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hate radio - International Institute of Political Murder

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Als am 6. April 1994 das Flugzeug des ruandischen Präsidentenkurz vor der Landung von zwei Raketen getr<strong>of</strong>fen wurde, wardies das Startsignal für den grausamsten Genozid seit dem Endedes Kalten Kriegs. In den Monaten April, Mai und Juni 1994wurden in dem zentralafrikanischen Staat schätzungsweise eineMillion Angehörige der Tutsi-Minderheit und Tausende gemäßigterHutu ermordet.Hätte man ein einfaches und wirkungsvolles Ziel gesucht, umden Genozid in Ruanda zu verhindern, schrieb der US-amerikanischeJournalist Philip Gourevitch, wäre der RadiosenderRTLM ein guter Anfang gewesen. Mit unbeschreiblichem Zynismushatten die Mitarbeiter des populären Senders den Völkermordseit Monaten wie eine Werbekampagne vorbereitet.Das Programm bestand aus Pop-Musik, Reportagen, politischenPamphleten und an Verachtung nicht zu überbietenden Mordaufrufen.Die neuesten internationalen Hits und aggressivsteRassenkunde vereinten sich hier auf wenigen Quadratmetern zueinem düsteren Laboratorium rassistischer Ideologie.Nach kontrovers diskutierten Aufführungen im ehemaligen Studiodes RTLM und im Kigali Memorial Centre (Ruanda) lässt dasIIPM den Sender RTLM in originalgetreu nachgebauten Kulissenin zahlreichen europäischen Museen und Theatern wieder liveauf Sendung gehen – auf der Bühne stehen dabei Überlebendedes Genozids.MILO RAUHATE RADIOAUSZÜGEDas <strong>International</strong> <strong>Institute</strong> <strong>of</strong> <strong>Political</strong> <strong>Murder</strong> – IIPM (www.international-institute.de) wurde im Jahr 2007 von Milo Raugegründet mit dem Ziel, den Austausch zwischen Theater, bildenderKunst, Film und Forschung auf dem Gebiet des Reenactments– der Re-Inszenierung geschichtlicher Ereignisse – zuintensivieren und theoretisch zu reflektieren.Milo Rau, Leiter des IIPM, wurde 1977 in Bern (CH) geborenund lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern abwechselndin Deutschland und Frankreich. Neben seiner Arbeitfür Theater und Film ist er als Autor und Dozent tätig. Er istHerausgeber des Weblogs AlthussersHaende.org (www.althussers-haende.org).Das vorliegende Begleitheft bietet Auszüge aus der PublikationHATE RADIO, die im Frühjahr 2012 im Verbrecher Verlag erscheinenwird – komplettiert von weiteren Texten des Autorssowie Theorie- und Sachbeiträgen von Jean Hatzfeld, DiedrichDiederichsen, Hervé Déguine, Mark Terkessidis, Robert Pfaller,Frank Chalk u. a.GESAMTGESTALTUNG UND SATZ: NINA WOLTERS


InhaltsverzeichnisMilo Rau/Rolf BossartWENN AUS WASSER EIS WIRD 7Jens DietrichBEI VALÉRIE BEMERIKI 14Lennart LaberenzDER RUANDISCHE GENOZID 1994 16Marie Soleil-FrèreRADIO VÉRITÉ 22Milo RauHATE RADIO. THEATERSTÜCK 24Dorcy RugambaDIE VERWÖHNTEN KINDER DER DRITTEN WELT 36Assumpta MugiranezaFRAGMENTE EINER SPRACHE DES HASSES 40<strong>International</strong> <strong>Institute</strong> <strong>of</strong> <strong>Political</strong> <strong>Murder</strong>Verbrecher Verlag Berlin 2011ww. verbrecherei.de© Milo Rau 2011Gestaltung: Nina WoltersPrinted in Germany


6 HATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wird7GEORGES RUGGIU Liebe Zuhörer, wie jedenAbend wollen wir unsere Gedanken etwasanregen. Dafür haben wir ein wenig inunserer Bibliothek gestöbert und einenAusschnitt aus dem „Fürsten“ von Machiavellifür Euch gefunden. Und auch wenner das Buch über die politischen Maximender Herrschaft bereits 1514 geschriebenhat – vor 480 Jahren also –, möchten wirgesagt haben: Gute Ideen sterben nie.Der Abschnitt soll Eure Gedanken anregenund wir stehen bereit für Eure Kommentare.Denn der Dialog und der Austauschscheinen uns wichtig. Und wenn Ihr unsEure Kommentare lieber schriftlich zusendet– nur zu! Wir werden sie lesenund sie an unsere Zuhörer weiterleiten,wenn sie es wert sind. Hier also Machiavelli,der mit meiner Stimme zu Euchspricht:„Viele fragten sich, ob es besser ist,geliebt oder gefürchtet zu werden. Ichglaube, das eine wie das andere ist genausonotwendig. Aber weil es nicht einfachist, beide zu vereinen, so glaubeich, dass es besser ist, gefürchtet alsgeliebt zu werden.“(Aus dem Reenactment)Bild: Lennart LaberenzMILO RAU/ROLF BOSSARTWENN AUS WASSER EIS WIRDEin Gespräch über „Hate Radio“Bossart Ihr aktuelles Projekt heißt „Hate Radio“. Es ist eine künstlerischeAufarbeitung des Völkermords in Ruanda 1994. Um wasgeht es in diesem Projekt?Rau Im Zentrum steht eine Rekonstruktion des RadiostudiosRTLM – Radio-Télévision Libre des Mille Collines, das vor undim Verlauf des ruandischen Genozids eine zentrale Rolle spielte.Einerseits rief das RTLM explizit zum Massenmord auf und gabin Durchsagen konkret an, wo sich noch Leute der Tutsi-Minderheitaufhielten: „Sucht sie und tötet sie!“ Gleichzeitig war esaber auch einfach ein junges, weitgehend improvisiertes Radio mitangesagter kongolesischer und internationaler Musik, mit für dasdamalige Ruanda schlicht unerhörten Formaten (zum Beispiel einemGeschichts-Quiz und einem von Denunziationen unterbrochenenWunschkonzert) und den besten und coolsten Moderatoren:Valérie Bemeriki, berühmt für ihre radikalen, religiös fundiertenHetzreden, und Kantano Habimana, eine Art böser Hausclown desRTLM. Der dritte Moderator, der in unserer Re-Inszenierung desRTLM eine tragende Rolle spielt, ist Georges Ruggiu, ein Italo-Belgier, der durch Zufall insWorum es eigentlich geht, ist dieBeschwörung einer Atmosphäre.Redaktionsteam gekommen warund dort als Alibi-Ausländer undHausintellektueller eine wichtigeFunktion einnahm. Und natürlichhaben auch wir einen DJ, der in allen Feinheiten des Kongo-Beatsund überhaupt dieser irren, destruktiven und strahlenden Musikder frühen 1990er-Jahre bewandert ist.Bossart Wie muss man sich das technisch vorstellen: eine Rekonstruktiondes RTLM? Wie haben Sie sich dokumentiert?Rau Wir haben in Ruanda viele der damaligen Akteure getr<strong>of</strong>fenund Dutzende von Interviews geführt: mit überlebenden Radiohörern,Journalisten, „einfachen Tätern“, Angehörigen der genozidärenÜbergangsregierung, mit Medientheoretikern und Soldatender Befreiungsarmee – aber auch mit der Moderatorin ValérieBemeriki selbst, die im Kigali Central Prison eine lebenslänglicheStrafe absitzt. Sie informierte uns über die Inneneinrichtung desStudios, zum Beispiel über die Tafel, auf der prominente Opferverzeichnet waren, über die Arbeitsabläufe und die Beziehungender Moderatoren untereinander. Zudem gab es ja einen Prozessgegen das RTLM, welchen der <strong>International</strong>e Gerichtsh<strong>of</strong> nachdem Genozid anstrengte und in dem unter anderem auch GeorgesRuggiu zu einer 12-jährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. DieAkten des ICTR (<strong>International</strong> Criminal Tribunal for Rwanda), daruntersehr viele Tonfiles und einige Videoaufnahmen, die im Studioselbst gedreht wurden, haben wir gesichtet und ausgewertet.Und schließlich kooperieren wir mit dem Memorial Center in Kigaliund einer ruandischen Radiostation, haben also Zugang zu sehrumfangreichen Datenbanken mit den Hits des ruandischen Genozids,die heute zu einem guten Teil verboten sind. Jedes Wort, dasgesprochen wird, jedes Lied, das gespielt wird, jede Anekdote istalso „belegt“, wenn man so will.Bossart Wie haben Sie aus all diesem Material eine Performancefür die Bühne gemacht?Rau Das war ein sehr langwieriger Vorgang: Wie soll man einenGenozid in knapp zwei Stunden erzählen, wie soll man diesenDutzenden von Interviews und Bergen von Prozessakten gerechtwerden? Ich habe mich deshalb schon sehr früh entschieden, dashistorische Ereignis und die Erzählungen darüber voneinander zutrennen. Die Zeugenaussagen, die Erzählungen der Opfer und derModeratoren sieht man