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hate radio - International Institute of Political Murder

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10 HATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wirdHATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wird11Unterhaltung. Etwa so, wie man das von den Soldatensendern desZweiten Weltkriegs kennt: Nachdem die Nachrichten von der Frontverlesen wurden, lief „Lili Marleen“ – nur dass es beim RTLMeben „Le dernier Slow“ ist, ein sentimentaler Schlager von JoeDassin. Diesen für das RTLM sehr typischen Rhythmus aus Hassund Sentimentalität, aus pädagogischem Ernst und dandyhaftemSarkasmus, aus Volkserziehung und Popkultur habe ich versuchtzu verdichten. Die Moderatoren wissen, dass ihre Sache verlorenist, dass sie und ihr Studio dem Untergang geweiht sind. Aber esist gerade dieses Wissen, das ihren Extremismus immer weiteranfacht und zu einem fast alttestamentarischen Nihilismus steigert.Auf sehr schreckliche und sehr konkrete Weise erzählt uns dasRTLM so „die Realität“ über diese Menschheitskatastrophe. DieseStimmen, Songs, Nachrichten und Anrufe sind der Soundtrack einersich selbst zerstörenden Menschheit – aber eben auch, jedenfallsüber weite Strecken, ein Porträt der 1990er-Jahre, denn imRTLM läuft (immerhin teilweise) die gleiche Musik wie in Europa,die Ruander interessieren sich ebenfalls für die Fußballweltmeisterschaftund die Tour de France.Bossart Wie kommt es in diesem lange Zeit eher durch Stillstandsich auszeichnenden Staat wie Ruanda denn überhaupt plötzlichzu einem so dynamischen Radiosender?Rau Bis 1990 ist Ruanda eine sehr ruhige, sehr katholische undäußerst autoritäre Diktatur. Die nach dem Fall der Mauer vomWesten geforderte Demokratisierung bringt plötzliche Pressefreiheitund ein Mehrparteiensystem, aber auch einen Machtverlustfür die herrschende Hutu-Partei. 1990 beginnt zudem der Bürgerkrieg,eine mehrheitlich aus exilierten Tutsi bestehende Armee, derFPR – Front Populaire Rwandais, marschiert im Norden Ruandasein. 1993 schließlich kommt es zu den Friedensverträgen vonArusha, diese sollen eine mehr oder weniger paritätische Vertretungvon Hutu und Tutsi in Institutionen wie Regierung undMilitär garantieren. Das RTLM, ein Kind dieser Entwicklung, stelltsich nun gegen den Machtverlust der Hutu. Nach dem Muster„good cop – bad cop“ treibt die Regierung <strong>of</strong>fiziell die Friedensbemühungenvoran, während sie gleichzeitig extremistische Medienunterstützt. Das radikalste ist das RTLM, vor allem aber daseinflussreichste, da kaum jemand einen Fernseher hat und dieextremistischen Zeitschriften, etwa das berüchtigte „Kangura“, insehr kleinen Auflagen erscheinen.Bossart Besonders erschreckend ist ja die Tatsache, dass dasFurchtbare erst nach der sogenannten demokratischen Öffnungerfolgt und nicht schon vorher, während der Zeit der Diktatur ...Rau Man kann grundsätzlich – und natürlich sehr vereinfachend– zwei Arten von Genoziden unterscheiden. Es gibt den totalitärenGenozid und jenen, der mit einem Demokratisierungs- oder Zersplitterungsprozesszu tun hat. Das für uns Europäer bekanntesteBeispiel für die zweite Art von einem, wenn auch nur versuchtenGenozid ist natürlich Ex-Jugoslawien. Was nun Ruanda betrifft,so wird die Unterscheidung von Hutu und Tutsi in der Kolonialzeitder Bevölkerung aus verwaltungstechnischen Gründen oktroyiert,um so durch eine „rassisch überlegene“ Tutsi-Minderheit dieGesamtbevölkerung kontrollieren zu können. Mit der Revolution1959 und der Unabhängigkeit 1962 kommt es dann zu einerMehrheitsherrschaft der Hutu-Bevölkerung und zu ersten größerenMassakern an den Tutsi, und es entsteht die Gleichung „Herrschaftder Mehrheitsethnie = Demokratie“, die für das Selbstverständnisder extremistischen Hutu-Power-Bewegung Anfang der 1990er-Jahre sehr wichtig werden sollte.Bossart Nehmen wir Jugoslawien zum Vergleich. Dort werden jadie Ethnien in den 1990er-Jahren auch nicht einfach erfunden,aber plötzlich wird politischer Mehrwert daraus gezogen.Rau Genauso in Ruanda. Der aus dem Norden des Landes stammendeHutu-Präsident Juvénal Habyarimana hatte bis Anfang der1990er-Jahre kein Interesse daran, auf der ethnischen Klaviaturzu spielen: Seine eigentlichen Feinde waren die Hutu des Südens,der innere Konflikt in Ruanda war bis zum Fall des Ostblocks einregionaler. Die ethnische Politik gegen die Tutsi ist für seine Interessenerst Erfolg versprechend, als er seine Macht durch diebeginnende Demokratisierung und die Angriffe der FPR gefährdetsieht. Der Schulterschluss mit der Bevölkerung ist dann allerdingsradikal, und an der Geschwindigkeit der Reaktivierung der rassischenGräben sieht man, wie lebendig diese Identitäten über alldie Jahre geblieben waren – und wie bereitwillig sich breitestegesellschaftliche Schichten diese zunutze machten, die Bauern ausLandknappheit, die