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in vino veritas: Dionysien der Justiz oder ein weltliches ... - 獨協大学

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<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>: <strong>Dionysien</strong> <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><strong>weltliches</strong> Abendmahl mit Vampiren—Zur Bedeutung des We<strong>in</strong>es <strong>in</strong> FriedrichDürrenmatts Komödie „Die Panne“—Thomas Meyer„Ihr wolltet Blut, jetzt habt ihr die Scheiße.“(Jean-François Lyotard)1. E<strong>in</strong>leitungFriedrich Dürrenmatts Werk Die Panne ist <strong>in</strong> drei Versionen erschienen: 1955 alsHörspiel, 1956 als Novelle und zuletzt als Komödie, die 1979 unter <strong>der</strong> Regie desAutors uraufgeführt wurde. Den Kern bildet jeweils e<strong>in</strong> gespielter Gerichtsprozesswährend e<strong>in</strong>es Tr<strong>in</strong>kgelages <strong>in</strong> <strong>der</strong> Villa des pensionierten Richters Wucht, <strong>in</strong> dasdie Hauptfigur Alfredo Traps, e<strong>in</strong> 45-jähriger Geschäftsreisen<strong>der</strong> <strong>der</strong>Textilbranche, durch Zufall h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gerät und zum Tode verurteilt wird. ImHörspiel wacht dieser nach durchzechter Nacht auf, erhält se<strong>in</strong>en repariertenWagen wie<strong>der</strong> und fällt zurück <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Geschäftswelt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er sich weiterh<strong>in</strong>rücksichtslos durchzukämpfen gedenkt. In <strong>der</strong> Novelle erhängt er sichschuldbewusst im Fensterrahmen, wo ihn <strong>der</strong> Staatsanwalt am nächsten Morgenerschüttert auff<strong>in</strong>det: „Alfredo, me<strong>in</strong> guter Alfredo! Was hast du dir denn dabeigedacht? Du verteufelst uns ja den schönsten Herrenabend!“ 1) In <strong>der</strong> Komödieerhängt sich Traps am Lüster, wobei er sich selbst erschossen haben soll, wasWucht zu dem verblüffenden Ausruf bewegt: „Er verteufelte mir be<strong>in</strong>ahe denschönsten Herrenabend.“ (P 173) 2)1) Dürrenmatt 1998, 94.2) Alle Seitenangaben <strong>in</strong> Klammern beziehen sich auf Friedrich Dürrenmatt, Die Panne. Hörspielund Komödie, Zürich 1985.


110 Diese Variationen legen nahe, dass <strong>der</strong> Ausgang des Gerichtsverfahrens tatsächlichso willkürlich ist wie die f<strong>in</strong>alen Schüsse <strong>der</strong> Richter auf die Sterne <strong>in</strong> <strong>der</strong>Morgendämmerung (wobei sie gemäß <strong>der</strong> Regieanweisung aufs Publikum zielen),die irgendjemanden treffen, verletzen o<strong>der</strong> gar töten. Das heißt, dass die Willkürdes Dichters <strong>der</strong> Willkür des Gerechtigkeitsbegriffs entspricht 3) und dass <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ergottlosen Welt niemand mehr gerechterweise für Unfälle und Katastrophenverantwortlich zu machen ist. Wo es ke<strong>in</strong> Schicksal mehr gibt, ereignen sich nurnoch Pannen.Diese Untersuchung befasst sich ausschließlich mit <strong>der</strong> Komödienfassung, <strong>in</strong> <strong>der</strong>Traps, verheiratet und Vater von vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, durch e<strong>in</strong>e Verkettung vonZufällen, Pannen und Katastrophen <strong>in</strong> das Haus des pensionierten RichtersWucht kommt. Er selbst hat nur e<strong>in</strong>e Autopanne, doch im Dorf gab es zuvorbereits e<strong>in</strong>en schweren Autounfall mit elf Toten sowie e<strong>in</strong>e Karambolage zweierÖlwaggons, weshalb die Bahnstation außer Betrieb ist. Überdies liegt <strong>der</strong>Geme<strong>in</strong>depräsident im Sterben. Särge wie auch Hotelzimmer s<strong>in</strong>d knapp, dazugleich e<strong>in</strong> Treffen von 150 Blasmusik-Vere<strong>in</strong>en stattf<strong>in</strong>det, die sozusagen dieH<strong>in</strong>tergrundsmusik zu diesem ‚Pannen’-Stück liefern. Traps, <strong>der</strong> nun bis zurReparatur se<strong>in</strong>es Wagens festsitzt, hat jedoch Glück im Unglück: Er wird nichtnur freundlich von Just<strong>in</strong>e, <strong>der</strong> geheimnisvollen Enkel<strong>in</strong> des Richters, empfangen,Wucht und se<strong>in</strong>e ebenfalls hoch betagten Freunde Zorn, Kummer und Pilet, ihresZeichens e<strong>in</strong>st Staatsanwalt, Rechtsanwalt und Henker, s<strong>in</strong>d erfreut über denunverhofften Gast und laden ihn zu e<strong>in</strong>em ihrer berüchtigten Herrenabende e<strong>in</strong>,die sie gewöhnlich mit <strong>der</strong> Verkostung kostbarer We<strong>in</strong>e aus Wuchts We<strong>in</strong>kellerund dem Nachspielen berühmter historischer Prozesse zubr<strong>in</strong>gen. Überrumpeltvon <strong>der</strong> Gastfreundlichkeit <strong>der</strong> alten Herren und vom We<strong>in</strong> schnell redselig lässtsich Alfredo Traps <strong>in</strong> ihr Gerichtsspiel verwickeln, das er unter <strong>der</strong> zunehmendenWirkung <strong>der</strong> schweren und immer älter werdenden Rotwe<strong>in</strong>e, die von <strong>der</strong>Haushälter<strong>in</strong> Simone von Fuhr, <strong>der</strong> Tante Just<strong>in</strong>es, serviert werden, allmählichfür real hält. Rhetorisch gewandt konstruiert Zorn aus Traps’ selbstgefälligen und3) Pasche 1997, 124.


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>111prahlerischen Erzählungen bezüglich se<strong>in</strong>es beruflichen Aufstiegs zumGeneralvertreter <strong>der</strong> Textil-Firma Hephaiston, den <strong>der</strong> Gast und unvermitteltAngeklagte dem plötzlichen Tod se<strong>in</strong>es Chefs Gygax verdankt, und se<strong>in</strong>esLiebesverhältnisses mit dessen Frau e<strong>in</strong>en Mord, wodurch sich Traps unversehensvom „st<strong>in</strong>klangweilige[n] Textilvertreter“ (P 127) zum „außergewöhnlichste[n]Verbrecher des Jahrhun<strong>der</strong>ts“ (P 146) aufsteigen sieht. Der Staatsanwaltunterstellt, <strong>der</strong> Angeklagte hätte im Wissen um das langjährige Herzleiden se<strong>in</strong>esChefs <strong>in</strong> böswilliger Absicht e<strong>in</strong>e Affäre mit dessen Frau begonnen und ihndeshalb heimtückisch über e<strong>in</strong>en geme<strong>in</strong>samen Geschäftsfreund von <strong>der</strong> Untreuese<strong>in</strong>er Ehefrau <strong>in</strong> Kenntnis gesetzt, um ihn geschickt aus dem Weg zu räumen.Stolz vernimmt Traps schließlich das Todesurteil, das ihm nicht zuletzt Hoffnungauf e<strong>in</strong> Liebesverhältnis mit Just<strong>in</strong>e macht, auf die Schuld e<strong>in</strong>e unwi<strong>der</strong>stehlicheAnziehungskraft ausübt und <strong>der</strong> er sich nur als Mör<strong>der</strong> „würdig“ (P 159) zuerweisen glaubt. Umso wüten<strong>der</strong> reagiert er auf das zweite Urteil, welches dasGericht unmittelbar im Anschluss daran fällt, mit dem es ihn freispricht und ihnvor die Wahl stellt. Während die alten Herren sich <strong>in</strong> den Garten begeben, umdie Götter als die wahren Schuldigen h<strong>in</strong>zurichten und sie mit Pistolen vomFirmament zu schießen, bleibt Traps im Haus und <strong>in</strong>sistiert auf dem Vollzug <strong>der</strong>Todesstrafe. Se<strong>in</strong>e Schuld will er durch e<strong>in</strong>e Tat beweisen. Als im Garten dieletzte, auf den Merkur gerichtete Salve ausbleibt und stattdessen e<strong>in</strong> Schuss imHaus zu vernehmen ist, f<strong>in</strong>den Wucht, Zorn, Kummer und Pilet kurz daraufTraps im Kronleuchter hängend tot auf. Er habe sich erschossen, heißt es – womitschon angedeutet wäre, dass die Todesumstände äußerst dubios s<strong>in</strong>d, denn wiekann sich jemand gleichzeitig aufhängen und erschießen? Vor allem aber ist esbemerkenswert, dass auch dieser vorgebliche Selbstmord 4) die Gastgeber nichtvom Genuss des letzten We<strong>in</strong>es abhält. Zum<strong>in</strong>dest Wucht und Pilet lassen es sichnicht nehmen, nachdem Zorn und Kummer e<strong>in</strong>geschlafen s<strong>in</strong>d, die Feierfortzusetzen und das Opfer ihres Treibens mit dem zehnten We<strong>in</strong> aus WuchtsWe<strong>in</strong>keller zu begießen, schließlich verteufelte Traps ihnen den „schönstenHerrenabend“ ja nur „be<strong>in</strong>ahe“ (P 173), wie Wucht <strong>in</strong>s<strong>in</strong>uiert. Was das zu4) Auch <strong>der</strong> Autor spricht <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung von „Selbstmord“: „Dem Angeklagten kommt das Wählenzu, se<strong>in</strong> Selbstmord ist se<strong>in</strong>e Wahl.“ (P 65)


112 bedeuten hat, wird im Folgenden zu klären se<strong>in</strong>.***Diese Untersuchung verfolgt das Ziel, die Bedeutung <strong>der</strong> Komödie über dieFunktion des We<strong>in</strong>es bzw. des We<strong>in</strong>kellers zu erschließen. Ausgehend von <strong>der</strong>Symbolik des We<strong>in</strong>es soll e<strong>in</strong>e Lektüre unternommen werden, die dieverschiedenen semantischen Facetten des Dürrenmatt-Textes ausleuchtet,Auskunft über Dürrenmatts Auffassung von <strong>der</strong> ‚Komödie’ gibt und nicht zuletztdie ultimative Panne vermeidet: <strong>der</strong> Aussage Kummers allzu leichtfertig Glaubenzu schenken, dass sich Traps erschossen hätte (P 171). Es gilt also nebenbei e<strong>in</strong>enMord aufzuklären. 5)Dass <strong>der</strong> We<strong>in</strong> das wichtigste strukturbildende Textmerkmal ist, <strong>in</strong>dem es dasStück rhythmisiert, wird zum e<strong>in</strong>en durch das auffällige Servieren des We<strong>in</strong>esunterstrichen, bei dem Just<strong>in</strong>es taube Tante jedes Mal mit mutmaßlich überlauterund -betonen<strong>der</strong> Stimme (vgl. P 82 u. 90) die Bühne betritt und mit präzisenAngaben zu Herkunft und Alter des We<strong>in</strong>es das sowohl den Herrenabend alsauch die Gerichtsverhandlung beherrschende Ritual <strong>in</strong> Gang setzt: Der jeweils <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er Karaffe servierte We<strong>in</strong> wird <strong>in</strong> Pokale gegossen und Hausherr Wucht gibtdas Kommando zum Riechen und Kosten, woraufh<strong>in</strong> Pilet stets die Vermutungäußert, <strong>der</strong> We<strong>in</strong> sei korkig („Zapfen“). Nachdem die an<strong>der</strong>en das zumeistverne<strong>in</strong>en, folgt auf die Auffor<strong>der</strong>ung zum ‚Tr<strong>in</strong>ken’ e<strong>in</strong> unterschwelliger,nichtsdestotrotz erbitterter Kampf <strong>der</strong> alten Herren um jeden Tropfen des edlenGetränks, <strong>der</strong> die Gerichtsverhandlung, die ja vor<strong>der</strong>gründig <strong>der</strong>Wahrheitsf<strong>in</strong>dung dienen soll, weit über das Schauspiel h<strong>in</strong>aus zur Farce geratenlässt. Mit an<strong>der</strong>en Worten: Der Streit um den We<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gt den doppelten Boden5) So wie <strong>der</strong> Henker Pilet zu Beg<strong>in</strong>n des 2. Aktes nicht auf das Er<strong>in</strong>nerungsfoto gelangt, so wirdauch <strong>der</strong> wahre Henker von Traps unsichtbar bleiben bzw. nicht über justiziables Beweismaterial(im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Textanalyse) d<strong>in</strong>gfest zu machen se<strong>in</strong>. Nur die verme<strong>in</strong>tlich zusammenhangloseBemerkung „E<strong>in</strong>e Mordsarbeit“ (P 73), mit <strong>der</strong> <strong>der</strong> zweite Polizist auf die mühselige Beseitigungvon Traps’ Leiche anspielt, liefert e<strong>in</strong> Indiz, das knapp Hun<strong>der</strong>t Seiten später <strong>in</strong>des aus dem Blickgeraten se<strong>in</strong> dürfte.


