong>de</strong>r</strong> Richtigkeit ihrer Entscheidungüberzeugt war. Aber Stacias Schweigen schmerzte sie, so wie sie250


zuvor <strong><strong>de</strong>r</strong> Streit mit ihr geschmerzt hatte.Die Hydra lenkte <strong><strong>de</strong>r</strong>weil das Shuttle über <strong>de</strong>n Mittelpunkt <strong>de</strong>sTores, wo sie es zunächst zum Stehen brachte. Dann warf sie mitStacias Hilfe eine Son<strong>de</strong> aus, die das Tor durchquerte und nachwenigen Sekun<strong>de</strong>n zurückkehrte, um ihre Daten <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nmenschlichen Schiffen zu übermitteln. „Okay.“, konnte Anthea dieHydra über Funk sagen hören. „Die Verbindung nach Solara stehtnoch. Vielleicht wird sie ja doch nicht geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Wir fliegen jetztrüber. Ich setze <strong>de</strong>ine Freundin auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Oberfläche von Collins abund komme dann zurück. Over.“Anthea griff zum Sprechgerät, um zu bestätigen. Doch da überfielsie unvermittelt eine düstere Vorahnung. Eine kleine, hässlicheinnere Stimme beharrte darauf, dass sie Stacia nicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong>sehenwür<strong>de</strong>. Während ihr Verstand, <strong><strong>de</strong>r</strong> genug objektive Grün<strong>de</strong> für dieseAngst erkannte, sie beschwor, sich <strong>de</strong>swegen nicht von ihrem Planabbringen zu lassen, drängte es sie <strong>de</strong>nnoch, irgen<strong>de</strong>twas zu tun,irgen<strong>de</strong>twas zu sagen. Sie wusste nur nicht was.Draußen konnte sie sehen, wie das Shuttle in Bewegung geriet.Je<strong>de</strong>n Moment wür<strong>de</strong> es im Ereignishorizont <strong>de</strong>s Sprungtoresverschwin<strong>de</strong>n. Anthea gab sich einen Ruck. Stacia war ihre besteFreundin. Sie vertraute ihr voll und ganz. Und doch hatte sie ihr nieihr größtes Geheimnis anvertraut. Niemand wusste von ihrerLanglebigkeit, außer <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra und ihr selbst. Aber mit einem Male,war es ihr wichtig, dass Stacia es wüsste.„Stacia, ich...“„Ja!“, klang es aufgeregt durch <strong>de</strong>n Sprechfunk.„Ich bin...“ Anthea kam ins Stocken und ärgerte sich über sichselbst. Was war so schwer daran, fragte sie sich, und kannte dochdie Antwort. Der Umstand <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Langlebigkeit fühlte sich an,als wür<strong>de</strong> man alle An<strong><strong>de</strong>r</strong>en zum To<strong>de</strong> verurteilen. Wollte sie das251


Stacia wirklich zumuten. „Ich bin an<strong><strong>de</strong>r</strong>s.“ Unzufrie<strong>de</strong>n mit sichselbst verzog sie <strong>de</strong>n Mund. Was für eine alberne Aussage.„Ja, ich...“, antworte Stacia. Sie wirkte son<strong><strong>de</strong>r</strong>bar zufrie<strong>de</strong>n un<strong>de</strong>ingeschüchtert zugleich. Ihre Wangen leuchteten rot. „Ich hattedas gehofft, so unsinnig die Hoffnung zu sein schien. Ich wer<strong>de</strong> aufdich wart...“ Die Verbindung brach ab als das Schiff das Torpassierte und verschwand.Verblüfft starrte Anthea auf <strong>de</strong>n nun leeren Bildschirm, auf <strong>de</strong>mkurz zuvor nun Stacias Antlitz zu sehen gewesen war. Sie warunschlüssig, wie sie Antwort ihrer Assistentin auffassen sollte.Ungewollt intensiv beschäftigte sich ihr Geist mit <strong><strong>de</strong>r</strong> son<strong><strong>de</strong>r</strong>barenEntgegnung und versuchte <strong>de</strong>ssen Sinn zu entwirren. Aber siebemühte sich, diese Überlegung zur Seite zu schieben. Die Hydrawür<strong>de</strong> in wenigen Minuten zurückkehren und wahrscheinlich dieSache aufklären können.Anthea überprüfte statt<strong>de</strong>ssen nochmals die Programmierung <strong>de</strong>sZielcomputers. Erwartungsgemäß war alles bereit. Anschließendblieb ihr nichts mehr zu tun als hinaus zu sehen und zu warten.Ihre Gedanken kreisten weiter um Stacias Worte und ihr kam einvager Verdacht, <strong>de</strong>n sie lieber nicht näher ergrün<strong>de</strong>n wollte. Doch erließ sich nicht abschütteln. Dumpf brütete sie vor sich hin.Etwas blen<strong>de</strong>te sie und sie fuhr erschreckt hoch. Irgen<strong>de</strong>twas wargeschehen, doch sie war zu abgelenkt gewesen und musste sich erstorientieren. Es mussten ungefähr zehn Minuten vergangen sein,doch die Hydra war noch nicht zurückgekehrt. Auch draußen amTor schien ihr auf <strong>de</strong>m ersten Blick alles unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Diewürfelförmigen Drohnen <strong>de</strong>s Alten Volkes stiegen langsam aufund... Doch da realisierte sie <strong>de</strong>n Unterschied. Die Drohnen hattenaufgehört einen Kreislauf zu bil<strong>de</strong>n, es gab kein auf und ab mehrund auch kein Verharren am Tor. Sie stiegen alle auf,252


unterschiedlich schnell zwar, aber sämtlich zu ihrem Mutterschiffheimkehrend. Der Ereignishorizont <strong>de</strong>s Tores leuchtete einmalighell auf. Ein Effekt, <strong><strong>de</strong>r</strong> normalerweise nur zu beobachten war,wenn ein größeres Raumschiff das Portal passierte. Allerdings warNichts hindurch gekommen. Anthea ergriff das Steuerhorn <strong>de</strong>sJägers, aktivierte die Düsen für <strong>de</strong>n Senkrechtstart und schaltetedie Raketen scharf. Das Alte Volk hatte seine Reparaturen been<strong>de</strong>t,sie musste sich bereithalten.Das Ausbleiben Joans machte sie zunehmend nervös. DerBordcomputer verneinte ihre Frage, ob sie Son<strong>de</strong>n an Bord hätten.Sie hatte keine Möglichkeit mehr, das Tor zu testen. Nein,korrigierte sie sich selbst, es gibt einen Weg, es zu testen:Hindurchfliegen! Sie startete das Haupttriebwerk im Heck. Siemusste wissen, ob das Tor noch mit seiner alten Gegenstelleverbun<strong>de</strong>n und was mit Aldrin geschehen war.„Kollisionsalarm!“, mel<strong>de</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer.Überrascht überprüfte Anthea die Kontrollen. Zunächstbefürchtete sie, die Piraten wären ihnen doch noch gefolgt. Aberdann erkannte sie, dass es eine <strong><strong>de</strong>r</strong> aufsteigen<strong>de</strong>n Drohnen war, dievon schräg unten kommend ihre Flugbahn kreuzte. Sie wich nachsteuerbord aus und sah die Mondoberfläche unter sich dahin rasen.„Kollisionsalarm!“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte <strong><strong>de</strong>r</strong> Bordcomputer, diesmal indringlicheren Ton. Und tatsächlich, die Drohne wür<strong>de</strong> AntheasFlugbahn weiterhin schnei<strong>de</strong>n. Nach einigen brutalenAusweichmanövern musste sich Anthea eingestehen, dass dieDrohne sie ein<strong>de</strong>utig abzufangen versuchte und ihr dies auchgelingen wür<strong>de</strong>. 'Soviel zu <strong>de</strong>m Märchen, das Alte Volk greifenieman<strong>de</strong>n an.', dachte sie.Inzwischen war es in ihrem Cockpit merklich heller gewor<strong>de</strong>n. Dasdiffuse Licht, dass von <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Flugkörper ausging flutete ihr253


ganzes Sichtfeld. „Frontscheibe verdunkeln!“, befahl Anthea inSorge, zu sehr geblen<strong>de</strong>t zu wer<strong>de</strong>n.„Dies wur<strong>de</strong> bereits umgesetzt.“, informierte sie <strong><strong>de</strong>r</strong> Computer,obwohl es nicht dunkler gewor<strong>de</strong>n war. „Kollision in drei, zwei,eins...“Und Antheas Welt versank in Helligkeit.254


24 – Die Lichthalle„Die Torbauer o<strong><strong>de</strong>r</strong> das Alte Volk, wie man neuerdings immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> liest,sind vielleicht das letzte große Rätsel unseres Universums. Ihre Existenz istunbestreitbar durch das Vorhan<strong>de</strong>nsein <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore. Bestreitbar, aberwahrscheinlich ist, dass sie bis heute über die Tore unser Leben steuern.Doch was ist <strong><strong>de</strong>r</strong> Sinn hinter dieser Steuerung? Was sind wir für sie?Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>, Tiere, Versuchsobjekte? Und was sind sie für uns? Bekümmert sieunser Schicksal o<strong><strong>de</strong>r</strong> sind wir ihnen egal?“Torbauer 2,1-2: Larissa Corazon (Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit)Anthea schlug die Augen auf. Sie hatte nicht die geringsteVorstellung davon, wo sie sich befin<strong>de</strong>n mochte o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie sie dorthingelangt war. Tatsächlich benötigte sie einige Augenblicke, um sichdarüber klar zu wer<strong>de</strong>n, dass sie überhaupt wach war und sich aneinem realen Ort befand. Die Umgebung, die sich erst auf <strong>de</strong>mdritten Blick als eine Art Raum zu erkennen gab, war zu traumhaftund unwirklich, zu kontur- und farblos, als dass ein menschlicherGeist ihre Wirklichkeit bedingungslos akzeptieren wollte. Weiß inWeiß, wohin sie auch schaute. Erst mit Verzögerung dämmerte ihr,dass sie sich an Bord <strong>de</strong>s Schiffes <strong>de</strong>s Alten Volkes befin<strong>de</strong>nmusste. Das Weiß, aus welchem die ganze Welt zu bestehen schien,war das Gleiche, das auch die Außenseite <strong>de</strong>s Schiffes gezeichnethatte. O<strong><strong>de</strong>r</strong> es war fast das Gleiche. Auf eine eigentümliche,unerklärliche Weise wirkte ihr die Farbe, so rein und leuchtend sieauch hier drinnen war, dunkler als draußen auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Hülle.Sie erhob sich von einer Art Liege, auf die man sie gebettet habenmusste. Augenblicklich verschwand das Möbel, als habe es niemalsexistiert. Immerhin war die Liege ein Zeichen dafür, dass jemand anBord von ihrer Gegenwart wusste. Sie machte also ein paar Malerufend auf sich aufmerksam, doch es gab keine Antwort und es255


erschien auch niemand.Anthea sah sich weiter um. Die Form <strong>de</strong>s Raumes war nur schwerzu bestimmen. Denn das Licht schien aus allen Richtungenzugleich zu kommen und ließ nicht die geringste Schattierung <strong>de</strong>sallgegenwärtigen Weiß zu. Selbst wenn Konturen vorhan<strong>de</strong>ngewesen wären, hätte man sie nur schwer ausmachen können.Anthea vermutete, dass diese Umgebung nicht für Wesenkonstruiert wor<strong>de</strong>n war, die sich primär optisch orientierten. Erstnach einiger Zeit ent<strong>de</strong>ckte sie <strong>de</strong>n schlauchartigen Gang, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus<strong>de</strong>m Raum heraus führte. Mangels Alternativen machte sie sich auf<strong>de</strong>n Weg.Der Gang schien ihr schier endlos zu sein. Ganz gera<strong>de</strong> war ernicht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n leicht gebogen, auch schien er sanft undkontinuierlich anzusteigen. Allerdings war ihr bewusst, dass bei<strong>de</strong>stäuschen mochte. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie lange sieunterwegs war, <strong>de</strong>nn die Umgebung unterband je<strong>de</strong>s Zeitgefühl.Aber die Schwere ihrer Beine und Füße signalisierte ihr, dass sieschon einen weiten Weg zurückgelegt haben musste. Allmählichdrängte sich ihr die Frage auf, ob es klug gewesen sei, <strong>de</strong>nAufwachraum zu verlassen. Vielleicht hätte sie dort warten sollenbis sich ein Mitglied <strong><strong>de</strong>r</strong> frem<strong>de</strong>n Schiffsbesatzung ihrerangenommen hätte. Denn es hatte <strong>de</strong>n Anschein, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Gang siein die Irre führte. Sie wür<strong>de</strong> hier nichts und niemand fin<strong>de</strong>n.Sie drehte also um und kam schon nach kurzer Zeit zu einerAbzweigung. Anthea war nicht wenig entsetzt, <strong>de</strong>nn sie hättebeschwören können, zuvor an dieser Stelle nicht vorbei gekommenzu sein. Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ten sich die Gänge? War sie dazu verurteilt, hierfür Stun<strong>de</strong>n, wenn nicht gar Tage verloren herum zu irren?Doch da merkte sie, dass aus <strong>de</strong>m Gang, <strong><strong>de</strong>r</strong> rechts abzweigte, einGeräusch zu vernehmen war. So leise wie es war, ließ es sich nicht256


