100 / 26Grüne Illusionen/ Verzicht statt Status Quo oder WachstumAlle reden vom Klimawandel. Gegenüber dieser fatalen Bedrohungder Überlebensbedingungen in den kommendenJahrzehnten sind alle mindestens ebenso gravierenden Umweltproblemein den Hintergrund getreten: die Überfischungder Meere, die Bodenverluste, die Vermüllung der Ozeanespielen in der öffentlichen Aufmerksamkeit nur eine Nebenrolle.Der Grund dafür ist einfach: Würde man über dieseDinge sprechen, käme man nicht umhin, über das eigene Verhaltenzu sprechen: denn schließlich entsteht der ganze Aufwandund der ganze Dreck nur durch unsere scheinbar unstillbarenKonsumbedürfnisse.Da hat der Klimawandel schon Vorteile: Seine Verursachungliegt Jahrzehnte zurück, man rechnet in abstrakten Zahlenvon Gigatonnen CO2 und redet ominös von „2-Grad-Leitplanken“,und vor allem: er gilt als technisch lösbar. Dafür hatman ja die Energiewende erfunden. Die Technik wird dafürsorgen, dass nicht mehr so viel Treibhausgase die Atmosphärebelasten werden. Die Kanzlerin teilt gerade in einer bundesweitverteilten Broschüre mit: „Die Gestaltung der Energiewendeerfordert ein Umdenken von uns allen – bei der Erzeugung,Verteilung und beim Verbrauch von Energie. DiesesUmdenken findet in neuen Technologien und Systemlösungenseinen Ausdruck.“ Das heißt: es kann so weitergehen wiebisher, die Technik wird schon alles richten.Auch dem Konsumenten hilft die Technik beim klimafreundlichenVerhalten. Er kann sich zum Beispiel den carbon footprinteines Produkts auf seinem smartphone anzeigen lassen.Oder den „echten“ Preis, also den, der anfallen würden, wennman die externalisierten Kosten einrechnete. Findige Programmiererentwickeln nämlich Apps, die strategische odermoralische Konsumentscheidungen erleichtern sollen, indemsie Informationen zum Produkt liefern, die dieses selbstnicht preisgibt. So könnte ein so unschuldig daherkommenderFruchtjoghurt sich unmittelbar als die ökologische Katastropheouten, die er hinsichtlich der seiner Klimawirkungentatsächlich ist. Und der potentielle Käufer könnte zugleichsehen, dass der „echte Preis“ für dieses Produkt eben nicht0,39 Euro ist, sondern unter Einrechnung aller externalisiertenUmweltkosten zum Beispiel 1,89 Euro wäre. Fasziniertkann er dann das danebenstehende Konkurrenzprodukt ausdem Kühlregal nehmen, sein smartphone dieselben Berechnungendurchführen lassen und feststellen, dass dieses Produktzwanzig Prozent weniger klimaschädlich ist als das vorherigeund sein „echter Preis“ nur 1,45 Euro ist. Es schmecktzwar nicht und kostet mit 0,79 Euro im falschen Preis mehrals das doppelte des schuldigen Joghurts, aber das Gerät hatpsychologisch die korrekte Kaufentscheidung schon festgelegt.Wer würde davon noch abweichen, nachdem der ganzeAufwand getrieben worden ist?Allerdings: der Recherche- und Rechenaufwand, der hinterdem Rücken des informationshungrigen Käufers getriebenwird und erhebliche Mengen Energie für den Betriebder Suchmaschinen erfordert, wird hier natürlich nicht berechnet– wie überhaupt generell übersehen wird, dass all dieBerechnerei von carbon footprints und ökologischen Rucksäckenzur permanenten Erhöhung von Aufwand beiträgt.Dem Klima ist es übrigens gleichgültig, ob die Server vonGoogle laufen, weil jemand wissen möchte, ob Lady Gagabeim Zahnarzt war oder welcher Joghurt unter Gesichtspunktendes Klimaschutzes empfehlenswert ist – Energie erfordernbeide Typen von Information gleichermaßen.Anstatt sich nun intuitiv für einen beliebigen Joghurt zu entscheidenoder sogar überhaupt keinen zu kaufen, überlässtder potentielle Käufer seine Entscheidung dem Aufwandserhöhungs-App,das er auf seinem Smartphone installiert hat,und hat sich unter dem Vorzeichen des Klimaschutzes ent-
