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10‒2013 - Von Hundert

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021 ⁄ 100<strong>10‒2013</strong>von hundert––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– 21Ökologie-Spezial3 — Friedrich von Borries / RLF––––––––––––––––––––––– Andreas Koch6 — Jutta Koether / praxes–––––Barbara Buchmaier, Christine Woditschka8 — Thomas Kilpper / Rosa-Luxemburg-Platz ––––––––– Volkmar Hilbig10 — Tobias Zielony / Berlinische Galerie–––––––––––––Naomie Gramlich12 — Ellen Blumenstein / KW–––––––––––––––––––––– Anna-Lena Wenzel13 — Bas Jan Ader / Klosterfelde–––––––––––––––––––– Elke Stefanie Inders14 — Noé Sendas / Portrait–––––––––––––––––––––––– Rebecca Hoffmann16 — Agoraphobia / TANAS–––––––––––––––––Julia Gwendolyn Schneider18 — The Whole Earth / HKW ––––––––––––––––––––––––Seraphine Meya20 —The Whole Earth / HKW ––––––––––––––––––––––Naomie Gramlich21 — Einführung–––––––––––––––––––––––––––––––––––– Andreas Koch22 — Gespräch über Kunst und Ökologie––––Raimar Stange, Andreas Koch26 — Grüne Illusionen–––––––––––––––––––––––––––––– Harald Welzer28 — Klima-Arbeiten––––––––––––––––––––––––––––––––––Eva Scharrer32 — Verbale Beruhigungspillen–––––––––––––––––––––– Raimar Stange33 — wo ich war––––––––––––––––––––––––––––––––––– Esther Ernst36 — Mit Schnitte #1––––––––––––––––––––––Anja Majer, Esther Ernst38 — Venedig-Biennale––––––––––––––––––––––––––––– Stephanie Kloss40 — Parasite / Ozean––––––––––––––––––––––––––––––––– April Lamm41 — Kai Teichert / Saarländische Galerie–––––––––––––Christoph Bannat42 — Social Fabric / ifa-Galerie–––––––––––––––––––– Elke Stefanie Inders44 — Realität und Fiktion / Villa Schöningen––––––––––––Niele Büchner45 — Eine Liste von hundert–––––––––––––––––––– Galerieschließungen46 — Tagebuch––––––––––––––––––––––––––––––––Einer von hundert48 — Ein Pressetext von hundert–––––––––––––––––––––– Peter K. Koch49 — Vanity Fairytales–––––––––––––––––––––––––––––––– Elke Bohn50 — Onkomoderne–––––––––––––––––––––––––––––––– Christina Zück52 —Eine Halle von hundert–––––––––––––––– Halle am Wasser 2011/2013


LRFLieber reich ficken?/ Der neue Roman von Friedrich von Borries „RLF“PrologK. sitzt in einem Car-Sharing-1er-BMW. Ordentlich motorisiert,denkt er und gleitet mit knapp 200 Stundenkilometern aufder Autobahn von Berlin nach Dresden. Eben hatte er sich nochaus dem Schlafzimmer geschlichen, ohne Frau und Kinder zuwecken, jetzt dreht er die Anlage einen Tick lauter. SphärischerTechno wummert im Auto. Er genießt diesen Moment. Er denktan den Tag, der vor ihm liegt. Halbstündig werden junge, hauptsächlichweibliche Kunststudenten mit ihm den letzten Schliff ihrerim Kurs erstellten Portfolios durchsprechen. Sie hoffen mit ihrenMappen dann startfertig in ihre ungewisse Zukunft auszuschwärmen.Er hofft die Dokumente druckfertig mitnehmen zukönnen. Er hat keine Lust, noch viele Stunden daran zu sitzen.Der Sommer ist zu voll und läuft arbeitsmäßig aus dem Ruder.Noch hat er aber alles im Griff. An fünf Büchern arbeitet er zurZeit parallel, als Grafiker, wie schon seit vielen Jahren, es läuftwirklich gut. Außerdem muss die nächste Ausgabe seiner Kunstzeitschriftfertig werden. Gestern bekam er das erste Rohmanuskripteines Romans zugeschickt. Warum nicht eine Rezensionschreiben? Hat er noch nie gemacht. Das Thema interessiert ihn,Kapitalismus, Kunst, Revolution. Jetzt freut er sich aber besondersauf den Nachmittag nach dem Unterricht. Wie immer imSommersemester in Dresden ist er mit seinem Freund P. verabredet,eine Runde Golf zu spielen. Abschlag 17 Uhr, traumhafterPlatz, „Elbflorenz“. Er denkt an die Bilder von Canaletto. Dieverwursten mittlerweile auch alles, aber für den Golfplatz einpassender Name.In diesem Moment leuchtet eine orangene Leuchte im Armaturenbrettauf. Der Motor hat plötzlich keinen Zug mehr. Mist,nicht mal ein Standstreifen. Warnblinker an und zum Glückreicht seine Restgeschwindigkeit bis zu einer Nothaltebucht. Erist merkwürdig ruhig, wird erst mal den Unterricht absagen, denADAC anrufen. Alles im Griff./ 100 / 3


Sein iPhone funktioniert nicht, kein Netz. Also Notrufsäule. Erdrückt den roten Wählknopf. „Hallo, was kann ich für sie tun“,fragt die Stimme beruhigend. „Ich habe einen Motorschaden“,„Hallo ist da jemand, ich kann sie nicht hören“. K. jetzt lauter, erschreit „Ich habe eine Panne“, wieder „Ist da jemand?“. Die andereSeite legt auf. Kurz denkt er über seine Situation nach, keinKontakt nach außen, sein Telefon tot, nicht mal diese vorsintflutlicheSäule hilft ihm. Die Fäden der Zivilisation sind abgerissen.Er probiert es nochmals. „Wenn sie da sind, schlagen sie dreiMal kräftig auf die Säule.“ Er hämmert drei Mal auf die Sprechschlitzebis seine Hand schmerzt. „Ah jetzt höre ich sie“. Ein Fadenist wieder verknotet. Es wird nicht lange dauern, „Haben sienoch ein bisschen Geduld, warten sie nicht im Wagen, bleiben siehinter der Leitplanke“ lautet die Anweisung.Er nimmt das Buchmanuskript aus dem Auto und fängt an zu lesen.Dann merkt er, dass er dringend aufs Klo muss. Es war nochzu früh heute, als er das Haus verließ. Er sucht im Auto nachTempos, Zewa, irgendwas, aber da ist nichts.Nachdem er im tiefen Gras im Autobahngraben in der Lausitzkauerte, benutzt er die letzte Seite des Manuskripts, es ist dieDankes seite …/ 100 / 4Der oben abgedruckte Textauszug stammt nicht von Friedrichvon Borries. Es ist eine selbst erlebte Geschichte, dieden Stil von von Borries appropriiert. Appropriation ist einSchlüsselbegriff nicht nur im neuesten bei Suhrkamp erschienenenRoman RLF von Borries (ich lasse aus ästhetischenGründen das adelige „von“ von nun an weg), Appropriationscheint auch im sonstigen Leben des Autors eine große Rollezu spielen. „Aneignungskunst. Sich Dinge einfach aneignen,weiterführen, verändern“ erklärt eine Hauptfigur des Buches,der Künstler Mikael Mikael einer anderen, dem Werber Jan,diese Technik des Kopierens. Beide Figuren sind genauso altwie der Autor (Jahrgang 1974) und man kommt nicht umhin,im Laufe des Lesens sie als dessen Avatare, als seine Wunschidentitäten(die Mehrzahl von Alter Ego hört sich komischan) zu sehen. Das ist beim Romanschreiben, -lesen und -deutennichts Besonderes. Borries geht jedoch weiter. Er schuf dieFigur des Künstlers Mikael Mikael auch in der Kunstwelt, esexistieren Arbeiten (zum Beispiel das im Buch beschriebenePlakat „Show you are not afraid“), Mikael stellt in Ausstellungenaus, die Borries selbst kuratiert hat, er tritt – wie imBuch – jedoch nie in Erscheinung. Auch anderes im Buch verschränktsich stark mit unserem heutigen Leben, sei es, dassBorries Dinge aus der Fiktion des Romans in die Wirklichkeittransferiert, oder andersherum, dass er eine Vielzahl an realenPersonen und Begebenheiten in den Roman hineinpackt. EinZeitgeistroman also, jedoch auch eine kulturwissenschaftlicheRecherchearbeit, ein „Projekt“, vielleicht sogar ein Kunstwerk.Aber von vorne … die Geschichte ist schnell erzählt.Jan, ein Werber, 39 Jahre alt, Frau und zwei Kinder, wohnhaftin Hamburg, Vielflieger, mit Kachelmannesken Flirt- und Internetbekanntschaftenin aller Welt, einziger noch verbleibenderTraum ist es, einen eigenen Porsche zu besitzen (natürlichfehlt im Buch nicht die Referenz zu Andreas Baader,dem Autonarr unter den Terroristen). Dieser Jan präsentiertin London eine Kampagne zu einem Turnschuh namens „UrbanForce“. In der extrem lange ausfallenden Passage zu derPräsentation verwurstet der Werber natürlich alles, was zurZeit an Revolutionsbewegungen um den Globus zieht, landetnach dem Erfolg seines „Pitches“ in einer Bar bei seinemInternetflirt Angelique, die ihn sogleich zu echten Riots mitnimmt.Er wirft ein H&M-Schaufenster ein, findet das geil,und rennt mit Angelique in einen Park zum Vögeln. Das liestsich, ähnlich meiner vorweg gestellten Passage, wie ein Bastei-Lübbe-Roman,durchwegs im Präsens geschrieben, gespicktmit Produkt-Gadgets, reduziert auf einfache Dialoge,Beschreibungen, Handlungen.Aber weiter … Jan (Borries) hat die Idee, Revolution von deranderen, der bürgerlichen Seite zu denken. Wenn der Kapitalismusalles schluckt, was erst gegen ihn ist, dann mussman ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Man gründeteine Art Revolutions-Lifestyle-Agentur, verdient Geld undhöhlt das System von innen aus. „Werde Shareholder der Revolution“.RLF ist der Name dieses Projekts. Jan findet weitereMitstreiter, eben den Künstler Mikael Mikael und Slavia,mit der er natürlich auch im Bett landet („Küssen ist was fürkleine Mädchen“) und diese Gründung zieht sich dann leiderbis zum Ende des Buches.Wäre der Roman nicht nur die Verpackung für eine Art kulturwissenschaftlicheRecherche, die Borries in Form von realgeführten Interviews mit Leuten wie Oliviero Toscani, HaraldWelzer oder Stéphane Hessel und vielen lexikalischen Einschübenzu Begriffen wie „Spyware“ oder „Unsichtbares Komitee“immer wieder einstreut, man würde das Buch schnellweglegen. Es geht ihm um das Thema Revolution oder präziserum die alte Adorno-Frage, ob ein richtiges Leben im falschenmöglich sei. RLF ist somit das Kürzel für richtiges Leben(im) falschen.Und diese Frage stellt Borries all seinen Interviewpartnern,die sich aus unterschiedlichen Kontexten herkommend allemit dem Thema Gesellschaft und Veränderung beschäftigt haben.Der Mitideengeber der Occupybewegung, der Soziologe,der provokante Benetton-Fotograf, die Femen-Aktivistin usw.


Diese Leute haben wirklich etwas zu sagen. Welzer zum Beispielerteilt Borries’ Revolution-als-Produkt-Idee gleich eineAbsage: dadurch würden gesellschaftliche Veränderungen eherverhindert werden und subversiv wäre es gleich gar nicht. Welzerruft dazu auf, Adorno nicht dazu zu benutzen, gar nichtsmehr zu tun („ist ja eh falsch“), sondern viel mehr das richtigeLeben zu versuchen, sich und die Dinge ernst zu nehmen.Auch der mittlerweile verstorbene Hessel („Empört euch“) appelliertdaran, nicht zu viel Energie in Werbung zu stecken,sondern Kunst und Wahrheit zu schaffen. Das klingt hier jetztetwas pathetisch, aber genau dies will man die ganze Zeit Borriesund seinen Figuren zurufen. Wenn man die Welt nur alsAnsammlung von Produkten, Konsumenten, Werbern undKapitalisten sieht, dann hat man zwar genauso Recht wie derRechtsanwalt, der in jeder Handlung eine rechtlich geregelteTat sieht, oder der Yoga-Lehrer, für den alles nur Körper ist,aber es ist eine extrem beschränkte Sicht.Auch dies zeigt mein kleiner Vortext vielleicht. Er beschreibtzwar mich, aber so unzureichend, dass man in der Welt derKlischees, der Poser, der Statusabfrager landet. Alles und jederwird in dieser Welt durch die mediale Brille gesehen:Werbung, Modelabels, Breaking News, Social Media, alleskommt in einen Topf, und der ist klein.Borries setzt unserem überspiegelten Sein nur noch ein weiteresBild vor und in diesem Zerrspiegel sehen wir alle hässlichaus. Und genau wie Karikaturen mit ihren überformtenNasen, Zähnen und Ohren alle immer gleich langweilig aussehen,liest sich das Buch über weite Strecken. Mikael Mikaelund Jan sind sich viel zu ähnlich und haben sich außerneuen Produktideen nichts zu sagen. Die „Marketing“-Ideevon Borries ist es, über die real existierende RLF-Website oderüber im Buch erwähnte Freunde und Bekannte (z.B. AndreasMurkudis), viele mit Camouflage-Optik lackierte Marken-High-End-Design-Objekte zu verkaufen. Im Buch soll dasGeld dann dazu dienen, eine außerstaatliche Mikronation zugründen. Mehr Ideen gibt’s eigentlich nicht.Am Ende hat man den Eindruck, Borries mit seinem vielfachgefälschten Leben (ob im richtigen oder falschen ist einem eigentlichegal), als Architekt, Kulturforscher, Professor, Kurator,Künstler, Autor, Think-Tanker spielt all diese Rollen nur.Spätestens hier fällt einem der andere Bobo-Suhrkamp-Autorein, Rafael Horzon. Im Gegensatz zu Borries betreibt diesersein Spiel jedoch mit großem Ironievorsprung (was allerdingsauf Dauer auch ermüden kann), und der Vergleich Horzon/Borrieslässt den RLF-Gründer noch etwas schaler zurück.Dieser meint es nämlich todernst. „Auf allen Ebenen werdenwir mit Euch den Aufstand proben: hier auf dem Resistance-Ticker, auf Facebook, Twitter, Tumblr, in einem interaktivenGame sowie bei unseren Events und Aktionen“ so die RLF-Propaganda-Website(unter den ersten Events auch eine erste Produktvorstellungin Johann Königs Kirche). Es wird jedoch nieklar, wogegen eigentlich revoltiert werden soll, wie das durch„Shoppen für die Revolution“ erworbene Geld verwendet werdensoll, was nach dem „Umsturz durch Überaffirmation“ passierensoll, wie dieser überhaupt vonstatten geht.Man kann das ganze gesponnene RLF-Netz eigentlich nurals Ausweitung der vielfältigen Egozonen von Borries betrachten.Nichts gegen die vielen Berufe, gar nichts, aberman wünscht Borries, dass er sich etwas Naivität und Glauben(nicht religiös gemeint) zurückholen kann und irgendwoseine abgeklärte, zynisch getönte Meta-Role-Model-Brille inklusiveScheuklappen verlegen wird und nie mehr wiederfindet,vielleicht dann in seiner noch zu schaffenden Kommune.Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sich mit dem ergattertenGeld endlich seinen Porsche kaufen wird und so demnächsten Projekt entgegenbraust.Andreas KochFriedrich von Borries, „RLF“, Suhrkamp Nova, 252 Seiten,erschienen am 19.8.2013,siehe auch Niele Büchners Besprechung der Ausstellung „Fiktionund Realität“, kuratiert von Friedrich von Borries Seite 44EpilogK. sitzt im Speisewagen des ICE. Das sommerliche Hochwassertreibt den Zug gen Süden über Thüringen. Er klappt sein altesweißes MacBook auf. Eigentlich schauen darauf nur noch seineKinder am Wochenende Jim Knopf und Pippi Langstrumpf. Erhat es schon ewig nicht mehr benutzt. Den letzten Monat las erdas Rohmanuskript und er hatte sich darüber einige Gedankengemacht. Immerhin schafft das Buch das, denkt er, obwohl ihmbeim Lesen meist leicht übel war. Jetzt schreibt er seine Rezensionim Zug. Es sind die einzigen Stunden, die er freischaufeln konnte.Passt, denkt K., Borries saß bestimmt auch oft im ICE Hamburg-Berlinund schrieb das Buch. Ein ICE-Buch und eine ICE-Besprechung. Der Zug bleibt in Naumburg/Saale stehen. „WegenUnwettern ist die Strecke nach Frankfurt sowie der BahnhofFrankfurt bis auf Weiteres gesperrt“, heißt es. Wieder eine Panne.K. bleibt erneut relativ ruhig. So kann er eben in Ruhe weiterschreiben,denkt er, während sich im ausverkauften Zugrestaurantum ihn herum eine sich mit Netto-Bier und Call-a-Pizzaversorgende, E-Zigaretten-rauchende, Karten-spielende fast präapokalyptischeGesellschaft formiert./ 100 / 5


100 / 6Abrakadabra/ Jutta Koethers Auftakt bei PRAXES Erste Kombination:Objekt A „Viktoria“, 2013 + Bild A „Mad Garland BerlinWie kann man einen künstlerischen Arbeitsprozess sichtbarmachen? In einer Ausstellung oder besser vielleicht in ei-„Viktoria“ war kürzlich bereits in London ausgestellt und ist(1#, WTF)“, 2011:ner Ausstellungsfolge? Wie kann man seine Spuren aufzeichnenund nachvollziehbar machen? Welche Spuren hinter-gefertigter Tisch, auf dem allerlei Krimskrams, darunter –ein flacher, transparenter, aus Polyethylen und klarem Harzlassen künstlerische Arbeitsprozesse überhaupt? – Schmutz, und hier scheint die Trash-Attitüde von Galeriekollegin IsaSchrammen, Löcher, Schleifspuren am Boden, gar Fußabdrücke…? Im zu besprechenden Falle werden die Spuren auf ding, ein in Gießharz konservierter Käfer, Perlenketten undGenzken durchzuschlagen – ein Plastik-Empire-State-Buil-Handouts in Form von beschrifteten Grafiken mit Kalenderblattcharakternotiert. Was passiert aber, wenn der Prozess über den ganzen Tisch läuft und zu Boden hängt, wohin sichSpiegel arrangiert sind, entlang eines Leinwandstreifens, dernicht weit über ein Notat auf Papier hinaus geht?auch das getrocknete Flüssigglas zu einer starren Pfütze ergossenhat. Abstrakt gesehen könnte man dieser Installation auchRhea Dall und Kristine Siegel setzen es sich mit ihrem ebenneu gegründeten Not-for-profit-Ausstellungsraum PRAXES etwas Körperhaftes, eventuell Weibliches zusprechen. „Madzum Ziel: sie wollen künstlerische Arbeitsprozesse, unvollendeteWerke oder gescheiterte Ideen, die ja oft hinter ge-auf Nicolas Poussins Bild „The Funeral of Phocion“ (1648)Garland Berlin“ ist hingegen ein dunkles Gemälde, das sichschlossenen Türen verborgen bleiben, immer anhand der Arbeitenzweier Künstler auf zwei Etagen im St.-Agnes-Areal Bezug visualisiert sich am deutlichsten an einem menschli-bezieht. Poussin ist ja eine Paradereferenz von Koether. Dersichtbar machen (Stichwort: Investigation). Dabei soll es immermehrere Phasen geben. Und genau hier sehen die beiden eines Totenträgers. Bei näherer Betrachtung könnte auch einchen Bein, das man rechts im Bild erkennen kann: das Beindänischen Kuratorinnen ihr Alleinstellungsmerkmal. Doch dunkles Knäuel in der Mitte als vielleicht toter, in Leinentüchergehüllter Körper auf einer Bahre entschlüsselt wer-wären die eingangs formulierten Fragen nicht erst zu diskutieren,bevor man versucht, „es“ zu tun – und gewissermaßenscheitern muss? Denn haben wir es nicht genau an die-steht ganz klein mit silbernem Fineliner reingekritzelt: „WTF“den, umrahmt von einer dunklen Girlande. Und in der Mitteser Stelle mit einem schon recht alten Dilemma der Kunstvermittlungzu tun?keln versehen und dann mit Flüssigglas (cold glaze) übergos-(What The Fuck). Dieses Bild, dessen Ecken mit flachen Win-Sobald das Format Ausstellung abgemacht ist, lässt der erste sen wurden, konzipierte Koether anlässlich der Art Basel 2011Clinch mit dem ephemeren Prozessualen nicht lange auf sich wohl laut Handout als „signpost of the often glossy and acceleratedfunctions of paintings in such a context.“warten: denn es ist schon mal zumindest ein fester Zustandanvisiert. In diesem Fall sind im CYCLE 1 von Jutta Koether Hier im Berliner Ausstellungsraum trifft aber der tote Phocionauf einen erschlafften Leinwandstreifen auf einem blas-zum Beispiel bereits zwei Fixpunkte „prozessual“ geplant.Man kann wählen zwischen Objekt A mit Bild A oder Bild B. sen Plexicorpus. Man könnte imaginieren: Das flüssige GlasIn der nächsten Phase wechselt dann Objekt A zu Objekt B, wird zu Blut! Der Tod des weiblichen Marat! Der Tisch wirdvielleicht kommt dann noch Bild C oder D.zum Traueraltar für die Malerei. Der Leinwandstreifen – vielleichtGedärm, Wirbelsäule – ein letztes Ächzen, ciao Malerei!


Zweite Kombination:Objekt A „Viktoria“ + Bild B „Alostrael“, 2009:Alostrael, mit bürgerlichem Namen Leah Hirsig, war dassogenannte „vaginal medium“ (Handout) des britischenDandy-Okkultisten Aleister Crowley. Koether kopierte fürihr Gemälde ein Porträtfoto aus dem Jahr 1919, für das Hirsigvor einem von Crowley gemalten Porträt ihrer selbst posiert.Wer meint, hier ginge es um eine tiefere Recherche der Künstlerin,wird enttäuscht sein: im Internet findet man das Fotoauf Anhieb und kann es auch ganz schnell als Vorlage identifizieren.Naja, Hauptsache Magie, Spiritismus, Geisterbeschwörung,Kult … die Plexiglaspfütze verwandelt sich aufeinmal in Sperma, verläuft sich, schillert. Der Tisch beginntzu schweben und wird zum Altar, auf dem dem Sekret gehuldigtwerden kann.Während unseres Besuchs bei PRAXES wurden Bild A undBild B auf unseren Wunsch hin von Praktikantinnen in weißenHandschuhen ausgetauscht. Unbedingt zu erwähnensind dabei die beiden einzigen Elemente neben „Viktoria“,die im aktuellen Zustand nicht prozessual verschoben werden:zwei große, spiegelartige Platten, die auf weiß lackiertenBords stehen, und vor die jeweils eines der Bilder gestellt wird.Die Position der Bilder orientiert sich dabei übrigens an kleinenBleistiftmarkierungen.Wir lassen das Szenario auf uns wirken: große matte, leichtverzerrende Spiegel, Verklärung, Erlösung, Okkultismus,Kitsch – und ein kleines bisschen Aggression: WTF … einemagische Messe, eine Totenbeschwörung rund um einen Malereialtar,eine Opferstelle der Idiosynkrasie? Man kann sichentscheiden, ob man die Séance nun zusammen mit AleisterCrowleys „Scarlet Woman“ oder dem toten Phocion, dernach Verurteilung durch Gift getötet wurde, begehen will.Muss man diese (kleine) Wahlmöglichkeit haben? Und: wassoll uns dieser überschaubare und im Voraus geplante Prozessmit eingeübter Choreographie schon groß bringen? Geradedann, wenn die Exponate schon existierten, bereits anderweitigausgestellt waren und jetzt nur neu kontextualisiert, „reanimiert“(Zitat Handout) werden. Da beginnt man ja eheralte Zusammenhänge neu zu interpretieren und Schnittmengenzu analysieren, anstatt dem Vorschlag zu folgen, sich dasProzessuale zelebrieren zu lassen. Hier scheint es uns mehr umeine verdeckte Psychoanalyse für die ausstellenden Künstlerzu gehen.Die Arbeitsweise von Jutta Koether trifft auf jeden Fall denzentralen (Bewegungs-)Nerv des Projekts und legt das Systemdadurch gewissermaßen lahm: Denn Referenzsysteme sinddas A und O ihrer Arbeit. Das Spezial-Angebot dieser Minimalauswahlwirkt dabei nur wie eine dürftige didaktische Veranschaulichungihrer Praxis. Ein einfacher Ausweg aus dieserRedundanz wäre, einfach alles gleichzeitig zu zeigen. Dannkönnte man auch jeweils einige Wochen der geplanten Neuarrangementseinsparen.Aber vielleicht geht es hier wirklich vor allem um Kult und Passion,um Kunst-Kult, um eine neue Idee der Slow-Art? Nichtumsonst will PRAXES allen Künstlern sechs Monate Zeit geben.Oder eben um die Sehnsucht nach (zumindest gedachter)permanenter Künstlerpräsenz, das Begehren, doch möglichstnah und unmittelbar dran zu sein am Künstler und seinenEntscheidungen: The artist is present and present, and present,und bleibt, und ist immer noch da. Don’t go. Stay withme – mentally. Eingeschworen auf die Kunst der Kunst dienen.Die Frage aber bleibt: Wie lang kann, soll, muss man einenLuftballon eigentlich aufblasen?– Nice! Amazing! Yes, absolutely …Barbara Buchmaier und Christine WoditschkaJutta Koether, im Rahmen von „Cycle 1“ (parallel zu GerardByrne), PRAXES, Alexandrinenstraße 118–121, 10961 Berlin,„Viktoria“ 31.8.–6.10.; „Luise“ 12.10.–3.11.; „Isabelle“,14.11.–14.12.2013/ 100 / 7