auf Videos, die auf die Studiowände projiziertwerden, das Studio selbst haben wir mit allen Details wiederaufgebaut, mit Moderatorenraum und Technikkabine (Bühne: AntonLukas). Rein technisch gesehen geht „unser“ RTLM genausoauf Sendung, wie es schon 1994 auf Sendung ging: mit einemKurzwellensender. Die Zuschauer sitzen beidseits des Studios undschauen durch zwei Glasfassaden in dieses – man muss es sosagen – „absolute Meisterwerk des Destruktiven“ hinein.Bossart In einem Gesprächsfilm, den Alexander Kluge mit Ihnengedreht hat, bezeichnete Kluge Ihre Arbeit als „Real-Theater in derTradition von Peter Weiss“. Finden Sie Ihre aktuelle Inszenierung„Hate Radio“ in dieser Definition wieder?Rau Lustig, dass Sie von Peter Weiss sprechen. Ich bin über PeterWeiss überhaupt erst auf einen meiner Schauspieler gestoßen,Dorcy Rugamba. Dorcy hat „Die Ermittlung“ vor einigen Jahrenmit ruandischen Schauspielern inszeniert, und als ich das vor etwaeineinhalb Jahren per Zufall im Internet entdeckte, habe ich ihns<strong>of</strong>ort angerufen und ihn gefragt,ob er in „Hate Radio“ KantanoHabimana spielen will. Er hat mirdann später erzählt, dass auf seinerPeter-Weiss-Tour durch Zentralafrikaviele Zuschauer gedacht hätten, es ginge in der „Ermittlung“um die Gacacas, also um die Prozesse gegen die ruandischenVölkermörder: so ähnlich sind sie den Auschwitz-Prozessen, soähnlich sind sich alle Genozide, wenn es ans Morden selbst geht.Was nun „Hate Radio“ betrifft, hat Alexander Kluge ins<strong>of</strong>ern rechtmit seiner Bemerkung, als es mir ebenfalls weniger um Dramatisierung,sondern um ein szenisches Experiment geht, um dieFrage: Wie hat das denn eigentlich funktioniert? Die Unterschiedezu Peter Weiss liegen natürlich im Verfahren selbst. In „Hate Radio“ist das RTLM tatsächlich auf der Bühne, es ist auf Sendung,es ruft hier und jetzt zum Massenmord auf und spielt in genaudiesem Augenblick „Rape me“ von Nirvana, „Le dernier Slow“ vonJoe Dassin oder einen Song des extremistischen Sängers SimonBikindi. Wir haben hier also kein Real-Theater, sondern eher „dieRealität auf dem Theater“.Bossart Wie „real“ ist denn Ihre Version des RTLM? Handelt essich um eine genaue Kopie des Originals?Rau Die Liveperformance ist zwar in jeder Einzelheit am Originalorientiert, sie bildet aber keinen bestimmten Sendetag ab. Es handeltsich um eine Kondensation aus den Transkripten: Ich habe austausend Stunden eine gemacht, diese dann in der Arbeit mit denSchauspielern weiter verdichtet und rhythmisiert. Wir verwendenalte Studiotechnik, wir halten uns bis in sprachliche Details hineinan die Vorlage, worum es mir dabei aber letztlich geht, ist nichtdokumentarische Genauigkeit, sondern die Beschwörung einerAtmosphäre: Der in der Performance gezeigte Sendeabend spieltgegen Ende des Genozids, Kigali ist vom FPR eingekreist. Die Hysterieder Moderatoren ist auf dem Höhepunkt, und es herrscht einezum Äußersten verschärfte Propaganda bei genauso verschärfter


8 HATE RADIO.HATE RADIO.9Bild: Jens Dietrich„La <strong>radio</strong> du peuple“: Aufführung im ehemaligen RTLM-Studio, Rue de la Paix, Kigali, 18. November 2011


10 HATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wirdHATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wird11Unterhaltung. Etwa so, wie man das von den Soldatensendern desZweiten Weltkriegs kennt: Nachdem die Nachrichten von der Frontverlesen wurden, lief „Lili Marleen“ – nur dass es beim RTLMeben „Le dernier Slow“ ist, ein sentimentaler Schlager von JoeDassin. Diesen für das RTLM sehr typischen Rhythmus aus Hassund Sentimentalität, aus pädagogischem Ernst und dandyhaftemSarkasmus, aus Volkserziehung und Popkultur habe ich versuchtzu verdichten. Die Moderatoren wissen, dass ihre Sache verlorenist, dass sie und ihr Studio dem Untergang geweiht sind. Aber esist gerade dieses Wissen, das ihren Extremismus immer weiteranfacht und zu einem fast alttestamentarischen Nihilismus steigert.Auf sehr schreckliche und sehr konkrete Weise erzählt uns dasRTLM so „die Realität“ über diese Menschheitskatastrophe. DieseStimmen, Songs, Nachrichten und Anrufe sind der Soundtrack einersich selbst zerstörenden Menschheit – aber eben auch, jedenfallsüber weite Strecken, ein Porträt der 1990er-Jahre, denn imRTLM läuft (immerhin teilweise) die gleiche Musik wie in Europa,die Ruander interessieren sich ebenfalls für die Fußballweltmeisterschaftund die Tour de France.Bossart Wie kommt es in diesem lange Zeit eher durch Stillstandsich auszeichnenden Staat wie Ruanda denn überhaupt plötzlichzu einem so dynamischen Radiosender?Rau Bis 1990 ist Ruanda eine sehr ruhige, sehr katholische undäußerst autoritäre Diktatur. Die nach dem Fall der Mauer vomWesten geforderte Demokratisierung bringt plötzliche Pressefreiheitund ein Mehrparteiensystem, aber auch einen Machtverlustfür die herrschende Hutu-Partei. 1990 beginnt zudem der Bürgerkrieg,eine mehrheitlich aus exilierten Tutsi bestehende Armee, derFPR – Front Populaire Rwandais, marschiert im Norden Ruandasein. 1993 schließlich kommt es zu den Friedensverträgen vonArusha, diese sollen eine mehr oder weniger paritätische Vertretungvon Hutu und Tutsi in Institutionen wie Regierung undMilitär garantieren. Das RTLM, ein Kind dieser Entwicklung, stelltsich nun gegen den Machtverlust der Hutu. Nach dem Muster„good cop – bad cop“ treibt die Regierung <strong>of</strong>fiziell die Friedensbemühungenvoran, während sie gleichzeitig extremistische Medienunterstützt. Das radikalste ist das RTLM, vor allem aber daseinflussreichste, da kaum jemand einen Fernseher hat und dieextremistischen Zeitschriften, etwa das berüchtigte „Kangura“, insehr kleinen Auflagen erscheinen.Bossart Besonders erschreckend ist ja die Tatsache, dass dasFurchtbare erst nach der sogenannten demokratischen Öffnungerfolgt und nicht schon vorher, während der Zeit der Diktatur ...Rau Man kann grundsätzlich – und natürlich sehr vereinfachend– zwei Arten von Genoziden unterscheiden. Es gibt den totalitärenGenozid und jenen, der mit einem Demokratisierungs- oder Zersplitterungsprozesszu tun hat. Das für uns Europäer bekanntesteBeispiel für die zweite Art von einem, wenn auch nur versuchtenGenozid ist natürlich Ex-Jugoslawien. Was nun Ruanda betrifft,so wird die Unterscheidung von Hutu und Tutsi in der Kolonialzeitder Bevölkerung aus verwaltungstechnischen Gründen oktroyiert,um so durch eine „rassisch überlegene“ Tutsi-Minderheit dieGesamtbevölkerung kontrollieren zu können. Mit der Revolution1959 und der Unabhängigkeit 1962 kommt es dann zu einerMehrheitsherrschaft der Hutu-Bevölkerung und zu ersten größerenMassakern an den Tutsi, und es entsteht die Gleichung „Herrschaftder Mehrheitsethnie = Demokratie“, die für das Selbstverständnisder extremistischen Hutu-Power-Bewegung Anfang der 1990er-Jahre sehr wichtig werden sollte.Bossart Nehmen wir Jugoslawien zum Vergleich. Dort werden jadie Ethnien in den 1990er-Jahren auch nicht einfach erfunden,aber plötzlich wird politischer Mehrwert daraus gezogen.Rau Genauso in Ruanda. Der aus dem Norden des Landes stammendeHutu-Präsident Juvénal Habyarimana hatte bis Anfang der1990er-Jahre kein Interesse daran, auf der ethnischen Klaviaturzu spielen: Seine eigentlichen Feinde waren die Hutu des Südens,der innere Konflikt in Ruanda war bis zum Fall des Ostblocks einregionaler. Die ethnische Politik gegen die Tutsi ist für seine Interessenerst Erfolg versprechend, als er seine Macht durch diebeginnende Demokratisierung und die Angriffe der FPR gefährdetsieht. Der Schulterschluss mit der Bevölkerung ist dann allerdingsradikal, und an der Geschwindigkeit der Reaktivierung der rassischenGräben sieht man, wie lebendig diese Identitäten über alldie Jahre geblieben waren – und wie bereitwillig sich breitestegesellschaftliche Schichten diese zunutze machten, die Bauern