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>113dieses Theaters im Theater zum Vorsche<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem die nur sche<strong>in</strong>bar honorigenGerichtsprozesse vonstatten gehen.Zum an<strong>der</strong>en wird die Signifikanz des We<strong>in</strong>es wortwörtlich augenfällig, <strong>in</strong>demdie aufgetischten Bordeaux-We<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Elementenzusammenschließen, die sich durch die Signalfarbe Rot auszeichnen: zuvor<strong>der</strong>stdie gesamte Bühne, die laut Bühnenanweisung ebenso rot zu se<strong>in</strong> hat wie <strong>der</strong>Lüster (P 61), Traps’ „rotlackierter Jaguar“ (P 83), Just<strong>in</strong>es rotes Abendkleid(P 138), die roten Talare und Mützen, <strong>in</strong> denen Wucht, Zorn und Kummer zurUrteilsverkündung ersche<strong>in</strong>en (P 159), und darüber h<strong>in</strong>aus das Feuer, demJust<strong>in</strong>es Mann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hochzeitsnacht zum Opfer fällt (P 156) 6) , sowie das Blut,das vom Lüster herabtropft (P 172). All diese rot markierten Bühnen- bzw.Text<strong>in</strong>tarsien referieren auf drei jeweils ambivalente Bedeutungsebenen, die <strong>der</strong>We<strong>in</strong> <strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>t und die im Folgenden untersucht werden sollen: Erstenswird <strong>der</strong> Rebensaft mit Blut assoziiert und fungiert somit als e<strong>in</strong>e Metapher fürLeben und Tod. Zweitens ist <strong>der</strong> We<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft stiftendes Genussmittel(„e<strong>in</strong> geselliger We<strong>in</strong>“, P 62), e<strong>in</strong> Getränk, das Zeit spendet, für feierlicheStimmung sorgt und gewöhnlich e<strong>in</strong> Gespräch begleitet. Zugleich ist es jedochbei übermäßigem Konsum e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaft sprengendes Rauschmittel, e<strong>in</strong>Ekstase und damit Vergessenheit beför<strong>der</strong>ndes dionysisches Elixir. Drittens undmit den ersten beiden Ebenen eng verwoben verweist die berühmte Sentenz „<strong>in</strong>v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>“ über die dionysische Theater- und christlicheTranssubstantiationsebene des Abendmahls auf das Vermögen des We<strong>in</strong>s, zumMedium e<strong>in</strong>es Erkenntnis- und Wahrheitsdiskurses zu werden. An<strong>der</strong>s und aufden Inhalt <strong>der</strong> Panne bezogen formuliert: Die <strong>Justiz</strong>, die Wahrheitsf<strong>in</strong>dung alsTheater zelebriert (und dabei bisweilen über Leben und Tod entscheidet),berauscht sich h<strong>in</strong>terrücks an ihrem Zeremoniell und sichert sich ihre Macht undihr Über-Leben auf Kosten <strong>der</strong> (vergessenen) <strong>Justiz</strong>-Opfer, zu denen auch alldiejenigen zu zählen s<strong>in</strong>d, die grundsätzlich an ‚die Schuld’ des Menschenglauben.6) „Er starb blutjung“ (P 84), wie Just<strong>in</strong>e behauptet, was jedoch später von Kummer korrigiert wird:„Er war zweiundachtzig, als er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hochzeitsnacht starb.“ (P 94)


114 Die Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um den We<strong>in</strong>, um das ‚Lebenselixier Blut’, dekuvriertWucht, Zorn, Kummer und Pilet als groteske vampirartige Figuren, <strong>der</strong>en hohesAlter wie auch die zyklische Anordnung des Stückes andeuten, dass ihr alsGerichtsspiel getarntes Opferfest potentiell unendlich ist und sie selbst bereits alsQuasi-Untote agieren. Mit dem Vampirismus wäre e<strong>in</strong>e existentielle Ebene <strong>in</strong> <strong>der</strong>Panne bestimmt.Feier, Tanz, Rausch und Theater bilden h<strong>in</strong>gegen den ästhetischen Rahmen<strong>der</strong> Gerichtsverhandlung und nehmen e<strong>in</strong>erseits vermittels griechisch-antikerAnspielungen (Göttermasken, „Hephaiston“, „Mänade“, „Hekatomben“) Bezugauf den Gott Dionysos, an<strong>der</strong>erseits über Dürrenmatts Umgestaltung <strong>der</strong> FigurJust<strong>in</strong>es und über die Frage des Genusses auf den Marquis de Sade (vgl. P 100).Schließlich ist mit <strong>der</strong> Wahrheitsermittlung im Gerichtsprozess als „weltliche[s]Abendmahl[]“ (P 62), als Theater im Theater, bei dem unter <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wirkung desAlkohols nach und nach die Masken <strong>der</strong> Protagonisten fallen, und <strong>der</strong> zyklischenAnordnung des Stückes, das mit dem Ende beg<strong>in</strong>nt, sowie <strong>der</strong> Vorstellung <strong>der</strong> dieFiguren spielenden Schauspieler (77f.) über vielschichtige Brechungen <strong>der</strong>Realität wie auch <strong>der</strong> Fiktion e<strong>in</strong>e erkenntniskritische o<strong>der</strong> philosophische Ebeneangelegt, auf <strong>der</strong> Fragen <strong>der</strong> Wahrheit, (<strong>der</strong> Schuldfähigkeit) des Individuumsund <strong>der</strong> Gerechtigkeit verhandelt werden.Diese drei kurz als Vampirismus-, Dionysos/de Sade- und Abendmahl-Ebenezu benennenden Bedeutungsschichten, die sich aus <strong>der</strong> We<strong>in</strong>metapher herleitenund sich wechselseitig durchdr<strong>in</strong>gen, sollen nun im E<strong>in</strong>zelnen herausgearbeitetwerden.2. Tanz <strong>der</strong> VampireDie mythologische Figur des Vampirs als blutsaugende Nachtgestalt entstammtneben afrikanischen und asiatischen Ursprüngen südosteuropäischemVolksglauben. E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> die Literatur fand sie im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t durch JohnPolidoris The Vampyre (1819), Joseph Sheridan Le Fanus Carmilla (1872) undvor allem durch Bram Stokers Dracula (1897). Vampire zeichnen sich <strong>in</strong> <strong>der</strong>Regel durch übers<strong>in</strong>nliche Kräfte aus, s<strong>in</strong>d als Meister <strong>der</strong> Verführung mit e<strong>in</strong>emausgeprägten Sexualtrieb ausgestattet, scheuen das Sonnenlicht, weshalb sie


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>115tagsüber <strong>in</strong> Särgen schlafen, haben als Untote ke<strong>in</strong> Spiegelbild und können sich <strong>in</strong>Fle<strong>der</strong>mäuse verwandeln. Das prom<strong>in</strong>enteste Vampir-Merkmal ist jedochzweifelsohne, dass sie sich ausschließlich vom Blut ihrer Opfer ernähren.Während Graf Dracula <strong>in</strong> Bram Stokers berühmter Vampir-Erzählung noch alse<strong>in</strong>e Kreatur des Teufels und Anti-Christ porträtiert wurde, hat <strong>der</strong> Vampir <strong>in</strong> <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>nen phantastischen Literatur des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts diverseTransformationen durchlaufen, nach denen er nicht mehr als Monster, als dasAn<strong>der</strong>e schlechth<strong>in</strong> dargestellt wird, demgegenüber sich ‚<strong>der</strong> Mensch’ und se<strong>in</strong>e‚Humanität’ profilieren ließe. Solche Grenzen werden im postmo<strong>der</strong>nen Zeitalterh<strong>in</strong>terfragt o<strong>der</strong> gänzlich aufgelöst. 7) Die ‚neuen’ Vampire haben diemetaphysische Aura des Bösen längst abgestreift und präsentieren eher e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esBild des Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zerrspiegel besehen. 8) So s<strong>in</strong>d mittlerweile <strong>in</strong> denVampir-Geschichten auch ‚gute’ Vampire zu f<strong>in</strong>den. 9) Die Attraktivität <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>nen Vampir-Figur und ihre Konjunktur <strong>in</strong> <strong>der</strong> phantastischen undpopulären Literatur <strong>der</strong> vergangenen Jahre ist wohl gerade ihrem Vermögengeschuldet, die Grenzen zwischen ‚gut’ und ‚böse’, ‚Leben’ und ‚Tod’, ‚Ich’ und‚An<strong>der</strong>em’ o<strong>der</strong> aber ‚Virtualität’ und ‚Realität’ zu reflektieren sowie Ängste vor<strong>der</strong> Dysfunktionalität dieser Differenzierungen zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen. 10)Nicht nur, dass <strong>der</strong> „durchzechte[] Herrenabend“ just „bis zum Aufgang <strong>der</strong>Sonne dauerte“ und <strong>der</strong> neue (<strong>der</strong> <strong>der</strong> ‚alte’ ist) heraufzieht, als „[d]ie Abendsonnesich […] gegen den Horizont [neigt]“ (P 80), während die uralten 11) <strong>Justiz</strong>iareunter griechischen Göttermasken noch schlafen (P 82), nicht nur, dass Trapsse<strong>in</strong>en Chef Gygax als „Blutsauger[]“ (P 149) tituliert, auch se<strong>in</strong>e eigeneWie<strong>der</strong>auferstehung aus dem Sarg zu Beg<strong>in</strong>n des Stückes, <strong>der</strong> Familienfluch 12) ,7) Vgl. Gordon/Holl<strong>in</strong>ger 1997, 5.8) Zanger 1997, 23.9) Vgl. Gordon/Holl<strong>in</strong>ger 1997, 18f.10)Ebd., 7.11)Die Vornamen von Wucht (Abraham Gotthold Luis), Zorn (Isaak Joachim Friedrich), Kummer(Jakob August Johann) und Pilet (Roland René Raimond) weisen e<strong>in</strong>e Mischung berühmterNamen von biblischen Urvätern, Königen sowie philosophisch-aufklärerischen Denkern auf.12)Vgl. P 64: „[…] den Zauberspruch […], durch den sie, ist sie bei Großväterchen, wie Traps gebanntwird: dass Schuld etwas Wun<strong>der</strong>bares sei.“


