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10‒2013 - Von Hundert

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Lücken, zu erinnern/ Über Fotografie am Beispiel Noé SendasWer schaut uns an, wenn wir alte Fotografien betrachten?Siegfried Kracauer fragt zu Beginn seines Essays „Die Photographie“(1927 in der Frankfurter Zeitung) beim Betrachteneiner 60 Jahre alten Aufnahme, die seine damals 24-jährigeGroßmutter zeigt: Hat so die Großmutter ausgesehen? Ausdem Bild alleine ließe sie sich nicht rekonstruieren. Der Enkelsohnkennt die Geschichten, die in der Familie über sie erzähltwerden: Dass sie in einem kleinen Zimmer mit Blick aufdie Altstadt wohnte und gerne mit Kindern spielte, für die sieSoldatenfiguren auf dem Glastisch tanzen ließ. Einige ihrerRedensarten sind überliefert und in der Familie weitergegebenworden. Ohne diese Erzählungen könnte das Bild aucheine beliebige, junge Frau zeigen, die im Jahre 1896 nach damaligerMode eine Krinoline und ein Zuaven-Jäckchen trägt.So aber bettet die Familiengeschichte die Fotografie in einNarrativ, das die Abgebildete aus ihrer Anonymität reißt, ihreine Geschichte gibt und sie mit der des Enkelsohnes verbindet.Aber dieser Kitt wird schon in der Generation der Enkelbrüchig, wenn Reifröcke und kurze Jacken oder die Frisur derGroßmutter aus der Mode sind und jetzt, 60 Jahre später, dieKinder zum Lachen bringen. Die Fotografie beginnt in ihrezeitgebundenen Einzelteile zu zerfallen.Über drei Generationen haben Erzählungen, die im Familiengedächtniskursieren, meist Bestand, dann werden sie vergessen.Und mit den Geschichten verschwinden die Personen aufden Fotografien. Alte Bilder, vielleicht aus Pappkartons vomSpeicher oder Trödel, sagen uns nichts mehr, weil wir keineGeschichte mit ihnen teilen. Sie bewahren Zeittypisches, indemsie einfangen, was sich im Bildraum befindet. Und dieserZeitbezug gibt das Abgebildete einer Komik des Altmodischenpreis, sobald sich die Moden ändern.Auch die Bilder vom Trödel waren aber einmal Erinnerungsbilder:Sie zeigen Familienfeste, Hochzeitspaare oder Ausflüg-/ 100 / 14ler im Grünen. Sie wurden in einem Moment aufgenommen,der erinnert werden sollte. Ein Augenblick, festgehalten imBild, ist Souvenir und kann Gedächtnisstütze sein, und alssolche wurde die Fotografie in den zwanziger Jahren auch beworben:„Weißt du noch? Wo warst du im vorigen Sommer?Wann hast du deine Erholungsreise gemacht? Du weißt esnicht genau, denn das beste Gedächtnis versagt. BleibendeErinnerungen verschafft Dir ein KODAK. Er allein ist ein zuverlässigerBerichterstatter, der alle Deine glücklichen Stundenim Bild festhält.“ (Kodak-Werbung von 1926)Die Fotografie als eine Darstellung der Zeit schafft einenWirklichkeitsbezug. Kracauers Großmutter hat sicher nichtimmer so ausgesehen, aber sie hat zumindest für den Augenblickso ausgesehen, in dem der Fotograf den Auslöserdrückte. Die Fotografie schafft einen Zugang zur Wirklichkeitder gezeigten Person. Und weil sie diesen Realitätsbezugschafft, verbaut sie ihn gleichzeitig auch. Sie verstellt den Zugangzu einer Person und ihren Geschichten, weil das Geschehenauf einen kleinen Ausschnitt reduziert werden muss.Die Fotografie stellt einen Oberflächenzusammenhang her,der total ist. Unser Gedächtnis arbeitet ganz anders. Es dehntund streckt zeitliche Zusammenhänge, es ist lückenhaft undweder an der totalen Raum- noch Zeiterfassung interessiert.Jede Erinnerung bezieht sich auf uns und unser Erleben, ohnedass wir immer genau den Zusammenhang und die Bedeutungwissen müssten. Für Kracauer ist die Fotografie kein Mediumder Erinnerungsbewahrung, sie ist erinnerungslos. DerMensch auf einer Abbildung konstituiert sich in den Dingenund verschwindet darin, weil seine Individualität und Geschichtedarunter vergraben werden. Kracauer setzt dem Vergessender fotografischen Abbildung zwei Zeichen entgegen:Die Anfangsbuchstaben von Vor-und Zunamen. Die Initialeneiner Person, zu einem Zeichen, dem Monogramm zu-

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