entschlüsseln. Mal wirkte es wie eine flüstern<strong>de</strong> Stimme o<strong><strong>de</strong>r</strong> einMurmeln, dann wie ein Knistern o<strong><strong>de</strong>r</strong> Knirschen. Was auch immeres war, unzweifelhaft war zumin<strong>de</strong>st seine Präsenz. Mit neuen Elanschlug Anthea diese Richtung ein. Das Geräusch blieb hörbar,wur<strong>de</strong> jedoch erstaunlicherweise nicht lauter. Ein son<strong><strong>de</strong>r</strong>barerGeruch lag in <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft, unangenehm, aber nicht alarmierend,fremdartig, aber doch entfernt bekannt. Dieser Geruch musste ihrbei einer an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Gelegenheit schon einmal begegnet sein, aber siekonnte sich nicht entsinnen wann und wo.Schließlich wur<strong>de</strong> auch das Geräusch lauter und löste sich in eineReihe einzelner Klänge auf. Da waren Laute, die an arbeitetenMaschinen erinnerten, das Knistern elektrischer Entladungen, einKnarren wie aus einem alten Holzgebälk und ein rhythmischesGemurmel, das wie ein Gespräch wirkte, das leise in einerunbekannten Sprache geführt wur<strong>de</strong>. Dann weitete sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Gangmit einem Male und Anthea befand sich in einem größeren Raumwie<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> jenem ähnelte, in <strong>de</strong>m sie erwacht war. Doch unter <strong><strong>de</strong>r</strong>Decke hing ein wabern<strong>de</strong>s schwarzes Etwas, das Anthea zunächstfür eine Rauchwolke hielt. Auf <strong>de</strong>m zweiten Blick schwand dieseÄhnlichkeit. Die Konsistenz <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke war an<strong><strong>de</strong>r</strong>s, dicker als Raucho<strong><strong>de</strong>r</strong> Nebel. Vergleiche mit Öl o<strong><strong>de</strong>r</strong> Teer kamen ihr in <strong>de</strong>n Sinn, dochnichts passte wirklich zu <strong><strong>de</strong>r</strong> unförmigen Masse, die dort inbeständiger Bewegung über ihrem Kopf schwebte wie eine Qualle imWasser. Nur soviel vermochte die Aldrianerin zu erkennen, dass dieWolke aus einer gewaltigen Menge kleiner schwarzer Kugeln o<strong><strong>de</strong>r</strong>Blasen zu bestehen schien. Und noch etwas stellte Anthea fest.Sämtliche Geräusche, die sie hörte, entsprangen <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke.Was Anthea jedoch weit mehr in Erstaunen versetzte als dierätselhafte Wolke war das Wesen, das sich unterhalb <strong><strong>de</strong>r</strong>selbenbefand; ein Borone. Unverkennbar war die seepferdchenhafte257


Gestalt, <strong><strong>de</strong>r</strong>en Rumpf sechs größere Tentakel entsprangen.Trotz<strong>de</strong>m ähnelte ihr Gegenüber keinem Boronen, <strong>de</strong>n Antheajemals zuvor gesehen hatte. Statt <strong><strong>de</strong>r</strong> üblichen, leicht glänzen<strong>de</strong>ngrünlichen o<strong><strong>de</strong>r</strong> bläulichen Haut <strong><strong>de</strong>r</strong> intelligenten Meereslebewesen,chargierte die Farbe dieses Boronen zwischen mattem Grau un<strong>de</strong>inem marmorhaften Weiß. Insgesamt wirkte er versteinert, fastverwittert. Seine kurzen, haarähnlichen Sekundärtentakel schienenverfilzt und starr. Anthea hatte wenig Übung darin, dass Alter <strong><strong>de</strong>r</strong>Angehörigen dieser außerirdischen Spezies zu bestimmen. Aber siezweifelte nicht eine Sekun<strong>de</strong> daran, dass dieser Borone alt war, sehralt. Das erstaunlichste an ihm aber war etwas völlig An<strong><strong>de</strong>r</strong>es,nämlich dass er sich mit ihr im selben Raum befand. KeinSchutzanzug und kein Atemgerät schützte ihn vor <strong><strong>de</strong>r</strong> an sich fürihn lebensfeindlichen, gasförmigen Atmosphäre. KeinAntigravitationsgenerator und kein Fluggerät hielten ihn in <strong><strong>de</strong>r</strong>Schwebe, und doch trotzte er <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwerkraft und bewegte sichproblemlos in <strong><strong>de</strong>r</strong> Luft wie... wie die merkwürdige Wolke über ihm.„Frie<strong>de</strong>, lustige, haarige Menschin Anthea Demetres mitästhetischen Ohrmuscheln.“, begrüßte <strong><strong>de</strong>r</strong> Borone sein Gegenübermit piepsiger Stimme. „Ich bin und heiße Lar Binareen,frie<strong>de</strong>nsdurchströmen<strong>de</strong>, vermitteln<strong>de</strong> Botschafterin zwischen <strong>de</strong>nzeitweiligen Generationen <strong>de</strong>s Universums und Weltalls. Ich binhier, um dich, <strong>de</strong>signiert benannt in spe zukünftige Botschafterinzu empfangen, zu erwarten und mit allen Farben willkommen zuheißen.“Anthea versuchte sich in <strong>de</strong>n Wortkonstruktionen Lar Binareenszurecht zu fin<strong>de</strong>n. Boronen, die im Weltraum lebten, beherrschtenfür gewöhnlich die Han<strong>de</strong>lssprache, nicht selten sogar weiteremenschliche Sprachen. Da allerdings ihre natürlicheKommunikation, die auf <strong>de</strong>n Austausch von Botenstoffen basierte,258


weitaus komplexer war, hatten sie erhebliche Schwierigkeitendamit, ihre Gedanken in das enge Begriffskorsett menschlicherWörter zu zwängen. Ihr Bemühen, so akkurat wie möglichauszudrücken, was ihnen durch <strong>de</strong>n Kopf ging, ließ sie komplexverschachtelte Sätze formulieren, die angefüllt waren mitson<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Metaphern und vermeintlichen Wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holungen. Sowaren sie gera<strong>de</strong> wegen ihrer Versuche, sich verständlich zumachen, für Menschen nur sehr schwer zu verstehen.„Frie<strong>de</strong> auch dir, Lar Binareen.“, erwi<strong><strong>de</strong>r</strong>te Anthea zunächst einmal<strong>de</strong>n Gruß. Anschließend schnalzte sie mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Zunge, umversuchsweise <strong>de</strong>n Klicklaut zu imitieren, mit <strong>de</strong>m sich Boronenuntereinan<strong><strong>de</strong>r</strong> begrüßten. Ihr Gegenüber klackerte belustigt, Antheahatte <strong>de</strong>n Ton nicht richtig getroffen. „Ich bin Gouverneurin, nichtBotschafterin.“, stellte sie danach richtig. „Zumin<strong>de</strong>st war ichGouverneurin.“, en<strong>de</strong>te sie nie<strong><strong>de</strong>r</strong>geschlagen.„Alle bunten Farben <strong><strong>de</strong>r</strong> gewesenen Vergangenheit sind verflossen,was war und gewesen ist, ist nicht mehr von Belang o<strong><strong>de</strong>r</strong> süßlicherWichtigkeit. Und auch die jetzt präsente Gegenwart ist <strong>de</strong>mversinken<strong>de</strong>n Untergang unfern nahe. Was ausschließlich allein vonBe<strong>de</strong>utung zählt, ist das kommen<strong>de</strong> Wer<strong>de</strong>n und die morgenroteZukunft.“, entgegnete Binareen geheimnisvoll. „Du wirst sein, wasich nun jetzt <strong><strong>de</strong>r</strong>zeit bin, eine fein vermitteln<strong>de</strong> Botschafterinzwischen <strong>de</strong>n endlosen aufeinan<strong><strong>de</strong>r</strong> folgen<strong>de</strong>n Generation <strong>de</strong>ssternenreichen Universums. Denn du, oh schön Haarige, bistgekürt und erwählt aus Millionen für Milliar<strong>de</strong>n auf Zigtausen<strong>de</strong>hin, das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> luftfrohen Menschen in <strong><strong>de</strong>r</strong> hellen Weiße <strong><strong>de</strong>r</strong>Lichthalle zu vertreten, dafür zu sprechen und einzustehen für <strong>de</strong>nbegrenzten Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> unbegrenzt fließen<strong>de</strong>n Ewigkeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> dir gegebenund bestimmt ist.“„Ich... ich verstehe nicht.“, antwortete Anthea unsicher.259


„Das Alte Volk“, begann Lar Binareen und <strong>de</strong>utete wieselbstverständlich mit einem Tentakel auf die teerige Masse an <strong><strong>de</strong>r</strong>Decke: „Das Alte Volk hat, verfügt und besitzt Sprungtore, die <strong>de</strong>nRaum in Stru<strong>de</strong>ln krümmen. Zahllos viele dieser Sprungtore in <strong>de</strong>nplanetenfrohen, leeren Weiten von Milliar<strong>de</strong>n bunt schillern<strong><strong>de</strong>r</strong>Sonnen und Sternen. Es verknüpft, verbin<strong>de</strong>t und vereint hun<strong><strong>de</strong>r</strong>teund tausen<strong>de</strong> dieser Sternensysteme und Lebenswelten zu filigranverwobenen Netzwerken, die es Reiche nennt und so bezeichnet.Und nun ist es an <strong><strong>de</strong>r</strong> gegeben Zeit, dass das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschenin die beteiligt partizipieren<strong>de</strong> Mitsprache <strong><strong>de</strong>r</strong> zwiefach <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>nMenschen kommt und gelangt. Die haarigen, ästhetischenOhrmuschelmenschen wer<strong>de</strong>n aufgenommen und Teil in <strong>de</strong>m Plan<strong>de</strong>s Alten Volkes in all seiner lichten Farbigkeit. Einen Botschafterzwischen <strong>de</strong>n Generationen <strong>de</strong>s sternenhellen Universums wer<strong>de</strong>nsie stellen und darüber verfügen, beteiligte Mitsprache un<strong>de</strong>influssnehmen<strong>de</strong> Mitbestimmung wird ihnen zuteil und eigen. Du,lustige und schöne Anthea, mit glänzend metallbehangenerOhrmuschel sollst diese wortfarbige Botschafterin sein, wer<strong>de</strong>n undbist dazu auserkoren.“„Mitsprache?“, stammelte Anthea fassungslos. Vor einem Tag hättesie nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob das Alte Volkwirklich existiere o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht doch ein Mythos wäre, eine quasireligiöse Konstruktion, <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch in Ermangelung nüchternerErklärungen <strong>de</strong>n Ursprung <strong>de</strong>s Universums, das die Menschenvorgefun<strong>de</strong>n hatten, zu begreifen. Nun aber musste sie sich nichtallein mit <strong>de</strong>m Gedanken vertraut machen, dass es die sagenhafteZivilisation <strong><strong>de</strong>r</strong> Torbauer tatsächlich gegeben hatte und dass sienoch immer existierte, nein, mehr noch, das Alte Volk, <strong>de</strong>ssenMacht so unvorstellbar groß sein musste wie jene eines Gottes, botihr an, an dieser Macht teilzuhaben.260


„Warum ich? Weil ich das Sprungtor abschalten wollte?“Lar Binareen antwortete ihr nicht. Statt<strong>de</strong>ssen wur<strong>de</strong>n dieGeräusche aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke lauter und lauter. Anthea bemerktezu<strong>de</strong>m, dass die Geschwindigkeit zugenommen hatte, mit <strong><strong>de</strong>r</strong> sichdie qualmartige Masse bewegte. Dabei nahm sie eine leicht rötlicheFärbung an. Es wur<strong>de</strong> merklich wärmer. Geisterstimmen wispertenin einer Sprache, die Anthea unbekannt war, und dann ganzplötzlich verstand sie die Worte: „Sprungtor abschalten... ichwollte... warum... Warum das Sprungtor abschalten?“Kurz wur<strong>de</strong> es wie<strong><strong>de</strong>r</strong> still, dann sagten die Stimmen klar und<strong>de</strong>utlich: „Nein! Wir beobachten dich schon länger, AntheaDemetres von Aldrin, Langlebige aus <strong>de</strong>m Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen.“Anthea blinzelte zu <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke hinauf, die zu Glühen angefangenhatte. „Bist du ein Angehöriger <strong>de</strong>s Alten Volkes?“, fragte sieehrfürchtig.„Wir sind weniger und mehr. Was sind wir? Wir sind ein kleinerTeil <strong>de</strong>s Ganzen. Der endliche Auszug aus einer unendlichenGesamtheit, die du als das Alte Volk kennst und nicht kennst. EinTeil, ein Hüter sind wir, ein Wächter.“„Und ich soll über eure Pläne mitbestimmen dürfen?“ Sie hatteweiterhin Schwierigkeiten, sich dies vorzustellen.„Du sollst mitbestimmen, Anthea Demetres von Aldrin,Botschafterin, auserwählt aus Millionen für Milliar<strong>de</strong>n aufZigtausen<strong>de</strong> hin.“„Aber wenn ich mitbestimmen soll, warum habt ihr dieTorabschaltung rückgängig gemacht? Jetzt droht ein Krieg zwischenAldrin und Argon Prime.“„Schlimmeres droht. Aber du irrst, Anthea Demetres von Aldrin.Die Verbindung zwischen <strong>de</strong>n Welten, die du Aldrin und ArgonPrime nennst, sie ist noch immer unterbun<strong>de</strong>n. Wir selbst haben261