116 <strong>der</strong> auf Just<strong>in</strong>e zu lasten sche<strong>in</strong>t und ihre libid<strong>in</strong>öse Schuldfixierung begründet,sowie das immer wie<strong>der</strong>kehrende Problem des Sargmangels und, nicht zuvergessen, die Fle<strong>der</strong>mäuse (P 157) s<strong>in</strong>d Indizien e<strong>in</strong>es vampiristischen Subtextes<strong>der</strong> Panne, <strong>der</strong> die Agenten <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong> als Parasiten entlarvt, <strong>der</strong>en Legitimität, jaExistenz sich aus dem Verbrechen, <strong>der</strong> anhaltenden Opferung und demkont<strong>in</strong>uierlichen Glauben an die Idee <strong>der</strong> Schuld speist. Dürrenmatt gibt diesemvampiristischen Zug se<strong>in</strong>er Komödie e<strong>in</strong>e grotesk-komische Wendung, die für dasHorrorgenre alles an<strong>der</strong>e als ungewöhnlich ist. Se<strong>in</strong>e Vampire s<strong>in</strong>d nichtfurchterregend, haben – zum<strong>in</strong>dest vor<strong>der</strong>gründig – gute Manieren und Humor,auch wenn dieser, wie sich herausstellen wird, tiefschwarz ist. Sie s<strong>in</strong>d aufgeklärteVampire, die trotz Gier und Rausch rational vorgehen. Sie opfern/verurteilen janicht wirklich, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>szenieren Ritual und Prozess als Spiel, als Theater. Vorallem aber geben sie sich, an<strong>der</strong>s als Dracula, <strong>der</strong> immer wie<strong>der</strong> gastfreundlicheAngebote zum Tr<strong>in</strong>ken ausschlägt bzw. gar das Wort „tr<strong>in</strong>ken“ 13) vermeidet, demGenuss des Blutsurrogats ‚We<strong>in</strong>’ h<strong>in</strong>, obwohl o<strong>der</strong> gerade weil ihnen dieseAssoziation vollkommen bewusst ist. 14) Dabei s<strong>in</strong>d sie durchaus bereit, an<strong>der</strong>e andiesem Genuss teilhaben zu lassen, wie die Besucher belegen, die zu Beg<strong>in</strong>n desStückes mit schwerem Kopf und beträchtlichen Gedächtnislücken Wuchts Hausverlassen. Alle<strong>in</strong> die Polizei hat angesichts <strong>der</strong> zu beseitigenden Leiche und <strong>der</strong>Schäden, die durch die Schüsse im Morgengrauen zu beklagen s<strong>in</strong>d, etwas gegendie ausschweifenden Bacchanalien: „Schluß mit <strong>der</strong> Gastfreundschaft.“ (P 76)Der Vampirismus <strong>der</strong> Panne dient überdies <strong>der</strong> Erzeugung von Spannung. DasBetreten <strong>der</strong> Villa, <strong>der</strong> Übergang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Traps zunächstniemanden antrifft und sich alle<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Weg durch das unbewohnt anmutendeHaus bahnen muss, bevor er <strong>der</strong> merkwürdig agierenden Just<strong>in</strong>e und ihre Tantebegegnet, erzeugt jene Unheimlichkeit, die e<strong>in</strong>schlägigen Filmen desHorrorgenres zueigen ist, zumal die Tötung des Gastes durch se<strong>in</strong>en Gastgebere<strong>in</strong>er eigentlich typischen Vampirkonstellation entspricht, bei <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gast selbstzum Gastmahl wird. 15) Die subtilen Anzeichen von Gefahr verdichten sich aller13)Stoker 1897, 298.14)Vgl. Gordon/Holl<strong>in</strong>ger 1997, 6: „the vampire as a metaphor for consumption.”


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>117Gastfreundlichkeit zum Trotz, als Traps im Gespräch mit Kummer von PiletsProfession erfährt („Er war e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> tüchtigsten Henker <strong>in</strong> unseremNachbarlande und ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kunst noch immer auf dem laufenden“, P 114)und plötzlich die Schreie von Emma Pracht vernimmt (ebd.). Auch wenn se<strong>in</strong>Anwalt beschwichtigt, dass sie nur e<strong>in</strong>e Mitspieler<strong>in</strong> ist, die ihre Strafe verbüßt(„Wir haben für jede Art von Strafe e<strong>in</strong> Zimmer“), so erweckt dies eher dieVorstellung von diversen Folterkammern, weshalb sich Traps tatsächlich für e<strong>in</strong>enMoment fürchtet. Es wird ihm „unheimlich“, da „[d]as Spiel […] <strong>in</strong> dieWirklichkeit umzukippen [droht]“. Aber genau „[d]as ist das Spannende“ (P116), wie Traps selbst bemerkt. 16)Es stellt sich jedoch heraus, dass diese ‚Unheimlichkeit’ ke<strong>in</strong>eswegs grundlos ist,denn die älteren Herren haben ganz freudianisch tatsächlich e<strong>in</strong>e Leiche im(We<strong>in</strong>-)Keller: Just<strong>in</strong>e hat ihren Großvater durch den Mord an ihrem Mann,dessen Perücke, e<strong>in</strong> traditionelles Dignitätszeichen für <strong>Justiz</strong>beamte, sie <strong>in</strong> <strong>der</strong>Hochzeitsnacht mit e<strong>in</strong>er Zigarette <strong>in</strong> Brand 17) gesetzt hatte („Ich wollte diePerücke eigentlich nicht anzünden. […] Ich wollte Großväterchen nur e<strong>in</strong>eFreude machen“, P 156), überhaupt erst <strong>in</strong> den Besitz jenes „märchenhaftenWe<strong>in</strong>keller[s]“ (P 147) gebracht, dessen We<strong>in</strong>-/Blut-Reserven sich für dieGerichtsmasch<strong>in</strong>erie gewissermaßen als Schmiermittel und für die alten Herrenals Jungbrunnen erweisen, wie Traps Verteidiger Kummer berichtet:KUMMER: Wir leben wie<strong>der</strong> auf. Der Staatsanwalt lag im Sterben, beiunserem Gastgeber vermutete man Magenkrebs, Pilet litt an Diabetes, mirmachte <strong>der</strong> Blutdruck zu schaffen. E<strong>in</strong> Hundeleben. Da kam <strong>der</strong>Staatsanwalt auf die Idee, das Spiel e<strong>in</strong>zuführen. Die Hormone, die Mägen,die Bauschspeicheldrüsen kamen wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Schwung, die Langeweile15)Zanger 1997, 23.16)Vgl. ‚Unschlüssigkeit’ als zentrales Gattungsmerkmal phantastischer Literatur <strong>in</strong> TzvetanTodorovs Def<strong>in</strong>ition des Phantastischen. Todorov 1972, 33.17)Dies ist nicht nur e<strong>in</strong>e Parallele zu Kleists Komödie Der zerbrochene Krug, die Dürrenmatt selbst<strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung herstellt, <strong>in</strong>dem er Wucht als e<strong>in</strong>en Nachfahren des Richters Adam bezeichnet(P 64). Feuer zählt auch zu den Mitteln, mit denen Vampire abgehalten und vernichtet werdenkönnen.


118 verschwand, Energie, Jugendlichkeit, Elastizität, Appetit stellten sich wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>. Sehen Sie mal. Erhebt sich. Macht e<strong>in</strong>e Turnübung. (P 113)Außergewöhnliche physische Kräfte trotz hohen Alters s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> typischesMerkmal von Vampiren. Im Kampf um jeden Blutstropfen zeigen sich die Greiseerstaunlich vital und agil: Sie erklimmen ihre Sessel o<strong>der</strong> den Tisch, verkriechensich darunter o<strong>der</strong> legen lässig ihre Füße darauf, sie rollen über den Boden,entreißen sich gegenseitig die Karaffen und Pokale und tanzen übermütig durchsZimmer, als sich durch Traps Aufschnei<strong>der</strong>ei die Möglichkeit abzeichnet, ihnwegen e<strong>in</strong>es angeblichen Mordes anzuklagen und zu verurteilen. Das Prozess-Spiel dient nicht <strong>der</strong> Ermittlung e<strong>in</strong>es Verbrechens und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellungvon Gerechtigkeit, son<strong>der</strong>n alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zementierung des Schuldbegriffs sowie <strong>der</strong>Erhaltung des Gerichts bzw. <strong>der</strong> Vitalisierung se<strong>in</strong>er Agenten, die sich amOpferblut des gesellschaftlichen/theatralischen Gemetzels laben, wodurch <strong>in</strong>folgeihrer Trunkenheit gleichzeitig die Gewalt, die <strong>der</strong> Etablierung des Gerichts sowiedes Rechts- und Gerechtigkeitsbegriffs selbst zugrunde liegt, entschleiert wird. 18)3. Der Genuss des Bösen o<strong>der</strong> die Hure des GesetzesDie Vorliebe <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong>iare für schwere Bordeaux-We<strong>in</strong>e entspricht ihrerBegeisterung für schwere Verbrechen. Dass sich im Wetteifer um den We<strong>in</strong> ihreGier nach dem Lebenselixier ‚Blut’ wi<strong>der</strong>spiegelt und <strong>der</strong> We<strong>in</strong>kellergewissermaßen e<strong>in</strong> riesiges Blut-Reservoir und historisches Opfer-Magaz<strong>in</strong>darstellt, zeichnet sich bereits beim Château-Brion 1900 abZORN: Runter mit dem Ersten Weltkrieg.WUCHT: Runter mit <strong>der</strong> Russischen Revolution.KUMMER: Runter mit dem Zweiten Weltkrieg.18)Zum mythischen Ursprung des Rechts siehe Derrida 1991. Vgl. dazu die Funktion desZwischenvorhangs, <strong>der</strong> nach Dürrenmatts Angaben je nach Beleuchtung „bald durchsichtig[],bald undurchsichtig[]“ (P 61) se<strong>in</strong> soll, des Witwenschleiers (P 67) und des Nachthemdes (P 171)von Just<strong>in</strong>e sowie des sog. „Hephaiston“-Kunststoffes, den Traps’ Firma herstellt: „Hephaiston?Schleierhaft.“ (P 105)


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>119PILET: Runter mit dem Verbot <strong>der</strong> Todesstrafe. (P 124)und wird bei We<strong>in</strong> Nummer sieben, e<strong>in</strong>em Château Margaux 1891, von Piletgenüsslich po<strong>in</strong>tiert:ZORN: Nummer sieben.WUCHT: Bismarck wurde entlassen.KUMMER: Brahms komponierte das Klar<strong>in</strong>ettenqu<strong>in</strong>tett opus 115.ZORN: In Japan bebte die Erde.PILET: 7500 Tote. (P 140)Pilet – alles an<strong>der</strong>e als „e<strong>in</strong> sensibler, edler Menschenfreund“ (P 88) – legt alsHenker ohne Zweifel sadistische Züge an den Tag, wie se<strong>in</strong> notorisches „Fe<strong>in</strong>“beweist, mit dem er auch Zorns theatralische Rekonstruktion von Gygax’tödlichem Herz<strong>in</strong>farkt kommentiert:ZORN: Noch kann <strong>der</strong> alte Gangster heimfahren – Wankt vor dem Tischnach l<strong>in</strong>ks zurück, gefolgt von Traps – wuterfüllt, schon im WagenSchweißausbruch, Schmerzen, die er noch für Sodbrennen hält, die schonden l<strong>in</strong>ken Arm erfassen, die l<strong>in</strong>ke Hand wird gefühllos –PILET: Fe<strong>in</strong>.Dieser Sadismus übersteigt die Vampir-Ebene, <strong>in</strong>dem sie den Blutzoll <strong>der</strong> Opfernicht etwa als existenzielle Notwendigkeit betrachtet, son<strong>der</strong>n zum re<strong>in</strong>en Genusserhebt. Ebendiesen versucht Pilet se<strong>in</strong>en Mitstreitern wie<strong>der</strong>holt durch dieBehauptung, <strong>der</strong> We<strong>in</strong> schmecke korkig, zu verleiden – nur um sich alle<strong>in</strong>e andem Rebensaft gütlich tun zu können (vgl. P 102: WUCHT: „Er [Pilet] will unsnur am Saufen h<strong>in</strong><strong>der</strong>n.“).Die (geheime) Gesellschaft, die im Verborgenen ihre verbotenen, perversen Spielezum alle<strong>in</strong>igen Zweck des Lustgew<strong>in</strong>ns und <strong>der</strong> Erheiterung treibt, ist e<strong>in</strong>typischer Sade-Plot. Tatsächlich könnte man das Gerichtsspiel als e<strong>in</strong>enMysterienkult betrachten, <strong>in</strong> dem Wucht zu Beg<strong>in</strong>n des 2. Aktes als