ausLandknappheit, die urbane Jugend aus Perspektivlosigkeit, dieEliten aus Machtgier. Ruanda ist ins<strong>of</strong>ern ein ganz typischer, sich„demokratisch“ gebender Genozid, denn „das Volk“ hatte tatsächlichseinen Nutzen daran.Bossart In den drei Monaten, die der Genozid 1994 gedauerthat, wurde mit unvorstellbarer Grausamkeit vorgegangen. Wiemuss man sich diese Aktionen konkret vorstellen? Wie werden sieinitiiert oder angeleitet? Gibt es nebst den ethnischen Voraussetzungen,die man ja überall ähnlich finden kann, ein spezifischesMoment, das die Brutalität erklären kann?Rau Grundsätzlich kann man drei Faktoren nennen, damit ein Genozidgelingt, das heißt nicht der Spleen einer kleinen Gruppe vonExtremisten bleibt, sondern vergesellschaftet wird. Erstens müssenDinge, die vorher komplett verboten waren, plötzlich als ganz normalgelten, Rede- und Denkverbote müssen nachhaltig gebrochenwerden. Zweitens muss es von <strong>of</strong>fizieller Seite den klaren und unmissverständlichenBefehl geben, entsprechend zu handeln, unddazu gehört auch die Zusicherung von Straffreiheit. Und drittensmuss ein möglichst großer Teil der Bevölkerung einen Vorteil ausden Vertreibungen und Morden ziehen können. Der erste Schrittist sicher der langwierigste: Gewisse Stereotype müssen im öffentlichenRaum immer wieder wiederholt werden, es muss ein „Wirgegen Sie“-Weltbild fest im gesellschaftlichen Diskurs verankertwerden. Doch ist dieses erstmal etabliert, kann man der ausgesondertenBevölkerungsgruppe die unwahrscheinlichsten Dingeanhängen. Bei der zweiten Bedingung, der Straffreiheit, spielt mit,dass die ruandische Gesellschaft sehr autoritär organisiert ist, vonder Staatsspitze bis ins letzte Dorf hinab. Und wenn die Mordegar im Radio propagiert werden, einem Medium, das Jahrzehntelang nur die <strong>of</strong>fizielle Regierungsmeinung in langen Ansprachenverbreitet hat, dann wird den Aufforderungen fraglos Folge geleistet.Und zum dritten Faktor schließlich ist zu sagen, dass es für dieTäter <strong>of</strong>fensichtliche Vorteile gab, wenn ein Teil der Bevölkerungeinfach verschwand – wenn ihr Land, ihre Häuser und ihre Küheplötzlich zur Verfügung standen und „befreit“ werden konnten, wieder zynische Begriff während des Genozids lautete.Bossart Wer waren diese Täter?Rau In der großen Mehrheit jugendliche Männer in der Spätpubertät.Fast alle Mörder – also das, was man die MuskelmasseDJ JOSEPH Ihr hört Radio-TélévisionLibre des Milles Collines. Wir sendenaus Kigali, es ist 9:00 Uhr in unserenStudios. Ja, Ihr hört Radio RTLM, RadioSympa, die Stimme des Volkes, das Radio,das Euch die Wahrheit sagt, die ganzeWahrheit und sogar ein paar Geheimnisse.Euch allen, die Ihr zuhört: Courage!KANTANO HABIMANA Courage! Und da uns dasBier langsam ausgeht, sollen die Leutein Gisenyi uns neues brauen. Braut unsBier, damit wir Spass haben! Denn wirstehen kurz davor, diesen Krieg, den dieFPR-Rebellen und die Tutsi-Kakerlaken unsaufgezwungen haben, auf spektakuläreWeise zu gewinnen. Unsere Freunde an denStraßensperren, die Leute im ganzen Landund die Soldaten der Ruandischen Armeean der Front – alle stehen kurz vor demSieg!Es ist jetzt 9:00 Uhr in Kigali. Ichgrüsse alle, die oben in Gikondo wohnen:Courage! Glaubt niemandem, der sagt,dass immer mehr Tutsi-Rebellen bis nachKigali kommen. Nein! Es kommen keineneue Rebellen mehr. Es sind immer nochdieselben, die völlig erschöpft undausgehungert in den Tod rennen. DieseSelbstmörder!Ja, Radio RTLM spricht zu Euch! DieInterahamwe liebt dieses Radio, unddieses Radio unterstützt die Interahamweund alle Jugendorganisationen unsererHutu-Power-Parteien. Denn dieses Radiogehört allen Ruandern und auch allenAusländern, die RTLM-Aktien gekaufthaben, kurz, dieses Radio gehört allen!DJ JOSEPH Das war Kantano Habimana amMikro. Es ist 9:00 Uhr hier in Kigali,und es regnet. Aber im Radio RTLM, EuremRadio, wird geplaudert! Wir senden guteMusik und interessante Nachrichten!VALERIE BEMERIKI Danke, Joseph. LiebeZuhörer von Radio RTLM, heute Abend seidihr in Begleitung von Kantano Habimana,Georges Ruggiu und Valérie Bemeriki.Am Mischpult, Joseph Rudatsikira. Wirsprechen über alles und senden Euch dieallerneuesten Nachrichten. Aber bevorwir mit dem Programm weiterfahren, gebeich das Mikro an meinen Kollegen GeorgesRuggiu weiter für die Kriegsnachrichten.Er fasst die Ereignisse des heutigenTages zusammen, hier in Kigali, undspricht über die Situation in unseremLand. Und so beginnen wir den Abend miteiner klaren Vorstellung, denn die Leutefangen langsam an, sich ernsthaft Fragenzu stellen, ja, man fängt an, sich Fragenzu stellen... Georges!GEORGES RUGGIU Danke, Valérie! GutenAbend Euch allen, liebe Zuhörer.Wir kommen also zu den neuestenKriegsnachrichten und ein paarKommentaren von unserer Seite.(Aus dem Reenactment)Bild: Anton Lukas


12 HATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wirdHATE RADIO. Wenn aus Wasser Eis wird13Bild: Frank Schröderdes Genozids nennen könnte – waren zwischen 15 und 30 Jahrealt. Man könnte den ruandischen Genozid, seinen festiven Charakterfast mit einer Jugendbewegung vergleichen, und tatsächlichnährten sich die Milizen aus den Jugendorganisationen der großenParteien. Die Leichtsinnigkeit und die Todesverachtung, aberauch die Autoritätsgläubigkeit und derGruppenzwang – diese typische Psychopathologiemännlich dominierterJugendkulturen ist neben den bereitsgenannten eine der Hauptbedingungengewesen für die „Gestalt“ des ruandischenGenozids.Bossart Das Zeigen des Studios und das Nachspielen der Sendungen,aus dem der zweite, der Live-Teil von „Hate Radio“ besteht:Zeigt das noch etwas anderes als die sprichwörtlich gewordeneWahrheit, dass das Böse banal ist?Rau Bei Hannah Arendt steht das im Kontext eines totalitärenStaates, der seinen Genozid arbeitsteilig organisiert. Die, die „dasBöse“ verwalten, sind Beamte, so wie Adolf Eichmann einer war,Diese Stimmen, Songs, Nachrichtenund Anrufe sind derSoundtrack einer sich selbstzerstörenden Menschheit.sie sehen nur Zahlen, keine realen Tötungsvorgänge – die werdenden SS-Männern und den ukrainischen Wachmannschaftenüberlassen. Der ruandische Genozid dagegen ist alles andere alsarbeitsteilig, er ist eine große Show, ein Volksfest: Die Moderatorensprechen mit ihren Opfern, sie richten ihnen Grüße aus, bevorsie die Interahamwe zu ihnen schicken. Dies ist ein Genozid derNähe und der Nachbarschaft, nicht der Ferne und der Deportation.Der Nachbarsjunge schaut dem Vater in die Augen, während erdessen Tochter vergewaltigt, dann hackt er ihm den Arm ab. Unddann geht er ein Bier trinken und hört RTLM.Bossart Für „Hate Radio“ arbeiten Sie mit ruandischen Schauspielernzusammen, die den Genozid überlebt haben. Diese spielennun die Mörder ihrer eigenen Familien.Rau Gleich zu Beginn, als ich Dorcy Rugamba kennengelernt habe,der ja im Genozid fast seine gesamte Familie verloren hat, <strong>hate</strong>r mir gesagt: Ich gehöre zur Generation der Täter. Und es ist jatatsächlich so, denn wenn er sich ein Foto aus seiner Universitätszeitanschaut, dann sieht er sie lachend versammelt: diejenigen,die nur wenige Monate oder Wochen später zu Gejagten wurden,und die, die sie getötet haben. Der Bruch zwischen Hutu und Tutsierfolgte erst sehr spät, diese Menschen bildeten eine gemeinsameWelt, mit gemeinsamen Leidenschaften und Problemen, das alleshat sich unter Freunden, unter Bekannten abgespielt. Natürlichgab es auch Mörder aus Überzeugung, aber letztlich war es einZufall, auf welcher Seite man sich wiederfand, und das spiegeltsich natürlich auch in unserer Inszenierung wider: Nancy Nkusi,die Valérie Bemeriki verkörpert, musste wie Dorcy aus Ruandafliehen, weil sie Tutsi war; der Bruder unseres DJs hingegenwurde selbst zum Täter. Es gibt in Ruanda das, was Dorcy mirgegenüber einmal „die Karriere des Zeugen“ genannt hat: eineFestschreibung von ruandischen Künstlern – in Hollywood, aberauch in Europa – auf ihre Rolle als Überlebende. Natürlich konnteich auf diese Perspektive nicht verzichten, sie existiert in den Videos.Aber die Möglichkeit, einmal die „andere Seite“ zu spielen,diese grässliche, aber letztlich universale Seite der Propagandaund des Entertainment, ist entscheidend, denke ich. Denn indemwir ein Radio zeigen, das internationale Musik spielt, entfernen wiruns sehr weit vom üblichen, sehr exotischen Bild des ruandischenGenozids – er rückt aus einem weit entfernten Land mitten in die1990er Jahre. Aber natürlich gibt es, gerade auch im Vorfeld derGastspiele in Kigali, sehr heiße Diskussionen über die Legitimitäteines solchen Projekts. Unsere Entscheidung, im Memorial Centrezu spielen, also gewissermassen dem Holocaust-Mahnmal Ruandas,kommt von daher.Bossart Sie betonen immer den Showcharakterdes ruandischen Genozids– und vor allem Ihres Projekts. KönnenSie dazu noch etwas sagen?Rau Wir haben uns während der Probensehr viel über Musik verständigt,denn nirgendwo zeigt sich die Globalisierung deutlicher. Obwohlwir weit entfernt voneinander aufgewachsen sind, haben wir alleNirvana gehört, Reggae, MC Hammer, Queen, Youssou N‘Dour.Die Erarbeitung der Inszenierung selbst dauerte ja, von den Videoaufnahmenbis zum Reenactment, mehrere Monate, und wir habenuns sehr intensiv mit dieser seltsamen Zeit der frühen 1990erJahre beschäftigt, und so eben auch mit uns, die wir damals nochsehr jung waren. Ja, wir haben viel über diese sogenannte „GenerationX“ gesprochen, dieses seltsam leere „Alles-ist-Möglich“nach der Wende, die in Afrika ja genauso entscheidend war wie inEuropa, dieses „No-Future“-Gefühl einer Generation, für die plötzlichalles machbar und nichts notwendig war. Dorcy bringt das ineinem kleinen, biografischen Text, den er für mein Begleitbuch geschriebenhat, auf den Punkt, indem er sagt: Meine Großeltern habenfür die Unabhängigkeit gekämpft, meine Eltern haben Ruandaaufgebaut – und für meine Generation war das einzige Projekt derGenozid. Diese Mischung aus Destruktivität, Nihilismus und dementtäuschten Wunsch nach einer echten, erfüllenden Revolte, dieeine ganze, eben die erste Nachwende-Generation ergreift, ist sehrzentral in „Hate Radio“ – und ins<strong>of</strong>ern ist „Hate Radio“ sicher auchdas logische Folgeprojekt zu „Die letzten Tage der Ceausescus“,wo ich mich mit der enttäuschenden Erfahrung von 1989, einer„verratenen Revolution“ beschäftigt habe. Doch natürlich hat derShowcharakter auch einfach damit zu tun, dass wir eine Radiostationins Zentrum unserer Untersuchung gestellt haben. Im erstenTeil, den Videos, gibt es eine Figur, eine Journalistin, die in den1960er-Jahren ausgewandert ist und vier Tage vor dem Genozidzurückkehrt, um über den <strong>of</strong>fiziellen Frieden zu berichten. DieVerträge von Arusha sind unterzeichnet, die Blauhelme sind da,und sie kann es nicht fassen, dass im RTLM <strong>of</strong>fen zu Mord undVergewaltigung aufgerufen wird. Dochtrotzdem muss sie lachen beim Hörendes Radios, so selbstverständlich istdas alles, so logisch letztlich. Das hatmir auch ein Schauspieler bestätigt, dermit der Tutsi-Armee als Kindersoldat inRuanda einmarschiert ist und den Sendergehört hat: Sogar die Soldaten derFPR mussten über Kantano HabimanasWitze lachen, seine Versessenheit aufJoints und Bier.Bossart Bei dem genannten Projekt,„Die letzten Tage der Ceausescus“, war der Ausgangspunkt einkollektives Bild einer Revolution, eines Tyrannenmords, das nichtauf die spätere Entwicklung passte, die ja mehr oder weniger inder Überführung von ehemaliger Partei- in die neuen Wirtschaftselitenbestand. Es tat sich gewissermaßen ein Abgrund auf zwischendem, wie die rumänische Revolution <strong>of</strong>fiziell erinnert wird,und dem, wie es tatsächlich war, wie es geworden ist. Das warsozusagen die Differenz, von der das Stück lebte.Rau Vom Gesichtspunkt der Wirkungsästhetik her, ja. Die Aufführungenin Rumänien führten ja schließlich zu einem Prozess desletzten Sohnes der Ceausescus gegen das IIPM, den wir vor einpaar Monaten gewinnen konnten. Das Entscheidende ist aber diesehr breite Diskussion, die dadurch angestoßen wurde – fast so,als müsste die Revolution noch einmal, nun aber unter heutigenBedingungen ausgefochten werden.Bossart „Hate Radio“ wird ja auch in Ruanda gezeigt. Wo könntedort die produktive Differenz liegen?Rau Das wird sehr Verschiedenes sein – wie gesagt, das Projektwird schon jetzt, noch bevor wir vor Ort waren, sehr widersprüchlichdiskutiert. Mich interessiert dabei vor allem der Aspekt derPresse- und Meinungsfreiheit. Es gibt auch im heutigen Ruanda,von einigen Versuchen abgesehen, keine reale Pressefreiheit, unddies aus letztlich nachvollziehbaren Gründen: Denn die Diskussionüber die Rolle, die die Medien vor, während und im Rahmen derFolgekonflikte des Genozids gespielt haben, ist nicht einmal ansatzweisebeendet. Dieser Aspekt ist für das westeuropäische Demokratieexport-Pathossehr wichtig. Denn der „Alles-was-nicht-Demokratie-ist-ist-Diktatur-Diskurs“, den implizit oder explizit vieleNGOs pflegen, ist realpolitisch sehr einseitig. Das ist der Grund,warum ich in Bezug auf Ruanda oder Ex-Jugoslawien von einem„demokratischen Genozid“ spreche: Würde man die Massakerzählen, die durch den europäischen Demokratieexport in Afrikaoder Osteuropa mitverursacht sind, dann ergäbe das eine sehrbeunruhigende Bilanz. Zivilgesellschaft entsteht eben nicht vonalleine, nicht plötzlich und schon gar nicht durch von Wirtschaftsverträgenabhängig gemachte Lippenbekenntnisse. In Europa istdie Zivilgesellschaft unter den Bedingungen der Königsherrschaftentstanden, in abseitigen Winkeln der Macht. Das braucht Zeit,und gerade in Ruanda sollte man, neben den durchaus berechtigtenVorwürfen, dass die aktuelle Regierung den Vorwurf desNegationismus oder des Rassismus ab und an auch als politischesInstrument missbraucht, den Blick auf die Lage des Landes undseine Geschichte nicht völlig vergessen.Das ist der eine Punkt, der für mich im Projekt bedeutsam ist,der zweite ist wie gesagt die Vermischung von Entertainment undNihilismus, also eine ArtVermessung meiner eigenenGeneration – jenerLeute, die heute zwischen25 und 40 Jahre alt sindund mit dieser seltsamenweltanschaulichen Leerenach der Wende aufgewachsensind. Der dritteAspekt, der mich interessiert,hat mit etwas zutun, was mir ein ruandischerMathematikpr<strong>of</strong>essor ganz am Anfang meiner Recherchenin Genf erzählt hat. Er hat in den 1960er Jahren eines der erstengroßen Massaker, eigentlich den ersten versuchten Genozid anden Tutsi überlebt und ist dann ausgewandert. Anfang der 1990erJahre, als die Dinge sich in Ruanda zuspitzten, hat er versucht, dieinternationalen Organisationen zu warnen – ohne jeden Erfolg,denn das Unvorstellbare ist eben, nun ja, nicht vorstellbar. Er abersagte mir: Wenn du einen Genozid erlebt hast, so fühlst du, wennein anderer sich vorbereitet. Und er gab mir ein sehr schönesBild dafür: Ein Kollege von ihm, der ebenfalls an der UniversitätGenf unterrichtet, hatte kurz vor unserem Gespräch den Nobelpreisbekommen, weil er beweisen konnte, wann aus Wasser Eis wird,weil er diesen genauen Moment, in dem die Kristallisation abgeschlossenist, in einer Formel einfangen konnte. Dieser Umschlag,dieser plötzliche, materielle, unglaublich schwer zu beschreibendeÜbergang, wenn sich etwas endgültig kristallisiert, verhärtet, wennetwas plötzlich „da“ ist – das ist für mich später eine Metapher fürdas ganze Projekt, für dieses Enigma eines Genozids geworden.Der Bruch zwischen Hutu und Tutsierfolgte erst sehr spät, diese Menschenbildeten eine gemeinsameWelt, mit gemeinsamen Leidenschaftenund Problemen, das alles hatsich unter Freunden, unter Bekanntenabgespielt.