das Tor abgeschaltet.“ Erleichterung machte sich in Anthea breit,jedoch nur für einen kurzen Augenblick, <strong>de</strong>nn dann sprach <strong><strong>de</strong>r</strong>Wächter weiter: „Für immer.“„Das..., das ist nicht nötig.“, wandte die Aldrianerin erschrockenein. „Fünfzehn, vielleicht zwanzig Jahre reichen aus, um Aldrin zustärken.“„Nein!“, hielt <strong><strong>de</strong>r</strong> Wächter fest. „Aldrin ist Gefahr, dieVergangenheit bedroht die Zukunft. Leben gebiert Leben, das Lebengebiert, um Leben zu verdrängen. Der Große Plan muss geän<strong><strong>de</strong>r</strong>twer<strong>de</strong>n. Geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t wer<strong>de</strong>n muss das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen. Aldrin istGefahr, Isolation <strong><strong>de</strong>r</strong> Gefahr, Isolation von Aldrin.“Anthea verstand nicht von welcher Gefahr das Alte Volk sprach.Aldrin wur<strong>de</strong> von Argon bedroht, nicht umgekehrt. Mit seinenwenigen Streitkräften konnte es keine Gefahr darstellen, sicherlichnicht für das Alte Volk. Und viel fruchteinflößen<strong><strong>de</strong>r</strong> als je<strong>de</strong> Gefahrschien ihr die Vorstellung, dass Aldrin wie die <strong>Er<strong>de</strong></strong> für alle Ewigkeitverschollen sein wür<strong>de</strong>. Sie dachte an all die Millionen vonAldrianern, die für immer von ihren Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Schwestern aufan<strong><strong>de</strong>r</strong>en Welten getrennt sein sollten.„Das dürft ihr nicht!“, fuhr sie auf: „Als Botschafterin <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschen protestiere ich dagegen. Ich möchte, dass ihr dasSprungtor nach Aldrin nur vorübergehend abschaltet, nur fürwenige Jahre.“„Was ist wenig? Wenige Jahre sind wenig. Die Gefahr muss isoliertwer<strong>de</strong>n. Du möchtest? Noch bist du nicht Botschafterin <strong>de</strong>s Reiches<strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen. Möchtest du Botschafterin wer<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>nGenerationen <strong>de</strong>s Universums, Anthea Demetres von Aldrin,ausgewählt aus Millionen für Milliar<strong>de</strong>n auf Zigtausen<strong>de</strong> hin?Verstehe diese Entscheidung. Vertreten wirst du das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschen, Mitsprache haben in <strong><strong>de</strong>r</strong> Lichthalle. Doch du wirst nicht262


länger Teil dieses Reiches und <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen sein. Aufgeben musstdu alles, was du warst, und je<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n du kanntest. Mitbestimmenwirst du hier über das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen und je<strong>de</strong>s An<strong><strong>de</strong>r</strong>e für<strong>de</strong>n Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> Ewigkeit, <strong><strong>de</strong>r</strong> dir bemessen ist. Niemals wirst duzurückkehren, <strong>de</strong>nn <strong><strong>de</strong>r</strong> Weg führt immer nur nach vorn, niemalszurück. Willst du diese Entscheidung treffen, Anthea Demetres vonAldrin? Bist du dazu bereit? Dann antworte auf die Weise, die<strong>de</strong>iner Art eigen ist.“Anthea schluckte. Sie war bereit gewesen, ihr bisheriges Lebenhinter sich zu lassen, um Aldrin zu helfen. Doch das Opfer, das nunvon ihr verlangt wur<strong>de</strong>, war so viel größer. Jahrzehnte zuverschenken schreckte sie nicht, <strong>de</strong>nn sie wusste, dass ihr alsLanglebige mit fortschreiten<strong>de</strong>m Alter Jahrzehnte immer wenigerbe<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>n. Immer gab es ein 'Danach'. So oft sie auch überdie Zeitspannen ihres Lebens nachgedacht hatte, mit etwas <strong><strong>de</strong>r</strong>artEndgültigen war sie niemals konfrontiert gewesen. Sie wür<strong>de</strong> keinen<strong><strong>de</strong>r</strong> Orte mehr aufsuchen zu können, die in ihrem Leben vonBe<strong>de</strong>utung gewesen waren, kein bekanntes Gesicht mehr sehenund keine vertraute Stimme mehr hören, ja sie wür<strong>de</strong> für diegesamte Menschheit einstehen müssen und doch von <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamtenMenschheit getrennt sein. Aber vielleicht war sie das ohnehinschon, ging ihr durch <strong>de</strong>n Kopf. Die Hydra hatte eine solche Kluftzwischen sich und <strong>de</strong>n Menschen verspürt. Wür<strong>de</strong> es Antheaähnlich ergehen in fünfzig, in hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t, in zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Jahren? Wardas Leben als Botschafterin beim Alten Volk <strong><strong>de</strong>r</strong> schwerer o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>leichterer Weg? Und wäre <strong><strong>de</strong>r</strong> leichtere Weg auch <strong><strong>de</strong>r</strong> Bessere? Siewünschte sich, dass Joan noch da wäre, um ihr einen Rat zu geben.Doch sie ahnte, wie die Entscheidung <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra ausfallen wür<strong>de</strong>.Über ihr wirbelten die kleinen Kügelchen <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke immer wil<strong><strong>de</strong>r</strong>durcheinan<strong><strong>de</strong>r</strong>. Die Abwärme <strong>de</strong>s Wächters brannte in ihrem263


Gesicht. In <strong>de</strong>n großen, schwarzen Augen Lar Binareens spiegeltesich das rote Glühen. Das Alte Volk erwartete eine Antwort.„Kann ich darüber nach<strong>de</strong>nken?“, fragte sie vorsichtig.„Du kannst nach<strong>de</strong>nken.“„Wie lange?“„Wir wer<strong>de</strong>n bald zurückkehren. Was ist wenig? Was ist bald?Wenige Jahre sind wenig. Wenn für zurückkehren, wirst du <strong>de</strong>ineEntscheidung treffen.“ Das Glühen <strong>de</strong>s Wächters nahm noch weiterzu. Immer schneller rasten die Kügelchen umher, <strong><strong>de</strong>r</strong>weil die Wolkeanfing herabzusinken.Aufgeregt schlug Lar Binareen ihre Tentakel zusammen und gabeinige unverständliche Klicklaute von sich. Aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Wolke wuchsetwas heraus, das wie eine Windhose aussah, und begann dieBoronin einzuhüllen.„Binareen, was passiert hier?“, fragte Anthea verunsichert.„Das klug weise Alte Volk, es war früher <strong><strong>de</strong>r</strong>einst einmal so wie duund ich, ästhetische Anthea Demetres, quirlig bunte Lebewesen instofflich festen Körpern.“, setzte die Boronin, offenbar nicht imGeringsten über das Geschehen beunruhigt, zu einer längerenErklärung an: „Doch sie haben diese greifbare, materielle Formaufgegeben, zurück und hinter sich gelassen und wur<strong>de</strong>n zuzeitgesprenkelten Präsenzwolken. Auch ich habe einen lebendigenKörper, vergänglich, sterblich und zur transparenten Farblosigkeitverblassend. Das Alte Volk kann <strong>de</strong>n Fluss und <strong>de</strong>n Strom <strong><strong>de</strong>r</strong>ewigen Zeit stauen, ihn lenken und bremsen, doch sogar selbst dasAlte Volk in all seiner grünen Schlauweisheit kann die Zeit nichtstoppen, anhalten o<strong><strong>de</strong>r</strong> ihren fortschreiten<strong>de</strong>n Lauf umkehren. Ichverfließe, sterbe und entfärbe mich, lustig haarige Aldrinanthea.Doch trauere, lei<strong>de</strong> und weine nicht, <strong>de</strong>nn ich wer<strong>de</strong> Teil <strong><strong>de</strong>r</strong>schillernd leuchten<strong>de</strong>n Präsenzwolke <strong>de</strong>s hüten<strong>de</strong>n Wächters und264


eingehen in die unendliche Größe <strong>de</strong>s Alten Volkes. Lebe glücklichwohl, oh Haarige.“Und dann war Lar Binareen von einer Sekun<strong>de</strong> zur nächstenverschwun<strong>de</strong>n. Die Wolke hatte sie aufgelöst und zog sich nunwie<strong><strong>de</strong>r</strong> zusammen.„Und Aldrin?“, fragte Anthea. „Was wird mit Aldrin geschehen?“„Aldrin? Geschehen! Was wird? Was wird geschehen?“, murmeltendie Kügelchen <strong>de</strong>s Wächters. Sie hatten <strong>de</strong>utlich anGeschwindigkeit verloren und wur<strong>de</strong>n wie<strong><strong>de</strong>r</strong> leiser. Dieverständlichen Worte gingen rasch in das fremdartige Gemurmelüber, das die Wolke von sich gegeben hatte als Anthea <strong>de</strong>n Raumbetreten hatte.„Hey!“, rief Anthea. „Hallo?“ Doch sie erhielt keine Antwort mehr.Das Gespräch war offenbar zu En<strong>de</strong>.Unschlüssig, was sie nun tun sollte, sah sich Anthea um. Sollte siewie<strong><strong>de</strong>r</strong> gehen? Doch wohin? Da hörte sie plötzlich eine Stimme inihrem Kopf sagen: „Begleite mich.“Sie drehte sich erneut um und schreckte zurück. Plötzlich standhinter ihr ein son<strong><strong>de</strong>r</strong>barer, furchterregen<strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter, <strong><strong>de</strong>r</strong> sie ausscharfkantigen, bösartig wirken<strong>de</strong>n, violetten Sensoraugenmusterte. Die Maschine hatte keine benennbare Form und schien,abgesehen von ihren Sensoren nur aus hun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten unterschiedlichlangen Werkzeugarmen und mechanischen Tentakeln zu bestehen.Der Roboter schwebte wie Binareen und <strong><strong>de</strong>r</strong> Wächter ohneerkennbare Hilfsmittel über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n.„Begleite mich.“, wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holte die Stimme. Nichts <strong>de</strong>utete daraufhin, dass es <strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter gewesen war, <strong><strong>de</strong>r</strong> dies gesagt hatte. AberAnthea zweifelte <strong>de</strong>nnoch nicht daran. „Bitte.“, fügte die Maschinenach kurzer Pause hinzu.Trotz seines bedrohlichen Äußeren vertraute sich Anthea <strong>de</strong>m265


Roboter ohne zu Zögern an. Das Verhalten <strong>de</strong>s Alten Volkes bliebihr rätselhaft, doch war offensichtlich, dass man ihr nichts tunwollte. Nicht zuletzt <strong><strong>de</strong>r</strong> Empfang durch Lar Binareen hatte siedavon überzeugt. Sicherlich hatte das Alte Volk die Boronin<strong>de</strong>swegen hinzugeholt, dachte Anthea. Vielleicht, so überlegte sieweiter, hatte es sogar nur <strong>de</strong>swegen Lar Binareen nicht schonfrüher in sich aufgenommen.Anthea erwartete, dass ihr erneut ein weiter Weg bevor stün<strong>de</strong>,doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich selber als ein 'Sohne' bezeichnete, führtesie innerhalb nur weniger Minuten an ihr Ziel. Zuletzt passierten sieeine Tür, die erste die Anthea an Bord zu sehen bekam. Son<strong><strong>de</strong>r</strong>bareReliefs schmückten Tür und Rahmen, von <strong>de</strong>nen die Aldrianerinnicht sagen konnte, ob sie Schriftzeichen, be<strong>de</strong>utungsloseZiermuster o<strong><strong>de</strong>r</strong> figürliche Darstellungen unbekannter Gegenstän<strong>de</strong>waren. Beim Durchqueren <strong><strong>de</strong>r</strong> Tür nahm sie ein kurzes Ziehen imMagen wahr, so wie man es gelegentlich beim Durchgang durch einSprungtor verspürte. Sie fragte sich, ob die Tür einDimensionsportal war?Die Halle, <strong>de</strong>n sie nun betrat, war merklich dunkler als die Gängeund Räume, die sie bislang an Bord gesehen hatte. Und sie war umein mehrfaches größer. Anthea wäre von <strong><strong>de</strong>r</strong> Größe und perfektenForm <strong>de</strong>s Kuppelsaals beeindruckt gewesen, hätte nicht etwasan<strong><strong>de</strong>r</strong>es ihre Aufmerksamkeit und Faszination vollständig inAnspruch genommen. Der riesige Saal war nämlich zur Gänzeangefüllt mit <strong>de</strong>n erstaunlichsten Geschöpfen. Lebewesen mit dreiund zehn Beinen, zweiköpfig o<strong><strong>de</strong>r</strong> gänzlich ohne benennbareExtremitäten, geflügelte Wesen und welche mit Flossen, Winzlinge,die sie in die Hand hätte nehmen können, und Riesen, die fast diehohe Decke berührten. Leben in mehr Farben und Formen als sich266


die lebendigste Fantasie jemals erträumen könnte.„Die an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Botschafter zwischen <strong>de</strong>n Generationen <strong>de</strong>sUniversums.“, erklärte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohne lapidar.Die Botschafter! Ein Gremium aus Vertretern unzähligerintelligenter Spezies, das über das Schicksal <strong>de</strong>s Universumsentschied. „Ich sehe keine Spezies, die ich kenne.“, bemerkteAnthea erstaunt, nach<strong>de</strong>m ihr Blick mehrmals hin und hergewan<strong><strong>de</strong>r</strong>t war. Sie war <strong><strong>de</strong>r</strong> einzige Mensch, was sie kaumverwun<strong><strong>de</strong>r</strong>te. Von je<strong><strong>de</strong>r</strong> Spezies schien nur ein Individuumanwesend zu sein, und sie sollte schließlich die Vertreterin <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschen wer<strong>de</strong>n. Lediglich Roboter wie ihr Begleiter waren ingrößerer Zahl im Raum verteilt. Es gab auch keinen weiterenBoronen. Split und Parani<strong>de</strong>n fehlten gänzlich.„Je<strong>de</strong>s Reich hat nur einen Vertreter.“, führte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohne in ihremKopf aus. „Das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen soll durch einen Menschenvertreten wer<strong>de</strong>n, durch dich, Anthea Demetres von Aldrin.“„Das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen?“, fragte Anthea. „Es ist genauso dasReich <strong><strong>de</strong>r</strong> Boronen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Parani<strong>de</strong>n und Split.“„Durchaus,“, bestätigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Roboter: „ebenso, wie es das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong>Maschinen ist, die ihr Terraformer o<strong><strong>de</strong>r</strong> Xenon nennt, ebenso wie esdas Reich an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Völker ist, die euch noch unbekannt sind. Aberdas Alte Volk schätzt euch als das wichtigste Volk dieses Reichesein.“„Warum wir?“, wollte Anthea ehrlich erstaunt wissen. Sie war vormenschlichen Piraten und Intriganten hierhin geflohen und hattedie stete Gefahr <strong>de</strong>s Bürgerkrieges vor Augen. Die Menschheiterschien ihr gegenwärtig nicht son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich vorbildlich zu sein.„Als einziges Volk ihres Reiches, haben die Menschen das Wissen<strong><strong>de</strong>r</strong> Sprungtore entschlüsselt. Unverständlich früh für ein Volk mit<strong><strong>de</strong>r</strong>art primitiver Technik.“267