120 Zeremonienmeister <strong>in</strong> blutbefleckter Montur (eigentlich nur Flecken <strong>der</strong>Gulaschsuppe) auftritt, was <strong>in</strong> eklatantem Wi<strong>der</strong>spruch zu se<strong>in</strong>er gewähltenAusdrucksweise steht. Desgleichen verletzt <strong>der</strong> latente Kampf um den We<strong>in</strong>, beidem je<strong>der</strong> nur auf se<strong>in</strong>en persönlichen Vorteil bedacht ist, die Etikette desWe<strong>in</strong>tr<strong>in</strong>kens und entlarvt die Agenten des Rechts als egoistische, korrupteWi<strong>der</strong>sacher. Wie sadesche Figuren e<strong>in</strong>es geheimen Machtzirkels, die ihres Opfershabhaft alle Masken fallen lassen, um diesem die Ausweglosigkeit se<strong>in</strong>er Lage vorAugen zu führen und über dessen naiven Glauben an gesellschaftliche Ordnung,Recht und Gerechtigkeit zu spotten, zelebrieren die alten Herren die Umwertungaller Werte und gestehen ihre Korrumpiertheit freimütig e<strong>in</strong>:KUMMER: Zugegeben, <strong>der</strong> Volksmund nannte uns die Unbestechlichen, alswir noch im Amte waren. Aber war diese Unbestechlichkeit angesichtsgewisser Kapitalien und Machtkonzentrationen immer möglich? Hand aufsHerz. Geht zu Zorn. Hätte sich unser verehrter Staatsanwalt se<strong>in</strong>e gigantischeBriefmarkensammlung mit dem weltberühmten Mauritius-Block leistenkönnen, wenn er sich nicht hätte bisweilen durch me<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anzielle Beihilfeüberreden lassen, diese o<strong>der</strong> jene Anklage fallen zu lassen?Wucht lacht.KUMMER weist auf Wucht: Ganz zu schweigen davon, was unserem liebenRichter Wucht se<strong>in</strong>e oft bis an die Grenze des Erträglichen gehendenFreisprüche e<strong>in</strong>brachten. Ich weiß, ich weiß. E<strong>in</strong> Vermögen, lieber Freund,e<strong>in</strong> Vermögen. Wie und warum du de<strong>in</strong>en märchenhaften We<strong>in</strong>kellere<strong>in</strong>zuheimsen vermochtest, darüber, liebe Freunde, wollen wir, die ihngenießen, schweigen. (P 147)Doch noch bevor Kummer se<strong>in</strong>e eigene Bestechlichkeit <strong>in</strong> dieser Szene e<strong>in</strong>räumt,wird schon wie<strong>der</strong> das Glas erhoben und auf die adaptierte Sade-Figur Just<strong>in</strong>eangestoßen, die dem Richter zu se<strong>in</strong>em We<strong>in</strong>keller verholfen hat und zugleich dieHauptursache <strong>der</strong> Korruption verkörpert:


122 ironische Spiel zunehmend ernst nimmt. Auch Traps trägt (parodistische) Zügee<strong>in</strong>er sadeschen Figur, <strong>der</strong> Dürrenmatt hier den Prozess macht, <strong>in</strong>dem er sie anihrem Erfolgspr<strong>in</strong>zip scheitern lässt: Der ‚Jäger’ im roten Jaguar kann nur dannauf e<strong>in</strong>e Eroberung Just<strong>in</strong>es hoffen, wenn er schuldig ist; nur als Schuldiger gilt eretwas im Gerichtsspiel <strong>der</strong> alten Herren. Diese Art spielerischen Wettstreits <strong>in</strong>Männergesellschaften ist ihm bestens vertraut. Im Bordell „Schlaraffia“ gibt Trapsden unwi<strong>der</strong>stehlichen Casanova (P 100), im Gericht den genialen Mör<strong>der</strong>. BeideSzenerien s<strong>in</strong>d als Lustspiele angelegt, wobei das Männertheater <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schlaraffianicht nur <strong>der</strong> Lustbarkeit, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Anbahnung von Kontakten, <strong>der</strong>Schaffung e<strong>in</strong>es Netzwerkes und des Informationsaustausches dient – kurzum:dem Geschäft. Das schmähen auch <strong>der</strong> Richter, <strong>der</strong> Staatsanwalt, <strong>der</strong> Advokatund <strong>der</strong> Henker ke<strong>in</strong>eswegs. Traps ist <strong>in</strong>dessen ke<strong>in</strong> Genießer, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> durchFleiß, Strebsamkeit und Zufall aus e<strong>in</strong>fachen proletarischen Verhältnissen (P 104)aufgestiegener Emporkömml<strong>in</strong>g, dessen schlecht gespielte Rolle des Libert<strong>in</strong>snicht über se<strong>in</strong>e Spießigkeit und Mediokrität 21) h<strong>in</strong>wegtäuschen kann (vgl. P155):TRAPS: Ganz e<strong>in</strong>fach, Jack: Ich betrog damals nicht nur den alten Gygax,son<strong>der</strong>n auch die Sportskanone [<strong>der</strong> Geschäftsfreund, über den Trapsangeblich se<strong>in</strong>en Chef von <strong>der</strong> Untreue se<strong>in</strong>er Ehefrau <strong>in</strong> Kenntnis setzte,T.M.]. Aber ich entschuldigte mich nachher bei ihm korrekt. Lacht. Bei denan<strong>der</strong>n freilich, mit denen Käthi herumschlief, konnte ich mich nichtentschuldigen. Ich hätte sonst heute noch geschwollene Hände. Aber wiesodenn?KUMMER: Wir staunen, lieber Freund. Diese Käthi muß e<strong>in</strong>e wahreMänade gewesen se<strong>in</strong>.TRAPS: Ist sie noch!KUMMER: Und Gigax?ZORN: Gü.KUMMER: – hat vom mänadischen Lebenswandel se<strong>in</strong>er Frau nichts geahnt?21)Vgl. zum Beispiel die für ihn pe<strong>in</strong>liche Szene, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er Kummer se<strong>in</strong> Feuerzeug anbietet und vondiesem darauf h<strong>in</strong>gewiesen werden muss, dass man Zigarren mit Streichhölzern anzündet (P 112).


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>123TRAPS: Dem alten Gauner war das egal. Der hatte mit me<strong>in</strong>er Frau genug.ZORN spr<strong>in</strong>gt auf: Mit – mit de<strong>in</strong>er Frau?Kummer setzt sich resigniert auf Wuchts Sessel.TRAPS: Na ja, ehrlich gesagt –ZORN: Also hast du aus Rache –TRAPS: Aber wieso denn? Me<strong>in</strong>e Frau kann doch schlafen, mit wem sie will.Ich schlafe schließlich auch, mit wem ich will. Bricht <strong>in</strong> Gelächter aus. Abi,Isi, Rolli, Jack, was macht ihr denn für lange Gesichter?Just<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>ks h<strong>in</strong>ten ab.TRAPS: In welchem Jahrhun<strong>der</strong>t lebt ihr denn, ihr alten Knaben? Habt ihrnoch nie von <strong>der</strong> sexuellen Befreiung gehört? So e<strong>in</strong> Uns<strong>in</strong>n, diese arme Frau– Frau –DIE ANDEREN: Emma Pracht.TRAPS: – Frau Pracht zu zehn Jahren Zuchthaus zu verdonnern, nur weil siefür den Ehebruch e<strong>in</strong>tritt. Klettert auf den Sessel, gibt dem Lüster e<strong>in</strong>en Stoß. Eslebe <strong>der</strong> Ehebruch, es lebe <strong>der</strong> Beischlaf! Mit e<strong>in</strong>er Frau zu bumsen, me<strong>in</strong>eFreunde, ob sie nun verheiratet ist o<strong>der</strong> nicht, ist nicht mehr als – na ja, nichtmehr als <strong>der</strong> Genuß e<strong>in</strong>es guten Tropfen edlen Rebensafts. (P 144f.)Nur für e<strong>in</strong>en Moment sche<strong>in</strong>t Traps aus dem Geltungswahn herauszufallen („Naja, ehrlich gesagt –“), <strong>in</strong> den er sich h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesteigert hat, bevor er das Geständnisse<strong>in</strong>er angeblichen Ausschweifungen aufs Neue überbietet. Doch <strong>der</strong> Rauschweicht schlagartig <strong>der</strong> Ernüchterung, als ihm während des Gesprächs mit Just<strong>in</strong>eim Garten vor <strong>der</strong> Urteilsverkündung bewusst wird, dass sie auch mit Pilet,Kummer und Zorn verkehrt (P 155). Zudem muss er e<strong>in</strong>gestehen, dass dieDarstellung se<strong>in</strong>es Liebesverhältnisses mit Frau Gygax wohl übertrieben undbestenfalls Wunschdenken war (während die Liaison se<strong>in</strong>er Frau mit se<strong>in</strong>em Chefwohl eher <strong>der</strong> Realität entsprochen haben dürfte): „Die st<strong>in</strong>kfe<strong>in</strong>e Damebehandelte mich wie e<strong>in</strong>en Hund.“ (ebd.)


124 Dürrenmatt führt mit dem Stück vor, woh<strong>in</strong> Denken und Ehrgeiz <strong>der</strong>aufgeklärten bürgerlichen Leistungsgesellschaft führt: <strong>in</strong> den Selbstmord. Deranpassungsfähige, mobile und skrupellose Geschäftsreisende, <strong>der</strong> Self-Made-Man,ist zwar auf Gew<strong>in</strong>n und Genuss aus und vermag sich dabei verschiedene Maskenund Namen zuzulegen, ist aber letztlich zu ‚wahrem’, gottgleichem Spiel (wie diealten Herren <strong>in</strong> ihren Göttermasken) und damit zu ‚wahrem Genuss’ nicht fähig:Anstatt das Spiel (<strong>der</strong> Freiheit) zu genießen und den Ernst des Gesetzes (wieWucht, Zorn, Kummer und Pilet nur) zur Bewahrung des Lustgew<strong>in</strong>ns bei se<strong>in</strong>erÜberschreitung anzuerkennen 22) , <strong>in</strong>sistiert Traps auf se<strong>in</strong>er Lebens- undGeschäftsmaxime („Wie du mir, so ich dir“, P 107) und e<strong>in</strong>em ‚optimierten’Wahrheitsbegriff 23) , von dem er sich den größtmöglichen Gew<strong>in</strong>n (Prestige,Persönlichkeit, Just<strong>in</strong>e) verspricht, ohne zu erkennen, dass ihn das <strong>in</strong> die (Selbst-)Vernichtung treibt. Das Gerichtsspiel ist demnach auch als Initiationsgeschehenbeschreibbar, dessen (Selbst-)Erkenntnisgew<strong>in</strong>n, e<strong>in</strong>hergehend mit e<strong>in</strong>emsymbolischen Tod, Traps ablehnt, weil er auf ‚se<strong>in</strong>em’ Realitätspr<strong>in</strong>zip beharrt: Erglaubt, er habe sich durch das Gericht erst richtig erkannt und ‚wirklich’ Gygaxermordet. Traps wird das Opfer se<strong>in</strong>er eigenen bürgerlich-kapitalistischenPr<strong>in</strong>zipien, denen se<strong>in</strong>e Vorstellungen von ‚Liebe’ angepasst und <strong>in</strong>tegriertwerden. 24)Just<strong>in</strong>e und ihre Tante Simone stellen jedoch die eigentlichen Opfer dieserblutsaugenden Männergesellschaft dar, von <strong>der</strong> sie versklavt werden. Ihre22)Emma Pracht wird verurteilt, weil die ‚freie Liebe’ als gesellschaftliche Realität e<strong>in</strong>en großen Teil<strong>der</strong> Ursachen von Verbrechen tilgen würde: Gier, Eifersucht, Habsucht, Besitzansprüche(zwischen Frauen und Männern), Leidenschaft. Deshalb s<strong>in</strong>d sie so geschockt, dass Gygaxangeblich bei Traps’ Frau war, als er starb (P 149). Sexuelle Libert<strong>in</strong>age würde die gesellschaftlicheOrdnung aufheben, <strong>der</strong>en Bewahrung bzw. Restituierung gerade die Aufgabe <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong> ist.Insofern ist es vollkommen logisch, dass sie aus juristischer Perspektive abgelehnt wird, währendsie von den Agenten <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong> gleichzeitig selbst praktiziert wird. Die quasi-<strong>in</strong>zestuöseVerstrickung des Rechtsystems deutet auf e<strong>in</strong>e weitere Bedeutungsebene h<strong>in</strong>, auf <strong>der</strong> ‚Blut’ als e<strong>in</strong>eMetapher für Rechtsysteme und Rechtspositionen fundierende verwandtschaftliche Beziehungenanzusehen ist.23)Adorno 2002, 98: „Anpassung ans Unrecht um jeden Preis“.24)Gemäß Traps’ Weltbild dient die Eroberung von Frauen alle<strong>in</strong> dem Zweck des Prestigegew<strong>in</strong>ns.KUMMER „ […] diese Herzensroheit – ne<strong>in</strong>.“ (P 143).