100 / 8Do you hear me?/ Thomas Kilpper am Rosa-Luxemburg-PlatzEiner der politisch aufgeladensten Orte Berlins ist der Rosa- Luxemburg gehört in das Zentrum eines großen öffentlichenLuxemburg-Platz. Architektonisch prägt ihn die Volksbühne,die vor 100 Jahren am Rande eines vor allem jüdisch brachte, führte letztendlich zu den „Denkzeichen“ HansPlatzes und nicht in die Nische einer Partei“ auf den Punktbesiedelten Elendsquartiers mit dem Ziel erbaut wurde, das Haackes auf dem Platz.moderne Drama für breite Bevölkerungsschichten an der Genau mit dem Blick auf die eben immer politisch geprägteZensur vorbei auf die Bühne zu bringen. Insbesondere in Geschichte dieses Platzes hat Thomas Kilpper hier im Juniden 1920er Jahren war sie ein Zentrum des avantgardistischenund politischen Theaters; mit Erwin Piscator als Oberteraus alten ausrangierten Autoblechteilen hat er auf einer2013 sein „MEGAfon“ installiert. Einen riesigen bunten Trichspielleiterund Bauhauskünstlern wie Laszlo Moholy-Nagy begehbaren Plattform befestigt und dieses stattliche Kabinettstücklockt zunächst einmal Neugierige an: Wat soll datals Bühnenbildner. In diesen Jahren begann auch, begünstigtdurch die Lage am Rande der Bannmeile, die Hoch-Zeit der hier? Zur Verbreitung mehr oder weniger sinnloser Botschaftenund als Kulisse für ungewöhnliche Erinnerungsfotos neh-politischen Demonstrationen auf diesem Platz, der damalsBülowplatz hieß. Im Viertel um den Platz dominierten die men es viele Zufallsbesucher als Teil des „Debordschen Spektakels“wahr. Der kunstgeschichtlich vorbelastete Blick ent-Sympathisanten der kommunistischen Partei und deshalberwarb die KPD hier 1926 ein Geschäftshaus und baute es deckt Verbindungen zur russischen Avantgarde: Rodtschenkos,von der Popkultur immer wieder zitiertes Werbeplakatals Karl-Liebknecht-Haus zur Parteizentrale um. Im drittenStock dieses Gebäudes befand sich bis 1933 das ArbeitszimmerErnst Thälmanns. Anfang der 1930er Jahre eskalierte instetenMotorräder Tatlins oder Fotos vom Leichenzug zu Ma-für den Buchverlag Lengis, die mit Lautsprechern ausgerüsbesonderein dieser Gegend die Gewalt in den Auseinandersetzungenzwischen Polizei und rechten und linken Gruppiesprecherzu sehen sind.jakowskis Beerdigung, auf denen überdimensionalen Lautrungen.<strong>Von</strong> Polizisten erschossene Arbeiter und der spektakulärePolizistenmord von 1931, für den noch 1993 Erich steht Kilpper. Er arbeitet seit vielen Jahren konsequent undIn dieser Tradition der Verbindung von Kunst und PolitikMielke verurteilt wurde – alles am Bülowplatz. Als 1933 die eigenwillig an gesellschaftlich relevanten Themen. Bei ihm istNazis die Macht übernahmen, bekam der Platz den Namen die politische Botschaft kein aufgesetzter, aufmerksamkeitsdeszum Märtyrer stilisierten Jungnazis Horst Wessel und und verkaufsfördernder Modetrend, kein Aufspringen auf einenaktuell angesagten Zug, sondern integraler Bestandteilauf der KPD-Zentrale wurde die Hakenkreuzfahne gehisst.Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß der Platz kurzzeitig Liebknechtplatzund seit 1947 ist es der Luxemburg- bzw. Rosa- antikapitalistische Zeitschrift „Phase 2“ eine Diskussion zumseiner akribisch geplanten Kunstwerke. Als 2012 die radikalLuxemburg-Platz. Das ehemalige KPD-Gebäude befindet Thema „Politische Kunst als Pest“ initiierte, hatte sie sichersich jetzt im Besitz der Partei „Die Linke“ und im Eingangsbereichdieses Hauses stand 1999 für kurze Zeit eine von Rolf „jenseits der herkömmlichen Aktionsfelder der Politik Hand-nicht Thomas Kilpper im Visier. Er sucht, wie er selbst sagt,Biebl geschaffene Rosa-Luxemburg-Statue. Die Diskussion lungsräume, die zu nutzen sinnvoll sind, um Reflexionsprozessein Gang zu über dieses Denkmal, die Walter Jens mit dem Satz „Rosasetzen.“


und um das Wissen über US-amerikanische Bespitzelung reicher,erkennt auch der letzte, wie weitsichtig Thomas Kilppermit seinem Blick auf die Geschichte war.Das „MEGAfon“ (und die zugehörige Ausstellung in der GalerieNagel Draxler) können da nicht so ohne Weiteres mithalten.Das ist, zumindest was die „MEGAfon“-Installationbetrifft, nicht Thomas Kilppers Schuld: es ist der Zeitgeist,der die Installation zum Funevent degradiert. Kilppers Anliegen,nach den „aktuellen Machtverhältnissen unserer Gesellschaft… Wer kommt zu Wort ... Wer verschafft sich Gehör…“(Pressetext) zu fragen, ist erst einmal für den Passantennicht leicht erkennbar, wird aber auch, kontemporär fastzwanghaft bedingt, unterlaufen vom Desinteresse der breitenMasse an kompetenter Debatte. Jenseits von schnell konsumierbarenBildern und Botschaften, von massenmedial suggeriertenAufregern und aufgehübschten Nichtigkeiten sindkonstruktive und sachkundige Auseinandersetzungen mitkomplexen Problematiken weder in der Kunst noch in derPolitik einem größeren Publikum zu vermitteln. Da wird dasZwitterprodukt von Thomas Kilpper selbst in dieser gekonntenVerpackung kaum als Angebot zum engagierten Disputerkannt und genutzt. Das bescheidene Auditorium der Performancesist symptomatisch. Die Arm-Reich-, Macht-Ohnmacht-oder Rechts-Links-Gegensätze unserer Gesellschaftsind explizit sichtbar und werden als solche auch wahrgenommen;wirklich fundierte Ursachenforschung findet abernur in speziellen Zirkeln statt. Das Megafon als Synonym fürgesellschaftspolitische Massenwirksamkeit (bzw. eben seine,im politischen Sinne, Unwirksamkeit auf dem Rosa-Luxemburg-Platz)deckt die Diskrepanz zwischen dem fürwahr existierendenBedarf an realistischen oder auch utopischen Veränderungsvisionenund dem Leben in und mit dem „Spektakel“gnadenlos auf. Der aktuelle Wohlfühlfaktor in Deutschlandspricht eben gegen eine (auch nur annähernd) revolutionäreSituation. Vielleicht hat Thomas Kilpper, ungeachtetSein Projekt eines „Leuchtturmes für Lampedusa“ ist dafürein nahezu perfektes Beispiel. Entgegen gängiger (auchlinker) Lehrmeinung, nämlich zuvörderst die Lebensbedingungender Menschen in ihren Heimatländern zu verbessern,dann den ankommenden Flüchtlingen Überleben undrechtsstaatliche Behandlung zu sichern, provoziert Kilppersder Verlautbarungen im Ausstellungsbegleittext, genau diesaufzeigen wollen. Die Installation (und dessen vorrangig unpolitischeNutzung) nicht als Fanal, nicht als Signal zum Aufbruch,sondern als (bei diesem Künstler nicht resignativ zuverstehende) Bemerkung zum Status quo.Während der Rezensent trotz all dem Vorgebrachten dasProjekt mit einem vorher kaum in Erwägung gezogen Bauwerk,„ MEGAfon“ großartig findet, fremdelt er mit der Ausstellungdas selbst nur als Modell und Gedankenspiel ein au-ßergewöhnlicher Denkansatz ist. Ein Leuchtturm als Orientierungspunktfür die ungezählten und sich oft in katastrophalemZustand befindlichen Flüchtlingsboote erhöht selbstverständlichdie Überlebenschancen der Emigranten, ziehtaber in der Logik der übernationalen Elendsverwalter gleichzeitigauch größere Flüchtlingsströme an. Diese Vorstellungschreckt selbst manchen Wohlmeinenden. Und schon verschiebensich Argumentationslinien und die Diskussion bekommteinen atypischen Schub. Der Künstler hat ein Etappenzielerreicht und seine kilppereske Herangehensweise anin der Galerie Nagel Draxler. Als „Tattoos“ bezeichneteKaltnadelradierungen auf Motorhauben alter Autos zeigen,wozu selbst Schrottteile von des Deutschen liebsten Kindesnoch zu gebrauchen sind. Das Dargestellte, so überlegt esorts- und themenspezifisch („Resist! oder let it be!“) ausgewähltwurde, wirkt doch letztendlich beliebig. Uli Hoeneßund Angela Merkel, Pussy Riot und Stéphane Hessel, MikeKelley und Andy Warhol, alles lässt sich dem Thema einpassen– aber doch fehlt das richtige Zusammenspiel, die Interaktionder zusammengehörenden Teile kommt nicht in Gang.Die Grundessenz trägt nur bis zur Galerietür, obwohl sie dochein vermintes Gelände bescherte dem Projekt ungewöhnliche so welthaltig ist.Volkmar Hilbigund bis heute anhaltende Aufmerksamkeit.Bei seiner Arbeit in der Stasizentrale in der Berliner Normannenstraßelegte Kilpper großen Wert darauf, das Thema Bespitzelung,Überwachung, Kontrolle und Ausspähung nichtThomas Kilpper „MEGAfon“, Verein zur Förderungvon Kunst und Kultur am Rosa-Luxemburg-Platz e.V.,20.6.–25.8. 2013auf die ehemalige DDR zu reduzieren. Heute, vier Jahre später, „Resist! oder let it be!“, Galerie Nagel Draxler, 20.6.–16.6. 2013 / 100 / 9


100 / 10Wie sieht eine Sexarbeiterin aus?/ Tobias Zielony in der Berlinischen GalerieAuf dem Weg zur Arbeit verlasse ich gegen zehn Uhr morgens sie bei Nacht auf der Straße oder in künstlich ausgeleuchteten,kargen Räumen.den Ausgang der U-Bahn-Station Kurfürstenstraße RichtungGenthiner Straße. Bereits um diese Zeit tummeln sich Die Fotografien könnten eine Geschichte von Jenny erzählen,die so anfinge: Eine junge Frau, die bei Nacht rauchenddie Sexarbeiterinnen auf dem Gehweg. Ich nehme die rechteStraßenseite, vorbei an Frauen, die den kommenden Autos am Straßenrand steht und auf einen Freier wartet. Cut. Dasentgegentänzeln und biege rechts in einen kleinen Durchlassin der Umzäunung des angrenzenden Geländes von Mödetdie Geschichte. Die nächste Fotografie zeigt surreale, rotenächste Bild zeigt eine nackte Frau im Badezimmer. Hier enbelHübner ein. Dahinter sitzt auf einem ramponierten Stuhl Leucht-Funken. Wie die Fotografie der Silberweide, die icheine in Neonfarben gekleidete Frau. Ich gehe an ihr vorbei als Passantin zufällig mit dem Straßenstrich in Verbindungauf den Parkplatz und sehe nach einigen Schritten eine gewaltigeSilberweide vor mir. Einige Wochen später sehe ich der Frauen. Vordergründig harmlose Sujets wie Häuserfas-bringe, kommen viele Motive assoziativ aus dem Umfelddiesen Baum wieder. Auf einer Fotografie in Tobias Zielonys saden, ein mit Sternen besprühtes Holzhüttchen, KinosesselAusstellung in der Berlinischen Galerie aus der Serie „Jenny oder ein bunter Plastikblumenstrauß vermitteln genauso wieJenny“ (2011–2013). Ich erkannte ihn und das dahinter liegendefreistehende Haus sofort wieder. Mit der Wucht seiner aufnahmen reihen sich neben Porträtfotografien (jedenfallsder Titel der Serie ein bestimmtes soziales Milieu. Die Sujet-silberfarbigen Blätter steht er auf einem von Asphalt freigelassenenErdstrich, um den parkenden Autos Schatten zu spen-zu sehen sind). Oftmals nur schemenhaft und mit geringerirgendwelche Fotografien auf denen irgendwelche Frauenden. Die Fotografie zeigt ihn bei Nacht, extrem lange belichtet.Auch wenn ich ihn immer nur im Sonnenlicht gesehen Zweidimensionalität des Raums, wenn die Gesichtszüge inTiefenschärfe fotografiert, verlieren sich die Frauen in einerhabe, holt das Foto dieser gewöhnlichen Weide sofort meine der starken Schattenkontrastierung überhaupt auszumalenErinnerung und das Gefühl an den Straßenstrich der Kurfürstenstraßehervor.soziationen wecken zu wollen. Da hilft es auch wenig, dasssind. Und doch scheinen einige Fotografien ganz bewusst As-„Jenny Jenny“ ist eine Serie von Fotografien aus dem Umfeld Zielony die Zuschreibungen der Frauen als „Nicht-Prostituierte“und „Prostituierte“ zu erschweren versucht. Meinjunger Frauen, von denen einige ihr Geld mit Sexarbeit verdienen.Neben Porträtaufnahmen nutzt Zielony andere Genreswie Stilleben und Architekturfotografien, um sich den Sexarbeit ab. Codes, die ich wiedererkenne und zuschreibenBlick sucht die Aufnahmen der Frauen nach Indizien derFrauen und der Sexarbeit anzunähern. Die Fotoserie, die rund kann – Codes, die meiner schon im Vorfeld vorgenommenenZuschreibung eine Bestätigung geben könnten. Die Auf-40 Aufnahmen umfasst, hat Zielony damit begonnen, dasser in der Berliner S-Bahn ein Pärchen ansprach, um es zu fotografieren.Er erfuhr, dass die Frau auf dem Weg zum Stra-auf eine lieblose und altmodisch zusammengewürfelte Innennahmen,die in Räumen entstanden sind, geben den Blick freißenstrich war. Nach und nach lernte er andere Frauen kennen,die der Sexarbeit nachgehen. Ab diesem Zeitpunkt verdenhotel.Teilweise sind es inszenierte Fotografien, die die Sieinrichtungund wecken Assoziationen an ein billiges Stunabredeteer sich über zwei Jahren mit ihnen und fotografierte tuation von bezahltem Sex nachahmen und eine soziale Rea-


lität der Sexarbeiterinnen charakterisieren. Eine nackte Fraubeugt sich über ein Waschbecken – ist es die typische Machdich-sauber-nach-dem-Sex-Pose?Eine freie Armbeuge ist miteinem Tuch abgebunden – steckte da gerade noch eine Nadeldrin? Die Frauen auf den Fotos tragen Lederhalsbänder,Goldketten, haben lange Fingernägel, oder Narben auf derHaut. Mit rot geschminkten Lippen liegt eine Frau oberkörperfreiauf einem Bett, die eine Hand auf der Brust drapiert,und fokussiert mit ihrem Blick die Kamera. Ob sie selbst diePose, die von ihr in dem heterosexuellen Sex-Business erwartetwird, während der Fotosession mit Zielony aufgreift oderseinen Anweisungen folgt, bleibt unklar. Zum einen wird hierauf eine gesellschaftliche und soziale Zuschreibung rekurriert,gleichzeitig vermeiden andere Fotografien aus der Serie archetypische,medial vermittelte sexuelle Posen und Bilder.Einige Tage davor in der World-Press-Fotoausstellung imWilly-Brandt-Haus: Neben durchtrainierten SportlerInnenkörpernund exotischen Tieraufnahmen wird das Bild derWelt durch einige Fotografien der Sexarbeit vervollständigt.Diametral entgegen zu Zielonys Serie steht das Porträt derdänischen Fotografin Marie Hald. Gestochen scharf ist die 38Jahre alte Sexarbeiterin Bonnie Cleo Andersen en face abgebildet.In ihrer faltigen, gebräunten Haut mit den bereits verblassendenTätowierungen und den schwarz geschminktenAugen scheint mir die Fotografie unausweichlich vermittelnzu wollen, dass sich das Lebensschicksal der Prostituierten inihr Äußeres eingeschrieben hat. Die Person die hier zu sehenist, MUSS einfach eine Prostituierte sein, als Blumenverkäuferingeht sie einfach nicht durch. Porträtfotografie als Mittelder analytischen Physiognomik. Die ebenfalls ausgestelltenFotografien aus Paolo Patrizis Serie „Migrant Sex Workers“(2009) verzichten dagegen weitgehend auf die Protagonistinnen.Bemüht distanziert festgehalten sind die schäbigenMatratzen im Wald inmitten einem Haufen gebrauchterKondome und Taschentücher, auf denen nigerianische Migrantinnenin Italien der Sexarbeit nachgehen. Dieser Sex-Müll im Wald, in dem ab und an eine Frau drapiert ist, drohtmir nur so mit dem erhobenen Zeigefinger. Entgegen demAnliegen der World-Press-Fotografie-Ausstellung mit ihrembildjournalistischen Impetus dokumentarisch die Welt zu erfassen,wird bei Zielony deutlich, dass sich soziale Realitäten,auf Film gebannt, nur konstruiert und inszeniert darstellenlassen. Zielonys Nacht- und Kunstlichtfotografien, dieoft durch den Kontrast von greller Farbigkeit und düsteremNachtlicht dominiert sind, sind atmosphärische, irgendwiebeklemmende Tableaus und bemühen sich gar nicht, ihre Stilisierungund Fiktionalisierung zu verschleiern. Die gewähltenStilmittel der extremen Farbigkeit, Tiefenunschärfe undkünstlich ausgeleuchtete Szenen lassen die Fotos beinah surrealwirken. Der glänzende rosafarbene Vorhang erinnert anDavid Lynchs „red curtain“. Die bedrohliche und gleichzeitigreizvolle Stimmung des 80er-Heroin-Chics einer ChristianeF. findet einen direkten Bezugspunkt in einem Buch inden Händen einer Frau. Stilisierung, atmosphärische Einfärbungund popkulturelle Zitationen – warum auch nicht? ObjektiveDokumentation, neutrale Tatsachenaufnahmen mitdem Mittel der Fotografie – das gibt es nun mal nicht. Angefangenbei der fotografierenden Person, die auf eine Situationnur durch ihre bloße Präsenz einwirkt, bis hin zur Wahldes Ausschnitts sind soziale Realitäten per se nur fiktiv zu fassen.Sie lassen sich nicht auf Fotopapier bannen, ohne dasssie beim Fotografieren und Betrachten eine Färbung erhalten.Wenn klar ist, dass die Welt der Sexarbeiterinnen nicht objektivdarstellbar ist, stellt sich die Frage, wie Zielony sie wahrnimmt.Zielony vermittelt mit „Jenny Jenny“ keine wirklichpositive Welt. Mögen die fotografierten Frauen auch selbstbewusstund individuell auftreten, verraten ihre Gesichter, diestets einen ernsten bis elegischen Ausdruck haben, sowie dieTristesse der Räume, eine Situation, die sich die betrachtendePerson nicht selbst wünscht.Sieht man „Jenny Jenny“ vor dem Hintergrund von ZielonysFoto serien wie „The Cast“ (2007) oder „Trona“ (2008), in denener sich mit städtischen Randzonen und einer „lost generation“beschäftigt, für die der Bus nur Richtung Boredomoder Nowhere fährt, ist das Thema wieder das der gesellschaftlichenOutsider. Zumindest geben sich die Fotos Mühe, ausden Frauen welche zu machen. Gleichzeitig spiegelt die Seriedas gesellschaftliche Bild von Prostitution wieder. Denn auchnach dem Prostitutionsgesetz von 2002, das SexarbeiterInneneine gewisse soziale Sicherung zugesteht, und auch wenn lautder polizeilichen Kriminalstatistik Zwangsprostitution, Menschenhandelzum Zwecke sexueller Ausbeutung und Zuhältereiin Deutschland stark rückläufig sind, haftet dem Geschäftmit dem Sex immer noch das gesellschaftliche Stigma einesdunklen Milieus und eines kriminalisierten Arbeitsfelds an.Gleichzeitig scheint es nur dadurch für die Kamera interessantzu sein, sonst würden weder Zielony noch die zahlreichen BesucherInnender Ausstellung einen Reiz daran finden, einerArt des fotografischen „slummings“ zu frönen.Naomie GramlichTobias Zielony „Jenny Jenny“, Berlinische Galerie,Alte Jakobstraße 124–128, 10969 Berlin, 21.6.–30.9. 2013/ 100 / 11


100 / 12Expansion und(Selbst-)Exponierung/ Ellen Blumenstein in den KWDie KunstWerke in Berlin haben eine neue Chefkuratorinund schwupps wird alles anders! Da werden die Räume entkernt,ein neues Corporate Design entwickelt, neue Veranstaltungsformateund Kooperationen angekündigt. EllenBlumenstein will die KW zu einem agilen, lebendigen Ortder Diskussion und Produktion machen. Konzeptuelle Stichworte:Institutionskritik, Side-Specifity, (Stadt)Politik, Prozessualität.Blumensteins Interesse gilt den Rändern desKunstfeldes, die wie ein Spiegel die Normativität des Zentrumsoffenlegen. Sie knüpft damit an ihre Aktivitäten im SalonPopulaire und bei Haben und Brauchen an. Mit der KuratorinBlumenstein wurde jemand berufen, der nicht nurder Institution KW durch langjährige Mitarbeit verbundenist, sondern auch die Kunstszene der Stadt sehr gut kennt undbestens vernetzt ist. Es verspricht ein berlinspezifischeres Programm,aber auch ein engagierteres in Bezug auf die BerlinerKulturpolitik zu werden.Gibt sie den KW damit einerseits eine neue Identität, knüpftsie andererseits an das Programm der KW unter Susanne Pfefferan. Auch diese wilderte gerne in den Grenzbereichen derKunst, zeigte Filme, Comics und zuletzt Performance. WasSusanne Pfeffer zudem beherrschte, war die Arbeit mit denAusstellungsräumen – vielleicht weniger institutionskritischals Blumenstein dies in ihrer Auftaktausstellung anstrebt, aberdoch so, dass immer wieder die Architektur und Normativitätder Räume verändert wurde.Blumenstein will aber noch mehr. Sie möchte die InstitutionKW aus- und durchleuchten und sie nimmt sich und ihreRolle als Kuratorin dabei nicht aus. In der Pressekonferenzerklärt sie, es ginge ihr – vor allem in der Auftaktausstellung– auch um die Reflexion der Erwartungen an sie als Kuratorinund ein Transparentmachen der eigenen Arbeit und derenUmstände. Dazu gehört die Abhängigkeit von Drittmit-teln und die daraus resultierende Planungssicherheit für Ausstellungenund Umbauten.Die Reflexion ihrer Kuratorenrolle setzt sie auf zweierleiWeise um: Durch die Kommentare, die Nedko Solakov imganzen Haus verteilt hat und die aus Gesprächen und einemRundgang mit der Kuratorin entsprungen sind. Und demAvatar, den sie sich zugelegt hat (eine Arbeit von Ulf Amindeund Sabine Reinfeld). Sich so in den Mittelpunkt zu stellenist mutig – aber nur konsequent, wenn man die eigene Rolleim Offenlegen der institutionellen Strukturen nicht ausklammernwill. Man sollte es nicht als Platzhirschgetue abtun,sondern als selbstkritische permanente Befragung verstehen,denn Blumenstein macht sich durch diese Haltungauch sehr angreifbar.Dieses „Duchsichtigmachen“ der Kuratorenrolle erinnert michan Roger Buergel und Ruth Noack, die Kuratoren der documenta12. Statt als unangreifbare Autorität aufzutreten, betontensie die Subjektivität ihrer Entscheidungen, versuchtenEindeutigkeiten und Kategorisierungen zu vermeiden. DieseHaltung wiederum wurde als künstlerischer Privatkosmoskritisiert. Dabei wurde jedoch übersehen, dass genau dieseSubjektivierung der Betrachtung den Betrachtern ebenfallsdie Freiheit überträgt, eigene, subjektive Zugänge zur Ausstellungzu finden.Ähnlich wie Buergel/Noack, die die Ausstellung in die Stadtverlängerten und politisch in sie hineinwirkten, die die Ausstellungwährend der Dauer veränderten und den Prozess betontenund die institutionellen Strukturen und Architekturenoffenlegten, geht Blumenstein in ihrem ersten Projekt mitdem Titel „Relaunch“ vor. Mehrere wechselnde, ineinandergreifendeAusstellungen werden von zahlreichen Veranstaltungenflankiert, in denen die neuen Reihen und zukünftigenPartner wie arch+ oder diaphanes vorgestellt werden. Zudemgibt es räumliche Eingriffe, eine neue Grafik. Den Auftaktmachte die Teaser-Ausstellung, in der ein Ausblick aufKommendes geboten wurde. Es folgten: die erste institutionelleAusstellung von Kader Attia, das „Living Archive“ inKooperation mit dem Arsenal, ein Performance-Wochenendezum Thema Wetten.Blumenstein fordert den Besucher mit diesem dichten Programm– die Gefahr der Überforderung liegt nahe, ebensodie der eigenen Überarbeitung. Es wäre Blumenstein zu wünschen,dass sich bei der Reflexion der eigenen Rolle keine blindenFlecken einschleichen, und die kritische Auseinandersetzungmit dem Kunstfeld nicht vor den Arbeitsbedingungenim eigenen Haus und den dort herrschenden Konditionenhaltmacht. Anna-Lena Wenzel„Relaunch: Teasers“, KW, Auguststraße 69, 10115 Berlin,1.5.2013–26.5.2013