14 HATE RADIO. Bei Valérie BemerikiHATE RADIO. Bei Valérie Bemeriki15JENS DIETRICHBEI VALÉRIE BEMERIKIZum ersten Mal seit den Nürnberger Prozessen wurde am 23.Oktober 2000 Anklage gegen Journalisten auf Völkermord, Anstachelungzum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeitvor einem internationalen Strafgerichtsh<strong>of</strong> erhoben. ImDezember 2003 werden die Gründer der Radiostation RTLM undder Herausgeber der Zeitschrift Kangura, deren vulgäre Karikaturenund deren radikaler Rassismus an Julius Streichers Stürmererinnern, vom <strong>International</strong> Criminal Tribunal for Rwanda (ICTR)zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, ebenso Valérie Bemeriki imDezember 2009 von einem lokalen Gacaca-Gericht.Im November 2010 besuchen wir sie im Kigali City Prison undinterviewen sie in einem ruhigen Zimmer im Verwaltungsgebäude,von dem man auf den Innenh<strong>of</strong> schauen kann.Eine Gruppe Gefangener spielt Basketball, eine andere übt eineChoreographie ein. Drinnen im Schatten lautlos angespannte Soldatenmit locker umgehängten Maschinengewehren, im Büro desGefängnisdirektors an der Wand eine Tafel, auf der mit Kreide dieaktuelle Belegung notiert ist. Man könne Englisch hier lernen, sagtder Direktor, Arabisch, Staatsbürgerkunde, und manche würdesogar ihre Doktorarbeiten im Gefängnis beenden, so gut sei dieBibliothek.Wir sprechen mit Bemeriki im ersten Stock und haben so vielZeit mit ihr, wie wir wollen. Klein und stämmig ist sie, lächeltuns an. Sie sagt, dass sie ihre Schuld anerkenne, RTLM sei einMedium des Hasses gewesen. Und dann erzählt sie vom grausamenKrieg, den der FPR dem Land aufgezwungen habe, von derBedrohungslage, die nach dem Absturz der Präsidentenmaschineherrschte. Sie habe ja keinen Menschen getötet, nur gegendie feindliche Armee agitiert. Ob die Auslöschung eines Teils derZivilbevölkerung gerechtfertigt gewesen sei? In der gefährlichenLage, in der sich das Land befunden habe, hätte man drastischeMaßnahmen ergreifen müssen...Valérie Bemeriki ist verurteilt, und es geht uns bei dem Gesprächmit ihr nicht darum, herauszufinden, was Schuld bedeutet,nicht darum, ihr etwas, was <strong>of</strong>fensichtlich ist, nachzuweisen. Esgeht um die Details der Innenansicht einer Moderatorin der Völkermord<strong>radio</strong>stationRTLM.Bemeriki zeichnet einen Grundriss des Studios, beschreibt dieArbeitsabläufe, die dichte, intensive Atmosphäre, die Geschäftigkeit,die nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine von allenBesitz ergriff. Sie spricht von ihren Reportagen, die sie in denverschiedenen Landesteilen gemacht hat, von der Tafel, auf der diegerade getöteten Feinde mit einem Marker durchgestrichen wurden,von den Telefonanrufen, die sie alle fünf Minuten bekamen,und die sie über die aktuellen Entwicklungen in den verschiedenenRegionen informierten, von der Solidarität mit der Bevölkerungund von der Kollegialität in der Redaktion.Jens Dietrich ist Dramaturg und Conceptual Manager des IIPM.Er studierte in Gießen Angewandte Theaterwissenschaften undarbeitet als freier Dramaturg an zahlreichen Häusern im In- undAusland.KANTANO HABIMANA „Jeder Spaß undalle Vergnügen sollen der Arbeitweichen.“ Ich denke, dieser Satz istsehr einfach zu verstehen. Es istbekannt, dass in Kriegszeiten die Leutesich kleinen Intrigen hingeben, siebegehen Dummheiten, während wir unsin einem totalen Krieg befinden undunser Feind keine Gnade zeigt. Nehmenwir zum Beispiel Aloys. Aloys ist einInterahamwe aus Kigali. Gestern trafich ihn auf dem Markt, er sah gut ausin seiner Militärkluft, er hatte sogarein Gewehr... Aloys also schnapptesich mitten auf dem Marktplatz einenMann namens Yilirwahandi Eustache,einen Geschäftsmann. Auf seinerIdentitätskarte steht zwar, dass er einHutu ist, aber jedermann weiß, dassseine Mutter eine Tutsi ist. Aloys undein paar andere Interahamwe schleiftenihn in eine Ecke und verlangten, dasser einen Schuldschein von 150‘000Ruandischen Francs unterschreibensoll. Ich versuchte, mir das Dokumentanzusehen, aber Aloys und seine Freundewaren schnell weg damit, während derGeschäftsmann stöhnte: „Sie werden michumbringen, Kantano, helfen Sie mir, ichbitte Sie. Sie haben mich gezwungen einenSchuldschein zu unterschreiben, und ichmuss mir nun überall Geld ausleihen,um ihnen das zurückzuzahlen.“ Aber ichsagte zu ihm: „Wie willst Du Dich dennfreikaufen? Wenn Du eine Kakerlake bist,dann bist Du eben eine Kakerlake und manmuss Dich töten. Du kannst Dich nichtfreikaufen.“VALERIE BEMERIKI Ja, niemand kann sichfreikaufen, das ist nicht möglich.Niemand kann sein Leben kaufen.Wenn jemand im Besitz eines falschenDokuments ist, wenn es ein Tutsi-Rebelloder einer seiner Komplizen ist, danndarf er sich nicht freikaufen. Manmuss ihn töten, man muss ihn schlichtund einfach töten. Denn was hier inRuanda geschieht, ist noch nie dagewesen. Nirgendwo auf der Welt <strong>hate</strong>ine Minderheit es je gewagt, die Waffengegen die Mehrheit zu erheben, um sieauszurotten. Wer dieses Tabu bricht,stürzt seine eigene Rasse ins Unglück.KANTANO HABIMANA Die Tutsi haben alsodie Vernichtung ihrer Artgenossenherbeigeführt. Mit dem Friedensabkommenvon Arusha hatten sie ja bereits alles Tod,sie sind der Tod. Ja, sie sind eineerreicht, die Hutu erklärten sichverkommene Rasse. Das sind Menschen, diebereit, alles aufzugeben, bis hin zu ausgerottet werden müssen, denn es gibtden Errungenschaften der Revolution von keinen anderen Weg, als sie auszurotten1959. Aber die Tutsi sagten nur: „Wir und in die Flüsse zu werfen. Sollen siewollen die totale Macht über das Land.“ doch die Fische regieren! Das hat dieserSo etwas hat die Welt noch nie gesehen, Satz zu bedeuten: „Jeder Spaß und alledass eine kleine Minderheit, eine kleine Vergnügen sollen der Arbeit weichen.“Bande von Individuen die Macht über ein Denn die Sache ist sehr einfach: Es gehtLand an sich reißen will und dabei sogar hier um eine Rasse, und Ruanda muss vonin Kauf nimmt, ausgerottet zu werden. ihr befreit werden. Schaut Euch also eineUnd darum sage ich Euch: Die Kakerlaken Person gut an, schaut auf ihre Größe undwollen nicht, dass das Leben weitergeht. ihr Aussehen, schaut Euch ihre hübsche,Ich glaube sogar, dass sie das ganze feine Nase an – und dann zertrümmertLeben in diesem Land auslöschen wollen, sie!die Schulen, die Krankenhäuser, alles.Diese Leute sind Nihilisten, sie(Aus dem Reenactment)wünschen sich den Tod, sie verehren den„Solidarität mit der Bevölkerung, Kollegialität in der Redaktion“: Valérie Bemeriki im Gespräch mit Milo RauBild: Lennart Laberenz