mündigt. Seine Smartness hat er an das Produkt abgegeben,dass seine Entscheidungsparameter objektiviert und unabhängigvon seinen eigenen Präferenzen die Wahl trifft. Dasselbetun auch all jene „smart grids“, die Stromverbräuche inklimabewussten Haushalten so steuern sollen, dass im Landein ausgeglichener Zustand zwischen Stromangebot und –nachfrage herrscht. Hier überantwortet der Energiekonsumentdie Entscheidung, ob er sich jetzt eine Pizza aufbackenoder die schmutzige Wäsche waschen soll, dem kleinen Rechner,der ihn über die günstigste und daher entsprechend tarifierteNutzungszeit aufklärt.Die flächendeckende Einführung solcher Innovationen sollDeutschland zusammen mit den Technologien erneuerbarerEnergieerzeugung das Wunder eines ungebremsten Wirtschaftswachstumsbei sinkendem Ressourcen- und Energieverbrauchverschaffen. Das nennt man dann „grünes Wachstum“und freut sich, dass die Zukunft so bleiben kann, wie dieGegenwart ist. Verzichten muss niemand auf nichts.Und nun die illusionslose Lesart des Klimawandels. Der Umweltaktivistund Autor Bill McKibben hat unlängst in einembrillanten Artikel (www.rollingstone/politics/news/global-warmings-terrifying-new-math-201) im „Rolling Stone“ beschrieben,womit man es im Fall des Klimawandels zu tun hat: nichtmit einem Problem ohne Täter und Verantwortliche, sondernmit einem radikalen Interessengegensatz, der sich sehr einfachformulieren lässt. Möchte man das sogenannte 2-Grad-Zielerreichen, darf man weltweit bis zur Jahrhundertmitte nichtmehr als etwa 565 weitere Gigatonnen CO2 in die Atmosphäreblasen. So sagt es übereinstimmend die Klimaforschung. Diegegenwärtig vorhandenen Lager für fossile Energien umfassenallerdings ein Potential von 2795 Gigatonnen CO2, also etwadie fünffache Menge. Das Geschäftsmodell aller Mineralölunternehmenbesteht schlicht und einfach darin, diese 2795 Gigatonnenaus dem Boden und aus dem Meer, aus dem Ölschieferund den Ölsänden zu holen und auf den Markt zu bringen,und folgerichtig tun sie das auch, und zwar völlig unbekümmertum alle Probleme der globalen Klimaerwärmung. Sie investierengigantische Summen in die Erschließung der Vorkommen,weil sie damit gigantische Umsätze und Gewinnezu erzielen gedenken. Exxon beispielsweise wird bis 2016 jährlich37 Milliarden Dollar für die Suche nach Öl- und Gasvorkommenund ihre Erschließung ausgeben. Das sind ungefähreinhundert Millionen Dollar jeden Tag (Quelle aus dem gleichenRolling-Stone-Artikel).Das Geschäftsmodell von Unternehmen dieser Art ist die Zerstörungder Erde. Wollte man gegen den Klimawandel tatsächlichetwas unternehmen, müsste man also dieses Geschäftsmodellzerstören. Gegenwärtig würde allerdings kein politischerAkteur gegen die Absichten von BP, Exxon, Gazprom usw. vorgehen,weil die komplette Wirtschaft und ihr Wachstumsprinzipvon der beständigen Dosiserhöhung der täglichen Infusionmit fossilen Rohstoffen abgängig ist. Mehr