Anthea lächelte unsicher. Primitiv. Wie fortschrittlich fühlte sichdoch die Menschheit, aber was waren sie schon im Vergleich zumAlten Volk. Vor allem die entwurzelten Kolonisten <strong><strong>de</strong>r</strong> alten <strong>Er<strong>de</strong></strong>.„Aber unser Wissen über die Sprungtore ist mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> verlorengegangen.“, wandte sie <strong>de</strong>mentsprechend ein. „Heute verstehen dieBoronen mehr über diese Dinge als wir.“„Das ist richtig.“, bestätigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohne, <strong><strong>de</strong>r</strong>weil er sie weiter in dieMitte <strong><strong>de</strong>r</strong> Halle führte. „Aber <strong><strong>de</strong>r</strong> menschliche Geist hat sich diesesRätsel einmal erschlossen und da sich we<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> menschliche Geist,noch das Rätsel geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben, wird es wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geschehen.Außer<strong>de</strong>m hat man auf <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> selbst, dieses Wissen bewahrt.“Die Stimme <strong>de</strong>s Sohnen klang nüchtern und unbeteiligt, so dassein Moment verstrich, bevor die volle Be<strong>de</strong>utung seiner letzten,scheinbar beiläufig vorgebrachten Worte zu Anthea durchdrang.Ihre Gedanken wirbelten. Die <strong>Er<strong>de</strong></strong>! Die <strong>Er<strong>de</strong></strong> existierte noch immerund die Menschen auf ihr hatten <strong>de</strong>n Krieg überlebt. Nathan R.Gunnes Plan war aufgegangen, die Zerstörung <strong>de</strong>s Sprungtoreshatte <strong>de</strong>n Terraformern <strong>de</strong>n Weg für einen weiteren Angriffversperrt. Und die <strong>Er<strong>de</strong></strong>nmenschen konnten noch immer Sprungtorebauen. Taten sie es? Warum hatten sie dann keinen Kontakt mit<strong>de</strong>n Kolonien aufgenommen? Warum hatte das Alte Volk nicht vonsich aus, wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die <strong>Er<strong>de</strong></strong> und ihre Kolonien miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>verbun<strong>de</strong>n, wozu es zweifellos fähig war? Und warum wählte dasAlte Volk keinen Botschafter aus <strong>de</strong>n Reihen <strong><strong>de</strong>r</strong> Erdlinge?Aber bevor sie eine dieser Fragen aussprechen konnte, blitzte esüber ihr auf und die Projektion eines Planeten erschien. Antheaerkannte die drei aus ihrer Perspektive sichtbaren Kontinentesofort. Ihr Herz krampfte sich zusammen: Aldrin!„Die Beratung hat begonnen.“, eröffnete ihr <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohne.Anthea sah sich neugierig um, konnte jedoch keine Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung268


in <strong><strong>de</strong>r</strong> unglaubliche Menagerie <strong>de</strong>s Lebens um sie herum erkennen.Es war still, keines <strong><strong>de</strong>r</strong> Wesen schien zu sprechen, überhaupt warihnen nicht anzusehen, dass sie irgendwie miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>kommunizierten o<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nur die Projektion über ihren Köpfen zurKenntnis nahmen - unabhängig davon, ob sie Köpfe besaßen.„Da du, Anthea Demetres von Aldrin, noch kein Botschafterzwischen <strong>de</strong>n Generationen bist, kannst du <strong>de</strong>in Anliegen nichtselber vortragen.“, erklärte ihr Begleiter. „Wähle einen Fürsprecher.“Und wie?, wollte sie fragen. Sie wusste nicht das Geringste überdie Geschöpfe, die sich hier tummelten. Wie sollte sie eine sinnvolleEntscheidung treffen? Sie sah sich um und überlegte, welche ArtKreatur wohl am ehesten Verständnis für ihre menschlicheSichtweise haben könnte. Die Antwort war nahe liegend: Ein Wesen,das <strong>de</strong>m Menschen o<strong><strong>de</strong>r</strong> doch zumin<strong>de</strong>st irgen<strong>de</strong>iner irdischenLebensform ähnlich war. Nur schien es solche Wesen hier nicht zugeben, machte sie sich mit einiger Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung bewusst. Eineschwarze Kreatur fiel ihr auf, die entfernt an eine Fliege erinnerte,nur war sie etwa so groß wie ein Hund und hatte einenVogelschnabel. Darüber hinaus sie war abstoßend hässlich. Antheawandte angewi<strong><strong>de</strong>r</strong>t <strong>de</strong>n Blick ab und ent<strong>de</strong>ckte auf diesem Wegeeinen armlangen, sandfarbenen Tausendfüßler, <strong><strong>de</strong>r</strong> ruhig am Bo<strong>de</strong>nverharrte. Sie zuckte die Achseln, warum nicht. „Ich wähle <strong>de</strong>n da.“,sagte sie und <strong>de</strong>utete ungeniert auf <strong>de</strong>n vermeintlichenGlie<strong><strong>de</strong>r</strong>füßler.Der Sohne schwebte heran und postierte sich zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong>Aldrianerin und ihrem auserwählten Fürsprecher. „Ich wer<strong>de</strong> dieVerbindung zwischen dir und <strong>de</strong>m Illiriten herstellen.“, hörteAnthea seine Stimme in ihrem Kopf.Der Außerirdische, o<strong><strong>de</strong>r</strong> Illirit, wie Anthea jetzt wusste, begannsich zu regen. Nun da er sich bewegte, erkannte Anthea, dass seine269


Ähnlichkeit mit einem irdischen Tausendfüßler nur sehroberflächlich war. Tatsächlich besaß er nur an einer Seite seineslang gezogenen Körpers Beine. So es <strong>de</strong>n Beine waren, <strong>de</strong>nn zurFortbewegung nutzte <strong><strong>de</strong>r</strong> Illirit sie nicht. Statt<strong>de</strong>ssen krümmte ersich so, dass sich seine bei<strong>de</strong>n Körperen<strong>de</strong>n etwa eine Handbreitzur Seite schoben, und zog dann seine Mitte hinterher. Antheaerschien dies als eine recht mühsame Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Fortbewegung, diedarauf schließen ließ, dass sich die Illiriten von Natur aus wenigbewegten. Anthea fragte sich, wie sich wohl ernährten. Es war auchnicht ersichtlich, wo bei dieser Kreatur vorn und wo hinten war.Soweit es die Aldrianerin feststellen konnte, waren bei<strong>de</strong> En<strong>de</strong>nvollständig i<strong>de</strong>ntisch. Dort entwuchsen jeweils zwei 'Fühler',zwischen <strong>de</strong>nen hin und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> kleine elektrische Entladungenaufblitzten.„Sprich!“, for<strong><strong>de</strong>r</strong>te <strong><strong>de</strong>r</strong> Sohne sie auf. „Der Illirit wird dichverstehen und du ihn.“Anthea nickte und hockte sich vor ihrem Fürsprecher hin. „Hallo,ich bin Anthea Demetres.“, sagte sie freundlich. „Wie heißt du?“Zwischen <strong>de</strong>n 'Fühlern' <strong>de</strong>s Illiriten blitzte es heftiger und häufiger.Gleichzeitig hörte Anthea wie<strong><strong>de</strong>r</strong> eine körperlose Stimme in ihremKopf, doch es war eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e als zuvor. „Ich habe keinen Namen.Wir haben keine...“ Der Außerirdische zögerte, die Blitze erloschenbis er fortfuhr: „...keine Worte wie ihr.“Woher kommt dann das Wort Illirit, dachte Anthea flüchtig. Zuihrer Verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>ung blitzte ihr Gegenüber eine Antwort.„Unsere Nachbarn, sie haben Worte, nennen uns so. Es basiert aufihr Wort für Elektrizität.“Anthea erklärte, was sie wollte. Das ging schnell von statten, <strong>de</strong>nn<strong><strong>de</strong>r</strong> Illirit war wie alle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Botschafter schon darüber informiert,dass Anthea ein Sprungtor nur vorübergehend abschalten wollte,270


<strong><strong>de</strong>r</strong>weil es das Alte Volk dauerhaft <strong>de</strong>aktivieren wollte. MehrSchwierigkeiten hatte er, Antheas Beweggrün<strong>de</strong> zu begreifen. Erstnach einigem Hin und Her erkannte Anthea <strong>de</strong>n Grund dafür. DerIllirit wusste zwar sehr wohl, was Krieg be<strong>de</strong>utete, doch war es fürihn eher ein Vorkommnis wie ein Kometeneinschlag o<strong><strong>de</strong>r</strong> eineSternenexplosion. Es geschah ständig irgendwo in <strong><strong>de</strong>r</strong> Galaxie, un<strong>de</strong>s war auch seinem Volk schon geschehen. Es wäre besser, wenn esnicht wie<strong><strong>de</strong>r</strong> geschähe, und geschah <strong>de</strong>nnoch immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. ImDetail hatte er sich selten mit Ursachen und Grün<strong>de</strong>n für Kriegebeschäftigt, <strong>de</strong>nn aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Perspektive <strong><strong>de</strong>r</strong> Lichthalle waren diesebanal und austauschbar. Warum sich Argon und Aldringegenwärtig nicht im Krieg befan<strong>de</strong>n, dies aber bald tun wür<strong>de</strong>n,wenn die Torverbindung aufrecht erhalten wür<strong>de</strong>, es aberan<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits nicht zum Krieg kommen wür<strong>de</strong>, wenn das Tor inwenigen Jahren wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aktiviert wür<strong>de</strong>, war für <strong>de</strong>n Illiriten schwerzu verstehen. Schließlich gelang es Anthea jedoch, auch dies ihremFürsprecher begreiflich zu machen. Dieser versprach, sich fürAntheas Wunsch einzusetzen, er war recht zuversichtlich, dasGremium <strong><strong>de</strong>r</strong> Botschafter zu überzeugen.Er hatte kaum geen<strong>de</strong>t als Anthea wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die körperlose Stimme<strong>de</strong>s Sohnen vernahm: „Rühre dich nicht, Anthea Demetres vonAldrin.“ Dann geschah etwas Son<strong><strong>de</strong>r</strong>bares. Die Wesen um sieherum, einschließlich <strong>de</strong>s Illiriten verzerrten sich undverschwammen wie zerlaufen<strong>de</strong> Farben. Doch schon nach einemkurzen Augenblick war alles wie<strong><strong>de</strong>r</strong> vorbei. Anthea hätte glaubenkönnen, dass ihre Augen ihr einen Streich gespielt hätten.Allerdings stan<strong>de</strong>n viele Botschafter nun an an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Stelle alsvorher und das bewies, dass tatsächlich irgen<strong>de</strong>twas geschehenwar.Zu <strong>de</strong>njenigen, die sich nicht bewegt hatten, gehörte <strong><strong>de</strong>r</strong> Illirit. Er271


saß unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t vor ihr auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n. Seine Fühler blitzten. „Wirhaben lange beraten.“, begann er. Anthea schaute erstaunt von ihmzu <strong>de</strong>m Sohnen und wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zurück. 'Lange' war ihr die Beratungnicht vorgekommen. Dann erinnerte sie sich daran, was Binareenüber das Alte Volk und die Zeit gesagt hatte. Derweil sprach <strong><strong>de</strong>r</strong>Illirit weiter: „Aber wir sind zu einem Ergebnis gekommen. EinSohne wird dich zu <strong>de</strong>m Tor begleiten und dir zeigen, wie du esabschalten und reaktivieren kannst.“Anthea schloss die Augen und stieß angehaltenen Atem aus. Erstjetzt wur<strong>de</strong> ihr gewahr, wie angespannt sie das Urteil <strong><strong>de</strong>r</strong>Botschafter erwartet hatte und dass sie eigentlich mit einemnegativen Bescheid gerechnet hatte. „Danke, Illirit.“, hauchte sieerleichtert.„Danke mir und <strong>de</strong>n an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Botschaftern zwischen <strong>de</strong>nGenerationen <strong>de</strong>s Universums in<strong>de</strong>m du zu uns zurückkehrst unduns mit <strong>de</strong>inem Rat zur Seite stehst. Aber be<strong>de</strong>nke auch dies, dieEntscheidung ist nicht endgültig. Wir wer<strong>de</strong>n die Gefahr, die dasSolarasystem erreichen wird, beobachten und analysieren, ob sie<strong>de</strong>n Großen Plan wirklich gefähr<strong>de</strong>n kann. Wenn dies <strong><strong>de</strong>r</strong> Fall seinsollte, wird Aldrin auf ewige Zeit abgetrennt, <strong>de</strong>nn die Alternativewäre bedrohlicher für das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen und alle Lebewesenin ihm, bedrohlicher auch für das Alte Volk.“Anthea schluckte. „Von welcher Gefahr sprichst du?“Der Illirit zögerte. „Das darf ich dir noch nicht kundtun.“, hörte sieihn in ihrem Kopf sagen. Der körperlosen Stimme wohne einspürbares Bedauern inne. „Da du zu <strong>de</strong>n Menschen zurückkehrenwirst, ist dir dieses Wissen noch nicht bestimmt.“272