Scheitern –Fallen –Verschwinden/ Bas Jan Ader bei KlosterfeldeGleich drei Mal in den letzten Monaten wurden Werke desniederländischen Konzept- und Performancekünstlers Bas JanAder (1942–1975) ausgestellt. In der Frankfurter Schirn, in derHamburger Kunsthalle innerhalb der programmatischen Ausstellung„Besser Scheitern“ zusammen mit Marina Abramovićund Steve McQueen und in der Berliner Galerie Klosterfelde.Was ist nur dran an der Kunst dieses grazilen jungen Mannes,der wie ein Vorgriff auf den 90er-Jahre-Slacker wirkt?Die Schwerkraft und das Fallen spielen eine besondere Rollebei Ader. Egal wo er hängt, sitzt, steht oder fährt, irgendwannliegt der Mann unten oder ist sogar verschwunden. In„Broken Fall (organic)“, einem Schwarz-Weiß-Video von 1971,baumelt Ader an einem Ast über einem Graben. Immer wiederpositioniert er seine Hände neu, schaukelt hin und her,bis er schließlich haltlos ins Wasser fällt. Bemerkenswert ist indiesem Zusammenhang das „organic“, denn es gibt ein weiteres„Broken Fall“ Video, aber als „geometric“ Version, das beiKlosterfelde leider nicht zu sehen ist. Hier versucht sich Aderim rechtwinkligen Fallen und reißt dabei noch einen Holztischbockum. Zum Nachahmen ist das nicht geeignet. Dasweiß ja auch jeder, der das mal ausprobiert hat. Es tut nur unheimlichweh. Im Video „Fall 2“ von 1970 verkürzt er diesequalvolle Prozedur, indem er sein Fahrrad und sich selbst direktin eine Amsterdamer Gracht befördert. In der HamburgerKunsthalle konnte man ihn sogar mit einem Stuhl vomDachfirsten eines Hauses purzeln sehen. Autsch! Das ist zutiefstkomisch anzuschauen, ein wenig clownesk und mankönnte sagen, die Grenze zum Slapstick sei fast überschritten.Aber Ader hat den Moment des Fallens, Verschwindens undScheiterns so konsequent in seinem Werk inszeniert, bis er selberunter ungeklärten Umständen verschwand. Um das Wunderbare(„In Search of the Miraculous“) zu suchen, stach er1975 mit einem winzigen Boot von Cape Cod, Massachusettsin See. Wohin er wollte, war nicht klar. Und ob Ader tatsächlichverschwand? Man weiß es nicht genau. Hatte er mit dieserAktion seinen Selbstmord inszeniert? Was intendiert jemand,der „a very long sailing trip“ unternehmen will? Eine Reise indas wunderbare Nirwana? Ziemlich rätselhaft oder einfachnur lebensmüde. Als ziemlich gesichert gelten die Überresteseines zerschellten Bootes, die man sechs Monate später ander irischen Küste fand.Dass Ader nicht unbedingt als lebenslustig einzustufen ist,verdeutlicht die vierteilige Fotoserie „I’m too sad to tell you“(1971) im ersten Raum bei Klosterfelde. Wozu ist Ader zu traurig,um es mitzuteilen? Ist das vom Künstler wirklich nur konzeptuellgedacht oder verschmilzt hier die eigene Realität allzusehr mit der Kunst? Es wird jedenfalls viel und verzweifelt geheult.In der Erklärung zur Ausstellung bei Klosterfelde heißtes, dass diese Aufnahmen seinen „… sehr unmittelbaren unddirekten Charakter“ offenbaren würden. Diese Feststellungdeckt sich zwar mit dem Anliegen der Konzeptkünstler imLos Angeles der 70er Jahre, dass Kunst und Leben auf dasEngste miteinander verwoben werden sollten und der Fragilitätder menschlichen Existenz mehr Bedeutung beizumessensei als der Utopie von Harmonie und Gleichgewicht, allerdingsbekommt dieser Anspruch in der heutigen Zeit einenverdächtigen Authentizitätsbeigeschmack. Weniger authentischwirkt die Schwarz-Weiß-Fotoserie „In Search of the Miraculous(One Night in Los Angeles)“ von 1973, in der Adermit einer Taschenlampe ausstaffiert durch das nächtliche LosAngeles irrlichtert. Die Orte, die er aufsucht, wirken wie beiläufigoder zufällig gestreut, und alles riecht nach Abschied:Ein Hafen, Straßen, Autobahnen, leer stehende, baufälligeHäuser oder Tunnel. Eigentlich alles Un-Orte, an denen manzu nächtlicher Stunde nicht sein mag. Aders Figur, die auf denBildern nur schemenhaft, wie ein Geist oder Schatten seinerselbst erscheint, ist der Prototyp des „lonesome wolf“, keinGroßstadtflaneur à la Walter Benjamin oder Franz Hessel, diedistanziert, kritisch oder ironisch das Gesehene schildern. ImGegenteil; bei Ader verschmelzen Innen- und Außenwelt zueiner fast schon bedrohlich, anonymen und sogartigen Großstadtwelt– und Ader? He’s just fading away!Als Betrachter muss man also selbst den Versuch unternehmen,eine Distanz oder Metaebene in das Gesehene zu bekommen.Dann kann man durchaus weiterführende Fragestellungenoder Themen entdecken. Gelungener ist dies in der HamburgerAusstellung „Besser Scheitern“, in der die Arbeiten imKontext der gesellschaftlichen Tabuisierung des Scheiterns inder Moderne verhandelt werden. Bei Klosterfelde hingegenstehen die Werke Aders in einem unmittelbar programmatischenZusammenhang mit dem Werdegang der Galerie: Hierist es ein Abschiedsgruß, denn Martin Klosterfelde schlossnach 18 Jahren am 10. August 2013 seine renommierte Galerie.Das ist bedauerlich!Elke Stefanie IndersBas Jan Ader „In Search of the Miraculous“, Klosterfelde,Potsdamer Straße 93, 7.6.–10.8. 2013/ 100 / 13


Lücken, zu erinnern/ Über Fotografie am Beispiel Noé SendasWer schaut uns an, wenn wir alte Fotografien betrachten?Siegfried Kracauer fragt zu Beginn seines Essays „Die Photographie“(1927 in der Frankfurter Zeitung) beim Betrachteneiner 60 Jahre alten Aufnahme, die seine damals 24-jährigeGroßmutter zeigt: Hat so die Großmutter ausgesehen? Ausdem Bild alleine ließe sie sich nicht rekonstruieren. Der Enkelsohnkennt die Geschichten, die in der Familie über sie erzähltwerden: Dass sie in einem kleinen Zimmer mit Blick aufdie Altstadt wohnte und gerne mit Kindern spielte, für die sieSoldatenfiguren auf dem Glastisch tanzen ließ. Einige ihrerRedensarten sind überliefert und in der Familie weitergegebenworden. Ohne diese Erzählungen könnte das Bild aucheine beliebige, junge Frau zeigen, die im Jahre 1896 nach damaligerMode eine Krinoline und ein Zuaven-Jäckchen trägt.So aber bettet die Familiengeschichte die Fotografie in einNarrativ, das die Abgebildete aus ihrer Anonymität reißt, ihreine Geschichte gibt und sie mit der des Enkelsohnes verbindet.Aber dieser Kitt wird schon in der Generation der Enkelbrüchig, wenn Reifröcke und kurze Jacken oder die Frisur derGroßmutter aus der Mode sind und jetzt, 60 Jahre später, dieKinder zum Lachen bringen. Die Fotografie beginnt in ihrezeitgebundenen Einzelteile zu zerfallen.Über drei Generationen haben Erzählungen, die im Familiengedächtniskursieren, meist Bestand, dann werden sie vergessen.Und mit den Geschichten verschwinden die Personen aufden Fotografien. Alte Bilder, vielleicht aus Pappkartons vomSpeicher oder Trödel, sagen uns nichts mehr, weil wir keineGeschichte mit ihnen teilen. Sie bewahren Zeittypisches, indemsie einfangen, was sich im Bildraum befindet. Und dieserZeitbezug gibt das Abgebildete einer Komik des Altmodischenpreis, sobald sich die Moden ändern.Auch die Bilder vom Trödel waren aber einmal Erinnerungsbilder:Sie zeigen Familienfeste, Hochzeitspaare oder Ausflüg-/ 100 / 14ler im Grünen. Sie wurden in einem Moment aufgenommen,der erinnert werden sollte. Ein Augenblick, festgehalten imBild, ist Souvenir und kann Gedächtnisstütze sein, und alssolche wurde die Fotografie in den zwanziger Jahren auch beworben:„Weißt du noch? Wo warst du im vorigen Sommer?Wann hast du deine Erholungsreise gemacht? Du weißt esnicht genau, denn das beste Gedächtnis versagt. BleibendeErinnerungen verschafft Dir ein KODAK. Er allein ist ein zuverlässigerBerichterstatter, der alle Deine glücklichen Stundenim Bild festhält.“ (Kodak-Werbung von 1926)Die Fotografie als eine Darstellung der Zeit schafft einenWirklichkeitsbezug. Kracauers Großmutter hat sicher nichtimmer so ausgesehen, aber sie hat zumindest für den Augenblickso ausgesehen, in dem der Fotograf den Auslöserdrückte. Die Fotografie schafft einen Zugang zur Wirklichkeitder gezeigten Person. Und weil sie diesen Realitätsbezugschafft, verbaut sie ihn gleichzeitig auch. Sie verstellt den Zugangzu einer Person und ihren Geschichten, weil das Geschehenauf einen kleinen Ausschnitt reduziert werden muss.Die Fotografie stellt einen Oberflächenzusammenhang her,der total ist. Unser Gedächtnis arbeitet ganz anders. Es dehntund streckt zeitliche Zusammenhänge, es ist lückenhaft undweder an der totalen Raum- noch Zeiterfassung interessiert.Jede Erinnerung bezieht sich auf uns und unser Erleben, ohnedass wir immer genau den Zusammenhang und die Bedeutungwissen müssten. Für Kracauer ist die Fotografie kein Mediumder Erinnerungsbewahrung, sie ist erinnerungslos. DerMensch auf einer Abbildung konstituiert sich in den Dingenund verschwindet darin, weil seine Individualität und Geschichtedarunter vergraben werden. Kracauer setzt dem Vergessender fotografischen Abbildung zwei Zeichen entgegen:Die Anfangsbuchstaben von Vor-und Zunamen. Die Initialeneiner Person, zu einem Zeichen, dem Monogramm zu-


sammengefügt, fangen als Schriftbild für Kracauer die individuelleund die Familien-Geschichte eines Menschen ein. DasMonogramm schafft kein Abbild, sondern bewahrt – verdichtetzu einem Linienzug – Sinn durch die Extraktion bedeutungsvollerZeichen. Kracauers Ablehnung der Fotografie istein kulturkritischer Impetus der Zeit. Die Fragen, die er aufwirftund die Kritik am Medium sind nach wie vor virulent:Lassen sich Erinnerungen und damit Leben fotografisch festhalten,ohne dass das Abgebildete einer Gespensterwelt überlassenwird, sobald die Geschichte die Existenz der Abgelichtetenüberholt hat?Fotografien können Erinnerungswerte schaffen, sobald siedas raum-zeitliche Kontinuum der Empirie ausgrenzen. NoéSendas’ „Crystal Girls“ (2011) sind solche Bilder.Wir betrachten die Arbeiten und wundern uns: Wem gehörtdie dritte Hand, die unter dem schwarzen Tuch nebender Frau erscheint? Warum blickt uns im Spiegel nicht dasGesicht einer Frau an, sondern bloß erneut ihr Hinterkopf?Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen erinnern in ihrer Bildsprachean surrealistische Fotografie-Experimente, ihre Motivean den Film Noir oder Varieté-Theater. In „Crystal Girl N°52“lehnt ein weiß gekleideter Frauenkörper über einem Sessel.Der Kopf der Frau ist unter einem schwarzen Tuch verborgen.Die Hände auf dem Kleid der Frau und der Lehne werfenFragen über ihre Zugehörigkeit auf, denn die dritte – offenbarmännliche – Hand scheint herrenlos zu sein. Bei näheremHinsehen könnte diese Hand dem Körper der Frau oderdem Schatten im Hintergrund gehören. Die Verwirrung überdie Zugehörigkeit der Körperteile wird zu einem Vexierspielder Geschlechter oder Traumwelten, denn in ein Schattenreichscheint eine der Hände zu gehören. Noé Sendas’ „CrystalGirl N°78“ zeigt eine Frau im langen Kleid und sorgfältigonduliertem Haar vor einem Spiegel. Im Spiegel sehen wiraber nicht, wie zu erwarten, das Gesicht der Frau, sonderneine weitere Abbildung ihres Hinterkopfes.Sendas sammelte alte Pin-Up-Bilder. Er fügte ihnen bei seinenManipulationen nichts hinzu, er nahm ihnen etwas wegoder vervielfachte, was schon im Bild war. Seine Arbeitennutzen die Präzision der Fotografie, die ihren dokumentarischenWert ausmacht, sie geben aber nicht einen Realitätsausschnittwieder, sondern entstellen den Körper ins Wundersame.Originale treten mit ihren Kopien auf. In „Crystal GirlN°78“ hebt der doppelte Hinterkopf die Singularität des Originalsauf. Es entsteht der Eindruck des Eins-nach-dem-anderen.Die Präsenz der fotografischen Realität wird durch dieVerdopplung in eine Abfolge verwandelt. „Verräumlichung“nennt Rosalind E. Krauss nach Derrida diesen Vorgang. DasBild ist nicht in einem raum-zeitlichen Kontinuum ein Bildder Gleichzeitigkeit, sondern der Ungleichzeitigkeit. NoéSendas’ Arbeiten „Crystal Girl“ reißen durch Verdopplungen,Verschiebungen und Leerstellen Lücken in die Präsenzdes Bildes. Sie zerlegen seine Omnipräsenz und führen denAnschein (dem wir gerne erliegen), dass Realität sich im Bildeinfangen ließe, als Trugschluss vor. Wir können uns selbstbeim Beobachten zusehen, weil die Welt in diesen Fotografiengar nicht erst versucht, sich uns unvermittelt darzustellen.Es ist eine Abkehr von der realistischen Genauigkeit, stattdessenwerden Bruchstücke von Realität gegeneinander aufgestellt.Diese Lücken und Brüche sind als Leerstellen nichtVerluste, sondern konstitutive Elemente von Erinnerungen.Rebecca HoffmannNoé Sendas zeigt derzeit Arbeiten in Austin, Texas.Die Invaliden1 Galerie zeigt vom 18.4 bis 31.5. 2014 in Berlindie Einzelausstellung „Archaeologies of Glamour“./ 100 / 15


100 / 16Angst vor der Öffentlichkeit/ Agoraphobia bei TANASUnter dem Titel „Mom, am I Barbarian?“ fragt die 13. Istanbul- gen das Ende einläutete. Das Video zeigt die feindliche Reaktionauf die künstlerische Aktion einer Frau, die sich gegen dieBiennale nach dem öffentlichen Raum als politischem Forum.Mit Hilfe der Kunst soll er untersucht und thematisiert werden traditionelle, religiös verankerte patriarchalische Vormachtstellungin ihrer Gesellschaft wendete. Die provokative Perfor-– Meinungsfreiheit und Formen der Gemeinschaft im Stadtraumsind dabei von zentraler Bedeutung. Bereits im Mai fand mance brachte noch vor dem Arabischen Frühling Konfliktebei Tanas ein Ausstellungsprolog als Auftakt zur im Septemberfolgenden Schau am Bosporus statt. Wo aber war der Be-Während Kenawys Video direkt im Ausstellungsraum ertönt,zum Vorschein, die unterschwellig bereits am Brodeln waren.zug zu Istanbul? Er ließ sich in der Auswahl der Werke kaum als wären wir live am Ort des Geschehens, taucht „Confronto“finden, während das bereits Anfang des Jahres veröffentlichte (2005) von Cinthia Marcelle in die nächtliche Atmosphäre vonKonzept der Kuratorin Fulya Erdemci explizit darauf hinwies, Belo Horizonte in Brasilien ein. Fackeljongleure werden an einerStraßenkreuzung gefilmt, wie sie immer zahlreicher wer-dass die Biennale ihr Thema vor dem Hintergrund der brennendenSituation vor Ort gewählt hätte. Erdemci fragt darin: den, bis sie nebeneinander stehend die gesamte Straße besetzenund ein lautes Hupkonzert ertönt. Auch hier ein Bild der„Was zum Beispiel bedeutet es heute ein guter Bürger in Istanbulzu sein? Sollte man sich in Mitten der unaufhaltsamen urbanenVeränderungen – diesem ‚Schlachtfeld‘ – dem Status des anderen auf? Marcelle wirft einen kritischen Blick auf dasKonfrontation. Wo fängt die Freiheit des einen an und hört diequo fügen, oder am zivilen Ungehorsam teilnehmen?“ Zusammenleben in der Stadt und das mit einer Arbeit, die unbeschwertästhetisch daher kommt. Im Fokus steht eine All-Ein ähnlicher Konflikt lässt sich aus zwei großformatige Fotoarbeitenvon Şener Özmen ablesen. Die eine zeigt den Künstler,wie er ein Megafon mit voller Kraft zur Meinungsäuße-Ungehorsams, wird.täglichkeit, die zur kollektiven Aktion, einer Form des zivilenrung, allerdings wie eine gezückte Waffe, einsetzt, während er Mit Mierle Laderman Ukeles wurde eine spannende historischePosition gewählt, die exemplarisch dafür steht, dass Kunstauf der anderen das Sprachrohr gegen sich selbst geradezu destruktivan das eigene Ohr hält. Wer spricht mit welchen Parolenwen wie an? Darf ich meine Meinung äußern, oder muss Erfinderin der „Maintenance-Art“ drückte ihre Wertschät-nicht erst seit heute den öffentlichen Raum thematisiert. Dieich mich den Vorstellungen der Staatsmacht fügen? Özmens zung des „Gemeingutes“ Anfang der 70er-Jahre mit symbolischenWaschungen von Bürgersteigen aus, etwa vor ihrer NewMegafonarbeiten werden zur Metapher für die diffizile Situationin der Türkei.Yorker Galerie. In „Touch Sanitation“ (1978–80) ihrer wohl berühmtestenArbeit, die in Berlin allerdings noch nicht gezeigtDie eindrücklichste Arbeit – vor der sich zur Eröffnung einenicht abebben wollende Zuschauermenge versammelte – ist wurde, aber dafür in Istanbul, schüttelte sie mehr als 8.500eine Aufzeichnung von Amal Kenawy (1974–2012) Performance„Silence of Sheep“ (2009), in der die Künstlerin eine dankte ihnen dafür, dass sie ihre Stadt am Leben erhalten.Arbeitnehmern der New York Stadtreinigung die Hand undSchar Männer, auf allen Vieren kriechend, durch Kairos Straßenführte. Fassungslose Blicke, lautes Gehupe und empörte nicht das Lokale, sondern das Globale der Thematik in denMit elf Positionen war es eine kleine, konzentrierte Schau, dieZurufe begleiteten die Gruppe, bis die Polizei mit Verhaftun-Vordergrund stellen wollte. Nur ihr Titel: „Agoraphobia“, ver-


wies sehr wohl auf die Situation vor Ort, auch wenn dies nichtdurch künstlerische Arbeiten untermauert wurde. ErdemcisText über den konzeptuellen Rahmen der Biennale verknüpfteaber die räumliche Politik der Regierung bereits mit dem Konzeptder „Agoraphobia“, und wie schließlich die Ereignissekurz nach der Eröffnung zeigten, war diese Verbindung tatsächlichnicht aus der Luft gegriffen. In diesem Wort lag nunein Bezug zu Istanbul, der aktueller nicht sein konnte. Er beschriebplötzlich jenes Verhalten, das die türkische Regierungdemonstrierte, als sie mit unfassbarer Härte auf den Versuch,seine Meinung frei zu äußern, reagierte. Der altgriechischeBegriff der „agora“ meint sowohl die Versammlung von Menschenals auch den Ort der Versammlung, während die „phobia“,die Angst vor der Menge oder vor offenen Plätzen verkörpert,die sinnbildlich auch als Angst vor freier Meinungsäußerungund kollektiven öffentlichen Aktionen zu verstehen ist.Eigentlich wollte Erdemci mit der Kunst an die umstrittenenOrte im öffentlichen Raum gehen, um auf die Misslage derräumlichen Veränderungen aufmerksam zu machen, die dieRegierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğandurch eine rein ökonomische Stadtentwicklungspolitik erzeugt.Es war ein Konzept, dass nicht näher am Keim dessen,was Istanbul beschäftigt, hätte liegen können und sichEnde Mai durch die Gezi-Park-Bewegung entzündete. Das Lebenwar schneller als die Kunst. Protest und Widerstand sindnicht nur Thema der Biennale, sie fanden bereits zuvor auf derStraße statt und überraschten mit einer heterogenen Protestgemeinschaft,die von keiner politischen Organisation gesteuertwurde. Erdemci machte es nichts aus, dass ihr die „Show“ gewissermaßengestohlen worden war, ganz im Gegenteil, dafürkam schließlich etwas, wovon sie nur hätte träumen können.Während der Prolog bei Tanas durch die politische Aktualitätzu lobenden Besprechungen führte, geriet die Biennale durchdie Ereignisse in eine Zwickmühle. Die Aktivisten warfen ihrvor, durch Sponsoren gefördert zu werden, die selbst den kapitalistischenStadtumbau vorantreiben würden, während dasBespielen der brisanten Stadtzonen immer unwahrscheinlicherwurde – brauchte man dafür doch Genehmigungen vonjenen Autoritäten, die die freie Meinungsäußerung der Bevölkerungunterdrücken. Schließlich fand Erdemci, dass vordiesem Hintergrund jede Erlaubnis sowieso problematisch seiund entschied drei Monate vor der Eröffnung, den öffentlichenRaum nur noch mit Arbeiten, die im Innenraum gezeigtwerden, zu betrachten. Das groß angelegte stadtübergreifendekuratorische Konzept mündet somit in einen leisen Rückzug,den viele kritisieren, Erdemci selbst aber als ein politischesStatement versteht. Tatsächlich lag ein Stück weit Ernüchterungin der Luft, aber warum sollte die Kuratorin nun zur Anführerinder Revolution werden, die mit ihrer Künstlertruppe„aufmarschiert“ und den allabendlich auf der Haupteinkaufsstraßeprovokativ bereitgestellten Polizeitruppen der Regierungden nächsten Grund zum Einsatz gibt? Das wäre spektakulärund konfrontierend. Erdemci setzt aber nicht auf Kunstals eine Form des politischen Widerstandes, für sie liegt derenStärke durchaus in einer politischen Relevanz, die aber reflektierendund ein Stück weit von Autonomie geprägt ist. So istes eigentlich nur konsequent, dass die Biennale sich jetzt in Innenräumezurückzieht – dies allerdings ohne Eintrittsgeld undso für alle zugänglich gemacht. Julia Gwendolyn Schneider„Agoraphobia“, Prolog zur 13. Istanbul Biennale,TANAS, Heidestraße 50, 10557 Berlin, 25.5. – 27.7. 2013TANAS schließt zum Jahresende.Dank an René Block für sechs Jahre Präsentationeiner hier fast unbekannten Szene!/ 100 / 17


100 / 18Hippies und Kapitalismus/ „The Whole Earth“ im HKWHippies stehen immer noch für Freiheit, alternatives Leben verehrer gleichermaßen mit Informationen. Tipps zum autarkenLeben außerhalb der Zivilisation waren ebenso zu fin-und den Wunsch nach Frieden und Gerechtigkeit. „FreieMarktwirtschaft“ oder „Kapitalismus“ bezeichnet das System, den wie die neuesten Erkenntnisse der Systemtheorie und Kybernetikoder die utopischen Architekturmodelle von Buck-das nicht nur unsere Wirtschaft bestimmt, sondern auch einengroßen Teil der gesellschaftlichen Werteordnung. Was Hippiesmit Kapitalismus zu tun haben und warum deren „Kon-von dem ausgehend sich nicht nur ein großer Teil der politiminsterFuller. Der „Whole-Earth“-Katalog ist ein Dokument,flikt“ in den 1960er und 70er Jahren einen so starken Einfluss schen und gesellschaftlichen Stimmung der 60er Jahre in derauf unsere Gesellschaft heute hat, erfuhr man von April bis westlichen Welt erklären lässt. Besonders interessant für denJuli in der Ausstellung „The Whole Earth – Kalifornien und in der Ausstellung stöbernden Zeitgenossen ist der Wandel,das Verschwinden des Außen“ im Haus der Kulturen der Welt, den die utopischen Gedanken der Alternativkultur bei ihremderen Dreh- und Angelpunkt das legendäre Magazin „ Whole „Gang durch die Institutionen“ mitten in den Mainstream erfahrenhaben. „The sixties are the beginning of the present“Earth Catalog“ war.Steve Jobs war einmal ein kluger Junge mit einem Faible für schreibt Thomas Frank in „The Conquest of Cool. BusinessComputer und einer Vision. Mit seinen Erfindungen wollte er Culture, Counter Culture, and the Rise of Hip Consumerism“den Menschen das Leben erleichtern. Aus dieser Vision wurde (1997). Die denkerische Grundlage der freien, globalisiertender Konzern „Apple“: Phänomenal erfolgreich in der globalen Marktwirtschaft oder des Internets lieferten Idealisten in denfreien Marktwirtschaft. Nicht zuletzt, da er den Arbeitern in 60ern, 70ern und 80ern. Systemtheorie und Kybernetik solltengenutzt werden, um ein logisches System zu entwickeln,China wettbewerbsangepasste Löhne zahlt. Steve Jobs las den„Whole-Earth“-Katalog und gehörte damit zu einer Gemeinschaftder Gegenkultur, deren Aktivität in den 1960er und gig von Staatsgrenzen. Die globalen Machtkämpfe sollten ab-welches die Verteilung der Güter weltweit regelt, unabhän-70er Jahren begann. Im Sinne von Marshall McLuhan suchtensie technologischen Fortschritt und eine gerechte Welt zu steuerte Planung. Was den Menschen anfangs noch als ein Gegelöstwerden durch eine globale, effiziente, technologisch ge-vereinbaren. <strong>Von</strong> diesem Katalog ausgehend, kuratierten AnselmFranke und Diedrich Diedrichsen ihre gemeinsame Aus-öffentlichen Bewusstsein populär. Liest man die Ideen heute,genmodell zur Natur erschien, wurde in den 60er Jahren imstellung als ein detailreiches Archiv über die Gegenkultur, in erscheinen Begriffe wie „maximale Effizienz“ aus dem Handbuchfür Unternehmensberater kopiert – doch der Fall liegtdem man sich in Filmen, Texten und Musik verlieren konnte.Der „Whole-Earth“-Katalog eröffnete ein weit gefächertes thematischesSpektrum. <strong>Von</strong> Steve Brand erstmals 1968 heraus-verbinden und zu der Idee des „global village“ beitragen, wieumgekehrt. Das Internet sollte die Menschen miteinandergegeben, symbolisierte der Katalog einen universalen Holismus.Das Titelbild, ein Bild der ganzen Erde, aufgenommen Dass unsere Informationen, die durch das Internet staatlichenMarshall McLuhan es in „Understanding Media“ beschreibt.aus dem Weltraum, das der Herausgeber der NASA entlockte, Organisationen zugänglich sind, heute gehandelt werden wiewurde Ikone dieses Gedankens. Das Magazin versorgte Hippies,Natur-Romantiker, Computerkultur und TechnologiechenGedankens. Der Untertitel der Ausstellung benenntGold, ist eine tragisch anmutende Verdrehung des ursprüngli-mit