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>125Schicksale s<strong>in</strong>d nur anamorphisch <strong>in</strong> den Text e<strong>in</strong>gewebt und lassen sich nichtgänzlich erschließen. Just<strong>in</strong>e ist Sklav<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schuldvorstellungen, die dasgenealogische, patriarchalische Machtgefüge fundieren (KUMMER : „Er [Wucht]kennt alle juristischen Kniffe, und das Unbewußte se<strong>in</strong>er Enkel<strong>in</strong> ist ungeme<strong>in</strong>bee<strong>in</strong>flußbar“, P 94). Infolge e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> zyklischen Anlage des Stückskorrespondierenden Familienfluches geht sie für ihren Großvater <strong>der</strong> Prostitutionnach. Auch die psychiatrische Behandlung bei Professor Bürden vermag diesenWie<strong>der</strong>holungszwang 25) nicht zu heilen. Gleich zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Komödie lenktJust<strong>in</strong>e die Polizisten ab, die aufgrund <strong>der</strong> gefährlichen Schießerei desvergangenen Herrenabends, durch die e<strong>in</strong>ige Verletzte und diverseSachbeschädigungen zu beklagen s<strong>in</strong>d (P 75), e<strong>in</strong>e Untersuchung anordnenwollen, <strong>in</strong>dem sie e<strong>in</strong>en von ihnen h<strong>in</strong>ter dem Sarg, <strong>in</strong> dem Traps’ Leiche liegt,verführt. Als sie anschließend zu ihrem Psychoanalytiker flieht, ist sich Wuchtihrer baldigen Rückkehr – „Auf bald, me<strong>in</strong> K<strong>in</strong>dchen, auf bald.“ (P 76) – ebensosicher, wie se<strong>in</strong>er Unangreifbarkeit bezüglich des polizeilichen Vorgehens: „Dawird sich me<strong>in</strong> Freund und Schüler, <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong>m<strong>in</strong>ister, totlachen. […]Untersuchen Sie, und Sie werden abgeordnet.“ (ebd.)Während alle männlichen Familienmitglie<strong>der</strong> Karriere als Richter machen(WUCHT : „Me<strong>in</strong> Urgroßvater, me<strong>in</strong> Großvater und me<strong>in</strong> Vater waren Richter.Und me<strong>in</strong> Sohn und me<strong>in</strong> Enkel s<strong>in</strong>d auch Richter. Leben <strong>in</strong> Amerika. AlleWuchte waren, s<strong>in</strong>d und werden Richter se<strong>in</strong>“, P 89), bleibt Just<strong>in</strong>e – die„Gerechte“ – zugleich Opfer und Begrün<strong>der</strong><strong>in</strong> des Schuldsystems, <strong>in</strong>dem sie selbstimmer wie<strong>der</strong> neue Opfer ver- und dem Gerichtsspiel zuführt. Sie ist <strong>der</strong> Vamp,<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er quasi-<strong>in</strong>zestuösen Intrige die Mitspieler ihres Großvaters zu Mittäternund Mitwissern macht, sie ist die Mänade, die letztlich das Opfer br<strong>in</strong>gen wird.Im Gegensatz zu den alten Herren nimmt sie nicht am heilenden Ritus, amGeme<strong>in</strong>schaft stiftenden ‚Abendmahl’ teil und kann <strong>in</strong>sofern auch nicht ‚geheilt’und ‚erlöst’ werden. 26) Während die Männer die Opferhandlung theatralisch<strong>in</strong>szenieren und sich dem Genuss des We<strong>in</strong>es als Surrogat des Opferbluts25)Vgl. Klossowski 1996, 63f.26)Vgl. Seaford 2006, 108f.


126 h<strong>in</strong>geben können, muss Just<strong>in</strong>e („[e]<strong>in</strong> etwas mystisches Frauenzimmerchen“,P 87) sich selbst h<strong>in</strong>geben und das Opfer (um-)br<strong>in</strong>gen. Als e<strong>in</strong>zige Geste <strong>der</strong>Gegenwehr dafür, dass sie die Spielszenen <strong>der</strong> Männer als real erleben muss, istdemnach <strong>der</strong> Austausch <strong>der</strong> Platzpatronen <strong>in</strong> den Pistolen gegen scharfe Munitionzu werten. Nur so ist ihre Entrüstung zu erklären („Just<strong>in</strong>es Kopf taucht entrüstetauf“, P 75), als Wucht den Vorwurf des zweiten Polizisten, er habe mit se<strong>in</strong>enFreunden im Morgengrauen mit scharfer Munition geschossen, mit„Ausgeschlossen!“ (P 74) abwehrt. „Ich wollte doch nur e<strong>in</strong>en Spaß machen,Großväterchen“ (P 75), gibt se<strong>in</strong>e zu Spaß und Ironie gänzlich unbefähigteEnkel<strong>in</strong> zu bedenken.Simone h<strong>in</strong>gegen ist nicht nur das Dienstmädchen, das den We<strong>in</strong> und das Essenserviert. Wie Just<strong>in</strong>e betont, dass ihre Tante „total verarmt[]“ (P 82) sei, und vonihrem ermordeten Ex-Mann als e<strong>in</strong>em nur „mittelmäßige[n] Millionär“ (P 85)spricht, lässt darauf schließen, dass die Ausstattung mit Kapital zur Absicherung<strong>der</strong> Macht des Großvaters Teil <strong>der</strong> selbstverständlichen Beziehung zwischenProstituierter und Zuhälter ist. Dass Simone sich an<strong>der</strong>s als Just<strong>in</strong>e nicht gänzlichfür das Gericht prostituieren muss, liegt wohl alle<strong>in</strong> daran, dass sie als Taube nicht<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, ‚das Gesetz’ zu vernehmen. Dennoch sche<strong>in</strong>t sie zum Opfer <strong>der</strong>Habgier <strong>der</strong> Männer geworden zu se<strong>in</strong> („Lohn – Lohn bekomme ich hier auchnicht“, P 138), die auch über ihren Körper nach Belieben verfügen, wie Zornbeim Versuch <strong>der</strong> Rekonstruktion von Traps’ Mordhandlung vorführt.ZORN: Er fährt mit dem Citroën über die glitschigen Straßen <strong>in</strong>sVillenviertel – Nimmt Simones Kopf als Steuer.TRAPS: Ja, ja, im Villenviertel!ZORN: Er geht durch den dunklen Park, läutet, Frau Gygax öffnet –Zorn spricht Simone lautlos vor.SIMONE: Me<strong>in</strong> Mann ist heute nicht zu Hause.Zorn spricht Simone wie<strong>der</strong> lautlos vor.


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>127SIMONE: Auch Dienstmädchen – ausgegangen.ZORN: Sie ist im Abendkleid, o<strong>der</strong> noch besser: im Bademantel, trotzdemsolle doch Traps e<strong>in</strong>en Aperitif nehmen, sie lade ihn herzlich e<strong>in</strong>, und sositzen sie im Salon beie<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Setzt sich neben Simone.PILET: Fe<strong>in</strong>.TRAPS: Wie du das alles weißt, Isile<strong>in</strong>!ZORN: Übung. Die Schicksale spielen sich immer gleich ab. Es ist nichte<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Verführung. Es ist e<strong>in</strong>e Gelegenheit, die beide ausnützen. Sie istalle<strong>in</strong> und langweilt sich, denkt an nichts Beson<strong>der</strong>es und ist froh, mitjemandem zu sprechen, die Wohnung angenehm warm, unter demBademantel mit den Blumen trägt sie nur das Nachthemd. Faßt Simone anden Hals.SIMONE: Familienschmuck! Schlägt ihm auf die HandPILET: Aiaiai!TRAPS: Ganz nackt ist Käthi darunter gewesen, splitternackt.PILET: Fe<strong>in</strong>.ZORN: Und wie Traps neben ihr sitzt und ihren Hals sieht, den Ansatz ihrerBrust –PILET: Aiaiai!ZORN: – und wie sie plau<strong>der</strong>t, da begreift er, daß er hier ansetzen muß, undnachdem er angesetzt hat –PILET: Fe<strong>in</strong>. (135f.)Simone wird hier nicht nur als Dummy für die Nachstellung e<strong>in</strong>er Szenemissbraucht, die ohneh<strong>in</strong> nie stattgefunden hat. Was sich – stattdessen – <strong>in</strong> denAuslassungen ereignet und nur über Pilets lüsternes „Aiaiai“ erschlossen werdenkann, geht wortwörtlich ansatzweise über sexuelle Nötigung h<strong>in</strong>aus, denn demverme<strong>in</strong>tlichen Griff an die Brust müsste – vampirologisch – <strong>der</strong> Biss <strong>in</strong> denHals folgen. Die e<strong>in</strong>zige Gegenwehr Simones gilt dem „verschlissenen Schmuck“(P 81) – vermutlich das letzte, was ihr von ihren Besitztümern geblieben ist(„Just<strong>in</strong>e versetzte alle me<strong>in</strong>e Edelste<strong>in</strong>e“, P 136). Die angestrebte Aufklärunge<strong>in</strong>es Verbrechens wird von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Verbrechen überlagert:


128 Verbrechensaufklärung und Wahrheitsf<strong>in</strong>dung als Missbrauch, <strong>der</strong> von denRechtspflegern ignoriert o<strong>der</strong> wie im Fall von Pilet mit e<strong>in</strong>em gewissen Sadismusgoutiert wird.Simone <strong>in</strong>dessen rächt sich, <strong>in</strong>dem sie das kultivierte Gehabe <strong>der</strong> We<strong>in</strong>tr<strong>in</strong>ker alsDilettantismus enttarnt: Nachdem die Männer bei We<strong>in</strong> Nummer sechs allePilets notorischem „Zapfen“-Ausruf zustimmen und den We<strong>in</strong> ausgießen, gibt sievor, e<strong>in</strong>e neue Karaffe zu br<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich jedoch <strong>der</strong>selbe eben verworfeneWe<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>det. Dieses Mal sche<strong>in</strong>t er überraschend vollauf zu munden:WUCHT: Tr<strong>in</strong>ken.ZORN: Echtes neunzehntes Jahrhun<strong>der</strong>t.TRAPS: E<strong>in</strong> historischer Duft.KUMMER: Ich tauche <strong>in</strong> die gute alte Zeit h<strong>in</strong>ab. Verschw<strong>in</strong>det unter demTisch.PILET: Fe<strong>in</strong>.SIMONE: Re<strong>in</strong>gefallen. War dieselbe Karaffe. (P 133)Wenn im We<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>e Wahrheit liegt, so wird diese von den alten Männernstets nur konsumiert. Sie s<strong>in</strong>d nicht die „Virtuosen <strong>der</strong> Kunst, sich zu betr<strong>in</strong>ken“(P 97), für die sie sich ausgeben, denn es fehlt ihnen offenkundig jeglicheFähigkeit, Qualitäten und Nuancen des We<strong>in</strong>geschmacks wahrzunehmen, um ihnbeurteilen zu können, wie Simone hier listig vor Augen führt.4. Grenzenloser Rausch o<strong>der</strong> die Unschuld des MenschenDie zentrale Stellung des Gottes Dionysos zur Erschließung <strong>der</strong> Funktion desWe<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Dürrenmatts Panne ist evident, zumal sich nicht nur über die ‚We<strong>in</strong>’-/‚Blut’-Metapher Assoziationen und Vergleiche zwischen <strong>der</strong> Vampir- undDionysos-Ebene ziehen lassen. Zunächst kann <strong>der</strong> durch dionysische InitiationUnsterblichkeit erlangende 27) ‚Satyr’ als Pendant zur Figur des Vampirs aufgefasst27)Vgl. Seaford 2006, 150.