16 HATE RADIO. Der Ruandische Genozid 1994HATE RADIO. Der Ruandische Genozid 199417LENNART LABERENZDER RUANDISCHE GENOZID 1994I.Wer Kigali nach Süden, durch Kicukiru verlässt, fährt heute aufeiner ausgebauten Straße. Glatt und breit windet sich der AsphaltRichtung Nyamata, steigt die Hügel bei Nyanza hinauf, streckt sichüber den lehmbraunen Nyabarongo-Fluss, der viel später den Nilspeisen wird. Grün ist es hier noch, bevor die Straße – vor kurzemgeteert – in den Distrikt Bugesera führt. Es wird heißer, trockener,und die Hügel nehmen langsam ab. Die Natur wird karg, das Lebenbeschwerlich. Die Straße führt an kleinen Siedlungen vorbei,manche kaum größer als ein paar Ziegelhäuser um eine Bushaltestelleim rotbraunen Staub. Sie führt auch in eine schrecklicheVergangenheit: In den Orten entlang der Straße sind Tausendevon Menschen umgebracht worden; der Asphalt führt an Massengräbernund kleinen Gedenkstätten vorbei, an Schauplätzenunfassbarer Szenen.Nyanza, heute ein südlicher Vorort von Kigali: Ab dem 11. April1994 werden ca. 2.000 Menschen in einer Schule umgebracht.Gahanga, ein Flecken auf beiden Seiten der Straße: Ca. 6.000Menschen werden auf dem Gelände eines kleinen Konvents zusammengetriebenund massakriert. Ntarama, ein Weiler im Wald:Ab dem 15. April werden ca. 5.000 Menschen in einer winzigenBild: Lennart LaberenzKirche aus roten Ziegeln zerhackt. Nyamata, die Distrikthauptstadt:nach dem 10. April werden fast 10.000 Menschen in der katholischenKirche umgebracht – Zeugen berichten, dass selbst katholischeGeistliche das Morden unterstützten.Der Massenmord war Handarbeit und geschah im Schichtdienst:Junge Männer standen früh auf, stärkten sich mit Brochettes undBier, brachten ihre Macheten mit oder altertümliche Jagdwaffen.Manche trugen die Pistole oder das Gewehr aus der Militärzeit,manche auch nur Steine und Knüppel. Sie sammelten sich aufFußballplätzen und vor Kirchen und folgten der einfachen Order,die sie von Soldaten, Gesandten, Richtern oder Bürgermeisternbekamen: Tötet so viele Tutsi als irgend möglich. Man konntenichts missverstehen, sagte einer der Mörder.In der Region begann ein wochenlanges Abschlachten. DieOpfer wurden in den Feldern und Sümpfen gefunden oder zusammengepferchtin Kirchen und Schulen. Sekundiert von der Armeeund der Interahamwe-Miliz, hackte lokaler Mob in die wehrloseMenge, Kleinkinder wurden vor den Augen aller an Wänden zerschmettert.Meistens kannten die Täter ihre Opfer als Nachbarn,manche auch als Familienangehörige. Wenn die Nacht hereinbrach,wenn die Mörder müde wurden, so heißt es, schnittensie den Tutsi die Achillessehnen durch, um sie an der Flucht zuhindern. Im weiß gekachelten Mausoleum der ehemaligen Kirchevon Nyamata liegt ein Sarg mit einer Frau, deren Körper von derVagina aufwärts komplett mit einem Speer durchbohrt ist. DerLeichnam war öffentlich zu besichtigen, bis überlebende Verwandteetwas mehr Pietät einforderten.II.Ruanda 1994 steht für einen Genozid, der bis heute kontroversinterpretiert wird. Moderne Propaganda und Organisation mischtsich mit archaisch anmutender Gewalt. Wie bei allen Genozidenwar die Grundlage des Mordens die der Moderne: staatliche Bürokratie,Geheimdienste, Armee. Als Brandbeschleuniger funktioniertenLandkonflikte, Versorgungsengpässe und Nachbarschaftsstreitigkeiten.Die Bevölkerungsdichte Ruandas lag 1990 bei 760 Einwohnernpro Quadratmeile –eine der höchsten weltweit. Die Bevölkerungwuchs um über 3 Prozent jährlich, spätestens ab Mitte der 1980erJahre konnte sich die Landwirtschaft nicht mehr ausweiten: Esfehlte an Anbauflächen.Die ruandische Gesellschaft ist traditionell streng hierarchischorganisiert und sehr eng geknüpft: Von Hügel zu Hügel kannten,beobachteten, kontrollierten sich die Menschen gegenseitig.Nachbarn stritten sich, neideten einander, was sich Nachbarn ebenneiden: Land, Einkommen, Ernte. Zudem: Kinyarwanda ist die einzigeSprache des Landes – eine Rarität auf dem Kontinent. Alldies sind kleine Puzzleteile, kleine Aspekte eines sich zuspitzendenKonflikts. Dessen Kern war allerdings sozio-ökonomischer Natur.Um dem Genozid auf die Spur zu kommen, genügt die Fahrtnach Süden nicht. Dennoch finden sich hier Illustrationen für etwas,das nur sehr schwer fassbar ist. In seiner vergleichendenStudie Säubern und Vernichten 1 arbeitet Jacques Sémelin einensozialpsychologischen Dreisatz des Genozids heraus: Aus derKonstruktion einer eigenen Identität folgt die Notwendigkeit zurReinheit des „Wir“. Daraus wiederum folgt dessen (vorgeblichexistenzielle) Verteidigung gegen ein Anderes, ein „Sie“.Abzulesen ist dies an der Vorgeschichte des ruandischen Genozids.Zunächst postulierten die Hutu-Extremisten die Position deskollektiven Opfers: Die Hutu seien unterdrückt und ausgebeutetworden von den Fremden und Zugewanderten – den Tutsi. Daraufhinverschärften sie das Bedrohungsszenario: Der Feind des„Eigenen“ stehe vor dem Angriff, rüste zur vernichtenden Schlacht.Michel Hastings bemerkt in seiner Arbeit Das Imaginäre im Konflikt2 : „Anders als man glaubt, gehen die größten Feindschaftennicht aus der Differenz, sondern aus Ähnlichkeit und Nähe hervor.“Der Genozid wäre nicht denkbar gewesen ohne die Propagandaleistungdes RTLM und einiger, freilich kaum verbreiteterZeitungen: In der agrarischen Gesellschaft war das Wort aus demÄther die Wahrheit, die Angst vor dem Feind wurde geschürt unddeshalb der Nachbar zur Bedrohung. Unter den Toten fanden sichhernach auch kritische Hutu und unbeteiligte Twa. Die Zahl derOpfer konnte nur geschätzt werden: Nach Regierungsangabenstarben in 100 Tagen rund 1.174.000 Menschen, 10.000 proTag. In Bugesera wurden in nur fünf Wochen fünf von sechs Tutsiermordet.Die Trennung zwischen Hutu und Tutsi war bereits Teil desruandischen Königreiches und verschärfte sich unter den KolonialmächtenDeutschland und Belgien: Belgische Kolonialherrenführten Pässe mit ethnischen Kennzeichnungen ein, sorgten füreine Systematisierung sozialer Ungerechtigkeit. An Stellen, andenen dies nie eine Rolle gespielt hatte, etablierten Belgier eine„Stammeszugehörigkeit“, schufen kulturelle Eigenheiten, um Kontrolleüber ihre Kolonie zu bewahren.III.Die Besiedelung des Distrikts Bugesera zum Ende der 1950er-Jahre war eine Konsequenz wachsenden Innendrucks: 1959 starbder ruandische König Mutara III. nach der Behandlung durch einenbelgischen Arzt. Der König war Tutsi, und von nun an beschuldigtenTutsi-Eliten die Kolonialmacht, mit den Hutu gemeinsameSache gegen sie zu machen. Im November dann griffen jungeTutsi einen Hutu-Anführer an, und die Dinge eskalierten: Das Landwurde unter Ausnahmezustand gestellt, eine Kampagne gegen dieTutsi begann. Von Hügel zu Hügel gingen Hutu-Aktivisten gegenTutsi-Familien vor, vertrieben ihre Nachbarn, ermordeten die, dienicht schnell genug fliehen konnten. Die belgische Kolonialmachterkannte die Zeichen der Zeit und unterstützte das Treiben. Sieentfernte regionale und lokale Tutsi-Machthaber – die sie selbsteingesetzt hatte – und ersetzte sie durch Hutu.Drei Jahre später erlangte Ruanda die Unabhängigkeit, dieerste Regierung unter Grégoire Kayibanda etablierte die Idee desHutu-Nationalismus, im Kabinett saß kein Tutsi mehr. Die Ausschreitungenin den Jahren zuvor waren ein erster unter etlichenPogromen, die nun folgen sollten. Die Ruanda-Kennerin LindaMelvern schreibt dazu, dass in denJahren zwischen 1959 und 1994die Idee des Genozids „Teil des Lebens“geworden sei.Von den fruchtbaren Hügeln desNordens flüchteten sich viele Familienins Ausland, auch nach Süden,nach Bugesera: Ein karger Landstrich, im Westen durch Sümpfevoller Tsetse-Fliegen begrenzt. Als in den 1970er Jahren rund umGitarama die Ernte