dem „Verschwinden des Außen“ die Expansion der kalifornischenTechnologien, Kulturtechniken und Bildökonomien indie gesamte kapitalistische Welt – aus marktwirtschaftlicherSicht sind diese Ideen bis heute wahre Exportschlager. Der katastrophaleZustand der Welt war damals für einige Anstoß, siezu verbessern, mit ihrem Wissen und Können. Für andere wares ein Grund, sich in die kalifornische Wüste zurückzuziehenund von den Indianern zu lernen, wie man ein naturverbundenesLeben führt. Oder man flüchtete sich mit Drogenrauschoder Meditation in die Weiten des Inneren. Fernöstliche Philosophienwie der Zen-Buddhismus und das „Tao te King“ vonLaotse waren die Lektüre der Gegenkultur, die darin den Wegzu einem zufriedenen Leben suchte, sich mit dem Universumverbinden und das gesellschaftlich anerzogene Über-Ich bekämpfenwollte. Heute gibt es Taoismus für Manager und dieSelbstoptimierungsmöglichkeiten von Meditation und Yogadienen dazu, im tosenden Sturm des Kapitalismus als Wirtschaftsakteuroder Konsument nicht den Kopf zu verlieren.Die Zukunft des Kapitalismus und die Entmystifizierungder Gewalt waren 1967 Themen der „Dialectics of LiberationConference“. Intellektuelle aus der Gegenkultur wie Marcuse,Ginsberg und Joe Berke hielten Vorträge und lieferten neueDenkansätze. Man möchte meinen, es wurde früh genug erkannt,welche Übel der entfesselte Markt und die Globalisierungbereithalten würden. Man möchte meinen, es gab genugkluge Menschen, die alternative Wege erdachten. Und trotzdemsind wir heute an dem Punkt, an dem wir sind. Die Idealeder Hippies wurden durch den marktwirtschaftlichen Fleischwolfin ein neoliberal konformes Format gedreht. Aus demWunsch nach sexueller Befreiung entstand die Pornoindustrie,aus der Forderung nach Kreativität und Individualität imArbeitsleben wurde ein System der individualisierten Selbstausbeutung.Ähnlich, allerdings weniger detailliert und tiefgehendals die umfangreiche Studie „The New Spirit of Capitalism“von Luc Boltanski and Ève Chiapello (französischeErstausgabe 1999) beleuchtet die Ausstellung die Bedeutungvon Kritik für den Kapitalismus und wie dieses wirtschaftlicheSystem in der Lage ist, die Kritik für sich zu nutzen. Wie in einemBuch konnte man in der Ausstellung blättern, sich einenÜberblick verschaffen und Anknüpfungspunkte zur weiterenAuseinandersetzung finden. Die Ausstellung und die wissenschaftlicheUntersuchung von Boltanski und Chiapello rüttelnbeide stark an der Faszination der 60er, denn beide machendeutlich, wie jede idealistische Idee von damals im Laufeder Zeit einen Wandel erfuhr. Unversehens wurde die Utopievon damals – kaum erkennbar – zu einem Symbol des hippenKonsumenten von heute. Zu einem Zeitpunkt, in dem der „logischeMechanismus des Neoliberalismus“ (Pierre Bourdieuin: „Le Monde diplomatique“, Nr. 5481, 13.3. 1998) auf Hochtourenwütet, zeigt „The Whole Earth“ wie das kapitalistischeSystem in der Lage ist, Kritik in sich aufzunehmen und gewinnbringendzu nutzen.Auch heute gibt es hier und da noch so etwas wie Gegenkultur.Allerdings fehlt ihr – verständlicherweise – oftmals die positiveÜberzeugung, dass es eine „Lösung“ gibt, geben könnte. Vielmehreint sie die Ahnung, dass ihre Unterwanderung letztlichdoch vom System aufgenommen wird. Andere Formen derKritik sind nötig, sollte man meinen, wenn alle Regeln schoneinmal gebrochen wurden, wenn sowohl Gewalt als auch Pazifismuszu wirkungslosem Protest geworden sind.Das Sympathisieren mit der Protestkultur der 60er und 70ergleicht einer Katze, die sich selbst in den Schwanz beißt. DochOhnmacht ist kaum das richtige Gefühl, um sich heute der Situationin der Welt zu stellen. Es besteht weiterhin das Risiko,dass die eigene positive Utopie – in ihr Gegenteil verkehrt – imMainstream landet, so wie „Die Grünen“ im konservativen„Zentrum“ der Politik gelandet sind. Trotzdem gibt es keinenGrund, sich nicht wie Sisyphos immer wieder diesen Berg hinaufzuquälen.Es gibt immer Utopien und wenn man nur geduldiggenug darauf beharrt und sich trotz allen Informationsüberschussesüber die dystopischen Tendenzen des Jetzt einegesunde Naivität bewahrt, entstehen Pausen, in denen Utopischesgilt. Oder wie es auch im ersten „Whole Earth Catalog“von 1968 zu lesen war: „Bleib hungrig, bleib töricht!“Seraphine Meya„The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden desAußen“, Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10,10557 Berlin, 26.4.2013–7.7. 2013/ 100 / 19


100 / 20Something is rottenin this age of hope/ Einige Gedanken zu „The Whole Earth. Kalifornienund das Verschwinden des Außen“In diesem Jahr scheint der Strom der Filme, die die Apokalypseverhandeln, nicht abzureißen. Big-budget-disaster-movieswie „After Earth“, „Oblivion“, „World War Z“, „PacificRim“ oder „Elysium“ haben allerdings wenig gemeinsammit den apokalyptischen Visionen der dissidenten Subkulturender späten 70er- und 80er-Jahre. Mit ihren dissonantenTönen und ihrer bedrohlichen bis aggressiv-melancholischenGrundstimmung bildeten die in der „The-Whole-Earth“-Ausstellung vorgestellten Bands Einstürzende Neubautenund Dead Kennedys, sonst aber auch die Musik vonThrobbing Gristle, Clair Obscur, Cabaret Volaire oder VirginPrunes für mich immer den Soundtrack des Kalten Krieges.Eine Zeit, die ikonografisch höchstens mit der Fotografiedes Atompilzes zu beschreiben ist. Der Atompilz als fotografischerVorgänger der weltweit kursierenden Raumfahrtaufnahmevon der Erde beschrieb im Punk, in dem darauf folgendenWave und Industrial, aber auch im Reggae der Rastafariseine Gegenposition, die die Apokalypse als explosiven Augenblickder Befreiung von allem Lästigen oder Unfreiem empfand.Tanze in den Untergang! Auch wenn Apokalypse – mitder Johannesoffenbarung gesprochen – Entschleierung derWahrheit bedeutet und in der christlichen und jüdischen Religionals das positive Ende von Allem zu lesen ist (und auch alsdas Interessanteste des Testaments), spiegelt die Apokalypsein den westlichen – vom Glauben abgekommenen – Industrie-Gesellschaftendes 20. und 21. Jahrhunderts vielmehr eineBedrohung und das Bedürfnis wider, die Welt, so wie sie wirkennen, eingeteilt in verschiedene Klimazonen, samt ihrerVegetation- und Artenvielfalt, aufrechtzuerhalten. Der Deutschehängt nun mal an seinen Streuobstwiesen und will seinenKindern die Welt von heute als die Welt von übermorgen konservieren.Die Ungewissheit einer Veränderung wäre ohnehinnichts anderes als fahrlässig und würde nicht nur den Kinder-wunsch als egoistisch motiviert bloßlegen. Das ökologischeBewusstsein war schon immer eine Reaktion auf die Angstvor dem Untergang des Vertrauten. Ob nun ausgelöst durcheine Foto grafie der ganzen Welt oder heutzutage durch dieNachrichten der Vogelgrippe, der Explosion eines Kernkraftreaktorsund der globalen Erwärmung, all den naturbewusstenMittelklasse-Menschen mit ihren farbenfreudigen,Sonnen-grinsenden-„Atomstrom?-Nein-Danke“-Buttonspasst es genauso wenig wie damals den Hippies, mitihren weltverbessernden und autarken Weltansichten, dassKrach, Zerstörung, Hässlichkeit, Dreck und Schmerz als etwasSympathisches empfunden werden kann.Doch es existiert die als Oxymoron empfundene Denke: Hörenmit Schmerzen ist das wohl positivste Geräusch überhaupt.„Alte Gegenstände, Bedeutungen, Gebäude undauch Musik werden zerstört. Alle Spuren der Vergangenheitwerden beseitigt: nur daraus kann etwas wirklich Neuesentstehen.“ (Blixa Bargeld) Etwas esoterisch klingt dasschon, radikal gesprochen verstehe ich darunter, dass dievom Menschen ausgerufene Hasenplage in den GroßstädtenDeutschlands nichts gegen die Menschenplage ist. Eigentlichkonnte ich eine Schwarz-Weiß-Sicht, eingeteilt inGut und Böse, Yin und Yang, Engelchen und Teufelchennoch nie ausstehen, aber wenn ich mich entscheiden müsste,würde ich doch die nietzscheanische Farbe Schwarz wählen.Der Begriff der Avantgarde – abgeschmackt und seit derklassischen Avantgarde in der Kunst zu Tode erklärt – dientnicht selten dazu Bands der experimentellen Musik der 80erzu beschreiben, als die militärische Vorhut, die als Erstesdem Feind gegenüber steht.Was von der Sehnsucht nach Zerstörung nach dem Fall desEisernen Vorhangs übrig geblieben ist, ist vermutlich nurnoch das apokalyptische Narrativ der Hollywood-Streifen,das weder mit Freuds Todestrieb noch mit der Vorstellungder explosiven Befreiung viel zu tun hat, und ohnehin anden Kinokassen floppt. Naomie GramlichKatalog zur Ausstellung „The Whole Earth“ (siehe S. 16/17)„The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden desAußen“, Herausgeber: Diedrich Diederichsen und AnselmFranke, Deutsch / Englisch, 26 × 35 cm, 208 Seiten, SternbergPress, Berlin 2013


Ökologie-SpezialEigentlich bin ich kein Naturfreund. Schon der Gedanke aneinen Ausflug ins Berliner Umland löst bei mir etwas Unbehagenaus. Dieses leicht verquollene Gefühl, das jeder kennt, dereinmal morgens im taunassen Zelt aufwachte, versuche ich zuvermeiden. Stimmt natürlich nicht ganz, drückt aber vielleichtals Einstieg zu unserem „Ökologie-Spezial“ das VerhältnisMensch-Natur ganz gut aus. Es ist jedenfalls nicht zwangsläufigein sonderlich nahes. Das Verhältnis der bildenden Kunstzu unserem natürlichen Umfeld ist nicht unbedingt besser.Einerseits systemisch, denn der Kunstbetrieb als urkapitalistischesNimmersattgebilde verheizt Ressourcen, je globalisierterund größenwahnsinniger desto mehr. Das reicht von MatthiasArndts 500.000-Flugmeilen-pro-Jahr-Statement in einemkürzlich erschienenen Interview bis hin zu Urs FischersRiesenbronzeabgüssen von Knetabdrücken in China, die dannwieder um die halbe Welt zurückgekarrt werden müssen. Andererseitsthematisch: bis auf die teils hier im Heft aufgelistetenAusnahmen beschäftigen sich recht wenige Künstler mitden verheerenden Auswirkungen der Klimakatastrophe undunserer nahen Zukunft. Unser Gastredakteur Raimar Stangewird ob seiner jahrelangen Beschäftigung mit dem ThemenkomplexÖkologie und Kunst immer wieder auch belächelt:Ach der schon wieder mit seinem Klimascheiß.Dabei sollte es gerade jetzt, wo wir das Phänomen der Überheizungunserer Atmosphäre in unseren medial verstopftenKöpfen immer noch nicht wirklich ernst nehmen – jedenfallsnicht ernster als die Griechenlandkrise oder den Syrienkrieg,was heißt als etwas, das uns persönlich schon nicht betreffenwird – eine Aufgabe der bildenden Kunst sein, langsamer,eindringlicher und anhaltender auf die Klimakatastropheaufmerksam zu machen und mitzuhelfen, einen wirklichenBewusstseinswandel zu erwirken.Sich häufende, extreme Unwetter erreichen mittlerweile auchuns und nicht nur die anderen. Tornados, Riesenhagelkörner,Fluten, die eben keine Jahrhundertfluten sind, müssten docheigentlich weit mehr Leute aufschrecken. Das Wort „Klimawandel“fiel beim TV-Duell Merkel-Steinbrück aber nicht eineinziges Mal. Wir ach so ökologischen Vorzeigedeutschen frönennach wie vor einem ungebremsten Konsumismus, fliegenmal kurz nach Mallorca und zurück, kaufen immer größereAutos, kaufen eh immer mehr und tragen so mit bei, dieWelt unserer Nachfahren zu verheizen. Das muss nicht unbedingtschlimm sein. Der Mensch als ökologische Schwerstverschmutzungschafft sich selbst ab und alles andere regeneriertsich dann hoffentlich irgendwie in den nächsten Jahrhundertenund -tausenden. Aber nicht nur ich habe Kinder. Und einbisschen schade wäre es doch um unsere Gattung.Andreas Koch/ 100 / 21


100 / 22„Aber vielleicht sollten wir nicht nur über Autos reden …“?!/ Gespräch über Ökologie und KunstAndreas Koch / Lieber Raimar, wir haben uns schon öfter andieser Stelle über Kunst und Politik unterhalten, so zuletzt inder 18. „von hundert“ über die Berlin Biennale. Diesmal gehtes um einen sehr wichtigen Bereich des gemeinsamen Zusammenlebens,der Ökologie, im Speziellen um unseren Umgangmit unserer natürlichen Umwelt und die Frage, was die bildendeKunst damit zu tun hat. Um uns nicht allzu sehr zu wiederholen,fasse ich kurz unsere bisherigen Positionen zusammen.Ich war der Meinung, dass Kunst für manche Themender falsche Ort sein könnte. Du, dass brisante Themen an jedemOrt behandelt werden müssen, dass dies zur ethischenGrundhaltung gehören muss. Zur Abwechslung werde ichDir gleich zu Beginn zustimmen, auch wenn ich meine, dassdie meisten Arbeiten zum Thema fast niedlich wirken, angesichtsder zu erwartenden Auswirkungen unserer Umwelteingriffe.Welche Arbeit fällt dir als erstes ein, um den Umgangder bildenden Kunst mit diesem Thema zu beschreiben?Raimar Stange / Was mich an deiner Zusammenfassung stört,ist der Begriff „Thema“, was mir gefällt, ist der der „Haltung“.In der Kunst geht es nämlich nicht um (das Bebildern von)Themen, sondern um (das „Formalisieren“ von) Haltung zurWelt, um – mit G.W.F. Hegel gesprochen – „die Stellung desGeistes zur Objektivität“: Darum auch beantworte ich deineFrage nach einem wichtigen Exponat im Kontext von „Kunst+ Klimakatastrophe“ mit dem Hinweis auf die Aktion „Coyote,I Like America and America Likes Me“ aus dem Jahre1974 von Joseph Beuys. In dieser Aktion lebte Beuys für fünfTage zusammen mit einem Kojoten in einem Ausstellungsraumvon René Block und führte so eine alternative Formdes Umgangs mit Natur vor, eine Form, die eben kein „Umgang“mehr war, sondern ein gleichberechtigtes Miteinander.Insofern war diese Aktion eine treffende Kritik an dem, wasman „Anthropozentrismus“ nennt, also an der blödsinnigenund asozialen Idee, dass der Mensch der Mittelpunkt und dieKrönung der Schöpfung sei. Genau diese Haltung, die es unsdann erlaubt, Umwelt und Natur lediglich als rücksichtslosausbeutbare Ressource zu behandeln, ist die Ursache für dieKlimakatastrophe. Und nur die Abkehr von dieser Haltungkann dafür sorgen, dass wir versuchen, tatsächlich etwas gegendas Fortschreiten und gegen die Folgen der Klimakatastrophezu tun. Kunst sensibilisiert und warnt hier zugleich.Koch / Klar, dass dich das stört. „Thema“ kam ja auch vonmir und „Haltung“ von dir. Aber ich sehe deinen Punkt. Auchgerade wieder in der Ausstellung „The Whole Earth“ von AnselmFranke und Diedrich Diederichsen war die Kunst eherein illustrierender Nebenaspekt und die Hauptleistung derAusstellung lag im Zeigen einer großen Menge von Text- undFilmdokumenten, die leicht zugänglich in ein Displaysystemintegriert waren. Da funktioniert eine Ausstellung natürlichbesser als zum Beispiel ein Katalog. Ich würde die Ausstellungim HKW deshalb auch niemals als Kunstausstellung bezeichnen,eher als ganz gelungene kulturhistorische Aufarbeitungeines „Themas“. Aber sag, ich sehe den Unterschiednoch nicht ganz. Wie unterscheidet sich denn eine gelungeneAusstellung zur Problematik der Klimakatastrophe mitvielen unterschiedlichen Arbeiten, die – ich sag’s jetzt nochmals– thematisch passen, zum Beispiel von der „The WholeEarth“-Ausstellung?Stange / Indem die Ausstellung nicht nur über Haltung redet,sondern auch Haltung einfordert und diese zudem selbsteinnimmt. Die Haltung von „The Whole Earth“ ist, wie leiderall zu oft im „Haus der Kulturen der Welt“ folgende: WirKuratoren wissen mehr als du, also lerne von uns! Ich denke,als Ausstellungsmacher sollte man eher den potenziellen Besucherernst nehmen und mit ihm agieren, was selbstverständlichnicht nur für Ausstellungen zu „Kunst + Klimakatastrophe“ gilt.


100 / 24Na klar fallen mir eine Menge ästhetische Aktionen ein, dieaußerhalb des „white cube“ im Kontext der Klimakatastrophestattgefunden haben. Etwa die Aktion Anfang der Nuller-Jahre,als anonyme Öko-Aktivisten in Berlin (Luxus)Autos,die mehr als zehn Liter pro 100 Kilometer verbrauchen,die Luft aus ihren Reifen gelassen haben. Die (nächtlichen)Aktionen waren nicht einmal Sachbeschädigung und in Flugblättern,die unter dem Scheibenwischer der Wagen platziertwurden, haben die Aktivisten auf den ökologisch-engagiertenImpetus ihres Handelns hingewiesen. Großartig! Und sogarKunst im Kant’schen Sinne, wurden die Autos doch ganzin dessen Sinne gleichsam zu „zweckfreien“, eben nicht fahrtauglichenObjekten transformiert.Da ich, wie du auch, im Kunstsystem beruflich agiere, bin ichletztlich aber doch an Aktivitäten interessiert, die auch tatsächlichim Kunstsystem stattfinden. Dass die Grenzen dafließend sind, weiß ich selbstverständlich auch. Und da fälltmir z. B. Santiago Sierras Projekt in Stommeln ein, in dem erAbgase aus mit laufendem Motor stehenden Pkws in eine Synagogegeleitet hat. Eine wunderbare, intelligente Parallelführungvon Autofahren und Judenvergasung, denn selbstverständlichwissen heute Autofahrer was sie tun, wenn sie CO2in die Umwelt ausstoßen, genauso wie die meisten Deutschendamals bewusst die Juden haben vergasen lassen: Autofahrertöten über kurz oder halblang abertausende Menschen. Dennunsere Umwelt ist ein geschlossenes System, genauso wie damalsNazi-Deutschland oder wie damals wie heute eine Synagogeein geschlossenes System ist. Und hat nicht Adolf Hitlersowohl an der Entwicklung des sogenannten – nomen estomen – „Volkswagen“ mitgearbeitet, wie er die ersten Autobahnenhat bauen lassen?! Und wer hat das Nazi-Regime damalsfinanziert? In erster Linie die deutsche, kapitalistischeSchwerindustrie … Später übrigens wurde der „Volkswagen“– in einer Reihe stehend etwa mit dem „Volksempfänger“und dem „Volkssturm“ –, diese Geschichte verschleiernd,umgetauft in „Käfer“, ganz so als ob das Auto ein Freund derNatur wäre, was die nächste Verschleierung wäre. Heute baut„VW“ einen „Golf“, der mehr CO2 ausstößt, als sein Ursprungsmodelin den 1970er Jahren und der treffende Werbeslogandazu lautet: „Um so ein Auto bauen zu können, muss manden Menschen kennen“ – Anthropozentrismus pur! DieseLeute aber wissen genau was sie tun und sie tun es trotzdem(Stichwort: Aufklärung).Theodor W. Adorno hat bekanntlich gesagt, dass man „nachAuschwitz keine Gedichte mehr schreiben kann“. Zu ungeheuerlichist der Schrecken und entzieht sich daher jedweder(ästhetischen) Darstellung. Santiago Sierra aber versucht genaudieses mit seinem Vergleich – die Reaktion auf sein Projekt,das nach wenigen Tagen abgebrochen werden musste,zeugt davon, dass die Betroffenen, die deutsche Autofahrernation,seine Arbeit verstanden haben und entsprechend aggressivkonterten. Aber vielleicht sollten wir nicht nur überAutos reden …Koch / Genau, Raimar, du hast bestimmt auch keinen Führerscheinoder fährst aus noch anderen Gründen kein Auto.Du weißt, dass das ein herber Vergleich ist. Einerseits verharmloster den organisierten, direkten Massenmord anden Juden und anderen Bevölkerungsgruppen, andererseitsschmeißt du uns alle, dich eingeschlossen, in eine Kiste mitden Nazis. Das klingt zwar schmissig, geht aber nicht. Was istmit den Vielfliegern, oder auch den Wenigfliegern? Was istmit den Fleischfressern und Milchtrinkern? Mit den In-nichtgedämmten-Häusern-Heizern?Wir alle heizen kräftig mit.Oder bist du Veganer? Wann bist du das letzte Mal geflogen?Stange / Es ist bezeichnend, dass du so aggressiv reagierstund auf nicht einen einzigen Punkt in meinem Vergleich vonNationalsozialismus und Kfz-Fahren sachlich eingehst. Sierraverharmlost das systematische Töten der Juden in keinsterWeise, vergleichen heißt ja vor allem Unterschiede herstellenund eben nicht bloß gleichsetzen. So konnte man die Synagogebei Sierras Arbeit betreten, dafür lagen Gasmasken bereit,und selbstverständlich weiß Sierra, dass den Juden solchenicht zur Verfügung standen – ein wichtiger Unterschied, derbelegt, dass es ihm um die Täterperspektive geht, nicht in ersterLinie um die Opfer. Und in der Tat, da wiederum hast dunicht unrecht: Wir sind alle täglich Täter, was die Klimakatastropheanbelangt. Aber auch da gibt es Unterschiede, z.B.ob man eine Wahl hat oder nicht, ob man bewusst die Umweltschädigt um Profit zu machen, ob man sich dennoch fürdie Umwelt engagiert etc. Santiago Sierras Arbeit spielt übrigensauf das „Project Stockholm“ (1972/2007) von GustavMetzger an, in dem 100 Autos um ein rechteckiges Kunststoffzeltstehen, ebenfalls mit laufendem Motor, und ebenfallswurden die Abgase in das Zelt geleitet. Eine sich potenziellselbstzerstörende Gaskammer also hat Metzger da konstruiert.Die Arbeit war damals kein Skandal, konnte man


dem Juden Metzger, der als Kind vor den Nazis nach Englandfliehen musste und seitdem dort lebt, schlecht so blöde menschelnddaherkommen, wie du gerade mir. Später hat Metzgerdiese Arbeit variiert, indem er auf einzelne Pkws Glasvitrinengestellt hat, in denen Pflanzen lebten. In diese hat er dann dasAbgas eingeleitet – wiederum ein klarer Verweis auf Umweltzerstörungdurch Autofahren.Koch / Jetzt weichst du meinen Fragen aber geschickt aus.„Menschelnd“ ist übrigens niemals blöde und dir geht es jaauch um die Rettung unserer Gattung, wenn ich dich richtigverstehe. Ich habe dich aber nach deiner Täterperspektivegefragt. Warum der Fokus so stark auf die Autofahrer?Laut ADAC verursachen die Autofahrer samt sonstigem Zulieferverkehr(zum Beispiel für Rotwein aus Italien) 12,5 Prozentder CO2-Emissionen. Sie schreiben, als Lobbyblatt, „nur“12,5%. Ich finde das einen hohen Wert, das rechtfertigt abernicht deinen extremen Fokus auf die Gruppe der Autofahrer.Die Autofahrer selbst machen ja keinen Profit und duschreibst „Autofahrer töten über kurz oder halblang abertausendeMenschen“ und nicht „die Autoindustrie tötet …“ oder„der Milchtrinker tötet“ oder „ich lebe in einem unsaniertenHaus und heize mit Gamat und deshalb töte ich über kurzoder halblang mehrere Menschen“ …Stange / Also nur noch kurz zu den Autofahrern und der Autoindustrie:Da machen sich selbstverständlich beide schuldig,denn die Industrie ist für ihren Profit auf den Käufer und späterenFahrer angewiesen. Und dieser kann sich für vernünftigereAutos als für Luxuswagen oder SUVs entscheiden. Odergar für die Deutsche Bundesbahn.Und noch einmal kurz zu deiner Diskreditierung von (meiner)Haltung: Es ist eine weit verbreitete und wohlfeile rhetorischeStrategie, Haltung einzufordern, die hundertprozentigkorrekt ist. Dass dieses nicht möglich ist, ist (dir) natürlichklar, „im falschen Leben gibt es kein richtiges" (Adorno) undso kann man dann sich politisch engagierende Mensch ganzbequem nicht ernst nehmen.Außerdem: Habe ich nicht selbst in meiner vorletzten Antwortgebeten: „Aber vielleicht sollten wir nicht nur über Autosreden …“?! Denn selbstverständlich gibt es viele andereAspekte, die in unserem Zusammenhang wichtig sind. Etwagenerell den der Abhängigkeit der real existierenden Politikvon den Lobbyisten, der dann dafür sorgt, dass letztlich bei allenUmweltfragen doch immer noch im Sinne der Industrieentschieden wird. Auch da setzt die Verantwortung der Kunstein, denn ihr Betriebssystem ist ein noch relativ unabhängiges– wenn man sich nicht, gleichsam in „selbstverschuldeterUnmündigkeit“ (Immanuel Kant), in die Fänge des (hedonistischen)Kunstmarktes begibt. Dieses wird dann meist gerechtfertigtmit der scheinheiligen Ideologie der „autonomen“Kunst, die sich eben nicht politisch engagieren darf, würde siedann doch ihre vermeintliche Freiheit verlieren. Doch, wiegesagt, da hat Gott sei Dank selbst die letzte documenta nichtmehr mitgespielt.Koch / Ich habe nichts gegen deine Haltung und will sienicht diskreditieren. Ich ärgere mich auch über SUV-Fahrer,genauso über Vielflieger oder die Ich-flieg-mal-kurz-nach-Malle-ist-ja-so-günstig-Flieger. Nur sollte man im Glashausnicht mit einem Maschinengewehr rumballern. Das bringtuns nicht weiter und löst allenfalls Kopfschütteln aus.Aber zurück zur Analyse: Wir Deutschen fühlen uns ja mittlerweilegenerell auf der guten Seite, sind wir scheinbar dieeinzigen, die es mit der Umwelt ernst nehmen. Wir habenseit 1990 unsere CO2-Emissionen reduziert, wir wuppen denAtomausstieg und sind die besten Mülltrenner der Welt. Beider 25-prozentigen Reduktion seit 1990 wird meist vergessen,dass das auch dank der Demontage der ostdeutschen Industriepassierte. Außerdem liegen wir immer noch auf Rangsechs der weltweiten Emittenten. So kreieren die Lobbyistenüber die Medien ein rosiges Bild und der einzelne denkt, unsgeht’s gut, wir sind gut, ich merk nichts von Klimakatastrophe,also kauf ich mir jetzt halt doch den Porsche Cayenne mit270 Gramm CO2-Emission pro Kilometer.Wenn man bei seinen Freunden den Neuseelandflug kritisiert,ist man gleich der Spielverderber, dabei haben die mit einemFlug gleich mal den anderthalbfachen Gesamtjahresdurchschnittsverbrauchweg. Da sagt dann der Cayennefahrer, dafürkönnte ich 55.000 km mit meinem Spaßmobil rumfahren.Ich weiß, du bist kein Freund von Zahlen, und mein Beispielzeigt nur, dass dann der eine mit dem anderen sein Gewissenberuhigt. Andererseits helfen Zahlen auch dabei, zu wissen,wo ich wirklich effektiv sparen kann und auf was ich aufjeden Fall verzichten sollte. Nur noch eine interessante Zahlzum Schluss: ein Kilo Käse hat bei gleichem Energiegehaltzehn Mal so hohe CO2-Emissionen hinter sich wie Nudeln;und Ein-Kilo-Käse-Essen könnte man mit 30-km-Cayenne-Fahren gleichsetzen. Ich finde schon, dass man einen Weg findenkönnte, jedem Bürger ein Kontingent an CO2-Emissionzuzuweisen und danach muss man eben mehr oder wenigerzahlen. Also Kyoto für Privatpersonen. An Tankstellen, Lebensmittel-Läden,Flughäfen, bei der Stromabrechnung wirddir dein Verbrauch einfach von einer persönlichen Payback-Karte abgezogen, bis nichts mehr drauf ist und dann musst duteuer CO2-Punkte nachkaufen … Was hältst du von so was?Stange / Mir fehlen die Worte. Dank dir für das Gespräch./ 100 / 25