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>129werden. Überdies entspricht <strong>der</strong> Vampir wie auch <strong>der</strong> antike Gott Dionysos 28)dem Typus des ‚Fremden’, <strong>der</strong> aus dem Osten kommt. 29) Er ist e<strong>in</strong> Grenzgängerzwischen Leben und Tod, Göttern und Menschen, Himmel und Erde, zugleichmit <strong>der</strong> Macht und Fähigkeit ausgestattet, diese Grenzen aufzulösen. 30) Liegtbeim Vampir jedoch das Übergewicht auf <strong>der</strong> Seite des Todes, so dom<strong>in</strong>iert undtriumphiert bei Dionysos ‚das Leben’. 31)In Euripides’ Bakchen wird <strong>der</strong> Kult des Dionysos und vor allem die Jagd <strong>der</strong>Mänaden dargestellt, <strong>der</strong>en Opferpraxis sich entgegen <strong>der</strong> kultivierten Formen <strong>der</strong>Polis <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wildnis 32) vollzieht, wobei das erlegte Wild lebendig zerrissen(sparagmos 33) ) und roh verspeist wird. Der Grenzübertritt bzw. die Grenze selbstund die Peripherie spielen auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Panne e<strong>in</strong>e wichtige Rolle, wie sich sowohlan <strong>der</strong> abseitigen Lage <strong>der</strong> richterlichen Villa als auch an dem bereits erwähntenVorhang zeigt. Bei Dürrenmatt figuriert Just<strong>in</strong>e als Mänade, die sich, dionysischerBesessenheit vergleichbar, stets tranceartig an den Rän<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bühne entlangbewegt und nicht <strong>in</strong> den offiziell legitimierten Repräsentationsräumen opfert.In <strong>der</strong> griechischen Vorstellungswelt steht <strong>der</strong> We<strong>in</strong>anbau für e<strong>in</strong>en Übergangvon <strong>der</strong> Natur zur Kultur, bei dem <strong>der</strong> We<strong>in</strong> gleich dreimal ‚gezähmt’ werdenmusste: bei <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung des We<strong>in</strong>es, bei se<strong>in</strong>er Kultivierung und schließlich beise<strong>in</strong>er Metamorphose (Gärung) <strong>in</strong> e<strong>in</strong> berauschendes Getränk. 34) Im We<strong>in</strong>vermischen sich Tod und Leben, wechseln sich Assoziationen von brennendem28)Es würde e<strong>in</strong>e eigenständige Untersuchung erfor<strong>der</strong>n, sämtliche Transformationennachzuzeichnen, die die Vorstellungen von Dionysos im Verlauf von Jahrhun<strong>der</strong>ten und <strong>in</strong>zahlreichen regionalen Variationen geprägt haben, weshalb ich mich hier auf e<strong>in</strong>ige Grundzügebeschränken muss, die die Dionysos-Figur im Wesentlichen ausmachen. Unstrittig ist jedoch dieAuffassung von Dionysos als e<strong>in</strong>er Gottheit des We<strong>in</strong>s, <strong>der</strong> Ekstase, des Theaters und <strong>der</strong> Maske.29)Seaford 2006, 36 u. 44; vgl. 108f.30)Von Anfang an wird We<strong>in</strong> im antiken Mythos mit Gewalt und Blut assoziiert. Girard hältDionysos Rolle als Gott des We<strong>in</strong>es für e<strong>in</strong>e etwas spätere, „gesetztere“ Version se<strong>in</strong>erursprünglichen Bestimmung als „Gott mör<strong>der</strong>ischer Raserei“. Vgl. Girard 1993, 133. Gemäße<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Vorstellung wird die We<strong>in</strong>gew<strong>in</strong>nung beim Pressen <strong>der</strong> We<strong>in</strong>trauben mit <strong>der</strong>Zerstückelung des Dionysos und folglich se<strong>in</strong> Blut mit We<strong>in</strong> assoziiert. Siehe Seaford 2006, 74.31)Ebd., 9.32)Girard 1993, 139ff.33)Ebd., 131.34)Detienne 1989, 34f.


130 Feuer mit e<strong>in</strong>er Durst löschenden Feuchte ab. Dar<strong>in</strong> gründet die Funktion desWe<strong>in</strong>es als Libationsopfer im Mittelpunkt zahlreicher Dionysos-Kulte im antikenGriechenland. Wie ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Götterfigur repräsentierte Dionysos dasNebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> von Gegensätzen und Wi<strong>der</strong>sprüchlichem und verkörperte dasPr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Grenzauflösung. 35)Mit <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft stiftenden Wirkung des (Opfer-)Rituals und des We<strong>in</strong>eszeichnet sich bereits e<strong>in</strong>e weitreichende Konvergenz von Dionysos- undAbendmahl-Subtext 36) ab, die im letzten Kapitel noch genauer zu betrachten se<strong>in</strong>wird. We<strong>in</strong> löst nicht nur die Grenzen zwischen den Menschen auf 37) , son<strong>der</strong>nauch die gesellschaftlichen Grenzen, <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong>er sich <strong>der</strong> Mensch als sozialesWesen wahrnimmt und bewegt. Die Mänaden als Anhänger<strong>in</strong>nen des Dionysosmit ihrer Fellkleidung 38) und die männlichen Gefolgsleute, die Satyrn alsMischwesen, stehen für e<strong>in</strong>e Regression <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e präkulturelle Phase, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieMenschen Tieren gleichen. Damit e<strong>in</strong>her geht e<strong>in</strong>e Auflösung <strong>der</strong>Unterscheidbarkeit von ‚gut’ und ‚böse’, was e<strong>in</strong>e Infragestellung und Bestätigung<strong>der</strong> menschlichen und gesellschaftlichen Ordnung zugleich bedeutet. 39)Der Zerfall <strong>der</strong> (Prozess-)Ordnung, während das Gericht eigentlich e<strong>in</strong> politischgesellschaftlichesOrdnungs<strong>in</strong>strument darstellen soll, wurde bereits h<strong>in</strong>reichendbeschrieben. In <strong>der</strong> dionysischen (Gerichts-)Inszenierung fallen alle(gesellschaftlichen und juristischen) Regeln und Konventionen weg. 40) Traps lässtsich von <strong>der</strong> dionysischen Ausgelassenheit anstecken und stimmt klatschend <strong>in</strong>den Rausch <strong>der</strong> Satyrn/Vampire mit e<strong>in</strong>, als diese die Chance wittern, ihn zumTode zu verurteilen (P 122), d.h. zu opfern. Dieses Todesurteil könnte e<strong>in</strong>ensymbolischen Tod bedeuten, wie ihn <strong>der</strong> Initiant e<strong>in</strong>es Mysterienkults 41) erleiden35)Seaford 2006, 6.36)Vgl. dazu ausführlich Hörisch 1992, 57ff.37)Ebd., 29; vgl. 36.38)Kerényi 1998, 101 u. 139f.39)Seaford 2006, 10.40)Girard verweist auf die funktionale Analogie von Gerichtsverfahren und Opferzeremonie. Vgl.Fuß 2001, 462, FN 114.41)Gemäß <strong>der</strong> Regieanweisung kniet Traps zu Beg<strong>in</strong>n des zweiten Teils bei <strong>der</strong> Fotoaufnahme vorWucht, als würde er das Abendmahl empfangen (P 118).


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>131muss, um e<strong>in</strong>e neue Identität zu erhalten, mit <strong>der</strong> er Mitglied <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaftwird. Doch Traps erweist sich dieses Rituals als unwürdig, weil er se<strong>in</strong>enästhetisch-theatralischen Aspekt verkennt und das Prozess-Spiel für real hält, jadessen Realität erzw<strong>in</strong>gen möchte. Die alten Männer h<strong>in</strong>gegen verstehen denProzess als Spiel. Sie wissen, dass die Ermittlung von Wahrheit vor Gericht quasiunmöglich ist und dass die Frage von ‚schuldig’ o<strong>der</strong> ‚unschuldig’ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regelalle<strong>in</strong> von <strong>der</strong> rhetorischen Überzeugungskraft abhängt bzw. von <strong>der</strong>gesellschaftlichen Machtposition e<strong>in</strong>er Person. Der Richter weiß, dass die Idee <strong>der</strong>Schuld 42) we<strong>der</strong> theologisch noch philosophisch zu begründen ist:WUCHT: Was willst du uns denn beweisen, Fredi! De<strong>in</strong>e Schuld und de<strong>in</strong>eUnschuld s<strong>in</strong>d gleicherweise unbeweisbar. Was war die heutige Nacht? E<strong>in</strong>übermütiger Herrenabend, nichts weiter, e<strong>in</strong>e Parodie auf etwas, was es nichtgibt und worauf die Welt immer wie<strong>der</strong> here<strong>in</strong>fällt, e<strong>in</strong>e Parodie auf dieGerechtigkeit, auf die grausamste <strong>der</strong> fixen Ideen, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Namen <strong>der</strong>Mensch Menschen schlachtet. Denn wahrlich, wenn es e<strong>in</strong>e Schuld gäbe,dann müßte diese Schuld nicht beim Menschen, sie müßte außerhalb desMenschen liegen. (P 164f.)Das Auflösen von Grenzen ist e<strong>in</strong>e elementare Struktur des Panne[n]-Stückes,wodurch Entitäten wie ‚Menschen’ und ‚Götter’, ‚Schicksal’ und‚Selbstbestimmung’, ‚Recht’ und ‚Gerechtigkeit’, o<strong>der</strong> ‚Realität’ und ‚Fiktion’dekonstruiert und fundamental <strong>in</strong> Frage gestellt werden: Die Panne ereignet sichnachts, im Verborgenen und Abgeschiedenen, (weitgehend) h<strong>in</strong>ter dem Vorhang,verschleiert, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Machtvakuum (während <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>depräsident imSterben liegt) und bei Ausfall <strong>der</strong> Technik (Autopanne, Ölkatastrophe), währendFrauenrechtler<strong>in</strong>nen (Emma Pracht), Bilanzierer und Kalkulatoren (BankierKnall) <strong>in</strong> Tiefschlaf versunken s<strong>in</strong>d. In dieser Übergangsphase herrschen dieGeister und Gespenster, die Vampire und Satyrn. Die Greise erheben sich dabei42)Wucht könnte hier auf Kierkegaards Überlegungen zur Erbsünde <strong>in</strong> Der Begriff <strong>der</strong> Angstverweisen, <strong>in</strong>folge <strong>der</strong>er er die Schuld als „Mythe“ bezeichnet. Siehe Kierkegaard 2009, 196. Nichterst an dieser Stelle werden Die Bakchen von Euripides als Folie <strong>der</strong> PANNE erkennbar, da auchhier die ‚Schuld’ des Opfers Pentheus unentscheidbar bleibt. Siehe Bohrer 2009, 228.


132 selbst zu Göttern: Sie entscheiden über Leben und Tod und schaffen sich <strong>in</strong>ihrem Gerichtspiel ihren eigenen Kosmos, ihre ‚Kunst’-Welt h<strong>in</strong>ter dem(Hephaiston-)Vorhang, wo man das Liebesspiel <strong>der</strong> Liebesgött<strong>in</strong> und desKriegsgottes lustvoll beobachtet. 43) Als Götter/Vampire ersche<strong>in</strong>en sie unsterblich,solange sie ihr Spiel weitertreiben können, solange es noch Opfer(ungen) gibt, an<strong>der</strong>en Schauspiel man sich ergötzen kann, solange <strong>der</strong> We<strong>in</strong>vorrat/das Opferblutnoch ausreicht. Die ‚Wahrheit’, die im Prozess während <strong>der</strong> Verkostung <strong>der</strong>We<strong>in</strong>e und durch den We<strong>in</strong> bald entschleiert bald verschleiert wird, wie es <strong>der</strong>Bühnenanweisung für den Zwischenvorhang entspricht, ist jedoch auch e<strong>in</strong>e, <strong>in</strong>die sich <strong>der</strong> tapsige Textilproduzent Traps selbst verstrickt. Er versucht ebenfallszum Gott 44) aufzusteigen, verfängt sich dabei jedoch wie <strong>der</strong> griechische HalbgottHephaistos <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Technik. Die großartigen Eigenschaften desHephaiston-Kunststoffes, die Traps stolz hervorhebt (P 105), werden ihm zumVerhängnis. 45) Und wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> antiken Vorlage brandet das nicht enden wollendehomerische Gelächter <strong>der</strong> Götter beim Anblick von Hephaistos’ Missgeschick auf,als er vor aller Augen mit se<strong>in</strong>er großartigen Erf<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>es unsichtbaren, ausBlitzen bestehenden Netzes den Ehebruch se<strong>in</strong>er Frau Aphrodite mit dem GottAres aufdeckt und sich damit selbst zum Gespött macht. 46) Insofern ist <strong>der</strong> letzteAuftritt <strong>der</strong> Mänade Just<strong>in</strong>e <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em eleganten Hephaiston-Nachthemd (P 171)(anstelle des Rehfells), die gleichzeitige Markierung und Verschleierung des corpusdelicti, vielsagend.5. Der unsterbliche Merkur o<strong>der</strong> das Ende <strong>der</strong> TragikDie dionysische Grenzauflösung betrifft auch die zeitliche Ordnung. 47) Das43)Vgl. Cancik/Schnei<strong>der</strong> 1997, 353.44)Vgl. P 168: Auch Traps wird e<strong>in</strong>e Maske übergestülpt. Vgl. Schuster 1982, 161.45)Auch wenn <strong>der</strong> Text hierzu ke<strong>in</strong>e genauen Angaben macht: Konsequenterweise müsste sich Trapsan e<strong>in</strong>em Hephaiston-Stoff aufgehängt haben.46)Wie Schuster <strong>in</strong> Bezug auf Hephaistos von „Triumph“ sprechen kann, erschließt sich mir nicht. Ebd., 166.Offenbar verkennt sie den Zusammenhang mit dem „[h]omerische[n] Gelächter“ (Vgl. P 131), dem sichHephaistos selbst als gehörnter Ehemann mit ausgesetzt sieht. Ebendieses homerische Gelächter wird man sichauch am Ende <strong>der</strong> Panne vorstellen müssen. Vgl. Adorno 2002, 120.47)Vgl. Detienne 1989, 41.