25 – Die Autochtonie„Doch die meisten <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen wollen nichts als Unglauben. Sie sagen:Wir glauben dir nicht eher, bis du uns einen Quell aus <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong> spru<strong>de</strong>lnlassest. O<strong><strong>de</strong>r</strong> dir ein Garten wird aus Palmen und Trauben und in seinerMitte Ströme spru<strong>de</strong>lnd fließen. O<strong><strong>de</strong>r</strong> du über uns <strong>de</strong>n Himmel in Stückestürzen lassest.“Sura 17, 91-94 (Koran)„Sinon? Was zur <strong>Er<strong>de</strong></strong> re<strong>de</strong>st du da?“Ri<strong><strong>de</strong>r</strong>, o<strong><strong>de</strong>r</strong> wie immer er in Wirklichkeit heißen mochte, lächelteSamuel triumphierend an. „Ich bin Agent <strong><strong>de</strong>r</strong> Autochtonie. Ironkhsollte euch erledigen, aber er hat versagt. Aber mir wer<strong>de</strong>t ihr nichtentkommen.“„Die AAA!“, keuchte Gran. „Es sie wirklich gibt.“ Der sterben<strong>de</strong>Mazuko wimmerte einen unverständlichen Protest.„Natürlich, jemand muss doch etwas gegen die Goner und ihreLügen tun. Die Regierung ist viel zu lasch. Sie wird zu stark voneuch unterwan<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Aber wir wer<strong>de</strong>n uns wehren und Argons Ehrewie<strong><strong>de</strong>r</strong>herstellen.“Der Typ ist völlig irre, erkannte Samuel. „Lügen?“ Er zeigte auf <strong>de</strong>ngroßen Hauptbildschirm <strong><strong>de</strong>r</strong> Brücke, wo weiterhin <strong><strong>de</strong>r</strong> massiveMetallzylin<strong><strong>de</strong>r</strong> von Edda zu sehen war. Die flüchten<strong>de</strong>nPiratenschiffe waren zu erkennen, silberne Pünktchen, die aufweißen Rückstoßstrahlen ritten. „Junge, das da beweist dieExistenz <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>!“„Das da“, echote <strong><strong>de</strong>r</strong> Agent, <strong><strong>de</strong>r</strong> sich Sinon nannte: „wird gleichweg sein.“ Wie auf seinen Befehl verging die CAU in einem kurzen,gleißen<strong>de</strong>n Feuerball. Sinon nahm Eddas Selbstzerstörung miteinem bösartigen Lachen zur Kenntnis. „Wir lassen uns keine273


falschen Beweise mehr unterschieben. Wir nicht!“ Er aktivierte dieSteuerungseinheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Drohnen. „Und jetzt die Drohnen. Lauterkleine Kopien von diesem Xenon mit lauter kleinenSelbstzerstörungsmechanismen.“ Mit vor Ungeduld zittern<strong>de</strong>nFingern gab er einen Co<strong>de</strong> ein. „So, jetzt muss ich nur nochbestätigen. Bewun<strong><strong>de</strong>r</strong>t das En<strong>de</strong> all eurer Mühen.“„Narr!“, stöhnte Mazuko mit flackern<strong>de</strong>n Li<strong><strong>de</strong>r</strong>n.„Halt's Maul und stirb endlich!“, schrie Sinon ihn an.„Die Wahrheit... ist größer als...“, mühte sich <strong><strong>de</strong>r</strong> Pirat ab zuerklären: „als...“Sinon schoss ihm zielsicher zwischen die Augen, um ihn zumSchweigen zu bringen. Dabei musste er sich jedoch von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>nAn<strong><strong>de</strong>r</strong>en abwen<strong>de</strong>n. Gran verlor keine Zeit, rannte los und rammte<strong>de</strong>m irren Agenten in die Seite. Samuel eilte hinzu, um <strong>de</strong>m Split zuhelfen. Zu dritt wälzten sie sich über <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n. Sinon war stärkerund im Nahkampf erfahrener als es Samuel <strong>de</strong>m vermeintlichenjungen Goner zugetraut hatte. Umgekehrt verfügte Gran zwar überdie üblichen Bärenkräfte seines Volkes, war es aber durch seinenmönchischen Wer<strong>de</strong>gang nicht mehr gewohnt, davon kämpferischenGebrauch zu machen. Gran o<strong><strong>de</strong>r</strong> Samuel allein hätte Sinonwahrscheinlich <strong>de</strong>nnoch besiegen können. Zusammen war es nureine Frage <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeit, bis sie ihn überwältigen wür<strong>de</strong>n.Doch da löste sich plötzlich ein Schuss aus Sinons Waffe undGran fiel schreiend aus ihrem Knäuel. Sofort hatte Sinon seineBewegungsfreiheit zurück erlangt, sprang behän<strong>de</strong> auf und legteauf Samuel an: „Du warst ein Zweifler, Greenwald, dumm nur, dassdu dich dann doch für die falsche Seite entschie<strong>de</strong>n hast.“ Erdrückte ab.Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> Schuss ging fehl, <strong>de</strong>nn Gran, weiterhin auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>nliegend, trat <strong>de</strong>m Autochtonieanhänger just in diesem Moment die274


Beine weg. Sinon verlor <strong>de</strong>n Halt an <strong><strong>de</strong>r</strong> Waffe, woraufhin diesescheppernd auf <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n fiel und zu Zhas Leiche hinüberrutschte, so als wolle sie zu ihrem ursprünglichen Besitzerzurückkehren. Derweil ging das Gerangel <strong><strong>de</strong>r</strong> drei weiter.Schließlich gelang Gran eher zufällig ein mächtiger Kinnhaken, <strong><strong>de</strong>r</strong>Sinon das Bewusstsein raubte.Samuel richtete sich ächzend auf und half anschließend Gran aufdie Beine. Dessen Mönchskutte war auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Höhe <strong>de</strong>s rechtenOberschenkels zerfetzt, braunes Splitblut durchnässte <strong>de</strong>ngleichfarbigen Wollstoff.„Brauchst du Hilfe?“, fragte Samuel besorgt.„Hai.“, bestätigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Split, meinte jedoch: „Aber wir besser erstverschwin<strong>de</strong>n.“Dem wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprach Samuel nicht. Noch ging er davon aus, dass siesich vergleichsweise gefahrlos entfernen könnten. Die meistenPiraten waren weiterhin unterwegs und auch von <strong>de</strong>njenigen, die anBord geblieben waren, wür<strong>de</strong>n sie vorerst nicht aufhalten. DieBesatzung von Piratenschiffen verän<strong><strong>de</strong>r</strong>te sich beständig. Zweison<strong><strong>de</strong>r</strong>bare Frem<strong>de</strong> riefen da kein großes Misstrauen hervor, selbstwenn <strong><strong>de</strong>r</strong> eine ein Split und verletzt war. Piraten warenSöldnerkreaturen, solange ihnen ihre Geldgeber nichts befahlen,hielten sie sich zurück. Sobald sie aber feststellten, dass ihrAnführer, samt Vize und Leibwächter, tot in <strong><strong>de</strong>r</strong> Zentrale lag, wür<strong>de</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> Mob kaum noch zu halten sein. Bis dahin sollten sie alsomöglichst weit weg sein.Er nahm die Steuereinheit an sich, die immer noch mit einembeharrlichen, gelben Blinken auf die Bestätigung <strong><strong>de</strong>r</strong>Selbstzerstörung wartete. Statt<strong>de</strong>ssen tippte Samuel auf Abbrechenund wies die Drohnen an, ihren ursprünglichen Kurs nach ArgonPrime wie<strong><strong>de</strong>r</strong> aufzunehmen. Danach bot er Gran an, ihn zu stützen,275


und gemeinsam setzten sie sich in Bewegung. Mit einem Blick auf<strong>de</strong>n bewusstlosen Sinon fragte <strong><strong>de</strong>r</strong> Split: „Was wir machen mitihm?“Samuel knurrte: „Na, hier lassen.“ Die Antwort schien Gran nichtzu gefallen. Sie wussten bei<strong>de</strong>, was diese Entscheidung be<strong>de</strong>utete.„Wir können ihn schlecht mitnehmen, o<strong><strong>de</strong>r</strong>?“, rechtfertigte sichSamuel. Gran stimmte ihm wi<strong><strong>de</strong>r</strong>willig zu.„Er beinahe gewonnen hätte.“, bemerkte <strong><strong>de</strong>r</strong> Splitmönchnach<strong>de</strong>nklich, als sie <strong>de</strong>n Korridor erreichten.Samuel nickte. „Ohne seine albernen Kommentare hätte er unsbei<strong>de</strong> zehnmal erschießen können. Sein Fehler ist, dass er unnötigviel re<strong>de</strong>t.“ Der Schmuggler grinste unvermittelt. „So gesehen, warer wohl doch ein echter Goner.“Gran überging die Spitze. „Re<strong>de</strong>n wichtig. Berichten wichtig. Ichwer<strong>de</strong>n über unser Abenteuer berichten.“„Nur das uns vermutlich nieman<strong>de</strong>n glauben wird.“Gran gab ein krächzen<strong>de</strong>s Lachen von sich. „Willkommen in <strong><strong>de</strong>r</strong>Gemeinschaft <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner.“276


26 – Heimat-<strong>Er<strong>de</strong></strong>„Der Weg ist das Ziel.“Buddhismus (Dharma)Joan öffnete die Augen nur kurz und lediglich einen Spalt breit,aber sie bereute es umgehend. Allein die Bewegung <strong><strong>de</strong>r</strong> Li<strong><strong>de</strong>r</strong>schmerzte fürchterlich, während das Licht sich wie eine lange,heiße Na<strong>de</strong>l direkt in ihr Hirn zu bohren schien. Doch dieseEmpfindungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Pein waren nur die Spitze <strong>de</strong>s Eisberges. Auch<strong><strong>de</strong>r</strong> Rest ihres Körpers fühlte sich an als wür<strong>de</strong> er brennen, ihreKnochen schienen zermalmt und das, was sie von ihrem Schä<strong>de</strong>lwahrnahm, konnte sie sich kaum an<strong><strong>de</strong>r</strong>s erklären, als dass dorteine randalieren<strong>de</strong> Rockerban<strong>de</strong> unterwegs gewesen sein musste.Und diese setzte sich ausschließlich aus betrunkenen Splitzusammen. Aber kannten die Split überhaupt Rockerban<strong>de</strong>n? Jedochkonnte sie <strong>de</strong>n Gedanken nicht festhalten.„Ban<strong>de</strong>.“, murmelte sie benommen. Sie war sich ziemlich sicher,dass sie sich noch niemals in ihrem Leben so miserabel gefühlthatte. Und sie konnte sich an etliche Momente entsinnen, da siedasselbe gedacht hatte. Doch keiner dieser Momente kam auch nuransatzweise an das heran, was sie jetzt durchmachte. KeineErinnerung hatte sie hingegen bezüglich <strong>de</strong>ssen, weswegen sie sich<strong><strong>de</strong>r</strong>art zerschlagen fühlte. Aber die Erfahrung lehrte sie, dass es ihrin ein paar Minuten wie<strong><strong>de</strong>r</strong> einfallen wür<strong>de</strong>. Völlige Filmrisse hattesie nur selten. Es sei <strong>de</strong>nn natürlich, dass sie sich mit <strong>de</strong>m, wasauch immer sie gestern getan hatte, endgültig ihrKurzzeitgedächtnis weg gesoffen hätte. Sie lächelte schwach,wogegen ihre Gesichtsnerven umgehend protestierten. Allerdingsnicht schlimmer als befürchtet. Langsam, sehr langsam, flauten die277


unzähligen Schmerzimpulse ab.Aber sie hatte nicht vor, stun<strong>de</strong>nlang herum zu liegen, um sich zuerholen. „Edda, mein Mädchen, lass <strong>de</strong>m Küchenautomaten einenKaffee machen!“Sie wartete auf die emotionslose Bestätigung <strong><strong>de</strong>r</strong> Computerstimme,die sie gera<strong>de</strong> wegen ihres monotonen Klanges immer alsberuhigend empfand. Nun, schränkte sie in Gedanken ein, nichtimmer, vor <strong>de</strong>m Update. Update? Edda antwortete nicht. Auf ihrerLippe schmeckte Joan Blut. Sie öffnete die Augen erneut.Zum ersten Mal nahm sie ihre Umgebung bewusst wahr, doch siebrauchte einige Augenblicke, bis sie sich zurechtfand. Gleichmehrere höchst erstaunliche Dinge stellte sie fest. Es fing damit an,dass sie sich keineswegs in ihrem Bett in ihrer Kabine befand,son<strong><strong>de</strong>r</strong>n auf <strong>de</strong>m Pilotensessel eines kleineren Raumschiffes. VomCockpit her tippte sie auf einen leichteren Frachter o<strong><strong>de</strong>r</strong> einTransportshuttle. Sie war angeschnallt und trug ihren Raumanzug.Letzteres augenscheinlich nicht ohne Grund, <strong>de</strong>nn das Barometeran ihrem Handgelenk zeigte an, dass im Schiff Unterdruckherrschte.Sie hob <strong>de</strong>n Kopf, sagte: „Computer, Positionsbestimmung!“ unddachte im selben Moment, dass dies überflüssig sei. In vielleicht400.000 Kilometern Entfernung sah sie einen Planeten, auf <strong>de</strong>ssenOberfläche ein paar grün umran<strong>de</strong>te blaue Kleckse einenhoffnungslosen Daseinskampf gegen eine Übermacht aus blassemGelb stritten. Unverkennbar Sandwell, <strong><strong>de</strong>r</strong> Wüstenplanet <strong><strong>de</strong>r</strong>Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation.Nath hatte mal gesagt, dort sähe es überall so aus als wäre einStaubsaugerbeutel geplatzt. Kein historisches Zitat auf das dieSandweller son<strong><strong>de</strong>r</strong>lich stolz waren und so fand es sich, wie so vielean<strong><strong>de</strong>r</strong>e <strong><strong>de</strong>r</strong> Zoten, die Nathan R. Gunne so gerne gerissen hatte, in278