100 / 26Grüne Illusionen/ Verzicht statt Status Quo oder WachstumAlle reden vom Klimawandel. Gegenüber dieser fatalen Bedrohungder Überlebensbedingungen in den kommendenJahrzehnten sind alle mindestens ebenso gravierenden Umweltproblemein den Hintergrund getreten: die Überfischungder Meere, die Bodenverluste, die Vermüllung der Ozeanespielen in der öffentlichen Aufmerksamkeit nur eine Nebenrolle.Der Grund dafür ist einfach: Würde man über dieseDinge sprechen, käme man nicht umhin, über das eigene Verhaltenzu sprechen: denn schließlich entsteht der ganze Aufwandund der ganze Dreck nur durch unsere scheinbar unstillbarenKonsumbedürfnisse.Da hat der Klimawandel schon Vorteile: Seine Verursachungliegt Jahrzehnte zurück, man rechnet in abstrakten Zahlenvon Gigatonnen CO2 und redet ominös von „2-Grad-Leitplanken“,und vor allem: er gilt als technisch lösbar. Dafür hatman ja die Energiewende erfunden. Die Technik wird dafürsorgen, dass nicht mehr so viel Treibhausgase die Atmosphärebelasten werden. Die Kanzlerin teilt gerade in einer bundesweitverteilten Broschüre mit: „Die Gestaltung der Energiewendeerfordert ein Umdenken von uns allen – bei der Erzeugung,Verteilung und beim Verbrauch von Energie. DiesesUmdenken findet in neuen Technologien und Systemlösungenseinen Ausdruck.“ Das heißt: es kann so weitergehen wiebisher, die Technik wird schon alles richten.Auch dem Konsumenten hilft die Technik beim klimafreundlichenVerhalten. Er kann sich zum Beispiel den carbon footprinteines Produkts auf seinem smartphone anzeigen lassen.Oder den „echten“ Preis, also den, der anfallen würden, wennman die externalisierten Kosten einrechnete. Findige Programmiererentwickeln nämlich Apps, die strategische odermoralische Konsumentscheidungen erleichtern sollen, indemsie Informationen zum Produkt liefern, die dieses selbstnicht preisgibt. So könnte ein so unschuldig daherkommenderFruchtjoghurt sich unmittelbar als die ökologische Katastropheouten, die er hinsichtlich der seiner Klimawirkungentatsächlich ist. Und der potentielle Käufer könnte zugleichsehen, dass der „echte Preis“ für dieses Produkt eben nicht0,39 Euro ist, sondern unter Einrechnung aller externalisiertenUmweltkosten zum Beispiel 1,89 Euro wäre. Fasziniertkann er dann das danebenstehende Konkurrenzprodukt ausdem Kühlregal nehmen, sein smartphone dieselben Berechnungendurchführen lassen und feststellen, dass dieses Produktzwanzig Prozent weniger klimaschädlich ist als das vorherigeund sein „echter Preis“ nur 1,45 Euro ist. Es schmecktzwar nicht und kostet mit 0,79 Euro im falschen Preis mehrals das doppelte des schuldigen Joghurts, aber das Gerät hatpsychologisch die korrekte Kaufentscheidung schon festgelegt.Wer würde davon noch abweichen, nachdem der ganzeAufwand getrieben worden ist?Allerdings: der Recherche- und Rechenaufwand, der hinterdem Rücken des informationshungrigen Käufers getriebenwird und erhebliche Mengen Energie für den Betriebder Suchmaschinen erfordert, wird hier natürlich nicht berechnet– wie überhaupt generell übersehen wird, dass all dieBerechnerei von carbon footprints und ökologischen Rucksäckenzur permanenten Erhöhung von Aufwand beiträgt.Dem Klima ist es übrigens gleichgültig, ob die Server vonGoogle laufen, weil jemand wissen möchte, ob Lady Gagabeim Zahnarzt war oder welcher Joghurt unter Gesichtspunktendes Klimaschutzes empfehlenswert ist – Energie erfordernbeide Typen von Information gleichermaßen.Anstatt sich nun intuitiv für einen beliebigen Joghurt zu entscheidenoder sogar überhaupt keinen zu kaufen, überlässtder potentielle Käufer seine Entscheidung dem Aufwandserhöhungs-App,das er auf seinem Smartphone installiert hat,und hat sich unter dem Vorzeichen des Klimaschutzes ent-


mündigt. Seine Smartness hat er an das Produkt abgegeben,dass seine Entscheidungsparameter objektiviert und unabhängigvon seinen eigenen Präferenzen die Wahl trifft. Dasselbetun auch all jene „smart grids“, die Stromverbräuche inklimabewussten Haushalten so steuern sollen, dass im Landein ausgeglichener Zustand zwischen Stromangebot und –nachfrage herrscht. Hier überantwortet der Energiekonsumentdie Entscheidung, ob er sich jetzt eine Pizza aufbackenoder die schmutzige Wäsche waschen soll, dem kleinen Rechner,der ihn über die günstigste und daher entsprechend tarifierteNutzungszeit aufklärt.Die flächendeckende Einführung solcher Innovationen sollDeutschland zusammen mit den Technologien erneuerbarerEnergieerzeugung das Wunder eines ungebremsten Wirtschaftswachstumsbei sinkendem Ressourcen- und Energieverbrauchverschaffen. Das nennt man dann „grünes Wachstum“und freut sich, dass die Zukunft so bleiben kann, wie dieGegenwart ist. Verzichten muss niemand auf nichts.Und nun die illusionslose Lesart des Klimawandels. Der Umweltaktivistund Autor Bill McKibben hat unlängst in einembrillanten Artikel (www.rollingstone/politics/news/global-warmings-terrifying-new-math-201) im „Rolling Stone“ beschrieben,womit man es im Fall des Klimawandels zu tun hat: nichtmit einem Problem ohne Täter und Verantwortliche, sondernmit einem radikalen Interessengegensatz, der sich sehr einfachformulieren lässt. Möchte man das sogenannte 2-Grad-Zielerreichen, darf man weltweit bis zur Jahrhundertmitte nichtmehr als etwa 565 weitere Gigatonnen CO2 in die Atmosphäreblasen. So sagt es übereinstimmend die Klimaforschung. Diegegenwärtig vorhandenen Lager für fossile Energien umfassenallerdings ein Potential von 2795 Gigatonnen CO2, also etwadie fünffache Menge. Das Geschäftsmodell aller Mineralölunternehmenbesteht schlicht und einfach darin, diese 2795 Gigatonnenaus dem Boden und aus dem Meer, aus dem Ölschieferund den Ölsänden zu holen und auf den Markt zu bringen,und folgerichtig tun sie das auch, und zwar völlig unbekümmertum alle Probleme der globalen Klimaerwärmung. Sie investierengigantische Summen in die Erschließung der Vorkommen,weil sie damit gigantische Umsätze und Gewinnezu erzielen gedenken. Exxon beispielsweise wird bis 2016 jährlich37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommenund ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähreinhundert Millionen Dollar jeden Tag (Quelle aus dem gleichenRolling-Stone-Artikel).Das Geschäftsmodell von Unternehmen dieser Art ist die Zerstörungder Erde. Wollte man gegen den Klimawandel tatsächlichetwas unternehmen, müsste man also dieses Geschäftsmodellzerstören. Gegenwärtig würde allerdings kein politischerAkteur gegen die Absichten von BP, Exxon, Gazprom usw. vorgehen,weil die komplette Wirtschaft und ihr Wachstumsprinzipvon der beständigen Dosiserhöhung der täglichen Infusionmit fossilen Rohstoffen abgängig ist. Mehr noch: weil auch derAufstieg der Mittelklassen in den Schwellenländern und dieErhöhung der Lebensstandards in den asiatischen und südamerikanischenLändern genau daran hängt.Das ist am Beispiel der Verbesserung des Lebensstandards derBewohnerinnen und Bewohner der Schwellenländer zu belegen,eben an der rasanten Entwicklung von Mittelklassen,von Konsumkulturen, von erhöhtem Wohlstand, von besse-rer Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Denn es geschiehtja beides zugleich: die Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandardsund der Geschwindigkeit der Zerstörung dernatürlichen Ressourcen. Das, was in ökologischer Hinsichtkatastrophale Jahre sind, das sind für die aufsteigenden Bevölkerungsgruppenin Brasilien, China, Vietnam Wirtschaftswunderjahre,psychologisch wie ökonomisch vergleichbarmit der westeuropäischen Nachkriegszeit.Hier und in den USA ging es schon vor einem halben Jahrhundertrichtig los mit dem Massenkonsum und der permanentenAusweitung der Komfortzone; die Kehrseite des Aufstiegsbildeten exponentielle Steigerungsraten im Material- undEnergieverbrauch, bei den Emissionen und beim Müll – genauwie jetzt in den Schwellenländern. Die Zahlen sprechenfür sich: während heute jeden Tag 50.000 Hektar Wald gerodet,100 Arten verschwinden und 350.000 Tonnen Fisch ausdem Meer geholt werden und Investoren überall auf der WeltLand aufkaufen, hat sich die weltweite Armut reduziert: DieZahl derjenigen, die pro Tag nicht mehr als einen Dollar ausgebenkönnen, hat sich seit dem Erdgipfel von Rio 1992 halbiert;wahrscheinlich gibt es demnächst auch weniger als eineMilliarde absolut arme Menschen. Beim Zugang zu Trinkwasserzeigt sich die gleiche Tendenz; insgesamt werden weitmehr Lebensmittel produziert als vor zwanzig Jahren, und sogardie Zahl der Kriege hat abgenommen.Was man hier beobachten kann, entspricht insgesamt genaujenem „Fahrstuhleffekt“, der den sozialen Frieden im Nachkriegseuropagewährleistet hat: Zwar blieb soziale Ungleichheitbestehen, vertiefte sich zum Teil sogar, aber mit dem Lebensstandardging es für alle im Fahrstuhl nach oben. Dasist das unzweifelhafte Verdienst des Prinzips der Wachstumswirtschaft:kein System hat historisch vergleichbar schnell sozialeVerhältnisse verbessert und damit für Viele zum erstenMal ein Gefühl von Chancen und Freiheit gegeben.Leider machen diese Wirtschaftswunder das Leben nur kurzfristigbesser; mittelfristig unterminieren sie ihren eigenen Erfolg.Denn die globale Wachstumswirtschaft ist zutiefst unökonomisch,da sie ihre eigenen Voraussetzungen aufzehrt.Die Wahrheit ist nicht schön: das ethisch wünschenswerteZiel global auch nur annähernd egalitärer Wohlstandsniveaussteht in Widerspruch zu allen Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen.Klimaschutz und Wachstum schließen sich wechselseitigaus. Will man soziale Gerechtigkeit und Klimaschutzim globalen Maßstand, hilft alles nichts: Dann muss man dieKomfortzone verlassen, auf Wohlstand verzichten, abgeben,andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln.Was das politisch heißt, kann nicht durch Technikbeantwortet werden, sondern nur durch die ernsthafte undkonfliktträchtige Auseinandersetzung darüber, was man fürdie Zukunft bewahren und was man aufgeben muss. GrüneIllusionen helfen da kein bisschen weiter. Harald Welzer/ 100 / 27


Klima-Arbeiten/ 100 / 28/ Eine Auswahl von Eva ScharrerAmy Balkin, „Public Smog“, 2004–fortlaufendAmy Balkins Langzeitvorhaben „Public Smog“ hat das ambitionierteZiel, in der Atmosphäre einen Park sauberer Luft zuschaffen. Zu den damit verbundenen konzeptuellen, ökonomischenund politischen Eingriffen gehört unter anderem dieEintragung der Erdatmosphäre als UNESCO-Welterbe. „PublicSmog“ wurde im Sommer 2004 in der Troposphäre überdem südlichen Kalifornien eröffnet, indem die Künstlerin aufeinem regionalen Treibhausgasemissionsmarkt das Recht aufdie Emission von elf Kilogramm Stickoxid erwarb und nichtwahrnahm – eine Minimaltransaktion, die dem Markt unddem Himmel über der Region von Los Angeles eine kleine,aber messbare Menge Smog verursachender Chemikalien entzog.Diesen Raum dauerhaft zu erhalten und seine Aufnahmein das Welterbeverzeichnis zu erreichen, würde bedeuten, ihnauf die gesamte Atmosphäre auszudehnen. Um am offiziellenBewerbungsverfahren teilzunehmen, machte Balkin eine Aufstellungsämtlicher Kriterien, nach denen die Atmosphäre eineinmaliges Gut darstellt und deshalb als Weltnaturerbe in Betrachtzu ziehen ist, das Schutz und Erhaltung verdient. DieTatsache, dass die Atmosphäre grenzenlos ist, Staaten aber nurStätten innerhalb ihrer Grenzen nominieren dürfen, ist eineder Herausforderungen, vor denen das Projekt steht. Im Rahmender dOCUMENTA (13) wurden Bitten um Unterstützungan 186 UNESCO-Länder versandt (eine nach Berlin), in denendiese dazu eingeladen wurden, sich einzeln oder im Rahmen einesKoalitionskomitees an die Spitze des Projekts zu setzen, umein außergewöhnliches Verfahren voranzutreiben. Die Dokumente,die sich im Verlauf des Prozesses angesammelt hatten,wurden in einer Konzeptkunst-typischen Installation à la Darbovenpräsentiert. In ihnen offenbaren sich die Lücken im internationalenRecht sowie die Hindernisse, die es dem gemeinschaftlichenVorgehen gegen Klimawandel in den Weg stellt.Peter Fend, „Parallelprojekte.Vorschläge für Condoleezza Rice“, 2005Auf der Suche nach einer Synthese von Kunst und Wissenschaftgründete Peter Fend 1980 die „Ocean Earth Constructionand Development Corporation“, in der Künstler, Architektenund Wissenschaftler nach alternativen Energiequellenforschen. Dazu gehört unter anderem die Entwicklung ökologischvertretbarer Upgrades für die primären EnergiequellenKohlenwasserstoff und Hydroelektrik. Fend knüpft dabeibewusst an die Tradition der Land Art, Earth Art, der Konzeptkunstund des Happening an, wo traditionelle Formender Kunstproduktion radikal aufgebrochen und das individuelleKunstschaffen durch komplexere, kollektive Arbeitsprozesseerweitert bzw. ersetzt werden. Die Erde selbst wirdzum Werk erklärt, in dem sich ökologische, politische undkünstlerische Aspekte verbinden. Die Einzelausstellung „Parallelprojekte.Vorschläge für Condoleezza Rice“ in der GalerieNagel in Berlin beschäftigte sich anhand einer Vielzahlvon Recherchedokumenten, Landkarten und Modellen mitThemen wie der internationalen Ölpolitik und den Folgender Ausbeutung von Rohstoffquellen zur Energiegewinnung,der Erwärmung der Erdatmosphäre, der Versteppung von immermehr vormals fruchtbaren Gebieten und den daraus entstehendensozialen Ungleichheiten. Obwohl sie für viele denAnschein des Utopischen haben, ist Fend fest von der Realisierbarkeitund Funktionalität seiner Projekte in Form unterirdischerWasserkanäle oder der Gewinnung von Biogas ausWasserpflanzen überzeugt – allerdings fehlt es wie so oft ander nötigen finanzkräftigen Lobby, die ambitionierten Projektedurchzuführen.


Olafur Eliasson, „your waste of time“, 20062006, im Jahr des Stern-Reports (N. Stern: „Stern Reviewon the Economics of Climate Change“), ließ Olafur Eliassonsechs Tonnen Eis, die von einem der größten und ältestenGletscher in seiner isländischen Heimat abgebrochen waren,in die Berliner Galerie neugerriemschneider transportieren,wo sie von einer an der Decke angebrachten, isoliertenKühlungsmaschine bei einer konstanten Temperatur vonminus sechs Grad in Form gehalten wurden. Jedes Jahr sinktder Vatnajökull um 1 mm ab. Das 15.000 Jahre alte Gletschereis,durch Gletscherschmelze aufgrund globaler Erwärmungakut vom Verschwinden bedroht, wurde im Galerieraum untererheblichem Energieaufwand – der wiederum seinen Teilzur Klimakatastrophe beiträgt – für die Dauer der Ausstellungkünstlich konserviert. Gleichzeitig verwieß der unverhältnismässigeTransportaufwand auf die Absurdität globalisierterHandelswege. Die Qualität der Arbeit liegt gerade im offensichtlichenWiderspruch zwischen ihrer skulpturalen Schönheitund der implizierten kunsthistorischen Referenzen vonCasper David Friedrich bis zu Werken der Land Art auf dereinen Seite, und ihren verstörenden ökonomischen, ökologischenwie politischen Implikationen auf der anderen.Tue Greenfort, „Exceeding 2 degrees“, 20072° Celsius – dies war die Voraussage des Stern-Reports 2006zu einer mindestens zu erwartenden Erderwärmung. Vorausgesetzt,es würden drastische Maßnahmen ergriffen, dieKonzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre unter550 ppm zu halten. Heute sind wir bereits bei nicht mehrzu kontrollierenden 4° Celsius. In seinem Beitrag für die 8.Sharjah Biennale 2007 nahm der in Berlin lebende dänischeKünstler Tue Greenfort diese längst überholte optimistischePrognose auf, um ihre abstrakte Größe durch einen visuellkaum wahrzunehmenden institutionellen Eingriff sichtbar zumachen. Er ließ die Temperatur des extrem stark klimatisiertenSharjah-Art-Museums um genau 2° hochsetzen (ein Unterfangenvon ungeahntem bürokratischen Ausmaß), den resultierendenEffekt mittels eines Thermohydrographen aufzeichnen,und stellte die wöchentlich ausgedruckten Messungenim ansonsten leer belassenen Galerieraum aus. Mit der –ironielos gut gemeinten – Aktion stellte Greenfort eine einfacheÖkorechnung auf: mittels der Ersparnis an Elektrizitätüber die Ausstellungsdauer von zwei Monaten erwarb derKünstler 6105,4125 m 2 Regenwald in Ecuador./ 100 / 29


100 / 30Björn Melhus, Projektskizze „99 Luftballons zur 98. Biennale di Christine Würmell, „Dissonanzproduktion“, 2009Venezia, 2099“, 2009Mit der Installation „Dissonanzproduktion“ für das FoyerVenedig, die sinkende Stadt – wir wissen es längst, doch könnenwir uns wirklich das Ausmaß der Prophezeihung vorstelmellexplizit auf den Klimawandel und seine gesellschaftli-der Temporären Kunsthalle Berlin bezog sich Christine Würlen?Wie diese im Zuge des voranschreitenden Klimawandels chen Folgen und setzte dabei unterschiedliche Referenzsystemeaus Kunst und mediatisiertem Alltag zueinander in Be-in nicht allzuferner Zukunft konkret aussehen könnte, demonstrierteBjörn Melhus anlässlich der 53. Venedig Biennale ziehung. Künstlerische, politische, wissenschaftliche und statistischeAussagen überlagern sich, werden retuschiert und inim Jahr 2009. An den Geländern verschiedener Brücken solltenHeliumballons angebracht werden, die das Logo der Biennaletragen sowie die Jahreszahl 2099. Die unteren zwei Drittionbewusst manipuliert wird. Zunächst wurde der dunkel-neue Zusammenhänge überführt, wodurch ihre Interpretatelder Ballons sind blau bedruckt, so dass es aussieht, als wärensowohl Logo als auch Jahreszahl „bis zum Hals“ im Wasbombenbombardiert und so in eine Art white cube verwangraugehaltene ehemalige Garderobenraum mit weißen Farbserversunken. Die blaue Linie der einige Meter über dem tatsächlichenWasserspiegel – und einige Zentimeter über Augen-des aktivistischen Angriffs sichtbar waren. In dem Weiß wadelt,an dessen Rückwand jedoch noch deutlich die Spurenhöhe der potenziellen Besucher – schwebenden Ballons markiertden Wasserpegel, den Venedig im Jahr 2099 zur 98. Bienenbildernund farbigen Infografiken (diese waren vorher aufren graue Rechtecke ausgespart, in die Fotografien von Medinaletatsächlich haben könnte. Mit diesem Vorschlag zu einem Leinwand und Wand gesprayt und abfotografiert worden) gesetztwaren, die wiederum von gesprayten Parolen – politischespielerischen Eingriff in den öffentlichen Raum verweist Melhusauf die durchaus ernstzunehmende Katastrophe. Graffities, die die Künstlerin im Stadtraum dokumentierthatte – überschrieben wurden. „Alle Autos in die Antarktis“lesen wir zum Beispiel über einem Medienbild von SchwarzeneggersUnterzeichnung des „Global Warming SolutionsAct“ (2006), das mit dem Slogan „California Leaders EndingGlobal Warming“ glauben machen will, dass tatsächlich irgendetwasgegen den Klimawandel geschähe. Das Diptychon„Futures“ entstand nach einer – bereits nicht mehr dem aktuellenStand entsprechenden – Grafik zur Erderwärmungsprognoseund visualisiert anhand von fünf Kurven fünf möglicheZukunftsszenarien. Auf der einen Seite sehen wir den ausgescnittenenTeil als rein abstrakte Malerei (die Leinwand, dienach dem Besprühen von der Wand entfernt wurde), auf deranderen die Negativstelle mit den Sprayspuren, auf die derInformationsgehalt der Grafik eingetragen wurde. In einerbewussten Kombination von „symbolischer“ und „dialektischer“Collage (Rancière) verschränkt Würmell hier ästhetische,kulturelle und politisch-aktivistische Diskurse zur Eröffnungneuer Denkräume.