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>133Fortschreiten <strong>der</strong> Zeit von Panne zu Panne, von Katastrophe zu Katastrophemacht e<strong>in</strong>e l<strong>in</strong>eare Zeitstruktur <strong>der</strong> Erzählung unmöglich. 48) Deshalb beg<strong>in</strong>nt dasStück mit dem Ende: Das Opfer Traps entsteigt se<strong>in</strong>em Sarg und macht sichdann (erneut) auf den Weg <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Ver<strong>der</strong>ben. Die Brechung <strong>der</strong> theatralischenIllusion durch die ‚Wie<strong>der</strong>auferstehung’ des Schauspielers Peer Schmidt kassiertdie beruhigende Versicherung h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Fiktivität des Todes von AlfredoTraps gleich wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem sie diesen umso rigoroser vorschreibt.Auch die beiden an<strong>der</strong>en <strong>Justiz</strong>-Opfer, Bankier Knall und Emma Pracht, fallenaus <strong>der</strong> logischen Zeitordnung – und dadurch aus ihrer Rolle als Bankier undFrauenrechtler<strong>in</strong> –, da sie <strong>in</strong>folge des übermäßigen We<strong>in</strong>konsums„siebenundzwanzig“ (P 69) bzw. „fünfzig Stunden“ (P 71) schlafen und somitwichtige Term<strong>in</strong>e versäumen.Anfang und Ende des „Pannen-Stücks“ markiert gewissermaßen das Feuer: zume<strong>in</strong>en, <strong>in</strong>dem es Just<strong>in</strong>es Ehemann tötet und ihren Großvater dadurch <strong>in</strong> denBesitz des We<strong>in</strong>kellers br<strong>in</strong>gt, zum an<strong>der</strong>en durch die Feuersalven, die die altenMänner nach ihren Urteilssprüchen und nach Traps’ Insistieren auf se<strong>in</strong>er Schuldund auf <strong>der</strong> Todesstrafe auf „die wahren Schuldigen“, die Götter, abgeben:WUCHT: Wohlan denn, Fredi, spielen wir das Spiel zu Ende. Richten wirdie wahren Schuldigen h<strong>in</strong>! (P 165)Die Götter <strong>in</strong>dessen lassen sich nicht e<strong>in</strong>mal symbolisch h<strong>in</strong>richten, auch nichtmir scharfer Munition. Die Schüsse, die Wucht, Zorn, Kummer und Pilet auf dieSterne am Morgenhimmel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er parodistischen Inversion des Jüngsten Gerichtsbegleitet von blasphemischen, apokalyptischen Sprüchen und Flüchen abgeben,verirren sich nicht nur und treffen – willkürlich – ganz an<strong>der</strong>e (mehr o<strong>der</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong>Unschuldige), die letzte, auf den Merkur zielende Salve bleibt ausdrücklich aus(P 170). Das Scheitern des lächerlich-grotesken Versuches, das zynische Spiel <strong>der</strong>Götter zu beenden, wird somit just an dem römischen Gott offenbar, <strong>der</strong> alsPendant des griechischen Gottes Hermes gilt, dem Gott <strong>der</strong> Händler und Diebe,48)Bohrer 1981, 49.


134 dem Götterboten, <strong>der</strong> zwischen göttlicher und weltlicher Sphäre vermittelt. Die<strong>Justiz</strong>-Vampire s<strong>in</strong>d eben auch Anti-Mystiker: Wenn alles vom Zufall bestimmtist, dann lässt sich ke<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvoller Zusammenhang mehr zwischen Signifikant undSignifikat postulieren („Egal. Wir treffen sie [die Götter] bl<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>gs“, P 166),dann s<strong>in</strong>d alle Zeichen nur Spielmarken e<strong>in</strong>er unendlichen Zirkulation undSubstitution von Zeichen, dann kann man den We<strong>in</strong> als Surrogat des Opferblutsim Rausch auch hemmungslos genießen, denn die verme<strong>in</strong>tliche Wahrheit, die <strong>in</strong>ihm liegen soll, ist unergründlich. Traps h<strong>in</strong>gegen will an die Bedeutung desMerkur glauben, denn es ist gerade jener Stern, bei dessen Anblick ihm <strong>in</strong> <strong>der</strong>Szene mit Just<strong>in</strong>e im Garten e<strong>in</strong>e Art ‚M<strong>in</strong>imalerleuchtung’ wi<strong>der</strong>fährt:TRAPS: Ich glaube, daß ich e<strong>in</strong> Mör<strong>der</strong> b<strong>in</strong>. Ich wußte es nicht, als ich diesesHaus betrat, nun weiß ich es. Ich war zu feige, ehrlich zu se<strong>in</strong>, nun habe ichden Mut dazu. Ich b<strong>in</strong> schuldig. Ich erkenne mit Entsetzen, mit Staunen,mit Entzücken. Die Schuld ist <strong>in</strong> mir aufgegangen wie – Starrt nach vorne –wie dieser kle<strong>in</strong>e Stern, <strong>der</strong> plötzlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Morgendämmerung funkelt.Just<strong>in</strong>e blickt begeistert nach dem Stern.Pilet ersche<strong>in</strong>t von l<strong>in</strong>ks vorne mit Trapsens Jacke.JUSTINE: Der Merkur! Alfredo, wir sehen beide den Merkur.PILET: Fe<strong>in</strong>.TRAPS: Der Merkur.JUSTINE: E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e funkelnde Flamme!TRAPS: Wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Hahnenschrei.PILET: Re<strong>in</strong>kommen. (P 158)Mit <strong>der</strong> Szene im Garten vor <strong>der</strong> Urteilsverkündung und dem Hahnenschrei, <strong>der</strong>das Heranbrechen des Tages sowie den Tod („E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e funkelnde Flamme!“)ankündigt, spielt Dürrenmatt auf die Szene des Matthäus-, Markus- undLukasevangeliums an, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jesus Christus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht vor se<strong>in</strong>er Kreuzigungim Garten Gethsemane betet, bevor er von Judas Ischariot verraten und vonAbgesandten des Hohepriesters verhaftet wird. Damit deutet sich e<strong>in</strong>e Nähe <strong>der</strong>


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>135Traps-Figur zur Christus-Figur 49) an, die im Folgenden noch zu klären ist.Wo die klassische Messe <strong>der</strong> Transsubstantiation von Blut <strong>in</strong> We<strong>in</strong> vertraut,fließen bei den schwarzen Messen <strong>der</strong> schwarzen Romantik und bei Sade quaÜbersteigerung <strong>der</strong> Opferlogik tatsächlich und zweifelsfrei Blut. 50) DieEucharistie ist <strong>in</strong>des gekennzeichnet von zahlreichen Paradoxien, wie JochenHörisch schreibt:„[…] das Abendmahl ist e<strong>in</strong> Gedächtnismahl – aber zugleich die Feier <strong>der</strong>Präsenz Christi und e<strong>in</strong> eschatologisches Mahl; die sakralen Elemente s<strong>in</strong>dmehr als nur Zeichen – aber sie bedürfen, um mehr als Zeichen zu se<strong>in</strong>, <strong>der</strong>Wandlungsworte; die Kraft wandeln<strong>der</strong> Worte kommt <strong>der</strong> priesterlichenEpiklese zu – aber sie ist bloßes Zitat <strong>der</strong> ursprünglichen E<strong>in</strong>setzungswortedes Herrn; und schließlich – zentrale Paradoxie–: <strong>in</strong> den transsubtantiiertenElementen wird die Gegenwart des Gottessohnes gefeiert, um dann –verzehrt zu werden. Se<strong>in</strong> ist demnach s<strong>in</strong>nvoll nur auf <strong>der</strong> Folie se<strong>in</strong>ervergangenen Erlösung und se<strong>in</strong>er erlösten Zukunft, ja: se<strong>in</strong>esVerschw<strong>in</strong>dens.“ 51)Während Christus mit <strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong> Schuld den Verschuldungszirkel ansich durchbrechen möchte und mit se<strong>in</strong>em Tod für die Erlösung <strong>der</strong> MenschenSorge trägt, weil somit das Spiel (des Lebens) aufs Neue beg<strong>in</strong>nen kann, verkenntTraps den Zeichencharakter des Mediums We<strong>in</strong>/Blut bei diesem weltlichenAbendmahl und besteht auf <strong>der</strong> Begleichung se<strong>in</strong>er Schuld – und zwar nichtsymbolisch (Geld- o<strong>der</strong> Gefängnisstrafe), son<strong>der</strong>n durch (s)e<strong>in</strong>en realen(körperlichen) Blutzoll –, um zum „außergewöhnlichste[n] Verbrecher des49)Zur E<strong>in</strong>schreibung <strong>der</strong> Christusfigur <strong>in</strong> den Kontext griechischer Mysterienkulte siehe Hörisch1992, 58ff. Vgl. zudem den Kuss, den Traps von Just<strong>in</strong>e empfängt (P 159). Auch Schustererkennt den Zusammenhang von Traps und Christus-Figur, zieht jedoch me<strong>in</strong>es Erachtens falscheSchlüsse daraus, weil sie Kummers (und Dürrenmatts e<strong>in</strong>leitenden) Worten, dass Traps sicherschossen bzw. Selbstmord begangen habe, eilfertig Kredit e<strong>in</strong>räumt und somit den ‚Verrat’ vonJust<strong>in</strong>e nicht gewärtigt. Siehe Schuster 1982, 172.50)Hörisch 1992, 182.51)Ebd., 17.


136 Jahrhun<strong>der</strong>ts“ zu werden und zugleich Just<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>e Schuld zu beweisen. Dasheißt, Traps durchläuft bei <strong>der</strong> Wahrheitssuche vor Gericht e<strong>in</strong>e regressiveTransformation. Er wird vom Gläubiger zum Schuldner/Schuldigen bekehrt undbesteht auf exakter Schuldbegleichung: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Im Bilddes Abendmahls gesprochen, wandelt sich für ihn das Ritual zur Wahrheit, <strong>der</strong>We<strong>in</strong> tatsächlich zu Blut. So wie er zu Beg<strong>in</strong>n glaubt, die Herren spielen um Geld(„Verstehe. – Die Herren spielen um Geld. Da b<strong>in</strong> ich mit Vergnügen dabei“,P 90), so wird er das Spiel nach ökonomischen Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Schuldentilgungbeenden. Für den (angeblichen) Mord muss er mit se<strong>in</strong>em Tod büßen. Trapswird somit zum Gläubigen: Se<strong>in</strong> kapitalistisches Denken wandelt sich zumGlauben an die mögliche Präsenz (Gottes) und for<strong>der</strong>t diese e<strong>in</strong>. We<strong>in</strong>(-rausch)wird zu Blut(-rausch) und Blut ist (das Zeichen <strong>der</strong>) Wahrheit, e<strong>in</strong>e Wahrheit, dieTraps mit se<strong>in</strong>em Selbstmord erzw<strong>in</strong>gen will.Indessen durchbrechen die Feuersalven den Vampirkreislauf resp. denBlutkreislauf des Opfer-Zirkels nicht: die Opferungen werden – trotz desSargmangels – fortgesetzt. Merkur als S<strong>in</strong>nbild und Garant e<strong>in</strong>es ökonomischenTausch- und Verschuldungszirkels ist nicht auszulöschen. Ja, die Verschuldungdarf nicht beglichen werden, da sonst die Zirkulation zum Erliegen käme und <strong>der</strong>Repräsentationsraum selbst vernichtet würde. Das Feuer entpuppt sich somit nurals Medium e<strong>in</strong>er Tilgung, die neue Möglichkeiten <strong>der</strong> Transposition undTransformation eröffnet. Diese Unzerstörbarkeit und Unh<strong>in</strong>tergehbarkeit desZeichenraumes und <strong>der</strong> Zeichenzirkulation, des Aufschubs und <strong>der</strong>Supplementierung spiegelt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> ausbleibenden Salve gegen den Merkurwi<strong>der</strong>.Dass Traps unter <strong>der</strong> Wirkung des We<strong>in</strong>s und unter <strong>der</strong> Wirkung von Just<strong>in</strong>eserotischer Anziehungskraft die Geschichte se<strong>in</strong>es Mordes für real zu halten gewilltist und mit <strong>der</strong> Todesstrafe nun se<strong>in</strong>e eigene Opferung und damit ‚echtes’ Blutfor<strong>der</strong>t, wird von Dürrenmatt zudem dadurch po<strong>in</strong>tiert, dass er den Konsum auf<strong>der</strong> Bühne als gespielt vorschreibt: „Essen und tr<strong>in</strong>ken sollten nur markiert werden.Darum wird <strong>der</strong> Rotwe<strong>in</strong> aus Pokalen getrunken.“ (P 63) Dies dürfte nicht nure<strong>in</strong>er praktischen Erwägung für die Inszenierung und e<strong>in</strong>er Rücksichtnahme aufdie Schauspieler geschuldet se<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n unterstreicht und verdoppelt den Kunst-Charakter des Theaters und <strong>der</strong> dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gesetzten Symbole – Theater im