keinem Geschichtsbuch wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Es hätte heutzutage ohnehinniemand mehr gewusst, was ein Staubsaugerbeutel wäre.Joan musste daran <strong>de</strong>nken, dass sie gelegentlich versucht hatte,solche Originalzitate von Nath im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheitunterzubringen. Die Goner hatten sie jedoch je<strong>de</strong>s Mal wie<strong><strong>de</strong>r</strong> alsvermeintlich respektlose und bizarre Geschichtsverfälschungenentfernt. Sie blinzelte. Die Goner! Mit einem Male fiel es ihr wie<strong><strong>de</strong>r</strong>ein: die Gonerexpedition, die Piraten, Edda und dasTerraformerupdate, Anthea und das Aldrintor. Sie hatte diese Stacianach Collins gebracht und für sie einen Notruf abgesetzt, damit einaldrianisches Schiff sie von <strong>de</strong>m trostlosen Planeten abholen wür<strong>de</strong>.Danach war sie durch das Tor geflogen. Mit <strong>de</strong>m zweitenTordurchgang en<strong>de</strong>te ihre Erinnerung.Wie war sie hierher gekommen? War Aldrin nun mit <strong>de</strong>m SektorAntigone Memorial verbun<strong>de</strong>n? Joan kontrollierte ihre Anzeigen.Ein an<strong><strong>de</strong>r</strong>es Schiff schien <strong>de</strong>n Sektor gera<strong>de</strong> über das nächsteSprungtor erreicht zu haben. Es war in Funkreichweite. Joankontaktierte es sofort. Auf ihrem Kombildschirm erschien dasaufgedunsene Gesicht eines dicklichen Mannes mit Schlitzaugenund schütterem Haar. Sein Gesichtsausdruck wirkte skeptisch bisreserviert. „Mak Hu von <strong><strong>de</strong>r</strong> AP Ningyo hier, was wollen sie?“ fragteer in einem Ton, <strong><strong>de</strong>r</strong> nach „Ich kaufe Nichts!“ klang.„Aus welchem Sektor kommen sie gera<strong>de</strong>, Hu-san?“Die schmalen Augen ihres Gegenübers weiteten sich kurz inerstaunen. „Wie?“ Dann drehte er sich in seinem Pilotensessel um,so als wären die Sternensysteme, die er auf seiner Reise passierthatte, dort hinten noch irgendwo zu sehen. Als er wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in dieKamera sah, antwortete er: „Na, vom Roten Hauptquartier. Was<strong>de</strong>nken sie <strong>de</strong>nn, wohin dieses Tor führt?“ Mak Hus Blick wan<strong><strong>de</strong>r</strong>tekurz zur Seite, offenbar zu seinem Gravidar, von <strong>de</strong>m er die Daten279


<strong>de</strong>s Shuttles ablas. „Ah, ich seh schon: ADF Crystal Sea.“, sagte erhöhnisch. Dann murmelte er noch etwas, dass Joan als „unfähigealdrianische Baka“ zu verstehen meinte.Die Hydra wollte ihm gera<strong>de</strong> ein Beispiel ihrer berüchtigtenSchlagfertigkeit an <strong>de</strong>n Kopf werfen, da weiteten sich die Augen <strong>de</strong>sDicken erneut und er fragte mit verän<strong><strong>de</strong>r</strong>tem Tonfall: „Brauchen sieHilfe?“Joan lag auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Zunge: „Ja, und zwar die, die man 'professionelleHilfe' nennt.“ Statt<strong>de</strong>ssen sagte sich sarkastisch: „Sie meinen, ichsäße vielleicht nicht nur zum Spaß mit Helm und in vollerRaummontur in meinem Cockpit? Richtig Hu, ich habe keineBordatmosphäre.“ Sie überflog ihre Anzeigen und ergänzteseufzend: „Und ich glaube, ansonsten geht es meinem Schiff auchnicht so toll.“„Warten sie, ich komme längsseits.“, bot sich Hu an: „Bereiten siealles für ein Schiff-zu-Schiff-Dockingmanöver vor, sofern sie dazunoch die Möglichkeiten haben.“Joan machte ein paar Befehlseingaben und bestätigte. „Danke,dann bis gleich. Crystal Sea En<strong>de</strong>!“Sie sah noch, dass Mak Hu etwas verwirrt auf ihr abruptesBeen<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Verbindung reagierte, bevor sein Gesicht vom Monitorverschwand. Aber sie musste nach<strong>de</strong>nken. Die Torverbindungenhatten sich also nicht verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, zumin<strong>de</strong>st nicht in diesem Teil <strong>de</strong>sAlls. Die Frage blieb also bestehen, wie war sie hierher gekommen?Eine Fehlfunktion <strong>de</strong>s aldrianischen Sprungtors? Dadurch bedingt,dass sie es eventuell genau in <strong>de</strong>m Moment passiert hatte, als dasAlte Volk die Verbindung geän<strong><strong>de</strong>r</strong>t – o<strong><strong>de</strong>r</strong> Anthea das Torabgeschaltet hatte? Ein missglückter Tortransit könnte auch <strong><strong>de</strong>r</strong>Grund für ihre miserable körperliche Verfassung sein. Vorläufigerschien ihr dies die plausibelste Erklärung zu sein. Eine Bessere280


wür<strong>de</strong> ihr in <strong>de</strong>n nächsten Minuten auch nicht mehr einfallen, alsoverschob sie weitere Überlegungen in dieser Angelegenheit aufspäter, und begab sich zur Mannschleuse.Das Dockingmanöver verlief ohne Schwierigkeiten. Mak Hu fehltendie Möglichkeiten, ihre Bordatmosphäre zu ersetzen, doch er bot an,sie und ihre Habseligkeiten zur nächsten Han<strong>de</strong>lsstationmitzunehmen, wo sie sich nach einer Bergungsmannschaftumsehen könnte. Joan nahm dankend an und erklärte, dass sie anHabseligkeiten nur das besäße, was sie am Leibe trage. Hu nicktemitfühlend und verständnisvoll, während ihm gleichzeitiganzusehen war, dass die Situation sein Begriffsvermögen überstieg.Dass jemand, <strong>de</strong>m ein ganzer Transporter zur Verfügung stand,keinerlei Besitztümer mit sich führte, ging augenscheinlich überseinen Horizont. Er stellte <strong>de</strong>nnoch keine Fragen und wies Joaneine kleine Passagierkabine zu.Derweil Joan erleichtert <strong>de</strong>n auf Dauer recht unbequemenRaumanzug ablegte, hörte sie noch, wie Mak Hu draußen auf <strong>de</strong>mGang seinem Schiffscomputer befahl, ihn umgehend zu informieren,wenn 'sein Gast' das Zimmer verließe. Wirklich geheuer war sie ihmnicht, erkannte die Hydra amüsiert.Er hatte freilich auch Grund misstrauisch zu sein. Trotz allerWorte, die sie gewechselt hatten, hatte sie sich nicht vorgestellt. Siemusste sich zunächst Klarheit darüber verschaffen, was sie alsNächstes tun wollte. Bis dahin wollte sie sich nach Möglichkeitnicht zu erkennen geben, sich aber auch nicht hinter einer falschenI<strong>de</strong>ntität verstecken. Sie war eine Schiffsbrüchige, was für das Erstereichen sollte. Doch sie brauchte einen Plan. Joan begann daherzuerst einmal mit einer Inventur. Den Taschen ihrer Weste undihrer Hose entnahm sie ihre Brille, welche die Strapazen <strong><strong>de</strong>r</strong> letztenTage nicht überstan<strong>de</strong>n und zersplittert war, ein Taschenmesser,281


ihren Dienstausweis vom United Space Command <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Er<strong>de</strong></strong>, einbereits benutztes Taschentuch, das sie umgehend <strong>de</strong>mMüllverwerter <strong><strong>de</strong>r</strong> Kabine anvertraute, einen Datenkristall und zweiNotizzettel, einer mit Noten und einer mit <strong>de</strong>n technischen Dateneines von Eddas Energiekonvertern, <strong>de</strong>n sie hatte reparieren wollen,doch dann vergessen hatte. Die Tasche ihres Raumanzugesergänzte das Sammelsurium noch um ein tragbares Messgerät,einen Universalwerkzeugschlüssel und die Eichel, die Anthea vonEdda gerettet hatte.Sie hatte die Sachen alle or<strong>de</strong>ntlich nebeneinan<strong><strong>de</strong>r</strong> auf <strong>de</strong>m Bettaufgereiht und besah sie sich in Ruhe. Wie sie gehofft hatte, nahmin ihren Kopf nach und nach ein Plan Gestalt an.Die Sichel <strong>de</strong>s Mon<strong>de</strong>s Lunas stand nur dünn wie ein Haar amNachthimmel von Argon Prime. Die Sterne um sie herum schwiegenfast zur Gänze, zu stark strahlte Argonia City selbst zu diesermitternächtlichen Stun<strong>de</strong> eigenes Licht aus. Doch <strong><strong>de</strong>r</strong> rechteckigeInnenhof <strong>de</strong>s Mausoleums ruhte in <strong>de</strong>n schwarzen Schatten seinerhohen Mauern. Ein Gefühl von Pietät, das man ansonsten aufArgon nur noch selten antreffen konnte, bewahrte zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>sNachts die Ruhe dieses Ortes nationalen Ge<strong>de</strong>nkens.Umso entsetzter wären die Wahrer von Pietät und Nationalstolzgewesen, wenn sie die schwarz vermummte Gestalt gesehen hätten,die mit rußgeschwärztem Gesicht und katzenhafter Eleganz durchdas Säulen umringte Geviert schlich und urplötzlich anfing, wie einTeenager zu kichern. Doch sie presste sich selbst die Hand vor <strong>de</strong>nMund, bis <strong><strong>de</strong>r</strong> Lachreiz abgeklungen war.„Oh Nath, soviel Spaß hatte ich nicht mehr seit wir damals insBüro <strong>de</strong>s Verteidigungsministers eingebrochen sind.“, flüsterte sieund stieß <strong>de</strong>n Spaten ein weiteres Mal in die trockene <strong>Er<strong>de</strong></strong>. „Kannst282


du dir eigentlich vorstellen, wie schwer man an eine schwarzeSchaufel kommt?“, fuhr sie leise fort. Das sinnlose Dahinre<strong>de</strong>n hieltihre Nervosität im Zaum, ohne das angenehme Bauchkribbeln <strong><strong>de</strong>r</strong>Aufregung zu beeinträchtigen. „Und dann fragt mich <strong><strong>de</strong>r</strong> Verkäufer:wer braucht schon eine schwarze Schaufel? Als ob das ein Grundwär'. Zwei Etagen tiefer beim Spielzeug gab's rosa Plüschslotrakhs.Jetzt frag' ich dich, wer braucht rosa Plüschslotrakhs? Ach so, duweißt ja gar nicht was ein Slotrakh ist. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> typisch, einfachsterben, bevor man die Split...“ Das Blatt <strong><strong>de</strong>r</strong> Schaufel stieß aufeinen harten Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand. „Ah, da bist du ja!“Zwei weitere Schaufelwürfe genügten, um die Urne so weit frei zulegen, dass Joan sie herausheben konnte. Vorsichtig, fast zärtlichstrich sie die restliche <strong>Er<strong>de</strong></strong> von <strong>de</strong>m stahlblauen Metallgehäuse.„Nath, ich müsste lügen, wenn ich sagte: 'Gut, siehst du aus!'. Aberimmerhin: Du hast dich in <strong>de</strong>n letzten 250 Jahren kein bisschenverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Wer kann das schon von sich behaupten?“Sie wollte lachen, aber es ging nicht. Heraus kam statt<strong>de</strong>ssen einSchluchzen. „Ich... Es tut mir leid, dass ich dich die ganze Zeit übernicht besucht habe. Ich...“ Tränen liefen ihre Wangen hinunter undzerteilten ihr rußverschmiertes Gesicht mit zwei hellen Linien. „Ichkonnte nicht. Aber ich hab' nicht vergessen, was du sagtest, als wirdas erste Mal hier waren.“ Sie versuchte seinen üblichen,brummigen Tonfall nachzuahmen: „Ja, ja, schön! Aber begrabenwer<strong>de</strong>n will ich hier nicht.“ Und auf einmal war es ihr möglich, zulachen.Schnell schüttete sie das Loch wie<strong><strong>de</strong>r</strong> zu. Doch als die Hälftegeschafft war hielt sie kurz inne, zog die Eichel aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tasche undließ sie in die Mul<strong>de</strong> fallen.Getragen von ihren Antigravitationskissen erhob sich die ADF283