Ulrike Mohr, „Welt-Kataster“, 2010Die Berliner Künstlerin Ulrike Mohr beschäftigt sich in einerReihe von Arbeiten mit dem Werkstoff Kohle und dem praktischausgestorbenen Handwerk des Köhlerns, das sie sichselbst angeeignet hat und zur Herstellung künstlerischer Arbeitenpraktiziert. Die für den Raum für Junge Kunst in derAutostadt Wolfsburg konzipierte Arbeit „Welt-Kataster“ beziehtsich auf eine wissenschaftliche Studie, nach der durchdas Eingraben von eigens gebrannter Biokohle in die ErdeKohlendioxid gebunden werden kann. Dies wäre Klimaforschernzufolge eine ökologisch verträgliche Möglichkeit, denCO2-Ausstoß in der Atmosphäre zu reduzieren. Dafür müsstenjedoch unermessliche Mengen an Holz weltweit geköhlertwerden, und noch ist das Verbrennen von Kohle profitablerals das Vergraben. „Welt-Kataster“ besteht aus einem mit weißemPapier bedecktem Tisch, auf dem sich geometrische Objekteaus Holzkohle in unterschiedlicher Form und Größe befinden.Die Anordnung der kleinen Kuben und Quader lässtan architektonische Modelle aus der Stadtplanung denken,an eine dreidimensionale Infografik einer Weltkarte, oder anein Brettspiel, in dem es darum geht, durch Platzierung dereigenen Spielsteine Landstriche strategisch zu besetzen. Mohrverwendete für die Arbeit keine selbstgeköhlerte Kohle, sondernhandelsübliche Heizwahre, die sie durch säuberlichesZuschleifen skulptural bearbeitet hat. In den Kunstkontextüberführt, werden die Kohlestücke – selbstverständlich reinsymbolisch – dem umweltschädlichen Prozess des Verfeuernsentzogen. In ihrer minimalistischen Ästhetik – man denkeetwa an Robert Morris – stellt die Arbeit fundamentale Fragennach der kulturellen und archäologischen Bedeutung vonWäldern, der Vermessung, Verteilung und Nutzung von Land,und nach der zwiespältigen Eigenschaft von Kohlestoffverbindungen,die ja einerseits die molekulare Grundlage allenLebens auf der Erde bilden, gleichzeitig aber auch zu dessenZerstörung beitragen.Dan Peterman, „La Plage (Plastic Bones)“, 2011Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitet Dan Peterman als Künstlerund Aktivist an der Schnittstelle von Kunst und Ökologie.Das Thema Recycling und alternative Ökonomien stehendabei im Zentrum seiner auf Nachhaltigkeit und Kollektivitätbasierenden Praxis sowie seines ästhetischen Interesses.In der 2011 für die Berliner Galerie Klosterfelde geschaffenenInstallation beschäftigte sich Peterman wie in vielen vorangegangenenkünstlerischen Arbeiten mit der Wiederverwertbarkeitvon Plastik. Der gesamte Boden der Galerie war mitknochenförmigen Modulen aus recyceltem Plastik bedeckt.Die einzelnen Elemente waren so geformt, dass sie wie Pflastersteineineinander passten, jedoch wichen sie minimalst inForm und Farbe voneinander ab, was mit der Unterschiedlichkeitdes recycelten Ausgangsmaterials und dem willkürlichenProzess des Sammelns, Granulierens, Einschmelzensund Neuformens zu tun hat. Die einzelnen Elemente des modularenMaterialsystems waren lose gelegt und konnten vonden Zuschauern beliebig zu neuen Konfigurationen arrangiertoder gestapelt werden – ein Spielfeld der endlosen Möglichkeiten,bei dem immer ein Teil ins andere passt. Der Titelerinnert an den berühmten Ausspruch der Pariser Situationisten,dass unter dem Asphalt der Strand läge („Sous les pavés,la plage“). Gleichzeitig repräsentieren die „Plastikknochen“mit ihrem Vorrat an Erdölchemikalien den unerschöpflichenKonsumszwang unserer kapitalistischen Industriegesellschaftund die Verschmutzung der Meere und Strände dieser Weltdurch die Mengen an weggeschmissenem Plastik. Der negativenKonnotation setzt Peterman jedoch frei nach RolandBarthes in „Mythologies“ (Paris 1957) das Potenzial von Plastikzur unendlichen Transformation entgegen./ 100 / 31


100 / 32Verbale Beruhigungspillen/„Aussterben“, „Klimawandel“ und „Jahrhundertflut“Da liegt das Bild „Baji“, 2010, von Marcel Prüfert vor mir.Mit Biosäften hat der Künstler die vordere Hälfte eines Fischesgemalt, unter diesem steht geschrieben: „Chin. Flussdelfinseit 2006 ausgerottet“. Das letzte Wort vor allem machtdie entscheidende Differenz: Prüfert spricht von „Ausrotten“und eben nicht, wie die durch ihre Abhängigkeit von Reichweiteund Anzeigenaufkommen meist gleichgeschalteten Medien,von „Aussterben“. Mit seiner engagierten Wortwahl betontPrüfert den aktiven Vorgang, dem der chinesische Flussdelfinzum Opfer gefallen ist, nämlich die Zerstörung seinesLebensraumes durch das ungehemmte Ableiten von giftigenIndustrieabfällen in die Flüsse Chinas. Es ist eben keinüber Jahrhunderte quasi natürlich verlaufender Prozess, wennheute Arten „aussterben“ – jede zweite Tierart ist derzeit gefährdet!–, sondern das Resultat von menschlichem Handeln,dem gezielt die Absicht des Verdrängens zu Grunde liegt. Derfranzösische Philosoph Michel Serres hat es so beschrieben:„Die Verschmutzung geht zwar von den berechenbaren Rückständender Energieverarbeitung und -umwandlung aus, gehtaber ursprünglich auf unseren Willen zur Aneignung zurück,auf unseren Wunsch, den Raum unserer Besitztümer zu erobernund zu vergrößern. Wer Seen von vergifteter Zähflüssigkeit… produziert, stellt sicher, dass niemand an seiner statt… sich diese Orte aneignen wird.“ Und genau diese Absichtder anthropozentrischen Alleinherrschaft wird durch die verharmlosendeVokabel „Aussterben“ bewusst ideologisch verschleiert.Das absurde Wortpaar „saubere Bombe“, das die menschheitsbedrohendeAtombombe „beschreiben“ sollte, nahm derPhilosoph und Friedensaktivist Günther Anders in den späten1950er Jahren zum Anlass, über die ideologische Funktionvon Begriffen nachzudenken. Günther Anders definiert solchpolitische Begriffe als „in Pillenform konzentrierte Aussagen“,die als „Lügen“ ein Problem verharmlosen, daher „ideologischenCharakter“ haben und „abgeschafft werden müssen“.Abgeschafft gehört heute sicherlich auch das Wort „Klimawandel“,das die Klimakatastrophe als relativ normalen Vorgangbeschreibt, den es schon einige Male in der Menschheitsgeschichtegegeben hat. Dass dieser sogenannte „Klimawandel“aber erstmals von Menschen verursacht wird und damitin einer unkontrollierbaren, eben Katastrophen generierendenGeschwindigkeit vor sich geht, dies verschweigt dieseBeruhigungspille allerdings konsequent.Ähnliches gilt für das Wort „Jahrhundertflut“. Bekanntlichereignete sich die erste „Jahrhunderflut“ im Jahre 2002, diezweite dann in diesem Jahr. Wie kann das sein: in den erstendreizehn Jahren, in nicht mal einem Sechstel des Jahrhundertsalso, bereits zwei „Jahrhundertfluten“? Diesmal solldie verbale Beruhigungspille suggerieren, solch katastrophaleFluten ereignen sich nur einmal im Jahrhundert – was offensichtlichkeineswegs stimmt. Nicht zuletzt auf Grund der Klimakatastrophegehören solche Naturkatastrophen jetzt nahezuzur Tagesordnung, werden in immer kürzeren Abständennicht nur den Menschen zu schaffen machen – was selbstverständlichin besagten gleichgeschalteten Medien kaum zuhören ist. In diesen werden stattdessen bis heute immer wiederdie Auswirkungen der Klimakatastrophe klein geredet.Da hilft auch wenig, dass Jakob Augstein in der Online-Ausgabedes „Spiegel“ angesichts der diesjährigen Flutkatastropheschrieb: „Welchen Beweis brauchen die Klimawandelleugnerbevor ihnen die Augen aufgehen? Was muss geschehen,damit die Wachstumsprediger dazulernen? Keiner vonihnen wird später sagen können, er habe nichts gewusst.“Raimar Stange


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100 / 36Mit Schnitte #1/ Anja Majer und Esther Ernst bei Larissa FasslerFür ihre Gesprächsreihe „Mit Schnitte“ besuchen die KünstlerinnenAnja Majer und Esther Ernst Kollegen und Kolleginnenam Tag nach ihrer Vernissage und laden sie zu einer mitgebrachtenSchnitte und zum Gespräch über das Phänomender Eröffnung im Allgemeinen und den vergangenen Abendim Speziellen ein.„Mit Schnitte #1“ ist ein Gespräch mit der kanadischen KünstlerinLarissa Fassler über die Vernissage der Ausstellung „Urbanitätmal anders – Künstlerische Projekte zur ästhetischenStadtforschung“, die am 03. 8.2013 in der Galerie am Körnerparkin Berlin-Neukölln stattfand.Anja Majer / Ja, schön, dass es geklappt hat mit dem Gesprächund wir freuen uns, dich zu Hause zu besuchen. Also,wir waren gestern absichtlich nicht bei deiner Eröffnung, weilwir unmittelbar danach und anhand dieses Gesprächs herausfindenmöchten, wie du deine eigene Vernissage erlebt hast.Weil das ja eben eine ganz spezielle Situation ist, wenn Künstlerund Werk zum ersten Mal zusammen in der Öffentlichkeitsind. Eine Zäsur im Arbeitsprozess. Ein Anfangs- und einEndpunkt sozusagen.Du hattest per Mail bereits geschrieben, dass diese Eröffnungfür dich speziell wie ein Anfangs- und Endpunkt ist, weil duzwei ältere Arbeiten zeigst (Prints von Zeichnungen, „Kotti2008“ und „Kotti (revisited)“ aus 2010) und eine Arbeit überden Schlossplatz, die wirklich erst am Anfang ist.Larissa Fassler / Ja, ich zeige meine bisherigen Recherchenüber den Berliner Schlossplatz. Es ist so, dass ich meinen Atelierraumin die Galerie transferiert habe. So it’s interesting.This year I’ve shown a lot of older work and last night was thefirst time that I had the chance to show something that the publichadn’t seen yet. So it actually felt like one of the more excitingopenings that I’ve done in ages. With older works, they’vebeen talked about a lot, so you often already know how theyare perceived. It’s much more exciting when there is a bit ofrisk involved. I like when you place works in a space for thefirst time and a lot of new questions arise. Instantly you seethings that you didn’t see in the studio.Esther Ernst / Warum ist das so, dass man in der Ausstellungspräsentationanders sieht? Ist es die Distanz der anderenRäume, die einen neuen Blick aufmacht?Fassler / Ja, maybe because you have to react to a new room.I think at one point you say: Okay, the work is finished. I’mshowing it. And then you look at it in the new space and think:Aha, it’s not finished. I don’t know, there is a break from atelierto the exhibition space that changes the work. And it was thesame last night with the research. What is the line between havingthe research so clean that it becomes an artwork in itselfversus having it in a rougher state? I don’t want to create theatreeither: I don’t want to pretend that it’s my atelier. So there’sa funny little line – What’s real? What am I trying to present?What am I trying to show?Majer / Hast Du manchmal das Gefühl, du brauchst nochmaleine kurze Zeit vor der Eröffnung allein mit der Arbeit?Also dass du früher kommst und nochmal schaust?Fassler / No, not on the day of the Vernissage. That happensduring the whole week of the Aufbau. I spend a lot of time justsitting and looking at the work. The day of the opening I findI’m slightly nervous all day and I kind of just want it to start.I’m thinking about how the work will be received, what mypeers will think and the general public. I’m interested in seeingafresh some of the choices I’ve made and I am already anticipatingsome of the criticism. And there are a lot of professionalthings that are going on during the whole evening as well.Ernst / Wie war das denn gestern Abend, wenn du sagst, dassdu mit verschiedenen Arbeiten beschäftigt bist: Also Konversationzu führen, professionelle aber auch freundschaftliche,ein bisschen genießen, aber auch diszipliniert sein... Sprichstdu dich normalerweise mit dem Galeristen ab, wie ihr denAbend gestaltet?Fassler / Ja, also gestern Abend Oliver, my gallerist fromSEPTEMBER, needed to be there, because there was a potentialbuyer that we’ve been courting for months, who wantedto see the new work and wanted to talk. And that’s what Italk through with Oliver first: Who’s in Berlin? Who needsto come by? I also do invitations independently of the gallery.So I have my own mailing list and I invite people whoI’m interested in seeing and showing the work to. Last nightI invited two of the curators that I had recently had studio visitswith and who hadn’t yet seen the work installed. I targetcertain people and ask them to come. And then, of course, Imake sure that I speak with all these people.Ernst / Das klingt, als wärst du sehr fokussiert und konzentriertund würdest dich nicht sofort betrinken.Fassler / (lacht) Oh no, a little bit of wine helps. No, I foundthe evening quite enjoyable because I had the chance to speakwith some really interesting people who are also working onsimilar lines of thought. Some of the exchanges are business,


definitely, and so of course, I’m keeping in mind: charming,flattering, interesting, all of that – but actually you can letthat go and just fall into an interesting conversation. Whichfeels better.I find that I now use openings differently compared to, sayfour years ago. I’m more confident in my work so I feel moreopen to talking about it – even if it’s a critique or even if someonedoesn’t like the work much. Criticism doesn’t shake meto my core anymore, so I can talk about it.Ernst / Hörst du wirklich Kritik auf Eröffnungen?Fassler / Ja, in meinem Freundeskreis. Und von anderenKünstlern. Not from general public. Nothing too hard, aquestioning of the use of a material for example. With somequestions you can hear the critique implied.Ernst / Und jetzt zu der alles entscheidenden Frage: Was hattestdu denn gestern an?Fassler / I had on a black mini skirt, black t-shirt, heels – thegallery is located in an elegant Orangerie, so I thought I’d fitthe place. A lot of people came in summer dresses.Majer / Hast du ganz generell bestimmte Vernissagen-Outfits?Majer / Und hast du gestern mehr über die älteren Arbeitenoder mehr über die neue gesprochen?Fassler / Both. The new research is a good way to enter intothe old work as well. It offers some insight into the differentstages of research that go into making my drawings. With thenew research though, it’s fun to talk about where it might go.It’s difficult, describing what you might do in the future, becausewhen I say things like I want to be more abstract or topush and pull shapes – I think what a viewer is imagining andI’m imagining is probably quite different.Majer / Die Situation gestern Abend hört sich so an, als obsie etwas von einem Ateliergespräch hatte? Man zeigt etwas,aber es ist auch eine sehr viel intimere Situation als eine Eröffnung.Fassler / Ja, I have a feeling last night ran like a whole bunchof little studio visits. I think people were really engaged in talkingabout the work because it was so much about processrather than being about looking at finished pieces. The wholeshow yesterday was about Stadtforschung, process, and researchand the conversations were engaging.Ernst / Gehst du die Gespräche am nächsten Tag nochmalJa, I do. It’s funny with aufmerksam und nicht auf-durch?Fassler / Ja, sometimes. If I think I said too much … (lacht)… which might happen here as well.Majer / Und hast du nach der Eröffnung so etwas wie einPremierenloch wenn die ganze Anspannung abfällt?Fassler / Maybe when new pieces are finished. But I think it’sdifferent in this case, because I’m at such a beginning point.Talking about the work yesterday evening actually got me reallyexcited to continue.Fassler /merksam machen. Because I don’t like standing out normally,but to wear clothes that would totally make me disappearwould also be ridiculous – you can’t hide. So I’ve got some favouritethings that I feel super comfortable in, that I knowlook nice. I also don’t want to dress up to the point where Istart feeling uncomfortable. That’s the last thing I need.It was funny, I had an opening in Paris and I asked the galleristwhat level of dress was expected, because I don’t know Parisopenings. In Berlin you can go in anything. In Paris, NO.I mean, he said, whatever, but I like to somehow fit in a bit. Ican’t be outrageous. It’s not me.Majer / Würdest du sagen, dass du, nicht nur bei deiner eigenenVernissage, sondern auch, wenn du zu anderen gehst,eher professionell als privat unterwegs bist?Fassler / Ja, but I think openings are also a nice chance to seepeople I haven’t seen in ages. Pascal, my husband, and I weretalking about that recently. He feels, as he gets older, his socialcircle is getting smaller. Whereas with artists, it’s this really bizarrething with openings that there is a party happening everyweek where I can go if I want to talk to people. And the conversationscan go from anything, from gossip to actually interestingideas, to whatever. I find it interesting that in the artscene there’s this constant social interaction available that onecan be a part of. It’s good because otherwise I’m in my studiowhere I spend the majority of my time alone.Ernst / Wenn du „Kotti 2008“ als Print wieder aufhängstund zeigst, ist das so eine Art Wiedersehensfreude?Fassler / Sometimes, yes. But I also find that that work isnow five years old and I feel like I have developed and learnedso much since then. I want to do so many more things withdrawing and when I look at that work, it feels much older. Ithink „Kotti 2008“ is a fine work but with the new work Iwant to go much further.Ernst / Gab es schon mal Momente wo die Vernissage oderder Aufbau schon so schrecklich war, dass du gleich nach derEröffnung deine Arbeiten am liebsten wieder mit nach Hausegenommen hättest?Fassler / No, I’ve never had that bad an experience, but Ican think of other kinds of moments. At the Kleine HumboldtGalerie, for example, it’s young, young curators there.They are all 24-, 26-year-old art historians. The show was reallygood but at that opening, it was all clearly their crowd. Itwas great to have a piece in such a strong show, the exhibitionwas very good, but I was relatively anonymous in the crowdthat evening. The curators were very excited about their showand it was kind of their show. Actually I’ve experienced thatsame situation in a much more extreme way. At the beginningof the year I was included in a big show in Mexico City – thatwas a curator show! I was the bystander. They almost forgotto invite me to the dinner afterwards. It was their research, itwas their names, it was their book. And it felt like we, the artists,were just illustrations of their theory. A strange feeling.Ernst / Und gibt es, um zum Schluss zu kommen, etwas, dasdu an einer Vernissage wahnsinnig gern tun würdest, dichaber nicht traust?Fassler / No. (lacht) I just try to survive. Sometimes they’recomfortable and fine and fun and sometimes it’s just aboutsurvival./ 100 / 37


100 / 38Ich mach’ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt/ Auf der Venedig-Biennale 2013Venedig, alle zwei Jahre wieder, Klassenfahrt. E kommt geradeaus Hongkong von der Messe, davor New York, jetzt einigermaßengejetlaggt.Wir nehmen den Bus zum Vaporetto,schippern mit den Koffern zu unserer modrigen Unterkunft,trinken am Platz zwei Spriz, die ersten Bekannten tauchen auf.Mit K und G essen wir später überteuerte Pasta und trinkenmehr Wein. Am nächsten Tag quälen wir uns zu den Akkreditierungshallenund über lange Schlangen in die Giardini. Vorden Pavillons weitere Schlangen, an denen wir dank Kuratorenüber Hintereingänge vorbei können. Es ist heiß.Vor dem koreanischen Pavillon müssen wir die angeschwollenenFüße aus den Schuhen pressen, Mitmachkunst, hell/dunkel. Im russischen auch. Dort dürfen nur Frauen ins EGund die Goldmünzen aufsammeln, mit denen sie von obenbeworfen werden.Der deutsche Pavillon macht es mit Spiegelschrift überdeutlich,dass er mit dem französischen gegenüber getauscht hat.Warum, frage ich mich. Alle stemmen sich gegen Nationalitäten,am auffälligsten ist, dass immer irgendwas mit den Pavillonsund deren Architektur geschieht oder gleich mit derganzen fauligen Stadt. Dabei kann man den Nationalismus-Schocker und Pavillonzertrümmerer Haacke eh nicht mehrtoppen. Es löst sich doch sowieso alles auf oder geht unter.Essen bleibt schwierig, weil auch in Rehbergers Plastecafeteelend lange Schlangen auf überteuerte Tramezzini und Getränkewarten. Im englischen Pavillon gibt es Tee auf der Terrasse,der ist aber gerade aus. An der einen Wand zieht WilliamMorris eine lange Yacht, angeblich die von Abramowitsch,aus dem Meer: keine Luxus-Boote vor den Giardinilautet die Message. Am einzigen morschen Frauen-Klo, endloseSchlangen.Draußen beim österreichischen Pavillon treffen wir viele Berliner.Endlich gibt es etwas Eis und ein neues Bier zu probieren.Wir stellen uns in die Schlange. Drinnen im dunklenRaum schauen wir auf einen Zeichentrick-Vogel und einenEsel, der traurig in einem Waldsee auf einem Baumstumpftreibt. Ein Märchen, Orchestermusik, 30er-Jahre-Disney-Ästhetik.Nach drei Minuten tanzen die Tiere und dann fängtes wieder von vorn an. F meint, dass der Esel eine bestimmteeindeutige Physiognomie hätte, die jedem RassentheoretikerFreude bereite. Ich muss schon wieder aufs Klo.Wir verabreden uns am Hauptpavillon. Dort geht es um dieSehnsucht, alles zu wissen und alles zu sehen. Weltausstellungsozusagen. Recherche, Archive, Speicher, Meister und Dilettanten,was für ein Anspruch. Könnten wir da nicht gleich mitWikipedia daheim bleiben? Die Füße tun weh. Wir verabredenuns für mehrere Partys am Abend.Am nächsten Morgen regnet es. Der Modergeruch ist nochstärker, oben drüber wird renoviert, als ob sie gleich das gesamteHaus abreißen. Schnell raus. Im Arsenale wird uns weiterdie Welt erklärt. In einer Videobox: Genesis 2.0. – die Entstehungund Verendung der Welt in einem Rap, dazu Desktop-Bilderals Projektion. Ganz großes Kino! „La Grosse Fatigue“,die endlose Ermüdung. Der Beitrag kommt von derFranzösin Camille Henrot und ist zurecht mit dem SilbernenLöwen ausgezeichnet. Eigentlich bräuchten wir nun die ewiglangen Wege durch die Hallen gar nicht weiter gehen. Es istschon alles gesagt. Was folgt ist viel zu viel und viel zu ernst.Am Ende gibt es doch noch einen lustigen White-Trash-Parcour,wo man sogar sitzen kann. Wir sind erschöpft. Pause.Wieder nichts zu essen, in der WIFI-Zone kein Empfang.Weiter geht’s zum Palazzo Rossini, den Thomas Zipp zu einerIrrenanstalt umgebaut hat. Hysterie-Forschung und DavidBowie sind die Themen, sowie der Künstler als Arzt und Patient.Es gibt einen Empfang, Prosecco wird ausgeschenkt, Gzeigt uns seine Lieblingsskulptur im Garten, Wasser schwappt


in die Halle. Erfrischend der Nullbezug zum Haus oder Venedig,Zipp baut sich hier sein eigenes Reich, seine Welt imKopf. Und es macht am meisten Sinn von allen Um- undEinbauten der anderen Pavillons und Palazzi. Besonders der„Tobe-Raum“, eine weiße Gummizelle, hat es uns angetan.Abends sind wir bei Peggy Guggenheim auf der schönen Terrasse.Africa Bambaataa legt auf, es gibt viele Getränke, abernichts zu essen, um 21 Uhr ist schon wieder Schluss. Wir wollennoch zur Party des chilenischen Pavillons, doch vor demKonservatorium wieder eine Traube von Menschen und langeWartezeiten. Es fängt an zu regnen, wir gehen nach Hause.Am nächsten Morgen brechen wir gleich auf, ohne Frühstückzum irischen Pavillon um die Ecke.Rosa Projektionen aus dem Kongo sollen Schönheit undSchrecken verbinden, im Luxemburgischen geht es eher umMusik und Ornament. Wir machen uns weiter auf den Wegzur Fondazione Prada. Die Ausstellung von 1969: „When AttitudesBecome Form“ ist von Thomas Demand neu in denPalazzo reingebaut worden. Eine Kulisse in der Kulisse in derKulisse. Irgendwie sehr fehl am Platz und wenig psycho.Als wir mit dem Boot ankommen, beträgt die Wartezeit aufEinlass ungefähr zwei Stunden. Es beginnt zu regnen. Wirwollen nicht schon wieder Schlange stehen und laufen denlangen Weg zurück zu den Giardini, einiges haben wir nochnicht gesehen. Auf San Marco treffen wir den Kurator deskroatischen Pavillons, der uns für nachmittags zu einer Prozessionins Bauer einlädt. Very privat. Später dann treffen wiruns tatsächlich im Hotel. Es gibt Prosecco und Chips, exotischeTänzer und Musik, Fahnen und Parolen. Eine Schlangesetzt sich vom Bauer aus in Bewegung und entert auf SanMarco die Big-Band des Café Florian. Occupy! Die Touristen,die den teuren Bellini oder Cappuccino bestellen, wollendas nicht. Das seltsame Szenario weilt nur kurz und diekroatische Multi kulti-Prozession zieht weiter zum archäologischenMuseum, in dem sich der kubanische Beitrag befindet.Langsam blick ich nicht mehr durch.Egal, wieder gibt es einen Empfang mit Cuba Libre und Mojitos,die sehr stark gemixt sind. Wir haben ein fast hysterischesHoch nach mehreren Getränken und gehen weiter zum Empfangdes estonischen Pavillons. Alles läuft etwas aus dem Ruder.Im wunderschönen Rosengarten am Canale Grande klartlangsam der Himmel auf, die Sonne kommt raus. Es gibt Olivenund Parmesanflocken zu reichlich Prosecco.Jemand will weiter zu Vito Acconci im Palazzo XY. Es istschon 21 Uhr, als wir ankommen, es gibt nichts mehr zu trinken.Der Meister ist noch da und P hat die Gelegenheit, kurzmit ihm zu sprechen. Wir gondeln weiter zum Palazzo Bembo.Lawrence Weiner hat in vielen Sprachen was an die Wände geschrieben.Die Pressebeutel sind sehr schön. Ich soll welchefür N und P besorgen. S meinte, dass sie vor drei Tagen bei derParty mehrere Magnumflaschen einfach rausgetragen hätten.Wir trinken Rotwein, es gibt wieder Eis umsonst. Noch später,bei den Freunden der Nationalgalerie auf San Marco, gibtes Käseigel. Ich falle ins Bett. E zieht weiter, wieder ins BauerHotel, ein Wodka Tonic für 25 Euro.Am nächsten Morgen sitzen wir in der Maschine nach Berlin.Neben mir ein Galerist, der seine Künstler mit den Nachrichtenaus der Bild abgleicht. Merkel hat gerade ein Nestlé-Werkin Meck Pomm eröffnet mit 400 Angestellten. „Komisch“,sagt er, „Jeppe Hein hat doch auch schon 25 Angestellte, dassteht doch in keinem Verhältnis! Vielleicht eröffnet die auchmal ein Atelier …“Down to Earth. Mein alter Samsonite-Koffer ist im Flieger aufgegangen.Wir warten in der Schlange vor dem Gepäckbandungefähr so lang wie der Flug gedauert hat, bis alle meine Sachenwieder drin sind.Stephanie Kloss55. Biennale die Venezia, noch bis 24.11., montags geschlossenzu erreichen hin und zurückper Bahn für 118 Euro (Bahncard 25) (50 kg CO 2 )15–18 Stunden pro Streckeoder per Flugzeug für 200 Euro (500 kg CO 2 )5 Stunden inklusive Flughafentransfers, Gepäck/ 100 / 39