noch: weil auch derAufstieg der Mittelklassen in den Schwellenländern und dieErhöhung der Lebensstandards in den asiatischen und südamerikanischenLändern genau daran hängt.Das ist am Beispiel der Verbesserung des Lebensstandards derBewohnerinnen und Bewohner der Schwellenländer zu belegen,eben an der rasanten Entwicklung von Mittelklassen,von Konsumkulturen, von erhöhtem Wohlstand, von besse-rer Bildungs- und Gesundheitsversorgung. Denn es geschiehtja beides zugleich: die Erhöhung des durchschnittlichen Lebensstandardsund der Geschwindigkeit der Zerstörung dernatürlichen Ressourcen. Das, was in ökologischer Hinsichtkatastrophale Jahre sind, das sind für die aufsteigenden Bevölkerungsgruppenin Brasilien, China, Vietnam Wirtschaftswunderjahre,psychologisch wie ökonomisch vergleichbarmit der westeuropäischen Nachkriegszeit.Hier und in den USA ging es schon vor einem halben Jahrhundertrichtig los mit dem Massenkonsum und der permanentenAusweitung der Komfortzone; die Kehrseite des Aufstiegsbildeten exponentielle Steigerungsraten im Material- undEnergieverbrauch, bei den Emissionen und beim Müll – genauwie jetzt in den Schwellenländern. Die Zahlen sprechenfür sich: während heute jeden Tag 50.000 Hektar Wald gerodet,100 Arten verschwinden und 350.000 Tonnen Fisch ausdem Meer geholt werden und Investoren überall auf der WeltLand aufkaufen, hat sich die weltweite Armut reduziert: DieZahl derjenigen, die pro Tag nicht mehr als einen Dollar ausgebenkönnen, hat sich seit dem Erdgipfel von Rio 1992 halbiert;wahrscheinlich gibt es demnächst auch weniger als eineMilliarde absolut arme Menschen. Beim Zugang zu Trinkwasserzeigt sich die gleiche Tendenz; insgesamt werden weitmehr Lebensmittel produziert als vor zwanzig Jahren, und sogardie Zahl der Kriege hat abgenommen.Was man hier beobachten kann, entspricht insgesamt genaujenem „Fahrstuhleffekt“, der den sozialen Frieden im Nachkriegseuropagewährleistet hat: Zwar blieb soziale Ungleichheitbestehen, vertiefte sich zum Teil sogar, aber mit dem Lebensstandardging es für alle im Fahrstuhl nach oben. Dasist das unzweifelhafte Verdienst des Prinzips der Wachstumswirtschaft:kein System hat historisch vergleichbar schnell sozialeVerhältnisse verbessert und damit für Viele zum erstenMal ein Gefühl von Chancen und Freiheit gegeben.Leider machen diese Wirtschaftswunder das Leben nur kurzfristigbesser; mittelfristig unterminieren sie ihren eigenen Erfolg.Denn die globale Wachstumswirtschaft ist zutiefst unökonomisch,da sie ihre eigenen Voraussetzungen aufzehrt.Die Wahrheit ist nicht schön: das ethisch wünschenswerteZiel global auch nur annähernd egalitärer Wohlstandsniveaussteht in Widerspruch zu allen Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen.Klimaschutz und Wachstum schließen sich wechselseitigaus. Will man soziale Gerechtigkeit und Klimaschutzim globalen Maßstand, hilft alles nichts: Dann muss man dieKomfortzone verlassen, auf Wohlstand verzichten, abgeben,andere Modelle des Verteilens, Wirtschaftens und Lebens entwickeln.Was das politisch heißt, kann nicht durch Technikbeantwortet werden, sondern nur durch die ernsthafte undkonfliktträchtige Auseinandersetzung darüber, was man fürdie Zukunft bewahren und was man aufgeben muss. GrüneIllusionen helfen da kein bisschen weiter. Harald Welzer/ 100 / 27