Crystal Sea über das weitläufige Lan<strong>de</strong>feld B. Bis die zulässigeMin<strong>de</strong>stflughöhe zum Start <strong><strong>de</strong>r</strong> Haupttriebwerke erreicht war, ging<strong><strong>de</strong>r</strong> Aufstieg nur in dieser Form und entsprechend langsam. Joannutzte die Gelegenheit die emsige Geschäftigkeit <strong>de</strong>s Raumhafensund die Silhouette Argonia Citys in sich aufzunehmen. Argonia, dieGroßstadt, Argonia, die Hauptstadt, Argonia, die Zukunft, <strong><strong>de</strong>r</strong> Stolz<strong><strong>de</strong>r</strong> Argonen und das sichtbare Symbol <strong><strong>de</strong>r</strong> Überlegenheit einerWelt, die bald, sehr bald – die Hydra zweifelte nicht daran – diemenschlichen Welten endgültig einen wür<strong>de</strong>. Wie oft hatte sich Joanin <strong>de</strong>n strahlen<strong>de</strong>n Lichtern <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt gesonnt, wie oft sich vonihrem ewigen Summen <strong>de</strong>s Lebens tragen lassen, wie oft hatte sieim Dreck ihrer finstersten Gassen gelegen, wie oft hatte Joan siegesucht, geliebt, geflucht und gehasst? Joan hob <strong><strong>de</strong>r</strong> Skyline eineGrußhand entgegen und verabschie<strong>de</strong>te sich von ihr für immer.Sie drehte <strong>de</strong>n Kopf herum und sah in die an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Richtung, zumMeer hin. Dort war in <strong>de</strong>n letzten Tagen eine ganz eigene Skylineentstan<strong>de</strong>n, die sich mit jener <strong><strong>de</strong>r</strong> Stadt durchaus messen konnte.Unter militärischer Bewachung stan<strong>de</strong>n dort die ersten sechzehnTransportdrohnen Eddas aufrecht in Reih und Glied wie eineversteinerte Armee Riesen. Hier unten auf einem Planeten kam ihreGröße erst wirklich zur Geltung. Der Rest von ihnen kreiste noch imOrbit um <strong>de</strong>n Planeten. Obwohl das Design <strong><strong>de</strong>r</strong> gewaltigen Zylin<strong><strong>de</strong>r</strong>ein<strong>de</strong>utig <strong><strong>de</strong>r</strong> Terraformerflotte zugeordnet wer<strong>de</strong>n konnte,wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprach die Regierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Darstellung <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner über <strong>de</strong>nUrsprung <strong>de</strong>s Getrei<strong>de</strong>s. Offiziell han<strong>de</strong>lte es sich um die Lieferung,welche die Regierung <strong>de</strong>s Freistaates Solara <strong>de</strong>n Argonenzugesichert hatte. Wieso die Aldrianer dafür auf Xenontechnologiezurückgegriffen hätten, so hieß es in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erklärung <strong><strong>de</strong>r</strong> Regierungweiter, wisse man nicht, wür<strong>de</strong> die Transportbehältnisse abersicherheitshalber nach <strong>de</strong>m Löschen <strong><strong>de</strong>r</strong> Fracht umgehend284


vernichten.Erfahren wie sie war, erkannte die Hydra mühelos die Perfidiedieser Stellungnahme. Denn da man <strong>de</strong>n Kontakt zu Aldrin verlorenhatte, gab es nieman<strong>de</strong>n mehr, <strong><strong>de</strong>r</strong> dies <strong>de</strong>mentieren konnte.Niemand außer <strong>de</strong>n Gonern, doch <strong><strong>de</strong>r</strong>en Geschichte vom friedlichenXenonschiff Edda, vom ominösen Geheimbund <strong><strong>de</strong>r</strong> AAA und nichtzuletzt von ihrer, <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydras, Rückkehr, war so fantastisch, dasssie sogar von Teilen <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbewegung selbst in Zweifel gezogenwur<strong>de</strong>. Die Goner hatten ihr Ziel erreicht, Argon Prime vor einerHungersnot zu bewahren, Anthea hatte ihr Ziel erreicht, Aldrin <strong>de</strong>margonischen Zugriff zu entziehen. Zusammen hatten sie einen Kriegverhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Doch die Goner hatten keine Glaubwürdigkeit und keineDankbarkeit gewonnen und Aldrin war vielleicht für immer verloren.Die Wirklichkeit war eben kein Groschenroman. Sieg undNie<strong><strong>de</strong>r</strong>lage, wer kannte die Grenzen? Allerdings wur<strong>de</strong> sich Joan,während sie all dies bedachte, auch bewusst, dass es ihr letztlichgleichgültig war. Sie hatte sich die Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Menschen zu lange aufArmeslänge gehalten, um sich emotional noch mit ihrem Wer<strong>de</strong>nund Wehe verbun<strong>de</strong>n zu fühlen.Hinter <strong>de</strong>m Wald <strong><strong>de</strong>r</strong> schwarzen Drohnen begann Sonra gera<strong>de</strong>ihren Aufstieg über <strong>de</strong>n Horizont und legte das feurige Rot <strong><strong>de</strong>r</strong>Morgendämmerung über das Japanische Meer. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Ferneerkannte Joan die dunklen Konturen von Reef Galvestone, etwasweiter glänzte die Siloplattform von DelexCrops in <strong><strong>de</strong>r</strong> Morgensonne.Winzige, schwarze Pünktchen kamen von dort und ließen sich beimNäherkommen allmählich als Transportgleiter erkennen. DasSaatgut musste so schnell wie möglich verteilt wer<strong>de</strong>n.Sie hatte die Min<strong>de</strong>stflughöhe erreicht und ging auf maximalenSchub, so dass die Crystal Sea innerhalb weniger Minuten <strong>de</strong>nroten Morgenhimmel durchpflügte und in das Reich <strong><strong>de</strong>r</strong> Sterne285


zurückkehrte. Der Bordcomputer fragte, welchen Kurs ereinschlagen solle und Joan schob ihren Datenkristall in <strong>de</strong>nentsprechen<strong>de</strong>n Anschluss. Dann übertrug sie die Zielkoordinatenvon <strong>de</strong>m alten Datenträger in <strong>de</strong>n Navigationsspeicher <strong>de</strong>s Schiffes.„Da wollen wir hin, Kurs berechnen und los!“„Warnung!“, mel<strong>de</strong>te das Elektronengehirn: „Entlang dieser Routeexistieren keine Sprungtore. Erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>liche Flugzeit beiBeibehaltungen dieses Kurses beträgt 538 Jahre, 67 Tage und 4Stun<strong>de</strong>n.“Die Hydra zuckte die Achseln. „Egal.“ Dann stand sie auf, nahmdie Urne vom Copilotensitz und ging mit ihr nach hinten: „Komm,Nath, ich bring dich nach Hause. Wenn du versprichst, <strong>de</strong>ine Fingerbei dir zu behalten, darfst du auch mit in meineKälteschlafkammer.“286


EpilogIm Jahre 774 <strong><strong>de</strong>r</strong> Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation(2944 AD nach Rechnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner)Als prominente Abenteuerin und Diplomatin war Melissa Banksfür vielerlei bekannt. Ihre Vorliebe für alte Dinge gehörte eher nichtzu diesen öffentlich thematisierten Aspekten ihrer Persönlichkeit.Selbst wenn sie ein weiteres Mal ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s archäologischesArtefakt aufgespürt hatte, blieb dieser Teil ihres Wesens nur beiwenigen interessierten Mediennutzern hängen. Denn man schriebihre diesbezüglichen Erfolge mehr ihrer Abenteuerlust <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>mInteresse für die betreffen<strong>de</strong>n Gegenstän<strong>de</strong> selbst zu, was in ersterLinie die son<strong><strong>de</strong>r</strong>baren Vorstellungen aufzeigte, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Laiebezüglichen archäologischer Arbeit hegte.Sie wusste sehr wohl, wie sich <strong><strong>de</strong>r</strong> durchschnittliche BürgerMelissa Banks vorstellte. In etwa als eine Art hyperaktive Walküre,die sich tagein tagaus mit Split und Parani<strong>de</strong>n prügelte, Kha'akjagte, Xenonschiffe enterte, mit Boronen um die Wette schwammund selbst die gerissensten Teladi über <strong>de</strong>n Tisch zog. Nun gut, diemeisten Menschen wussten sehr wohl, dass dies ein Zerrbildmedialer Berichterstattung war. Aber <strong>de</strong>nnoch schien sich niemandMelissa als stille und gesittete Museumsbesucherin vorstellen zukönnen.Sie ging <strong>de</strong>swegen sehr gerne in Museen. Natürlich erkannte mansie. Das führte zu einem festen Ritual. Die Leute stutzten, gingenweiter, drehten sich nochmals um und schüttelten <strong>de</strong>n Kopf. Indiesen Momenten konnte sie je<strong>de</strong>n Gedanken dieser Menschen klarlesen: „Ist das nicht Melissa Banks? Nein, das kann nicht sein! Aberdiese Ähnlichkeit, unglaublich.“287


Ihr bevorzugtes Museum auf Argon Prime war das ArgonischeMuseum <strong><strong>de</strong>r</strong> Grün<strong><strong>de</strong>r</strong>gil<strong>de</strong>, das sich seit <strong><strong>de</strong>r</strong> offiziellen Anerkennung<strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbewegung vor dreißig Jahren fest in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hand gonerischerHistoriker befand und kürzlich in die ehrwürdigen Hallen <strong>de</strong>sGunne-Mausoleums umgezogen war. Der Fundus geschichtlicherExponate war so umfangreich, dass er niemals ganz gezeigt wer<strong>de</strong>nkonnte. Die Ausstellung wechselte daher ständig und bei je<strong>de</strong>mBesuch ent<strong>de</strong>ckte Melissa etwas ihr Neues.Drei dieser neu ausgestellten Exponate fesselten diesmal ihreAufmerksamkeit beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s. Da war das Original <strong><strong>de</strong>r</strong> erstenVerfassung <strong><strong>de</strong>r</strong> Freien Liga, die Christiane Hatikvah handschriftlichauf einer einzigen Seite Papier festgehalten hatte. Da war einRaumanzug, <strong>de</strong>n Ariadne Ganescu während ihrer Forschungsreisengetragen hatte. Und da war <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausweis <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra. Gehört hatteMelissa schon von <strong>de</strong>m berühmten Stück und sie kannte es ausHolos, in echt gesehen hatte sie es jedoch bisher nicht. JoanMitchells originaler Dienstausweis <strong><strong>de</strong>r</strong> Erdstreitkräfte. Wie diesesDokument <strong><strong>de</strong>r</strong> legendären Langlebigen und engen Vertrauten vonNathan R. Gunne in <strong>de</strong>n Besitz <strong><strong>de</strong>r</strong> Goner gelangt war, warunbekannt. Doch wie um alles, was mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Hydra inZusammenhang stand, existierte eine Legen<strong>de</strong> dazu. Dieser zufolgehatte eine schiffsbrüchige Aldrianerin <strong>de</strong>n Ausweis gegen einenagelneue Kälteschlafkammer eingetauscht, nach<strong>de</strong>m es ihr nichtmehr möglich gewesen war, zu ihrer Heimat zurückzukehren. Dasganze soll sich im Jahre 334 zugetragen haben, unmittelbar nach<strong>de</strong>m Verschwin<strong>de</strong>n Aldrins.Diese Geschichte erinnerte Melissa daran, dass sie nicht allein alsBesucherin hierher gekommen war. Ein Blick auf ihre Armbanduhrzeigte ihr, dass sie bereits im Begriff war, sich zu verspäten. So risssie sich <strong>de</strong>nn von <strong>de</strong>n Zeugnissen <strong><strong>de</strong>r</strong> jüngeren288


Menschheitsgeschichte los und machte sich ohne hässliche Hast,aber doch auch ohne Umwege auf <strong>de</strong>n Weg in <strong>de</strong>n Innenhof <strong>de</strong>sMausoleums, wo sie mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewahrerin Nira Meholm verabre<strong>de</strong>twar. Sie ent<strong>de</strong>ckte die hochgewachsene, brünette Gonerin auchsogleich unweit <strong><strong>de</strong>r</strong> vierhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tjährigen Eiche, unter <strong><strong>de</strong>r</strong> angeblichNathan R. Gunne begraben sein sollte. Wie je<strong>de</strong>n Tag wur<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Baum von zahlreichen Touristen umringt, die sich gegenseitig vor<strong>de</strong>m knorrigen Baumstamm holografierten.Auch Nira Meholm hatte Melissa schon ent<strong>de</strong>ckt und winkte siefreundlich näher: „Konichiwa, Banks-san. Wie schön, dass sie es sokurzfristig einrichten konnten. Kommen sie.“ Nira führte ihren Gastzu einer Bank etwas abseits, wo sie sich in Ruhe unterhaltenkonnten.„Sie sagten mir in ihrer Nachricht,“, begann Melissa sogleich, <strong>de</strong>nnsie hatte diesem Gespräch mit großer Neugier<strong>de</strong> entgegen gesehen:„dass sie im Buch <strong><strong>de</strong>r</strong> Wahrheit bislang unbekannte Hinweise aufdas Schicksal <strong><strong>de</strong>r</strong> Prinzessin Anthea von Aldrin gefun<strong>de</strong>n haben?“Die Bewahrerin wiegte unschlüssig <strong>de</strong>n Kopf: „Vielleicht. In ersterLinie haben wir Hinweise auf <strong>de</strong>n Verbleib ihres berühmtenOhrrings gefun<strong>de</strong>n. Sie wer<strong>de</strong>n sich <strong>de</strong>nken, dass unsereGemeinschaft vieles darum gäbe, dieses Schmuckstück zubesitzen.“ Melissa nickte. „Aber über die Prinzessin selbst gibt eseventuell auch Hinweise.“, fuhr Nira Meholm fort: „Ein Bericht einesgewissen Gran t'Nnk über eine Art archäologische Expedition. Wirhaben diesen Text bislang als apokryph behan<strong>de</strong>lt und vielleichtsollten wir dies auch weiter tun.“Melissa lauschte <strong>de</strong>n Ausführungen Niras interessiert und stelltehier und da Verständnisfragen. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat zeigte sich, dass dieHinweise auf <strong>de</strong>n Ohrring konkreter waren als <strong><strong>de</strong>r</strong> Rest, doch dieserkönnte möglicherweise helfen, weitere Rätsel zu lösen, und auf289


diese Weise dazu beizutragen, aufzuklären, was mit Aldrin undseiner Prinzessin geschehen war. Am En<strong>de</strong> übernahm Melissabegeistert <strong>de</strong>n Auftrag, erst das Kleinod und anschließend dasverschollene Sprungtor nach Aldrin aufzuspüren.Zufrie<strong>de</strong>n geleitete die Bewahrerin Melissa zum Ausgang <strong>de</strong>sMuseums. Als sie an <strong><strong>de</strong>r</strong> Eiche vorbei kamen, meinte Letztere mitBlick auf die Menge <strong><strong>de</strong>r</strong> Besucher: „Es freut mich, dass die Gonerwie<strong><strong>de</strong>r</strong> so einen Zulauf haben. Ich weiß noch, wie viele als die <strong>Er<strong>de</strong></strong>wie<strong><strong>de</strong>r</strong>ent<strong>de</strong>ckt wur<strong>de</strong> meinten, dass die Goner am En<strong>de</strong> seien, nunda man die Erinnerung an unsere Urheimat nicht mehr hütenmüsse.“Nira Meholm lächelte: „Nun, aber das war zu kurz gedacht. Je<strong>de</strong>Sekun<strong>de</strong> erschafft neue Erinnerungen, die es zu bewahren gilt. Je<strong>de</strong>Zukunft hat ihre eigene Vergangenheit.“290