100 / 40Fremdwirt/ „Parasite“ bei OzeanThe doctor told her she was a Fremdwirt.Apparently, she was host to some parasites who had gonefremd, gone astray, found the wrong hole. It happens. If youswim in a lake, you might become an unwitting vessel ofduck-favoring parasites with blinders on.“Polite Parasites” is the title of the essay penned by art historianIsabel Moffat, and it couldn’t be more appropriate to describethe concept underlying “Parasites” curated by David EdwardAllen and Maureen Jeram, two artists whose works also featurein the show. (This is where the duck-part ends. Maybe.)Subtle and weirdly “so Berlin,” so intelligent it doesn’t hurt,“Parasite” takes place in a former garage called Ozean (in thenothing-is-hip-here bit of Kreuzberg that is so hip becauseit’s not), on an areal that looks like it was something in thepast which we can no longer pinpoint. A school for mechanics?In any case, the garage is more of a makeshift shelter, andeven the newly built walls are “walls” in name alone, woodenslabs placed on top of one another, the gaps in-between offeringus a glimpse into the room from which access is barred. Ofcourse, there’s no bait like jailbait, so it only made us more curiousbeing not allowed to see the things, to squint, to wonder,very un-parasite like, at a distance. What’s that enlargedphoto-booth strip by Viktoria Binschtok? The Sisyphean, orsuccessful, attempt to document the presence of absence behindan iPad? And the formalist triangular stack by ØysteinAasan? A sculptural attempt at changing gears, don’t look herebut there. Life is here, hear it, and even if it is wearing orangeand even if it might be difficult, the diary entries might becomea bestseller.But even bars couldn’t banish the weather. The show wasflooded over the summer twice. So here is the irony: MaureenJeram’s floor fresco makes an odd nod towards Sir John EverettMillais’s pre-Raphaelite Ophelia, the moment just before shedrowns. Further, the segment of concrete Jeram had cut outto create a sublevel framing of the fresco, or rather circularsawedout, formed the basis for the eerie sound piece informingthe entire show, a lot like a sitar on slow-boil, a recordingof what the artist Aubrey Heichemer called a “psychosomaticinjury in a space.”David Edward Allen’s ephemeral work is so hard to see, you’dmiss it unless someone kicked a ball over it. Minimal romanticismof the best sort, it’s a wire drawn between the former garageand a tall tree nearby hosting a parasitic bushel of mistletoe.Others took a more direct stab towards institutional critique:Alex Schweder’s “Spit on This Until It Becomes a Painting”was scribbled in chalk on the aforementioned woodenslats, and “Step on This Line Until It Becomes a Drawing”formed the border between our feet and the gate barring entry.Otherwise, parasitic abuse of the space reigned supreme.What appeared to be a harmless geometric sculpture, a squarepipe bisecting the space à la Donald Judd, was actually FlorianNeufeldt’s clever way of giving us a view into the trees beyond(the) Ozean; Antonia Low cut out a hole in that verysame wall to create a peephole into a miniature Minimalistsculpture show in a box; and Max Frisinger cut a rough skylightinto the tin rooftop so that we could see the trees aboveor rather, what catches the eye is the nice shadow play on thefloor below: like life through a kaleidoscope – all fuzzy, themorning after.But it was Jeram’s painterly incision that was the most visiblemanifestation of the non-thought that eventually takes holdof us, the emotions that prey on us, the parasitic. Accordingto Shakespeare, Ophelia was “incapable of her own distress.”In Jeram’s version of Ophelia, in place of the lovelorn lady is aman with a “tail,” my two-year-old tells me, dangling noticeablyamongst the stringy algae. It’s not a tail, I tell her, as shekeeps repeating the word over and over again. But I have nosubstitute pedagogical vocabulary to offer up. Nachhinein, Iknow how I’d impress her with my second tongue: this is aFremdwirt, I’d tell her. The guy who is not a duck.April Lamm„Parasite“, Øystein Aasan, David Edward Allen, Viktoria Binschtok,Max Frisinger, Franziska Furter, Aubrey Heichemer,Maureen Jeram, Joyce Kim, Antonia Low, Caitlin Masley,Florian Neufeldt, Alex Schwedercurated by David Edward Allen and Maureen JeramOzean, Schleiermacher Straße 31, 10961, Berlin, 11.7–11.8. 2013


Sie hassen seine BilderSeine Bilder sind peinlichUngenauambivalentPfauenhaftGespreiztPfauenfederkronenGefächertRadschlagendBewegendDynamischIm allgemeinenNacktStehendPhallischkommendAus …Sie hassen seine Bilder/ Kai Teichert in der Saarländischen GalerieIch wurde von Kai Teichert um einleitendeWorte bezüglich seiner Retrospektiveim Palais am Festungsgraben (Berlin),gefragt. Es wurde ein phonetischerSchrei-Vortrag. Seit Mitte der 90er begleiteich seine Bilder beobachtend undwünsche sie mir heute mehr denn je von„Texte zur Kunst“ besprochen. Dennes sind genau solche Art von Bildern,die dort eben nicht besprochen werden.Den Widerstand moderner Menschen,den diese bei seinen Bildern empfinden,ist ein starkes, in seiner Stärkesehr komplexes Gefühl. Oft habe ichmich als modernen Menschen befragt.So auch zu meinem Schrei-Vortrag. Beider vorausgegangenen Recherche gingich chronologisch vor und klopfte dievon Kai erzeugten, oder behandeltenMetaphern von allen Seiten ab.… In wörtlich blühenden, Headline fettund nach gerichteten LandschaftenKohlscher-Prägung.Vor der Mensch und Tier.rumstehenBereit zum Auszug.VerharrendIn autistischerBeziehungsartistikeinerFamilienaufstellung.Zum Zeitvertreib reitend auf.Dem platten Land.Ausgesetzt dem Himmel.Der NeulandgewinnungNord- Nord-westlicher Prägung.Als Gegenwurf .Geworfen.Zwischen Oel- Tanker und Arche.Geschützt vom Zerstörer.Inmitten einer Dingwelt, ohne 4 Wände.Ins Ungefähre trotz Übersichtlichkeit.FertigMit Kind und Kegelfürs platte Arkadien …So liest sich die Palais-Schreierei. Undich stellte fest, wie“ politisch“ seine Metaphernsind. Einerseits, anderseits beseeltvon einer genialen Schlampig- underregender Ungenauigkeit, bei größtmöglicher,dem Inhalt entsprechender,formaler Präzision. In Zeiten, indenen Künstler eher ihre Unfähigkeitenkultivieren, oder den Ikonoklasmusals bildgebendes Verfahren wählen,glaubt hier jemand an Malerei als bildgebendemMedium. Zugegeben, ein alterGlaube …Dort wo sich nur die Phantasie erhebt.Reitend mit Velázques und Cranach auf einemTapir in einem implodierten Poussin.Vielfältig gestrandet, ohne jeausgefahren zu sein.Gerettet durch erregende Unschärfe.Frei Körper Kultivierte FleckenteufelPropaganda für ein Recht auf Nacktheit.Jenseits des theatralischen SchutzraumsZivilisation, Mobiliar und Immobilien.Wie leben?Im Grünen-----------------------2000–2005Mensch entkernte Landschaft – nahe zubis sich im Teich widerspiegeln Kleider.Stücke der Menschheit.Zaungäste im JagdgebietGrund-BesitzTiergarten----------------------------2003–2005FremdeZaunGastBlickeauf manieristisch verschwurbelte Pinsel-Strich-Dramolette.Handstreich gewilderte BöcklinsAls Dorf -(Depp)-Künstler wurde erhinter vorgehaltener Hand bezeichnet– davon kenn ich viele – bitte nenntsie mir und ich übernehme die Verteidigung.Tatsächlich scheint er manchmalnach dem „dümmsten“ Bild zu suchen.Aber ist das nicht ehrenhaft, wenn einKünstler, seine Grenzen auslotet unduns daran teilhaben lässt?… Boat-Trip-----2006---------------------------Trip.Das Leben als ErnstfallBootweiseLadungAuf hoher SeePeopleGrenzüberschreitendFrontexerfahren.Zwischen Leben und Tod.Im MittelmeerMittelerde zwischenIch und Welt.BewegendFeuchte ZwischenräumeÜberLethe. Styx.Fahrt zum Selbst:verschuldetenSchiffbruch mit Zuschauer.Ohne Steuer oder Segel.Nur mit einer FahneUm AufmerksamkeitAuf dem Meer des Lebens bittendunter Einsatz des eigenenals Risikokapital – Künstlerweisheiten(Théodore) Géricaults Floß der Medusazitierend – wessen Menschenrecht,Das bedrängte Leben in der Aufsicht.Verlust der Körper.Ineinander GeschobenerGrenzen.Nackter See. Agambens Nacktheit.Überlebender des eigenen Lebens.Und doch nur ein Stück.SeeChristoph BannatKai Teichert „Lingua Franca“,Saarländische Galerie – EuropäischesKunstforum e.V., Am Festungsgraben 1,10117 Berlin, 16.5.–30.6. 2013/ 100 / 41


100 / 42Verwobene Machtbeziehungen im Sozialgefüge/„Social Fabric. Die Globalisierung der Textilwirtschaft“ in der ifa-GalerieKaum jemand weiß noch, dass das Paisleymuster, heute ein tung von Armut“ von Alice Creischer (2005) inspizieren, derornamentaler Klassiker, durch englische Soldaten aus den indischenKolonien nach Europa gelangte und dann seinen Sietetist, dass man erneut verwirrt ist? Die Arbeit ist wie ein op-derartig komplex und auf den ersten Blick kryptisch gestalgeszugdurch die Modewelt antrat. Oder dass der Name des tischer Apparat aufgebaut, in dem sich verschiedenste Rosettenzu drehen scheinen. Bilder, Bilanzen, Statistiken und Pro-überaus strapazierfähigen Gewebes Chintz aus dem Hindistammt. Man kann den Chintz als Sinnbild für den globalenTextilhandel lesen; als ein von Anbeginn dicht verwobealenIndien oder in Argentinien, die gedruckt, appliziert undtokolle von Untersuchungsausschüssen, Vorgänge im koloninesSystem asymmetrischer Machtbeziehungen mit Hochglanzoberflächezwischen Europa und seinen Kolonien. Torgender Künstlerin, die, als fast schon absurd wirkende Frei-collagiert wurden, verweisen auf Gedanken und Überlegunpediertwurde dies durch die europäische Kolonisation in der heitskämpferin, im Mittelpunkt dieser Apparatur sitzt. Creischerreflektiert sozusagen ihre eigene Rolle als Beobachte-Neuzeit, die den Ressourcenabbau und die Sklaverei in denKolonien einführte und im Gegenzug dazu, geschützt durch rin dieser Vorgänge und Gedanken, die wie durch eine fragileden Protektionismus, kunstvolle und qualitativ hochwertige Membran durch sie hindurch diffundieren, und verweist damitgleichermaßen auf die eigene Verstrickung und Rolle an-Stoffe in den eigenen Ländern einführen konnte. Die technologischeÜberlegenheit der britischen Kolonialmacht und gesichts des Verhältnisses von Reichtum und Armut. Wer diedie industrielle Revolution hatten überdies dazu beigetragen, Überlegungen Creischers weiter verfolgen möchte, kann diesdass wir heute auf eine einmalige Vielfalt von Stoffen und Textilienzurückgreifen können.Konsum von Textilien anhand des Baumwollhandels zwi-im „Archiv 1 – Baumwolle“ tun, hier werden Produktion und„Social Fabric“, konzipiert vom Institute of International VisualArts in London (INIVA) und kuratiert von Grant Watson, und ökonomischen Umbrüchen geprägt ist. Archana HanschenOst und West dargestellt, der vorrangig von sozialenuntersucht anhand ausgewählter Aspekte diese Geschichte. des Bildrolle „Girangaon“ (2009) erzählt in chronologischerDie Ausstellung ist in zwei Archive und Projekträume aufgeteilt,in denen unterschiedlichste Dokumente, Schriftstücke, Takt der ländlichen Umgebung geprägt war und sich schluss-Reihenfolge die Geschichte dieser Umbrüche, die einst vomZeitungsannoncen sowie Gemälde, Zeichnungen, Tondokumente,Installationen oder typisch indische Textilmuster vom ren anpassen musste. Eine entscheidende Rolle innerhalb desendlich im urbanen Umfeld dem Rhythmus der Fabrikuh-Betrachter regelrecht recherchiert werden können. Die informativeÜberfrachtung ist einerseits ein Angebot zur selekti-die den kulturellen Transfer von Motiven, Waren und loka-Baumwollhandels spielte die „British East India Company“,ven Wahrnehmung, andererseits ist darin auch das scheinbare len Stoffdrucktechniken zwischen der kolonialen Welt undProblem der Ausstellung angelegt: Man weiß nicht so recht, Indien beförderte, allerdings als Dialog mit ungleichen Partnern,was sich bis in die heutige Zeit fortschreibt. Die Aneig-womit man anfangen soll. Erst den Marx’schen Zeitungsartikelaus dem „New York Daily Tribune“ lesen oder besser das nung und Reproduktion von Stoffen sowie die durch die Industrialisierunginitiierte Produktionssteigerung für britischeaugenfälligste Exponat der Ausstellung, den „Apparat zumosmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrach-Baumwollstoffe bedeutete zwar Fortschritt und Wohlstand,


aber auch die Landflucht von Arbeitern und enttäuschte Erwartungenangesichts der Arbeitsbedingungen in den Fabriken.Sudhir Patwardhans naiv anmutendes und Raum einnehmendesGemälde „Lower Parel“ (2001) zeichnet einen derwichtigsten Punkte in dieser Geschichte auf, als 1982/83 indischeTextilfabrikarbeiter ihre Arbeit niederlegten und damitden längsten Streik in der indischen Geschichte begründeten.Die Konsequenz dieser kapitalistischen Logik sieht man heutein dem indischen Viertel Parel, einem Stadtteil in Mumbai:Parel gehört heute zu den weltweit sich am schnellsten entwickelndenStadtteilen und gilt derzeit als absolut „posh“. KommerzielleInteressen weniger Geschäftsleute, die Grund undBoden gewinnbringend an Investoren veräußern, um Luxusappartementsund Einkaufscenter hochzuziehen, stehen denInteressen einer großen Gruppe von Menschen aus der Arbeiterklassegegenüber. In den Kohlezeichnungen Patwardhanszu „Lower Parel“ (2001/2002), die Assoziationen an dieKohlezeichnungen von Käthe Kollwitz zum Weber aufstandwecken, werden die fatalen Auswirkungen dieser Entwicklungennoch deutlicher. Das „Archiv 2 – Textilindustrie“ vertieftdiese Geschichte der ungleichen sozialen und ökonomischenBeziehungen noch weiter und geht bis in die zweiteHälfte des 19. Jahrhunderts, bis zur industriellen Revolutionin Indien zurück, die mit der Textilproduktion in Mumbaibegann. In dem Buch „One Hundred Years One HundredVoices: The Millworkers of Girangaon“, herausgegeben vonMeena Menon und Neera Adarkar, wird die Geschichte ausder Sicht von Fabrikarbeitern, politischen Aktivisten und Gewerkschaftlernerzählt. Zusammen mit diesen Aufnahmenwird Patwardhans Gemälde als „soziales Dokument“ besserverständlich.Als solches ist die Ausstellung „Social Fabric“ auch unbedingtzu lesen: als ein soziales Dokument und Archiv, dasauf die, historisch bedingten, problematischen und oftmalsmenschenverachtenden Produktionsbedingungen hinter dergesamten glamourösen Modewelt hinweist. Und das genauzum richtigen Zeitpunkt, denn erst kürzlich, Ende April2013, stürzte in Bangladesh eine Textilfabrik ein und mehrals 1000 Menschen starben in den Trümmern. Schuld daranwar ein profitgieriger Hausbesitzer, der sich über sämtlicheVorschriften und Gesetze hinwegsetze. Auch für Berliner Fashion-Week-Besucherwäre diese Ausstellung ein wunderbaresKontrastprogramm gewesen. Zwar sieht sich die „FashionWeek“ zunehmend verpflichtet, mehr Modelabels einzubinden,die ökologisch und sozial gerecht produzieren, aber Modeindustrieund faire Produktionsbedingungen gehen nochlängst nicht Hand in Hand, denn zu schön und hochglänzendpoliert ist das Image dieser Branche.„Social Fabric“ weist ohne moralischen Zeigefinger auf dieweit in die Geschichte zurückreichende Verwicklung und diehierarchischen Beziehungsgefüge zwischen Kolonialisiertenund Kolonialherren innerhalb des globalen Textilhandels sowieauf die Aktualität dieses Problems hin. Denn nach derDevise „unser Wunsch sei ihnen Befehl“ oder „Geiz ist geil“soll Kleidung zu Dumpingpreisen erhältlich sein. Kleidungist mitunter billiger als Nahrung geworden. Und wie kommtes, dass ständig überall pre-, mid- oder sonst was für ein saleist? Und auch wer glaubt, dass er den unter- oder nicht bezahltenTextilarbeitern etwas Gutes tun würde, wenn er nichtmehr bei H&M, Zara und wie sie alle heißen, einkaufen würde,sondern im Mittel- und Hochpreissegment, dem sollte einBlick auf das Kleidungsetikett eines Besseren belehren: Fastalle produzieren sie in Fernost, bzw. in Billiglohnländern. Esist die Ausnahme – und das gilt für die gesamte Textilindustrie,dass sich Einkäufer für gerechte Produktionsbedingungenentscheiden. Zu hoch seien angeblich die Lohnkosten undzu gering falle die Gewinnmarge dementsprechend aus. Manweiß inzwischen, dass dies Schutzbehauptungen der GlobalPlayer im Textilhandel sind. Mode ist im kommodifiziertenKapitalismus ein zunehmend ausdifferenziertes soziales Systemvon in- und exklusiven Distinktionsmerkmalen geworden,das individuelle Selbstentwürfe und kollektive Trendsdeterminiert und exakt die Ausblendung von industriellenProduktionsbedingungen innerhalb der Modewelt reproduziert,an der man selber beteiligt ist. Genauso löchrig und poröswie Creischers fragile Apparatur verlasse ich die Ausstellungund als ein von Kindheit an modeaffiner Mensch frageich mich, inwiefern mich die mögliche elterliche Entscheidung,für einen Textilkonzern in Asien zu arbeiten, beeinflussthätte. Elke Stefanie Inders„Social Fabric“, ifa-Galerie, Institut für Auslandsbeziehungen e.V.,Linienstrasse 139/140, 10115 Berlin, 5.7. – 15.9. 2013/ 100 / 43


100 / 44men wie Apple und Louis Vuitton plagiierten. Die Taschenwurden jedoch nie produziert, sondern waren lediglichComputer-Renderings, die Ora-Ïto auf seiner Seite bewarb.Nichtsdestotrotz waren sie so erfolgreich, dass sie dem DesignerFolgeaufträge verschafften. Ebenfalls Produktfälschungbetreibt der dänische Künstler Jakob Boeskov. Als Vertretereines fiktiven Unternehmens reiste er zu einer Waffenmessenach China um den „ID Sniper“ vorzustellen – einer Waffe,Schwelende Realitätendie scheinbar GPS-Chips auf Leute schießen kann, um diesespäter zu orten. Auch Boeskov stellte sich so geschickt an, dass/ Realität und Fiktion in der Villa Schöningenihm zahlreiches Interesse entgegen gebracht wurde. Dies giltauch für The Yes Men. Ihnen gelingt es immer wieder mitDie Villa Schöningen in Potsdam ist kein neutraler Ort: entscheidetman sich als Künstler oder Kurator für eine Aussteltenfür Verwirrung zu sorgen und unter dem Deckmantelgefälschten Websites, Zeitungen oder performativen Auftritlungvor Ort, hat man es automatisch mit den Eigentümern des höchst Offiziellen subversive Botschaften und Nachrichtenunterzubringen. Jeremy Deller wiederum stellt keine Pro-Matthias Döpfner (Springer-Chef) und Leonhard Fischer(Vorstandsvorsitzender eines Finanzinvestors) zu tun. Hier ist dukte her, sondern lässt historische Ereignisse nachspielen.weniger Innovation als solide deutsche Männerkunst gefragt, In Potsdam ist sein Video „Battle of Orgreave“ zu sehen, indemgewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Bergarbei-geht es weniger um Experimente als um strategisches Positionierenund Kontakten. Wie direkt diese Verbindungen fruchtenkönnen, war in den zahlreichen Ankündigungen und Re-das Einfügen von Originalaufnahmen aus dem Jahr 1984 entternund Polizisten in Orgreave nachgestellt werden. Durchzensionen nachzuvollziehen, die in der Springer-Presse über steht ein dokumentarischer Charakter, verfließen die Grenzenzwischen und Realität und Inszenierung.die Ausstellung „Realität und Fiktion“ erschienen. Darüberhinaus war der Zeitschrift Monopol, für die Friedrich von Einen anderen Ansatz verfolgen die fotografischen PositionenBorries – der Kurator der Ausstellung – regelmäßig schreibt, von Beate Gütschow, Thomas Demand und Julian Rosefeldt.eine Zeitungsbeilage beigefügt. Soviel schon mal zur Realität. Sie hinterfragen auf je unterschiedliche Weise den Glauben anThema der Ausstellung sind die „Spannungsfelder zwischen die „Wahrheit der Fotografie“. Gütschow, indem sie ihre Fotografiendigital bearbeitet und zusammengesetzte Landschaf-Realität und Fiktion, Bericht und Erfindung, Verschweigenund Offenlegen“ (von Borries), wobei die Künstler dieses ten erschafft, deren Künstlichkeit erst beim Blick aufs DetailThema auf unterschiedlichste Weise aufgreifen: Mal wird das offensichtlich wird. Rosefeldt, indem er Stills aus dem FilmMedium Fotografie manipuliert, mal werden Identitäten vorgetäuschtoder Designertaschen „gehackt“. Im Vordergrund motive mit Filmhandlungen und Medienbildern überlagern„American Night“ ausstellt, auf denen sich klassische Western-stehen weniger die Werke, als die Praktiken und Strategien und so eine irritierende Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitendes Täuschens, wie Manipulationen, fiktive Identitäten und und Motive schaffen. Demand, indem er „Tatortfotografien“Reenactments – und die Reaktionen, die sie hervorrufen. <strong>Von</strong> – in diesem Fall handelt es sich um den Hoteltisch, an demBorries scheint von den Möglichkeiten der Manipulation und Whitney Houston ihr letztes Mahl einnahm – durch die Verwendungvon Papiernachbauten ihrer „Realität“ beraubt.Fälschung fasziniert zu sein, die sowohl Selbstzweck sein können,wenn es vornehmlich um die eigenen Identität geht, als Neben den fotografischen Manipulationen gibt es einen drittenStrang durch die Ausstellung mit Arbeiten, bei denen esauch politische Intentionen verfolgen, wenn sie z.B. der Aufdeckungintransparenter Strukturen dienen. Es handelt sich um fiktive Identitäten geht, die von fiktiven Personen geschaffenwurden. So tritt Walid Raad, der in der Ausstellung mitum Intervention der Kunst/der Fiktion in die „Realität“, derenWirksamkeit anhand von direkten medialen Reaktionen oder uneindeutigen Fotografien von Lichtreflexionen vertreten ist,Kaufangeboten relativ einfach nachzuvollziehen ist. auch als Urheber der Atlas Group in Erscheinung – einer fiktivenGruppe. Damit geht er ähnlich vor wie Dirk DietrichSo wie bei Ora-Ïto: Aus dem Produktdesign kommend, entwarfer 1999 Taschen, die Logos und Muster bekannter Fir-Hennig alias George Cup & Steve Elliot und Nat Tate alias


Eine Liste von hundert/ Geschlossene Galerien seit 2000 (aktualisiert)William Boyd: beide geben sich als andere aus oder erfindenPersonen. Auch Mikael Mikael ist ein Pseudonym. In der Beilagesteht, dass er bis 2009 einen anderen Namen trug undim Roman „1 WTC“ von Friedrich von Borries auftaucht. Esscheint nahe zu liegen, dass es sich bei diesem Künstler um denKurator selbst handelt, der in der Ausstellung mit der Posteraktion„Show you are not afraid“ vertreten ist. So viel zur Fiktion.Noch einmal zurück zur Realität: Thomas Demand ist einKollege von Friedrich von Borries. Christoph Kellers Arbeitwar schon in der Ausstellung „Klimakapseln“ im Museum fürKunst und Gewerbe in Hamburg zu sehen – auch von Borrieskuratiert. Die Arbeit von Iñigo Manglano-Ovalle war im Originalvor kurzem in den Kunst Werken ausgestellt, Julian Rosefeldthatte eine Einzelausstellung in der Berlinischen Galerie.<strong>Von</strong> Borries zeigt keine neuen Arbeiten oder Positionen –abgesehen von seinen eigenen. Auch das Thema ist nicht neu –wird hier aber immerhin aus neuen Perspektiven beleuchtet:Produktdesign trifft auf Fotografie trifft auf Hackingstrategien.Diese interdisziplinäre Mischung kann erfrischend sein,aber sie birgt die Gefahr von Unschärfen und ausuferndenRändern. Betrachtet man die Einflusszonen, derer sich vonBorries bedient, genauer, wirkt die Auswahl noch subjektiverund durchschaubarer. Gewagt scheint jedoch die Entscheidung,die meisten Wände mit einer eigens entworfenen Tapetezu verkleiden. Aber auch hier entpuppt sich die aufmüpfigeGeste bei näherer Betrachtung als genau kalkuliert: dieTapete ist demnächst als Sonderedition käuflich zu erwerben.Niele Büchner„Realität und Fiktion“, kuratiert von Friedrich von Borries mitJakob Boeskov, Jeremy Deller, Thomas Demand,Beate Gütschow, Dirk Dietrich Hennig, Christoph Keller,Iñigo Manglano-Ovalle, Mikael Mikael, Ora-Ïto, Walid Raad,Julian Rosefeldt, Nat Tate, The Yes MenVilla Schöningen, Berliner Straße 86, 14467 Potsdam,2.5.–20.10. 20132002 Paula Böttcher2003 Angelika Wieland2003 Bodo Niemann2003 Chromosome2004 pepper projects2004 Koch und Kesslau2004 Markus Richter2004 Galerie Juliane Wellerdiek2004 Galerie Projekte Matthias Kampl2004 Galerie Art & Henle2005 Galerie Rafael Vostell2006 breitengraser contemporary sculpture2006 Vilma Gold2007 Kapinos Galerie2007 Galerie Asim Chughtai2007 Galerie Frederik Foert (ehemals Kurt, Felix Leiter)2007 Galerie Stefan Denninger2008 Galerie Jan Winkelmann2008 Galerie Jesco von Puttkamer2008 Goff und Rosenthal2008 Spesshardt und Klein2008 J.J. Heckenhauer2009 Eva Bracke2010 Klara Wallner2010 Jablonka (Filialschließung)2010 Feinkost2010 Gitte Weise2010 Coma2010 Nice&Fit2010 Birgit Ostermeier2011 Magnus Müller (muellerdechiara)2011 Ben Kaufmann2011 Olaf Stüber2012 Wilma Tolksdorf (filialschließung)2012 Giti Nourbakhsch2012 Kuttner Siebert2012 upstairs2012 Alexandra Saheb2013 KlosterfeldeErwähnt sind nur kommerzielle Galerien. Projekträume undProduzentengalerien, die in abgewandelter Form weiterexistierenoder Galerien, die nach längerer Pause wiedereröffnen,tauchen nicht auf. Geschlossene Filialen oder Wegzüge sindallerdings aufgeführt. Die Liste ist natürlich ohne Gewährund Galerien, die sich noch für existent halten, können unsmailen. Wir berichtigen in der nächsten Ausgabe./ 100 / 45