ausfiel, folgten Hutus den einst vertriebenenTutsis.Interviews mit Génocidaires in Kigalis Gefängnis, die Milo Rauund sein Team im Rahmen des Projekts HATE RADIO führte, zeigen:Die latenten Konfrontationen spitzten sich mit dem Krieg imNorden zu. Zu Beginn der 1990er Jahre hatten wirtschaftlicheProbleme und Versorgungsengpässe erneut Streit und Gewalt befördert,bei denen Militär und Regierung kräftig mit mischten. Als1.Jacques Sémelin:Säubern und Vernichten. Die politischeDimension von Massakernund Völkermorden.Hamburg 2007.2.Michel Hastings:L‘Imaginaire des conflitscommunautaires.Paris 2002.aber der Front Patriotique Rwandais(FPR), der sich im Wesentlichen ausruandischen Flüchtlingen in Ugandarekrutierte, gegen das Gewaltregimedes Präsidenten Juvénal Habyarimana(der seinen Vorgänger Kayibanda20 Jahre zuvor gestürzt hatte) in den Krieg zog, konnte dasRegime die Feinde im Inneren einem Feind von außen zuordnen.Die Hasspropaganda hob die Auseinandersetzung auf ein neuesNiveau.VI.Als am 6. April 1994 die Maschine des Präsidenten beimLandeanflug auf Kigali abgeschossen wurde, war das Zeichen fürdie gegeben, die ein Zeichen brauchten: Über eine halbe Million


20 HATE RADIO.HATE RADIO.21Bild: Archiv ICTR"Der Ton des RTLM radikalisierte sich langsam, aber stetig": der ehemalige RTLM-Moderator George Ruggiu vor demICTR – <strong>International</strong> Criminal Tribunal for Rwanda (Staatsanwältin: Carla del Ponte)


22 HATE RADIO. Radio VéritéHATE RADIO. Radio Vérité23MARIE SOLEIL-FRÈRERADIO VÉRITÉEnde der 80er, Anfang der 90er Jahre kommt es in ganz Afrikazu einem Liberalisierungsprozess, sowohl im politischen, wie imMediensektor. Das beginnt im Benin und ergreift von dort ganzAfrika. In Ruanda kommt es zur Zulassung neuer Parteien undzur Gründung privater Medien, die in Konkurrenz zur ehemaligenEinheitspartei treten. 1991 erscheinen in Ruanda bereits an die 50neue Zeitungen und Zeitschriften, fast alle stark meinungsorientiert,was übrigens immer so ist, wenn ein medialer Raum langeZeit geschlossen war und sich plötzlich öffnet: Die erste Phase derPressefreiheit folgt nicht einer journalistischen Logik, es geht nichtum Information, sondern schlicht darum, seiner Meinung Gehörzu verschaffen. In Ruanda findet dies alles vor dem Hintergrundeines Bürgerkriegs statt, vor dem Hintergrund der Attacke derFPR und der Schwächung der Regierungspartei, der MRND. DieMRND versucht natürlich, den öffentlichen Raum auch weiterhinzu kontrollieren, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Während esbeispielsweise in Mali 1993 bereits mehr als 150 private Radiostationengibt, bekommt in Ruanda in all diesen Jahren nur eineeinzige von der Regierung eine Sendelizenz: das RTLM.Wenn man die Liste der Aktionäre des RTLM liest, dann wirdsehr schnell klar, dass dieses Radio vor allem einem Zweck diente:dem extremistischen Flügel der Regierungspartei ein Sprachrohrzu geben zu einem Zeitpunkt, als sogar Radio Rwanda (die<strong>of</strong>fizielle Regierungsstation) sich demokratisierte. Auf der Listeder Aktionäre stehen sehr viele Politiker aus dem Norden: zumBeispiel Jean-Bosco Barayagwiza, der später vom <strong>International</strong>enGerichtsh<strong>of</strong> verurteilt wurde, oder Félicien Kabuga, der mit JuvénalHabyarimana verwandt war. Interessanterweise bestand aberder breite Erfolg des RTLM gerade nicht in dieser Verwurzelungim Regime, sondern ganz im Gegenteil darin, dass es sich völligvom bekannten Stil der Regierungsmedien unterschied und alsAlternative präsentierte. Das RTLM war ein interaktives Radio, dasvöllig mit der einseitigen Kommunikation der vergangene Jahrzehntebrach, die darin bestanden hatte, dass sich die Regierungin langen Pamphleten an die Bevölkerung wandte. Zudem spartedas RTLM nicht an Kritik am Präsidenten, der <strong>of</strong>fiziell ja die Versöhnungzwischen Hutu und Tutsi voran trieb. Kantano Habimanaund die anderen Moderatoren und DJs des RTLM machtensich über die Formate von Radio Rwanda lustig, sie spielteninternationale Hits, und mit ihren Sportreportagen verpflichtetensie sich die Fussballfans, aus denen grosse Teile der Interahamwerekrutiert wurden. Den wenigsten Hörern war der machtpolitischeHintergrund der Projekts RTLM bewusst, denn es wurde ja geradeals Bruch mit allen bisherigen Konventionen, mit der bisherigenSprache der Macht verstanden. Ausländische Beobachter warenbegeistert: „Seht her“, sagten sie, „endlich entwickelt sich die Medienlandschaftauch in Ruanda.“Der Ton des RTLM radikalisierte sich langsam, aber stetig. Daes einen Unterschied zwischen dem gab, was auf Französisch,und dem, was auf Kinyarwanda gesagt wurde, hatten die NGOsund die ausländischen Botschaften keine Ahnung, wovon die„Sie wurden behandelt wie Stars“: Kantano HabimanaModeratoren redeten. Kinyarwanda ist eine aussergewöhnlichmetaphernreiche Sprache, das wenigste bedeutet das, was eswörtlich heisst. Die westlichen Sprachen sind grundsätzlich sehrexplizit, aber Kinyarwanda funktioniert völlig anders. Es ist semantischgesehen eine viel weiter entwickelte Sprache als Französischoder Englisch, und die späteren Prozesse gegen die Gründer undModeratoren des RTLM – oder gegen den extremistischen SängerSimon Bikindi, dessen Songs das RTLM fast pausenlos spielteund der übrigens der einzige Musiker ist, der sich jemals vor eineminternationalen Gerichtsh<strong>of</strong> verantworten musste – glichenlinguistischen Konferenzen. Erst als die Moderatoren anfingen,die Namen missliebiger Personen ganz <strong>of</strong>fen zu nennen und dieTutsi insgesamt als Komplizen des FPR zu bezeichnen, kam eszu ersten Warnungen, die aber nicht weiterverfolgt wurden. DieModeratoren betonten immer wieder die Unterschiede zwischenHutu und Tutsi, interpretierten die Attacke des FPR als Versuch,das Tutsi-Königtum zu restaurieren und beschworen das Bild einesethnischen Endkampfs, in dem die Hutu entweder siegen oderuntergehen müssten. Als Colette Braeckmann in Le Soir im Januar1994 einen Artikel veröffentlichte, in dem sie auf die Todeslistenhinwies, auf denen bekannte Tutsi und oppositionelle Hutu standen,interessierte das niemanden, nicht einmal die Betr<strong>of</strong>fenen.Viele hätten fliehen können, doch niemand konnte glauben, dassdas, was im RTLM gesagt wurde, tatsächlich ernst gemeint war.Einige der Moderatoren des RTLM kamen von Radio Rwanda,andere aus der gedruckten Presse. Aber als sich am 6. April,nach dem Abschuss der Präsidentenmaschine der Stil des RTLMBilder: Archiv ICTRschlagartig radikalisierte, traten die Moderatoren, die als letztezum RTLM gekommen waren, in den Vordergrund. Sie wurdenbehandelt wie Stars, das Militär schützte sie, sie hatten Leibwächterund wohnten im Hôtel des Diplomates. Es waren zum grösstenTeil absolute Novizen ohne jede journalistische Erfahrung, die ausschließlichwegen ihres Extremismus ausgewählt worden waren.Nehmen wir Valérie Bemeriki: Sie kam als letzte zum RTLM, undihre Kommentare wurden schnell berühmt für ihre ausserordentlicheGewalttätigkeit. Oder Georges Ruggiu, dieser Italo-Belgier, dersich in seinem plötzlichen Ruhm sonnte. Ein absolut durchschnittlicherMensch, der in Europa als mittlerer Angestellter gelebt unddem man gesagt hatte: „Komm, schau Dir Ruanda an, das wirdDir gefallen.