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10‒2013 - Von Hundert

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Sein iPhone funktioniert nicht, kein Netz. Also Notrufsäule. Erdrückt den roten Wählknopf. „Hallo, was kann ich für sie tun“,fragt die Stimme beruhigend. „Ich habe einen Motorschaden“,„Hallo ist da jemand, ich kann sie nicht hören“. K. jetzt lauter, erschreit „Ich habe eine Panne“, wieder „Ist da jemand?“. Die andereSeite legt auf. Kurz denkt er über seine Situation nach, keinKontakt nach außen, sein Telefon tot, nicht mal diese vorsintflutlicheSäule hilft ihm. Die Fäden der Zivilisation sind abgerissen.Er probiert es nochmals. „Wenn sie da sind, schlagen sie dreiMal kräftig auf die Säule.“ Er hämmert drei Mal auf die Sprechschlitzebis seine Hand schmerzt. „Ah jetzt höre ich sie“. Ein Fadenist wieder verknotet. Es wird nicht lange dauern, „Haben sienoch ein bisschen Geduld, warten sie nicht im Wagen, bleiben siehinter der Leitplanke“ lautet die Anweisung.Er nimmt das Buchmanuskript aus dem Auto und fängt an zu lesen.Dann merkt er, dass er dringend aufs Klo muss. Es war nochzu früh heute, als er das Haus verließ. Er sucht im Auto nachTempos, Zewa, irgendwas, aber da ist nichts.Nachdem er im tiefen Gras im Autobahngraben in der Lausitzkauerte, benutzt er die letzte Seite des Manuskripts, es ist dieDankes seite …/ 100 / 4Der oben abgedruckte Textauszug stammt nicht von Friedrichvon Borries. Es ist eine selbst erlebte Geschichte, dieden Stil von von Borries appropriiert. Appropriation ist einSchlüsselbegriff nicht nur im neuesten bei Suhrkamp erschienenenRoman RLF von Borries (ich lasse aus ästhetischenGründen das adelige „von“ von nun an weg), Appropriationscheint auch im sonstigen Leben des Autors eine große Rollezu spielen. „Aneignungskunst. Sich Dinge einfach aneignen,weiterführen, verändern“ erklärt eine Hauptfigur des Buches,der Künstler Mikael Mikael einer anderen, dem Werber Jan,diese Technik des Kopierens. Beide Figuren sind genauso altwie der Autor (Jahrgang 1974) und man kommt nicht umhin,im Laufe des Lesens sie als dessen Avatare, als seine Wunschidentitäten(die Mehrzahl von Alter Ego hört sich komischan) zu sehen. Das ist beim Romanschreiben, -lesen und -deutennichts Besonderes. Borries geht jedoch weiter. Er schuf dieFigur des Künstlers Mikael Mikael auch in der Kunstwelt, esexistieren Arbeiten (zum Beispiel das im Buch beschriebenePlakat „Show you are not afraid“), Mikael stellt in Ausstellungenaus, die Borries selbst kuratiert hat, er tritt – wie imBuch – jedoch nie in Erscheinung. Auch anderes im Buch verschränktsich stark mit unserem heutigen Leben, sei es, dassBorries Dinge aus der Fiktion des Romans in die Wirklichkeittransferiert, oder andersherum, dass er eine Vielzahl an realenPersonen und Begebenheiten in den Roman hineinpackt. EinZeitgeistroman also, jedoch auch eine kulturwissenschaftlicheRecherchearbeit, ein „Projekt“, vielleicht sogar ein Kunstwerk.Aber von vorne … die Geschichte ist schnell erzählt.Jan, ein Werber, 39 Jahre alt, Frau und zwei Kinder, wohnhaftin Hamburg, Vielflieger, mit Kachelmannesken Flirt- und Internetbekanntschaftenin aller Welt, einziger noch verbleibenderTraum ist es, einen eigenen Porsche zu besitzen (natürlichfehlt im Buch nicht die Referenz zu Andreas Baader,dem Autonarr unter den Terroristen). Dieser Jan präsentiertin London eine Kampagne zu einem Turnschuh namens „UrbanForce“. In der extrem lange ausfallenden Passage zu derPräsentation verwurstet der Werber natürlich alles, was zurZeit an Revolutionsbewegungen um den Globus zieht, landetnach dem Erfolg seines „Pitches“ in einer Bar bei seinemInternetflirt Angelique, die ihn sogleich zu echten Riots mitnimmt.Er wirft ein H&M-Schaufenster ein, findet das geil,und rennt mit Angelique in einen Park zum Vögeln. Das liestsich, ähnlich meiner vorweg gestellten Passage, wie ein Bastei-Lübbe-Roman,durchwegs im Präsens geschrieben, gespicktmit Produkt-Gadgets, reduziert auf einfache Dialoge,Beschreibungen, Handlungen.Aber weiter … Jan (Borries) hat die Idee, Revolution von deranderen, der bürgerlichen Seite zu denken. Wenn der Kapitalismusalles schluckt, was erst gegen ihn ist, dann mussman ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Man gründeteine Art Revolutions-Lifestyle-Agentur, verdient Geld undhöhlt das System von innen aus. „Werde Shareholder der Revolution“.RLF ist der Name dieses Projekts. Jan findet weitereMitstreiter, eben den Künstler Mikael Mikael und Slavia,mit der er natürlich auch im Bett landet („Küssen ist was fürkleine Mädchen“) und diese Gründung zieht sich dann leiderbis zum Ende des Buches.Wäre der Roman nicht nur die Verpackung für eine Art kulturwissenschaftlicheRecherche, die Borries in Form von realgeführten Interviews mit Leuten wie Oliviero Toscani, HaraldWelzer oder Stéphane Hessel und vielen lexikalischen Einschübenzu Begriffen wie „Spyware“ oder „Unsichtbares Komitee“immer wieder einstreut, man würde das Buch schnellweglegen. Es geht ihm um das Thema Revolution oder präziserum die alte Adorno-Frage, ob ein richtiges Leben im falschenmöglich sei. RLF ist somit das Kürzel für richtiges Leben(im) falschen.Und diese Frage stellt Borries all seinen Interviewpartnern,die sich aus unterschiedlichen Kontexten herkommend allemit dem Thema Gesellschaft und Veränderung beschäftigt haben.Der Mitideengeber der Occupybewegung, der Soziologe,der provokante Benetton-Fotograf, die Femen-Aktivistin usw.

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