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>137Theater, Bühne auf <strong>der</strong> Bühne, symbolische Symbole, die wie das gesamte Stücknur vorübergehende Elemente e<strong>in</strong>es endlosen Substitutions- undZirkulationsprozesses s<strong>in</strong>d, auf dessen ästhetischen Charakter <strong>der</strong> Verteidigerse<strong>in</strong>en Klienten ausdrücklich aufmerksam macht:KUMMER: Nur Künstler sehen wie Verbrecher aus. Komponisten, Maler,Dichter. Ich zum Beispiel. Dichten, komponieren, malen Sie?TRAPS: Ne<strong>in</strong>. Starrt Just<strong>in</strong>e an, die ihn nicht bemerkt.KUMMER: Eben. (P 96)Eben diese ästhetische Laienhaftigkeit wird Traps zum Verhängnis, denn dieAgenten <strong>der</strong> <strong>Justiz</strong> drehen ihrem Opfer kunstfertig e<strong>in</strong>en Strick, an dem er sichfestklammert und schließlich erhängt. Sie messen den Worten von Traps’sorgloser Prahlerei plötzlich e<strong>in</strong> (reales) Gewicht bei, dessen Wucht ihn später zuFall br<strong>in</strong>gen wird, weil er selbst bei diesem Abendmahl das Wort zu Fleischgewandelt wissen möchte:WUCHT: Hm. Er mußte beseitigt werden? Verdrängt werden, wollten siesagen?TRAPS: Me<strong>in</strong> lieber Herr Wucht, Sie hörten schon richtig. Auf die Seitegeschafft werden mußte er, um im rauhen Ton me<strong>in</strong>er Branche zu bleiben.Es geht hart zu im Geschäftsleben: Wie du mir, so ich dir. Wer e<strong>in</strong>Gentleman se<strong>in</strong> will, bitte schön, dafür ist die Heilsarmee da. Ich verdieneGeld wie Heu, doch ich schufte auch wie zehn Elefanten. Jeden Tag spuleich dreihun<strong>der</strong>t Kilometer mit me<strong>in</strong>em Jaguar herunter, da habe ich dasRech, über Leichen zu gehen, wenn es se<strong>in</strong> muß, und manchmal mußte eseben se<strong>in</strong>. Noch so e<strong>in</strong> Kaviarbrötchen. Bedient sich. Na ja, ganz fair g<strong>in</strong>g ichnicht vor, als es hieß, Gygax das Messer an die Kehle zu setzen und – Kaut –Spitze, dieser Kaviar. Ich mußte vorwärts kommen, me<strong>in</strong>e Herren. Was wille<strong>in</strong>er, Geschäft ist Geschäft.WUCHT: Auf die Seite schaffen, e<strong>in</strong> Messer an die Kehle setzen, das s<strong>in</strong>d jaziemlich bösartige Ausdrücke, lieber Traps.TRAPS lacht: Natürlich nur im übertragenen S<strong>in</strong>ne zu verstehen. (P 107f.)


138 Dieser metaphorische S<strong>in</strong>n geht Traps im Laufe <strong>der</strong> Verhandlung verloren. WennGeschäft eben Geschäft ist, wenn Schulden mit barer Münze zurückzuzahlens<strong>in</strong>d, dann muss Traps für se<strong>in</strong>en Mord die Todesstrafe auf sich nehmen und fürden erstklassigen We<strong>in</strong> mit se<strong>in</strong>em echten Blut bezahlen, wie es dieOrdnungshüter zu Beg<strong>in</strong>n bereits vorgeschrieben haben: „Schluß mit <strong>der</strong>Gastfreundschaft.“ (P 76)In <strong>der</strong> Schluss-Szene hängt Traps am Lüster und die (rote) Lichterkrone über ihmist das Zeichen se<strong>in</strong>er christusähnlichen (Selbst-)Opferung. Das herabtropfendeBlut stammt jedoch aus e<strong>in</strong>er Schusswunde, die er sich nicht selbst beigebrachthaben dürfte, wie Kummer voreilig behauptet. Die Figur, die zuvor Just<strong>in</strong>es Mordan ihrem Ehemann aufgedeckt hat, verschleiert nun ihren Mord an Traps, was diean<strong>der</strong>en mit beredtem Schweigen 52) quittieren. Den Herren und vor allem demkunstverständigen Kummer dürfte klar se<strong>in</strong>, dass Just<strong>in</strong>e Traps verraten un<strong>der</strong>schossen hat. Denn was für die Männer nur Spiel ist, ist für Just<strong>in</strong>e Realität, diesie zu e<strong>in</strong>er tragischen und folgenschweren Handlung zw<strong>in</strong>gt. Wie für sadescheFrauenfiguren üblich liegt für sie die höchste Lust, <strong>der</strong> weibliche Orgasmus, <strong>in</strong><strong>der</strong> Tötung des geliebten Objekts:“Sade’s word for sexual climax is, <strong>in</strong>deed, ‘discharge’. The libert<strong>in</strong>e, either aman or a woman, goes off like a gun. ‘Orgasm’ refers to a mental complexwhich is mislead<strong>in</strong>g because Sade wants to be a mechanistic and naturalistphilosopher. He deals with actions and reactions, like stimuli and discharges.Of course thoughts and feel<strong>in</strong>gs are important but <strong>in</strong> the end we have a meredischarge, not orgasm. Another important po<strong>in</strong>t must be kept <strong>in</strong> m<strong>in</strong>d,namely, Sade th<strong>in</strong>ks that woman climax just like men do. They discharge. Somuch h<strong>in</strong>ges on this notion that its metaphoric roots and implications mustbe kept <strong>in</strong> m<strong>in</strong>d. What we have here is detonation which destroys its ownenvironment. This is important unlike the feel<strong>in</strong>gs of pleasure as such. The52)So wie Kummer auch anmahnt, über die Umstände zu schweigen, unter denen Wucht <strong>in</strong> denBesitz des We<strong>in</strong>kellers gekommen ist (P 147).


<strong>in</strong> v<strong>in</strong>o <strong>veritas</strong>139latter is just psychology. Sade is <strong>in</strong>terested <strong>in</strong> fiction.” 53)Nachdem sie die Pistolen scharf geladen hatte, rettet Just<strong>in</strong>e mit <strong>der</strong> Erschießungvon Traps, die wohl so aufzufassen ist, dass sie sich im Vollzug des Selbstmordesereignet, die Szene. Für e<strong>in</strong>en Augenblick weicht mit <strong>der</strong> ‚Entladung’ diemänadische Besessenheit, so dass sie die Situation völlig nüchtern zu analysierenvermag: „Der dumme Kerl nahm euch alte Knacker ernst.“ (P 171) Durch die Ermordungverh<strong>in</strong><strong>der</strong>t sie Traps’ angestrebte Schuldbegleichung, lenkt die Schuldvon ihrem ‚Zuhälter’ und erhält damit den Spiel- und Fiktionscharakter <strong>der</strong>großväterlichen (Theater-)Prozesse und den für sie existenziellen Schuldbegriffselbst aufrecht. So können bei aller Tragik und Grausamkeit <strong>der</strong> Richter und <strong>der</strong>Henker auch den letzten We<strong>in</strong> noch genießen, weil das Spiel von neuembeg<strong>in</strong>nen wird: als Farce.Mit se<strong>in</strong>em Selbstmord zum Zwecke des Prestigegew<strong>in</strong>ns und <strong>der</strong>Fraueneroberung wäre es Traps fast gelungen, das zweifellos bösartige, jedochhumorvolle und genussorientierte Gerichtsspiel <strong>in</strong>s Reale zu zw<strong>in</strong>gen und es somitzu beenden. Doch Dank Just<strong>in</strong>es pflichtschuldigem E<strong>in</strong>greifen verteufelte „[d]ergute Alfredo“ dem ‚ewigen’ Richter Wucht und se<strong>in</strong>en Mitspielern „denschönsten Herrenabend“ eben nur „be<strong>in</strong>ahe“ (P 173).Auch <strong>der</strong> Anblick des toten Traps nötigt Pilet ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en als nur denüblichen Kommentar ab:ZORN: Blut tropft herunter.JUSTINE: Telefoniere <strong>der</strong> Polizei, die wird ihn herunterholen.PILET: Fe<strong>in</strong>. (P 172)Und so gehören die letzten Worte auch dem Henker (<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>er ist) und könnenals abschließen<strong>der</strong> Kommentar des Autors (vor dem nächsten Opferzyklus) gelten,<strong>der</strong> dem Spiel qua Verschmelzung von Tragödie und Komödie dieschlimmstmögliche Wendung gegeben hat, nachdem er sich den Schlussapplauszuvor schon listig abgeholt hatte – nur um se<strong>in</strong>e Fortsetzung <strong>in</strong> Aussicht zu53)Airaks<strong>in</strong>en 1991, 45.


140 stellen. Und dieses Mal ist sich Pilet absolut sicher: Beim Anblick <strong>der</strong> Leicheschmeckt <strong>der</strong> We<strong>in</strong> ganz bestimmt nicht nach „Zapfen“, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>fach nur„Fe<strong>in</strong>.“ (P 173)Dem hätte eigentlich erneut homerisches Gelächter zu folgen, womit Die Panneals Parabel e<strong>in</strong>er unendlichen Komödie, ja e<strong>in</strong>es unendlichen Welttheatersbeendet/fortgesetzt werden müsste. Dass Wucht und Pilet, <strong>der</strong> Richter und <strong>der</strong>Henker, nach dem E<strong>in</strong>schlafen/E<strong>in</strong>schläfern von Ankläger und Verteidiger, nachdem Wegfall <strong>der</strong> Dialektik, den zehnten We<strong>in</strong> noch angesichts des toten Traps zugenießen verstehen, gewährt e<strong>in</strong>en Blick auf Dürrenmatts schwarzen Humor undschreibt über jegliche dialektische Anfechtung erhaben den Genuss <strong>der</strong> bösen undschwarzen Komödie bis zum letzten Tropfen vor. Der verborgene Mord an Trapspräsentiert sich somit als Allegorie <strong>der</strong> Zeichenpraxis des Dichters, dessenparasitäre Prozesse und blasphemische Wortspiele hier wonnevoll als hybrideLeichenschau <strong>in</strong>szeniert werden, die er jenseits juristischer Handhabe undethischer Infragestellung als e<strong>in</strong>e Ästhetik des Bösen (Vgl. „Mordsschönheit“,P 126) betreibt. Indem Dürrenmatt die tragische Handlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Komödieaufgehen lässt, folgt er damit <strong>in</strong> gewisser Weise Nietzsches Tragödienauffassung,wonach „<strong>der</strong> Schrecken selbst [] das ‚tonicum’ <strong>der</strong> Tragödie als Kunstwerk[sei].“ 54) Dass es sich bei allem Schrecken über Traps’ Selbstmord/Just<strong>in</strong>es Mordum Kunst handelt, wurde schon zu Beg<strong>in</strong>n des Prozesses hervorgehoben, undselbst die <strong>in</strong>tellektuell und sprachlich am wenigsten versierte Figur, Pilet, vermagsich daran zu erfreuen und gönnt sich e<strong>in</strong>en weiteren, und sicherlich nicht letzten,Schluck des kräftigenden Lebenselixirs: We<strong>in</strong> eben – und nicht Blut!„Für Humor sche<strong>in</strong>[en Leute wie Traps][] <strong>in</strong> <strong>der</strong> [damaligen] Zeit ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>nmehr [gehabt] zu haben“ (P 171), wie Kummer beklagt und se<strong>in</strong>em Namendamit alle Ehre macht. Ob die Generalvertreter und Ordnungshüter ihn heuteangesichts <strong>der</strong> fortgesetzten Panne[n]-Lage aufbr<strong>in</strong>gen würden, darf bezweifeltwerden.54)Bohrer 2009, 12.


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