Einer von hundert/ 100 / 46/ Tagebuch aus dem Berliner Sommer und Frühherbst12. Juli, 10.13 Uhr im BüroSchock am frühen morgen. Silke Neumann schreibt in einerknappen Pressemitteilung, dass Martin Klosterfelde schließt.Dass es den kleinen Galerien nicht gut geht, ist klar. Kaum einerkauft noch Arbeiten nach Gefallen, damit fällt das sogenanntemittlere Segment aus. Aber Klosterfelde? Er gehört eigentlichzu den Groß-Galerien Berlins. John Bock verkauftesich bestimmt gut, Jorinde Voigt bestimmt auch wie teureBrezeln, flankiert von Altstars wie Hanne Darboten und MattMullican, oder Wiederentdeckungen wie Jürgen Drescher.Außerdem Jorindes Freund Jankowski … Dass Klosterfeldezu den Galeristen mit der schlechtesten Zahlungsmoral gehörte,nahm ich eher als unangenehmen Tick wahr, als dassich dahinter dauerhafte Finanzknappheit vermutete. Er verlorauch einige wichtige Künstler über die Jahre. Die kompletteHenrik-Olesen-Peer-Group wanderte vor etlichen Jahren ab.Darunter Kirsten Pieroth und Elmgreen&Dragset.Ich spekuliere, dass es eher Ermüdungserscheinungen waren,die zur Aufgabe bewogen. Er hat als Galerist eigentlich alleserreicht, war auf allen Messen präsent, schon lange in den innerenMachtzirkeln der Berliner Kunstszene. Die nächstenzwanzig Jahre wären nur noch auf Erhalt des Bestehendenhinausgelaufen, weitere 107 Ausstellungen, weitere Enttäuschungen,die dauerhafte Institutionalisierung aller sozialenBindungen höhlt einen über die Zeit aus. Da kann man sichschon mal das große Warum fragen? Ich frage mich, was erjetzt vorhat, Kunsthandel ist ja eigentlich noch öder? Da fälltmir ein, ich muss mal wieder meine Liste der geschlossenenGalerien seit 2000 aktualisieren …5. August, nachmittags, ZimmerstraßeErst Amerika, dann Klemm’s, jetzt Ikono – ihr Friseur in Berlin.So nur eine der vielen Transformationen in der Brunnenstraßebzw. in Mitte. Irgendwie schon ein mulmiges Gefühl… Ähnlich in der Zimmerstraße 88–89 am Checkpoint Charlie.Im Gebäude, in dem früher u. a. Claes Nordenhake undBarbara Weiss investiert und mit ihren Mitarbeiter/innen undKünstler/innen geackert und brilliert haben, befindet sichjetzt nach Totalentkernung und -umbau ein modernes Hotel:Winters Hotel Berlin Mitte. Ziemlich seltsam … Ein Ausfluglohnt sich, kann ich wirklich empfehlen.1. September, Philippstraße<strong>Von</strong> der alten Galerie neu ist jetzt gar nichts mehr zu sehen.Wie ausradiert das Ding, das da mal so forsch neben der Charitéstand. Dort soll jetzt ein neues Forschungszentrum hin.9. September, abends zuhauseErst Playboy- dann Grünen-Wahl-Werbung auf der Monopol-Website! Auf der Suche nach „hot news“ gestern Abend konnteich meinen Augen kaum trauen. Gefunden habe ich dannnoch die Neuigkeit, dass Martin Klosterfelde Chef von Phillipsin Berlin wird.12. September, LichtblickkinoKlaue mir das kleine Artweek-Booklet von einem zum Verkaufausliegenden Tip. Zwölf Leute führen durch ihr Kunst-Berlin. Lese: „Es gibt neben Kaffee, auch Quiche, Möbel vonManuel Raeder, Taschen von Bless, die auch als Handtuch verwendetwerden können, das abc-Büro ist in den Shop eingezogen… “ Hilfe!Lese woanders: „Die KünstlerInnen dieser Ausstellungen zeigenihre eindrucksvollen Werke in einer neuen, vollkommeneigenen Bildsprache. Jedes Objekt für sich repräsentiert einenAspekt der Künstlerpersönlichkeit.“ Hier ein klarer Fall für PeterK. Koch (siehe nächste Seite). Der Rest ist eigentlich ganzgut und ich kenne nicht viel vom Beschriebenen.


20. September, abc-MesseLese grade die neue Spike, genauer gesagt den Berlin-Spezialteil,und wundere mich: Da durchquert Timo Feldhaus dasaktuell gehypte Berliner Styler-Milieu rund um Silberkuppe,Motto, Chesters und Nike, und um gefeierte Künstler wieDan Vo, Kerstin Brätsch, Wolfgang Tillmans und nicht zuvergessen den Multitasker Friedrich von Borries, und lässtuns daran teilhaben, wie er mit großem Vergnügen und ohnedie geringste Distanz, ohne Kritik und leider auch ohne Humoreinfach nur mitmacht und auch noch stolz darauf ist.Er checkt einfach nicht, dass er selbst einfach nur ein naiverund narzisstischer Konsument ist, den alle benutzen. Warumdruckt Spike so einen Artikel?20. September, abc-MesseDie einzige Ecke, die ich gut finde, ist beim Rauslaufen in derSeitenhalle, einmal Timo Klöppel bei Kwadrat mit seinem500-Neon röhren-in-alten-Fenstern-Cube. Drinnen hat manRuhe, Licht und Klarheit und dann gegenüber Muntean/Rosenblum bei Zink, zwar kitschig, aber immerhin berührtmich plötzlich was. Erst ein Bild mit jugendlichen Badenden,drunter „das Geheimnis ist im Hier und Jetzt, das was manmit sich macht“, dann bei einem zweiten Bild rennt einer weg„und es schien ihm plötzlich, dass er völlig von der Welt verschwindenwürde, wenn niemand mehr an ihn denkt“, unddann eine abgebrannte Ecke mit einem letzten Bild auf demnur noch ein Stop-Schild zu erkennen ist. Ok, jetzt wo ich’saufschreib, vielleicht doch etwas zu romantisch, aber immerhineine Art Verbindung zum Leben und nicht nur diese völligentkoppelte Post-Post-Konzept-Design-Bastel-Kacke…21. September, wieder zuhauseGerade das Interview mit Klosterfelde in der FAZ nachgelesen.Einerseits denke ich, wie kann man nur diesen Seitenwechselzum Auktionshaus so schönreden, plötzlich leisten die AuktionshäuserPionierarbeit … hallo? Auktionshäuser sind so waswie eine Mischung aus EZB und Börse des Kunstmarkts. Dawerden nur bestehende Währungen gehandelt und geschützt,ein Drittel sind gedeckte Stützungskäufe durch die Galeristender Künstler, damit die Währungen nicht abschmieren. AberPionierarbeit? Vielleicht wird immer mal wieder ein Werklängst verstorbener Künstler aus der Versenkung gezaubert,aber das dient meist nur der eigenen Geldvermehrung, ansonstennur Bluechips, und das Doofe für alle anderen Künstlerist ja zur Zeit, dass sich fast nur noch Kunst im Primärsektorverkauft, die auch auf dem Sekundärmarkt gehandeltwird, Kunst dient zu oft als Geldanlage, und wer, wenn nichtdie Auktionshäuser befeuern diese Idee? Andererseits denkeich, ist doch ok, der Martin dachte halt schon immer so. Warumsoll er sich weiter quälen? Illies macht ja auch auf Auktionshaus,das kann man dann bis ins hohe Alter weitermachen.Je älter man wird, desto mehr baut man auf Expertise,und Graubärten nimmt man die dann auch ab.21. September, zuhauseLes ich vielleicht zu viel und schau zu wenig an?/ 100 / 47


Subjektive Analysenvon selektivenVerständnislosigkeitenaus anonymenPressemitteilungenunfassbar schwülstig nach 19. Jahrhundert und Michael Koolhaas.Es dräut sich, gedrängt im heißen Denkbeutel, was zusammenund gedrückt von diesem „inneren Drang“ möchten/wollen/müssendann „bestimmte Gefühle“ ausgedrängtwerden. Das mit den „bestimmten Gefühlen“ gefällt mir allerdingswieder, weil ich selbst immer nur „unbestimmte Gefühle“ausdrücken kann und auch darunter leide. „BestimmteGefühle“ sehen bestimmt viel besser aus als „unbestimmteGefühle“ und erzählen auch ganz bestimmte Geschichtenund keine unbe stimmten. Wie auch immer, am Schluss ist jaimmerhin die „Form“ da. Und ganz egal, wie scheußlich dieauch immer aussehen mag, dieser fertigen Neuigkeit ist derweitere Versuch vorausgegangen, den Drang in einen Ausdruckvon Gefühl zu ver-, na, jawohl, zu verformen.2.In seinen Installationen und Arrangements versucht er stets, einenEindruck von Authentizität zu erzeugen./ 100 / 481.Jede neue Arbeit von ihm ist ein weiterer Versuch, dem innerenDrang nach Ausdruck bestimmter Gefühle eine Form zu geben.Den Satz könnte man schnell mal überlesen in einer Pressemitteilung.Das wäre allerdings sehr schade, denn hier steckt jadoch einiges drin, worüber man nachdenken kann. Schauenwir doch mal ganz genau hin. Liest man den Satz mehrmalshintereinander, dann fragt man sich unwillkürlich, ob derKünstler vorher, also in seinen vorangegangenen Arbeiten, lediglichgefühllose Kunst gemacht haben könnte. Würde sonstso ausdrücklich von „jeder neuen Arbeit“ die Rede sein? Dawird man ja stutzig. Aber vielleicht sollte lediglich darauf hingewiesenwerden, dass es sich überhaupt um neue Arbeitenhandelt. Trotzdem, klingt irgendwie verdächtig. Danach wirdes aber ganz grimmig. Der Künstler hat „einen weiteren Versuch“unternommen, seinen Drang nach Ausdruck, Gefühl,Form zu geben. Ich möchte da nicht zu weit gehen, aber istdas nicht eine der Grundvoraussetzungen für die Kunstproduktion?I mean in total. Und zwar eher in der Reihenfolge:Gefühl, Drang, Ausdruck, Form. Noch viel wohler wäre esmir, wenn es nicht nur bei einem „weiteren Versuch“ bleibenwürde, sondern wenn da zuverlässig das Gefühl-Drang-Ausdruck-Form-Dingpassieren würde, denn „ein weiterer Versuch“klingt doch sehr danach, als hätte es bisher nicht ganzso zu verlässig geklappt. Immerhin verspürt der Künstler alsoeinen „inneren Drang“. Was wäre denn eigentlich das Gegenteil?Ja, der äußere Drang, der dann wahrscheinlich Druckheißt. Kann denn überhaupt ein äußerer Drang/Druck zu einemKunstwerk führen? Aber sicher. Äußerer Druck könntezum Beispiel der Geld-Druck sein, oder viel schlimmer noch,der Diktatur-Druck, was aber letztlich ja fast das Gleiche ist.Die Betonung des „inneren Drangs“ klingt leider trotzdemDas klingt wie in einem meiner ersten Arbeitszeugnisse: „HerrK o c h hat sich stets bemüht, pünktlich zu sein“. War haltnicht immer pünktlich, der Herr K o c h. Der Autor diesesPressemitteilungs-Zeugnisses, ich hoffe er wurde nicht auchnoch von dem bemitleidenswerten Stets-Versuchs- Künstler bezahlt,der hat wohl leider in „seinen“ Werken keine „Authentizität“spüren können, aber vielleicht hat er sich ja eben fallsimmerhin bemüht. Lieber Pressemitteiler, du bist gefeuert!3.Entscheidend für die Motivauswahl und die Wirkung seinerBilder sind Gefühle und Emotionen wie Hoffnungslosigkeit,Tristesse, Melancholie, aber auch Humor und Absurdität.Hier drängen sich mir unwillkürlich mindestens zwei Fragenauf. Erstens: Was war jetzt noch Mal genau der Unterschiedzwischen Gefühl und Emotion? Das Gefühl ist eherin mir drin und die Emotion ist das, was sich nach außenlasse, oder? Ja, selbstverständlich ist das so, aber trotz allem erscheintmit die kunstbeschreibende Verwendung eines Terminuswie „emotionale Gefühle“ oder „gefühlte Emotion“ etwassehr heikel. Da duselt es gewaltig, innerlich. Verkürzt lese ichsowieso nur noch: „Entscheidend für die Wirkung seiner Bildersind Gefühle und Emotionen“. Und das klingt dann wirklichwahnsinnig bescheuert. Und zweitens werde ich den Verdachtnicht los, als würde es sich bei einer Aufzählung dieserGefühle (oder Emotionen) hier: „Hoffnungslosigkeit, Tristesse,Melancholie, Humor, Absurdität“ um eine Sesamstraßen-finde-den-Fehler-Aufzählunghandeln, die sich in etwahiermit vergleichen ließe: blau, grün, gelb, rot, Banane. Absurditätist doch kein Gefühl! Das ist ein Phänomen, Honey.Gut, Humor würde ich auch eher als Charaktereigenschafteinstufen, aber na ja, geht gerade noch so als Emotion/Gefühl/Emotiondurch. Peter K. Koch


Vanity Fairytales/ Wir kommen alle in die HölleDen Sommer über gibt es, normalerweise, nicht besondersviele, und wenn, noch weniger gute Ausstellungen. In diesemJahr war das anders. Voll in die Sommerpause hinein hatChristian Malycha eine Ausstellung kuratiert, die uns nebendem Üblichen auch das Übliche zeigt. In der Alten Münze,genau, gleich an der Spree gelegen, versammelte er eine Ausstellung,die sich formal, ästhetisch und im weiteren Sinneauch inhaltlich mit dem Thema Ökologie auseinandersetzte.Eingeladen hat Malycha wenige ausgesuchte Positionen; riesenhaftund beinahe phantasmatisch das Gemälde von CorinneWasmuht, einige Paradiesfotografien von Thomas Struth,Container-Umschläge, groß und durchdacht sowie zweiSperrholzplatten „Empty-Letters“ von Seth Price und eineadaptierte Tapetenarbeit von General Idea, die in klassischpopkultureller Rhythmik EVOL wiederholt. Viele fragen sich,ob das eine interpretierende Interpretation ist, und eigentlichECO schreien will.Frau Wasmuht zeigt einen echten Schinken, ein Riesendingvon fast drei auf über vier Meter, das in verwaschener SzenerieAutos zeigt, ihre Rücklichter und gleisende Scheinwerfer,in einem Tunnel oder vor irgendeinem gesichtslosen Flughafendieser Welt. Urwälder und unberührte Paradiese auf denperfekt konstruiert erscheinenden, jedoch tatsächlich unberührtenFlecken Natur in den Fotografien von Thomas Struth.Seth Price ist mit seinen jüngeren Werken vertreten, den großenund symbolhaften Umschlägen aus technischem Materialund handwerklich in höchster Perfektion hergestellt. DieTapete, leicht pastos und nicht sonderlich farbleuchtend, fülltdie Gänge.Das Entscheidende jedoch; Malycha stellt nicht nur dieseKunstwerke aus. Neben den Gemälden, Installationen oderObjekten und Fotografien stehen ihre jeweiligen Transportverpackungen.Fein säuberlich türmen sich etliche LagenTyvek, Luftpolsterfolie, Transportkisten und hölzerne Bilderecken,die eine Berührung der empfindlichen Gemäldeoberflächenverhindern und so weiter. Auch empfängt die Besucherinnenund Besucher in jedem Raum der Ausstellung sowohlein kluger Text, jedoch auch eine Auflistung des CO2-Aufkommens, den Produktion, Transport und Installationeben dieser Arbeiten verursacht haben. Und da bleibt einemmitunter schon die Spucke weg, dass so eine Fotografie äquivalentzu einem Transatlantikflug einer fünfköpfigen Familieist. Ob da schon die Reise an den Ort der Aufnahme bedachtist, traut sich niemand mehr zu fragen. Ökologisch verheerenderist lediglich die Produktion technisch derart aufwendigerStoffe, wie sie in den Werken von Price vorkommen.Man mag sich trösten, dass man das Kunstwerk wohlnicht wegwerfen wird.Die Kurve kriegt Christian Malycha, die, hätte er sie verfehlt,ihn rasch in eine falsche Ecke gestellt hätte, durch Transparenz.Er ist Autor und Kurator, und wird das auch bleiben.Auch nehme er keine qualitativen Wertungen der Werke vor,doch ist ihm schlicht wichtig, auch eine andere Seite zu zeigen,und nicht nur in Gespräch und Text.Und diese Seite hat einen schweren, einen dunklen Kern. Fast30 Tonnen CO2 hat diese Ausstellung nämlich auf dem Buckel,was drei durchschnittlichen Deutschen pro Jahr entspricht,obgleich er von keinem dieser drei auch wirklich gehaltenwerden dürfte.Die Transparenz schlägt um auch auf die andere Seite, dieGäste der Ausstellung erfahren, was sie mit dem Besuch derAusstellung anrichten, und diskutierten in der nahegelegenKantine der Wasserbetriebe hitzig. <strong>Von</strong> Agitation war dieRede, von Besserwisserei und Oberlehrerhaftigkeit, ganz klar.Gerne fallen auch die Klassiker, die seit Jahren an Pelzmäntelnziehen, von eben den Nerzen, die ja nun schon tot sind;oder die all die Flugzeuge füllen, die ja ohnehin fliegen. Dakann man doch mit, ist doch besser, wenn das Ding voll ist.Als die Eröffnung mit einem Dinner begangen wurde, zeigtesich der Coup des Projekts. Denn auch hier wurde in der Kantineder Nachbarn gefeiert. Kurze Wege. Serviert wurde regionalund fleischlos, wobei der Hammer war: keiner hat’s gemerkt.Auch die reflektierte Kunstwelt fühlte sich nicht eingeschränkt.Ab morgen macht sie wohl weiter wie bisher.Elke Bohn/ 100 / 49


100 / 50Onkomoderne/ Cabin FeverWie zu erwarten, gab es bei der Villa-Romana-Ausstellung inder Deutschen Bank KunstHalle Aperol-Spritz und Campari-Orange; leckere Häppchen schwebten auf Tabletts vorbei undanschließend wurden kleine Vanilleeishörnchen gereicht. Nebenden Besucherinnen in Schlangenlederhighheels ließensich die eingeladenen Künstler mit ihren zerrupften Frisuren,die vermutlich Performances über prekäre Lebenssituationenaufführen würden, gut ausmachen. Eine ausgelasseneStimmung wollte nicht entstehen. Für die ausgestellte Kunsthingegen hätte man, wie so oft neuerdings, ein Entschlüsselungsprogrammgebraucht. Ich traf sehr wenige ehemaligeVilla-Romana-Stipendiaten und zu dritt standen wir achselzuckendauf der Durchgangsroute des Catering-Services herum.Viel zu mühsam wäre es gewesen, die eigenartig ausgeformtenInnenwelten der ausgestellten Künstler in einenZusammenhang zu bringen. Individuelle Mythologien magvielleicht der Begriff sein, mit dem man beschreiben könnte,wie sich Künstler vom Kontakt zur ground control abkoppeln,aber ihre Kapseln docken wiederum zu zielstrebig an einenbereits gut durchformatierten Kunststil an, bei dem abseitigeObjekte mit komplexer Theorie kombiniert und weitläufigin den Ausstellungsraum geclustert werden. Der nochzu benennende Stil steht für eine Strategie der Mystifikation,die den schwer erträglichen Fragen der Welt Verwirrungseffektegegenüberstellt, die eine Clientèle aus professionellenMystifizierern – meist an Besitz oder Institutionen gebundeneLeistungssträger – gerade noch aushalten kann. Draußen,im Pulk der Raucher auf dem Bürgersteig, sprachen wirüber die fortschreitende Professionalisierung der Kunstausbildung,die neuen Fine-Art-Photography-Schulen, die CuratorialStudies, den Siegeszug der globalisierten Theorie – Rancière,Kojève, Artaud, Arendt gehören jetzt zur Konzernkulturamerikanischer Universitäten. Den neuesten Diskurs aufdem Schirm zu haben, ist so wichtig geworden wie früherdie richtigen Platten zu hören. Es war einer der letzten warmenAbende dieses Sommers. Für die neue Powergenerationder professionalisierten Künstler waren wir ehemaligen Villa-Romana-Stipendiaten jetzt unzeitgemäße Hänger, so wie füruns damals die Ölmaler aus der Toskana-Fraktion. Die letzterenwaren auf diesem Empfang erst gar nicht erschienen, obwohlich mich sehr auf sie gefreut hatte. In Florenz, Anfangder Nuller-Jahre, waren wir abends zwischen Gucciläden undaufpolierten Arkadengängen in leeren Bars herumgestandenund hatten die finstere Stimmung genossen. Wir verließendie Vernissage und gingen Unter den Linden entlang, vorbeiam Bugatti-Showroom durch die mit Planen abgehängte Passageder U-Bahn-Baustelle, um einen Drink in der von einerspektakulären Treppe dominierten Lobby des Westin Grandzu nehmen. Es gab kaum Gäste. Alles würde immer so weitergehen,schön melancholisch beschwert, aber auch vollerHoffnung, denn es würde nicht so weitergehen können – irgendwotaucht immer eine, jetzt benutze ich mal das neueModewort, disruptive Kraft auf. Die Kunst war nicht schuldam Elend der Welt. Während wir uns wie auf einem aus derZeit gefallenen Kreuzfahrtschiff fühlten und von unserenLoungesesseln aus den in Globaleleganz gekleideten älterenPaaren hinterherglotzten, schoss sich der todkranke SchriftstellerWolfgang Herrndorf eine Kugel in den Kopf, ein paarKilometer weiter nördlich am Ufer eines Spreekanals.Wir diskutierten. Wird es am Ende der Kunst gelingen, sichden Übernahmeversuchen des Kapitalismus, der alle Lebensbereichequantifiziert, optimiert, nutzbar macht, zu widersetzen?Selbst Unnütz- und Wirrsein kann gut als Antidot vermarktetwerden. Die Entgrenzungsphänomene finden wieüberall auch im Bereich der Kunst statt, um sich aus dem immerenger werdenden Würgegriff der allumfassenden Entgrenzungund Entfesselung zu befreien – das klingt absurd,und man weiß sowieso nicht, ob es sich um einen Aufbruchoder eine Fluchtbewegung handelt. Sofort nachdem eineneue Idee, Form oder Intensität auftaucht, breitet sie sich aus


Ägyptische Pro-Mursi-Anti-Militärputsch-Demonstration derOrganisation r4bia am 30.08.2013 auf dem Alexanderplatzund wird in die Verwertbarkeit eingemeindet. Auf diese Weiseentsteht ein großer Knäuel aus normativen Verhaltensweisenmit vielen losen, grotesken Enden. Die Welt ist zu einer bunten,selbstgefilzten Bommel geworden, deren Zotteln ungewaschenenDreadlocks ähneln. Mit voller Wirtschaftsleistungschwirrt sie durchs Universum. Auch das Feld der Kunst sollvor dem Hintergrund dieser Mobilisierung neu definiert werden,zumindest abgegrenzt oder ganz aufgelöst. Die blödestenund beliebigsten Zeichen lassen sich kreativ bündeln undermöglichen es, eine Käuferschicht zu vereinen, die sich füreine kurze Zeit zusammengehörig fühlt. Das auf permanentenaffektiv-ästhetischen Input trainierte Nervensystem deszeitgenössischen Subjekts wird schnell ruhelos. Und währendman sich fragt, ob da noch die Libido oder schon der Todestriebam Werk ist, ob das noch Umzug oder schon Gentrificationist, befindet sich ein Teil der Kunstproduktion längst aufder Flucht vor dem Irrsinn, den sie mit angerichtet hat. ImGegensatz zu den kreativen Bemühungen der Optimierer istKunst nicht teleologisch und kann sich auch ruhig und interesselosgegen sich selbst wenden.In seinem Essay „Liar’s Poker“ von 2003 beschreibt Brian Holmesin Anlehnung an Bourdieus Feldtheorie, dass die verschiedenensozialen Felder, aus denen sich die zeitgenössischeGesellschaft bildet, von unerträglichen Regeln wie Ungleichheit,Herrschaft und Ausbeutung zusammengehalten werden.Jeder sogenannte Spieler, der in diesen Feldern agiert oder Zu-gang zu ihnen erlangen möchte, ist, gemäß dem demokratischenHöflichkeitsgebot, gezwungen, über die verborgeneGewalt zu lügen. Ein stillschweigender Vertrag hält die Playersin einer immer wahnhafter werdenden Illusion zusammen.Im Kunstfeld stehen die Künstler laut Holmes den Institutionenwie in einer Partie Lügenpoker gegenüber: sie bluffen sichmit der Ansage, ihre Kunst sei politisch, ins Spiel hinein. Stelltman im Museum schließlich fest, dass ihre Kunst tatsächlichpolitischen Gehalt hat, sind sie draußen. Martha Rosler, diediesen Vergleich in „Culture Class: Art, Creativity, Urbanism,Part III“ zitiert, empfiehlt den Kunstschaffenden trotz allem,wiederum Chantal Mouffe zitierend, die Auseinandersetzungmit der Art World und ihren Institutionen nicht aufzugeben.Der Lebensraum wird enger, während sich der Vorstellungsraumimmer weiter ausdehnt, und irgendwo hat sich sicherjemand einen naturwissenschaftlichen Begriff für diesen Vorgangausgedacht. Wenn man die hierarchiesüchtigen und paranoid-abgrenzungsbereitenMenschen um sich herum in allensozialen Feldern betrachtet, packt einen der Lagerkollerund man versteht, dass es längst nichts mehr zu verteidigenoder zu gewinnen gibt, außer in einer anhaltenden – hier wiederein Zitat – künstlichen Hölle zu landen. Der fiktive Vertragist längst gebrochen. Christina Zück

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