urbane Jugend aus Perspektivlosigkeit, dieEliten aus Machtgier. Ruanda ist ins<strong>of</strong>ern ein ganz typischer, sich„demokratisch“ gebender Genozid, denn „das Volk“ hatte tatsächlichseinen Nutzen daran.Bossart In den drei Monaten, die der Genozid 1994 gedauerthat, wurde mit unvorstellbarer Grausamkeit vorgegangen. Wiemuss man sich diese Aktionen konkret vorstellen? Wie werden sieinitiiert oder angeleitet? Gibt es nebst den ethnischen Voraussetzungen,die man ja überall ähnlich finden kann, ein spezifischesMoment, das die Brutalität erklären kann?Rau Grundsätzlich kann man drei Faktoren nennen, damit ein Genozidgelingt, das heißt nicht der Spleen einer kleinen Gruppe vonExtremisten bleibt, sondern vergesellschaftet wird. Erstens müssenDinge, die vorher komplett verboten waren, plötzlich als ganz normalgelten, Rede- und Denkverbote müssen nachhaltig gebrochenwerden. Zweitens muss es von <strong>of</strong>fizieller Seite den klaren und unmissverständlichenBefehl geben, entsprechend zu handeln, unddazu gehört auch die Zusicherung von Straffreiheit. Und drittensmuss ein möglichst großer Teil der Bevölkerung einen Vorteil ausden Vertreibungen und Morden ziehen können. Der erste Schrittist sicher der langwierigste: Gewisse Stereotype müssen im öffentlichenRaum immer wieder wiederholt werden, es muss ein „Wirgegen Sie“-Weltbild fest im gesellschaftlichen Diskurs verankertwerden. Doch ist dieses erstmal etabliert, kann man der ausgesondertenBevölkerungsgruppe die unwahrscheinlichsten Dingeanhängen. Bei der zweiten Bedingung, der Straffreiheit, spielt mit,dass die ruandische Gesellschaft sehr autoritär organisiert ist, vonder Staatsspitze bis ins letzte Dorf hinab. Und wenn die Mordegar im Radio propagiert werden, einem Medium, das Jahrzehntelang nur die <strong>of</strong>fizielle Regierungsmeinung in langen Ansprachenverbreitet hat, dann wird den Aufforderungen fraglos Folge geleistet.Und zum dritten Faktor schließlich ist zu sagen, dass es für dieTäter <strong>of</strong>fensichtliche Vorteile gab, wenn ein Teil der Bevölkerungeinfach verschwand – wenn ihr Land, ihre Häuser und ihre Küheplötzlich zur Verfügung standen und „befreit“ werden konnten, wieder zynische Begriff während des Genozids lautete.Bossart Wer waren diese Täter?Rau In der großen Mehrheit jugendliche Männer in der Spätpubertät.Fast alle Mörder – also das, was man die MuskelmasseDJ JOSEPH Ihr hört Radio-TélévisionLibre des Milles Collines. Wir sendenaus Kigali, es ist 9:00 Uhr in unserenStudios. Ja, Ihr hört Radio RTLM, RadioSympa, die Stimme des Volkes, das Radio,das Euch die Wahrheit sagt, die ganzeWahrheit und sogar ein paar Geheimnisse.Euch allen, die Ihr zuhört: Courage!KANTANO HABIMANA Courage! Und da uns dasBier langsam ausgeht, sollen die Leutein Gisenyi uns neues brauen. Braut unsBier, damit wir Spass haben! Denn wirstehen kurz davor, diesen Krieg, den dieFPR-Rebellen und die Tutsi-Kakerlaken unsaufgezwungen haben, auf spektakuläreWeise zu gewinnen. Unsere Freunde an denStraßensperren, die Leute im ganzen Landund die Soldaten der Ruandischen Armeean der Front – alle stehen kurz vor demSieg!Es ist jetzt 9:00 Uhr in Kigali. Ichgrüsse alle, die oben in Gikondo wohnen:Courage! Glaubt niemandem, der sagt,dass immer mehr Tutsi-Rebellen bis nachKigali kommen. Nein! Es kommen keineneue Rebellen mehr. Es sind immer nochdieselben, die völlig erschöpft undausgehungert in den Tod rennen. DieseSelbstmörder!Ja, Radio RTLM spricht zu Euch! DieInterahamwe liebt dieses Radio, unddieses Radio unterstützt die Interahamweund alle Jugendorganisationen unsererHutu-Power-Parteien. Denn dieses Radiogehört allen Ruandern und auch allenAusländern, die RTLM-Aktien gekaufthaben, kurz, dieses Radio gehört allen!DJ JOSEPH Das war Kantano Habimana amMikro. Es ist 9:00 Uhr hier in Kigali,und es regnet. Aber im Radio RTLM, EuremRadio, wird geplaudert! Wir senden guteMusik und interessante Nachrichten!VALERIE BEMERIKI Danke, Joseph. LiebeZuhörer von Radio RTLM, heute Abend seidihr in Begleitung von Kantano Habimana,Georges Ruggiu und Valérie Bemeriki.Am Mischpult, Joseph Rudatsikira. Wirsprechen über alles und senden Euch dieallerneuesten Nachrichten. Aber bevorwir mit dem Programm weiterfahren, gebeich das Mikro an meinen Kollegen GeorgesRuggiu weiter für die Kriegsnachrichten.Er fasst die Ereignisse des heutigenTages zusammen, hier in Kigali, undspricht über die Situation in unseremLand. Und so beginnen wir den Abend miteiner klaren Vorstellung, denn die Leutefangen langsam an, sich ernsthaft Fragenzu stellen, ja, man fängt an, sich Fragenzu stellen... Georges!GEORGES RUGGIU Danke, Valérie! GutenAbend Euch allen, liebe Zuhörer.Wir kommen also zu den neuestenKriegsnachrichten und ein paarKommentaren von unserer Seite.(Aus dem Reenactment)Bild: Anton Lukas

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