Nachwort – Fragen über Fragen„Oh, du, <strong><strong>de</strong>r</strong> du dieses Werk gelesen hast, bete zu Gott, Erbarmen mitseinem Verfasser zu haben.“Abu Ubaid al-Djuzdjani (11. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t)<strong>Nod</strong> ist ein Roman, <strong><strong>de</strong>r</strong> viele Fragen aufwirft, mehr und zum Teilan<strong><strong>de</strong>r</strong>e als ich erwartet hatte. Eine Frage, die mir bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeitdaran immer wie<strong><strong>de</strong>r</strong> gestellt wur<strong>de</strong>, war die, ob ich wirklich glaube,man könne Salz gentechnisch erzeugen? Das ist wissenschaftlichgesehen – und es soll ja schließlich Science Fiction sein – keinebelanglose Frage. Salz ist ein Mineral, wie sollte man es mitorganischer Materie, sprich mit Kohlenwasserstoffen, nachbil<strong>de</strong>n?Dabei ist aber zu be<strong>de</strong>nken, dass die eigens nie genannte Substanzim 'Delex LC 34'-Weizen kein Salz ist, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n ein Ersatzstoff.Dieser Stoff erfüllt alle Funktionen, die für gewöhnlich im Körperdurch Salz geleistet wer<strong>de</strong>n. Nicht Salz und seine mineralogischenEigenschaften wer<strong>de</strong>n reproduziert, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n die biochemischenProzesse, die Salz ermöglicht. Biochemische Prozesse aber lassensich gentechnisch zweifellos manipulieren. Und wäre die organischeProduktion eines Salzersatzes wirklich soviel erstaunlicher als dieWun<strong><strong>de</strong>r</strong>, zu <strong>de</strong>nen organische Materie von Natur aus fähig ist? DassPflanzen aus Licht allein Nahrung erzeugen können? Dass wirAnsammlungen von Kohlenstoff-Wasserstoffmolekülen leben? Fürdiejenigen, die hier <strong>de</strong>nnoch mit 'ja' antworten - was legitim ist -verweise ich darauf, dass es auch Science Fiction sein soll.Eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Frage war die, warum ich eine Geschichte geschriebenhabe, die so lange vor <strong>de</strong>n Spielen angesie<strong>de</strong>lt ist. Nun, dieeinfachste Antwort darauf ist die Gegenfrage: „Warum nicht?“ Wasspricht dagegen? Es bot sich zu<strong>de</strong>m aber auch einfach an. Denn als291


ich meine letzte Geschichte abschloss, war noch unklar, wohin sichdas X-Universum bewegen wür<strong>de</strong>. Je<strong><strong>de</strong>r</strong> Entwurf einer Zukunftdieser Welt(en) musste Gefahr laufen, vom offiziellen Materialeingeholt und wi<strong><strong>de</strong>r</strong>legt zu wer<strong>de</strong>n. Wenn aber die Zukunft <strong><strong>de</strong>r</strong>Spielwelt nicht Gegenstand <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschichte sein konnte, lag es nahe,es mit ihrer Vergangenheit zu versuchen.Recht schnell zeigte sich dabei das Potenzial, eine Zwischenstationim Wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s X-Universums zu gestalten, mit all ihren Facetten.Eine Argon Fö<strong><strong>de</strong>r</strong>ation zu zeigen, die erst noch zusammen fin<strong>de</strong>nmuss, die zwar schon eine Einheit ist, aber noch keine Einheitausstrahlt. Eine Zeit, zu <strong><strong>de</strong>r</strong> sich noch keine neue übergeordneteI<strong>de</strong>ntität gebil<strong>de</strong>t hat, sich noch nicht je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch schlicht alsArgone versteht, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n sich viele ihrer individuellen familiärenWurzeln noch bewusst sind, seien diese nun französisch, japanisch,walisisch o<strong><strong>de</strong>r</strong> jüdisch.„Je<strong>de</strong> Zukunft hat ihre eigene Vergangenheit.“ In <strong><strong>de</strong>r</strong>Zukunftsvision X-Universum bleiben viele Aspekte unerklärt undrätselhaft, weil sie nur über die Vergangenheit dieser Zukunfterklärt wer<strong>de</strong>n können. Woher kommt <strong><strong>de</strong>r</strong> Mythos von <strong><strong>de</strong>r</strong>'Prinzessin Anthea', wenn Anthea Demetres gar keine Prinzessinwar? Und wieso neigen die Goner, die doch formal keineReligionsgemeinschaft darstellen, zu zahllosen explizit religiösklingen<strong>de</strong>n Ausdrucksformen, Urteilen und Vorstellungen? Aufdiese und an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Fragen habe ich versucht, Antworten zu fin<strong>de</strong>n.Damit wur<strong>de</strong> ein zentraler Gegenstand dieses Romans genannt:Religion. Das dürfte viele verwun<strong><strong>de</strong>r</strong>t und vielleicht sogar gestörthaben. Religion, zumal reale Religionen, und Science Fictionberühren sich selten. Die Anhänger dieses Genres sind zumeistAtheisten. Das ist meines Erachtens kein Zufall. Denn wer nichtdarauf bauen kann, dass irgendwann das Reich Gottes anbricht,292


<strong><strong>de</strong>r</strong> Messias o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Prophet erscheint o<strong><strong>de</strong>r</strong> wir alle eines Tages imNirwana verschwin<strong>de</strong>n, für <strong>de</strong>n kann alle Hoffnung nur in <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschheit selbst und ihrem Fortschritt liegen. Die Science Fictionerschafft in diesem Sinne die Evangelien und Utopien <strong><strong>de</strong>r</strong> Atheisten.Und in dieser ihrer utopischen Zukunft ist kein Platz mehr fürReligionen. Denn die Überwindung <strong><strong>de</strong>r</strong> Religion gehört zumatheistischen Fortschrittsbegriff zwingend dazu, ist ihr Credo undihr Dogma.Aber: So weit wir die Menschheitsgeschichte fassen können, fin<strong>de</strong>nwir zu allen Zeiten und in allen Kulturen Religion, bis heute. DiePerspektive <strong>de</strong>s mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Mitteleuropäers auf dieses Themas istmitunter recht verquer. Er läuft Gefahr, die Ten<strong>de</strong>nz in seinereigenen Lebenswelt be<strong>de</strong>nklich zu verallgemeinern. Fakt ist aber,dass die Religion und insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e die Weltreligionen noch immerauf <strong>de</strong>n Vormarsch sind. Christentum und Islam gewinnen jährlichin Afrika und Asien mehr Anhänger hinzu als sie in Europa undAmerika verlieren. Man muss das nicht gut fin<strong>de</strong>n. Es besteht auchkein Grund zu glauben, diese Entwicklung wür<strong>de</strong> sichuneingeschränkt fortsetzen, ignorieren sollte man sie aber auchnicht. Glauben und Wissen. Betrachtet man <strong>de</strong>n Status Quo <strong><strong>de</strong>r</strong>Menschheit, so scheint <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaube daran, dass es in einem halbenJahrtausend keine Anhänger <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Religionen mehr gebenwird, merklich irrationaler als <strong><strong>de</strong>r</strong> Glaube daran, dass Christentumet cetera dann noch bestehen.Gut, mag da mancher sagen, sicher wird es dann noch immerreligiöse Menschen geben. Aber doch nicht so viele! Nun, wie vielesind es <strong>de</strong>nn? Auf <strong>de</strong>n ersten Blick erscheint die Welt von <strong>Nod</strong> fastausschließlich von Religionsanhängern bevölkert zu sein. Dabei giltes jedoch zu be<strong>de</strong>nken, dass <strong><strong>de</strong>r</strong> Roman nur einen kleinenAusschnitt <strong><strong>de</strong>r</strong> menschlichen Gesellschaft dieser Zukunft in Szene293


setzt. Fast alle Figuren gehören <strong><strong>de</strong>r</strong> Gonerbewegung an o<strong><strong>de</strong>r</strong>entstammen doch zumin<strong>de</strong>st ihrem Umfeld. Und die Erkenntnis LeRequins ist unbestreitbar: Im X-Universum muss ein Goner keinreligiöser Mensch sein, aber ein religiöser Mensch muss im X-Universum fast zwingend ein Goner sein.Kenner <strong>de</strong>s X-Universums und seiner Historie mögen sichvielleicht gewun<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben, wieso ich nicht die alten Schreibweisen<strong><strong>de</strong>r</strong> Planeten und Völker verwandt habe (also R-Gunne Prime,Gunner usw.). Ich vermute allerdings, dass die wenigsten Leservertraut sein dürften mit diesen Schreibweisen, <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n,weshalb sie sich verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t haben, ja überhaupt mit <strong>de</strong>m Umstand,dass im 'Argonischen' eine Lautverschiebung stattgefun<strong>de</strong>n hat.Dies hätte von <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Seite an wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holt umständlicheErklärungen erfor<strong><strong>de</strong>r</strong>t, die <strong>de</strong>m Lesefluss und <strong>de</strong>m Fortgang <strong><strong>de</strong>r</strong>Handlung im Wege gestan<strong>de</strong>n hätten. Also habe ich davonabgesehen.Die Frage, woher man <strong>de</strong>nn die I<strong>de</strong>en nähme, wird Autoren gerngestellt, doch die Antwort ist je<strong>de</strong>s Mal gleich und gleich trivial.I<strong>de</strong>en kommen von selbst, ja sie kommen haufenweise. Was fehlt istdie Zeit o<strong><strong>de</strong>r</strong> die Möglichkeit, von diesem Haufen etwas abzutragen.In meinem persönlichen I<strong>de</strong>enhaufen reifte <strong>Nod</strong> schon seit einigerZeit heran. Grundlage sind letztlich drei Passagen in <strong>de</strong>n Romanenvon Helge Kautz, die dort eher am Ran<strong>de</strong> einfließen, <strong><strong>de</strong>r</strong>enImplikationen mich jedoch auf unterschiedlichste Weise faszinierthaben. Diese Passagen sind:Farnhams Legen<strong>de</strong>, S. 250: Erst jetzt begann sie, <strong>de</strong>n Geschmack<strong>de</strong>s Wassers auf ihren Lippen wahrzunehmen. Etwas war nicht inOrdnung. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, was nicht stimmte.Dies war nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> Atlantik. Nicht die <strong>Er<strong>de</strong></strong>. Das Wasser war nicht294


salzig.Nopileos, S. 238: „Als Goner ist es Ihnen freigestellt, an Jahwe zuglauben, o<strong><strong>de</strong>r</strong> von mir aus auch an die heilige Dreidimensionalität, solange Sie nur die geschichtlichen Fakten über die <strong>Er<strong>de</strong></strong> und unsereAbstammung anerkennen.“Hüter <strong><strong>de</strong>r</strong> Tore, S. 267f: „Die Hydra sagte einmal zu mir...“, sie hieltinne, weil Melissa sie plötzlich mit offenem Mund und ungläubigenAugen anstarrte. „Die Hydra? Joan Mitchell? [...]“ Für einen kurzenAugenblick lösten sie die Sorgenfalten von Antheas Stirn, und sielachte hell. „Ich lernte sie kennen, als sie bereits sehr alt war und ichnoch sehr jung.“Natürlich habe ich vielen Leuten zu Danken, die aufverschie<strong>de</strong>nste Weise zu diesem Roman beigetragen haben. AusPlatzgrün<strong>de</strong>n will ich mich auf vier beschränken, was <strong>de</strong>n Dank analle an<strong><strong>de</strong>r</strong>en keineswegs schmälern soll. Ich danke Helge für einensehr lernreichen Totalverriss einer frühen Version und für dieBeantwortung von gefühlt zweihun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Fragen über Anthea, dieHydra, das Alte Volk und verschie<strong>de</strong>nes mehr. Meinem ehemaligenMitbewohner dankte ich für zahlreiche Anregungen zurAusgestaltung <strong><strong>de</strong>r</strong> Charaktere und Handlungsorte.'Ze<strong>de</strong>k' und 'Fenrir' danke ich dafür, trotz starker zeitlicherAuslastung große Teile <strong>de</strong>s Manuskriptes kritisch durchgesehen zuhaben. Ersterer hat mir zu<strong>de</strong>m von seiner atheistischen Warte ausbei meinen Ausführungen über Religion dann und wann mahnendauf die Finger geklopft, letzterer hat mir mit seinem feinen Gespürfür Logikfehler und Durchhänger im Spannungsbogen vielenützliche Anregungen geliefert.Alle verblieben<strong>de</strong>n Fehler gehen natürlich auf mein Konto. Aber295


ich bin zuversichtlich, Euch <strong>de</strong>n Lesern <strong>de</strong>nnoch ein gutesLesevergnügen bereitet zu haben.Möge Gott Euch behüten.Boro Pi, Sauerland im Juli 2013296

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