“ Man bereitete ihm am Flughafen von Kigali einenrauschenden Empfang, und schon fand er sich in der extremistischstenRadiostation Afrikas wieder. Doch vergessen wir nichtKantano Habimana. Er war schon vor dem 6. April ein Rassist,ein landesweit bekannter, äusserst populärer Talkmaster gewesen,der sich gern in traditioneller Kleidung an Fußballmatches zeigte.Aber nachdem seine Familie im Bürgerkrieg massakriert wordenwar, verlor er jede Contenance und wurde zu einem der finsterstenSadisten des Genozids. Für Kantano war der Übergang zur Gewaltin jeglicher Hinsicht logisch und legitim, und in ihm spiegelt sichin gewisser Hinsicht der Wahnsinn der damaligen ruandischenGesellschaft wieder: entweder wir oder sie...„Teil eines Systems der Gewalt“: Fahrzeug des RTLMEs scheint mir eine eher fiktive Übung, über den Einfluss desRTLM zu diskutieren, so wie es während der „Hate Media“-Prozessegetan wurde. Das RTLM war Teil eines Systems der Gewalt,zu dem das zivile Verwaltungssystem genauso gehörte wie dasMilitär, die ländlichen, aus Bauern gebildeten Milizen genausowie die Interahamwe in den Städten. Während des Genozids hattedie ruandische Bevölkerung keine andere Informationsquelle alsRadio Ruanda und das RTLM. Es gab noch kein Mobiltelefonnetz,kein Internet, die internationalen Radios sendeten ausschließlichin Französisch oder Englisch. 1994 funktionierten sogar die Festnetzevielerorts nicht mehr. Das RTLM dagegen verfügte übereine sehr starke Sendeanlage, und fast jeder Haushalt hatte einenEmpfänger. Überall, auf den Straßensperren, in den Bars, in denHütten der Bauern hörte man die Stimmen von Bemeriki, Kantanound Ruggiu. Noch zu dem Zeitpunkt, als Kigali völlig von der FPReingeschlossen war, verkündeten sie den Endsieg. Die Hörer warendeshalb völlig überrascht, als die Soldaten plötzlich vor der Türstanden, als es hieß: „Wir müssen in den Kongo fliehen.“ Denndas RTLM nannte sich nicht nur selbst gern „Radio Vérité“ – eswar es einige Monate auch.Marie-Soleil Frère, Fachberaterin des IIPM, ist Medien- und Politikwissenschaftlerinan der Universität Brüssel.


Bild: Markus Netter24 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück25


26 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück27Bild: Frank SchröderMILO RAUHATE RADIOTheaterstückFIGURENErmittler/ExilierterGeorges RuggiuValérie BemerikiJournalistinÜberlebenderÜberlebendeAus dem Französischen vonMascha Euchner Martinezund Eva-Maria Bertschy„Niemand wird je verstehen,warum man ihn auslöschen will.“Sequenz 1Wir müssen uns mit Liebe begegnenErmittler, Ruggiu, BermerikiErmittler: Herr Ruggiu, können Sie uns erklären, warumSie beschlossen haben, auf schuldig zu plädieren?Ruggiu: Mir ist bewusst geworden, dass während derEreignisse von 1994 in Ruanda Menschen ums Lebenkamen und dass es eine direkte Verbindung zwischenihrem Tod und dem gibt, was ich im Radio desMille Collines gesagt habe.Ermittler: Ich verstehe nicht, warum Sie mehr alszwei Jahre gebraucht haben, um sich dessen bewusstzu werden.Ruggiu: Ich versuche, Ihnen jetzt die Wahrheit zu sagen.Ermittler: Also haben Sie am 24. und 25. Juli 1997gegenüber den Ermittlern gelogen. Und Sie habenauch in Ihrem Buch Dans la tourmente Rwandaise gelogen,das Sie 1995 im Exil in Kenia geschriebenhaben.Ruggiu: Wenn ich manchmal nicht die Wahrheit gesagthabe, dann nur, um jene Leute des RTLM zuschützen, von denen ich annahm, dass sie noch leben.Ermittler: Herr Ruggiu, reden wir Klartext: HabenSie gegenüber den Ermittlern gelogen, ‚Ja’ oder‚Nein’?Ruggiu: Ja, ich habe gelogen.Ermittler: Und warum sollen wir Ihnen glauben, dassSie heute die Wahrheit sagen?*Bemeriki: 1994 war ich Journalistin beim RTLM. Icharbeitete im Studio und auch auf der Straße, zu jenerZeit gab es schließlich noch kein Internet. DasStudio war ganz einfach eingerichtet: Es gab dreiMikr<strong>of</strong>one und drei Stühle, an der Wand hing dasBild des Präsidenten und eine große Uhr. Hinter dergroßen Scheibe war der Techniker, der für Musiksorgte. Ja, ich glaube, das ist alles.Ermittler: Frau Bemeriki, Sie sagen, dass ein Bild desPräsidenten Habyarimana an der Wand hing? Warum?Bemeriki: Egal, wohin Sie in Afrika gehen, es hängtimmer ein Bild des Präsidenten an der Wand.Aber natürlich, wir unterstützten den Präsidenten.Schließlich berief er sich auf die Errungenschaftender sozialen Revolution von 1959.Ermittler: War das RTLM also ein extremistischesRadio?Bemeriki: Lassen Sie mich das erklären. 1959 bedeutetedas Ende der Tutsi-Monarchie und den Anfangder Demokratie. Und wenn man den König verjagt,dann möchte man auch gleichzeitig all seine Anhängervertreiben, oder nicht? Seine Anhänger waren dieTutsi. Und weil der FPR seit seinem Angriff im Jahr1990 versuchte, die Rückkehr der Tutsi-Flüchtlingezu erzwingen, mussten wir gegen sie kämpfen. DieTutsis durften auf keinen Fall zurück an die Macht.*Ermittler: Sind ihre Eltern aus Italien?Ruggiu: Mein Vater ist Italiener.Ermittler: Ist Ihr Vater aus Italien ausgewandert, umArbeit zu suchen?Ruggiu: Ich denke, ja.Ermittler: Welchen Beruf hatte er?Ruggiu: Er arbeitete in den Minen in Belgien.Ermittler: Hat dieser Umstand in Ihnen vielleicht denWunsch nach sozialer Revanche geweckt?Ruggiu: Es liegt mir fern, für irgendetwas Revanchezu fordern. Ich denke, dass ich zurzeit genügend andereProbleme habe.Ermittler: Lassen Sie mich die Frage anders formulieren:Kann man behaupten, dass Sie nach Afrika auswanderten,um Ihrer Situation in Belgien und dendamit verbundenen Problemen zu entkommen?Ruggiu: Tatsächlich war meine Situation in Belgienschlechter als in Ruanda.Ermittler: Lassen Sie uns über Ihr Zusammentreffenmit Monsieur Habyarimana, dem Präsidenten derRepublik Ruanda sprechen. Wo haben Sie den Präsidentender Republik Ruanda kennengelernt?Ruggiu: Ich habe den Präsidenten der Republik in derNähe meiner zeitweiligen Unterkunft auf der Strassevon Kanombe nach Kigali getr<strong>of</strong>fen. Ich grüssteihn, nur um zu grüßen, und der Wagen des Präsidentenhielt neben mir an.Ermittler: Können sie sich an den genauen Zeitpunkterinnern?Ruggiu: Das war Ende 1993 während meiner letztenReise nach Ruanda.Ermittler: Worüber sprachen Sie mit Herrn Habyarimana,als Sie bei ihm in seinem Auto saßen?Ruggiu: Der Präsident der Republik hat mir vorgeschlagen,eine Stelle beim RTLM anzutreten.Ermittler: Was haben Sie geantwortet?Ruggiu: Da das Rote Kreuz meine Bewerbung abgelehnthatte, habe ich ‚Ja‘ gesagt.*


28 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück29Bemeriki: Ich schätzte Ruggiu sehr. Er fing kurz vormir an, fürs RTLM zu arbeiten – ohne die Prüfungenabzulegen. Das war im Dezember 1993. Erlernte den Präsidenten und seine Familie bei seinerAnkunft in Ruanda kennen. Und als der Friedensvertragvon Arusha unterzeichnet wurde, unterstützteRuggiu den Präsidenten und die aktuelle Regierung.Ruggiu war sehr intelligent, ich bewunderte ihn sehr.Er hat immer alles getan, um die Wahrheit ans Lichtzu bringen.Ermittler: Die Wahrheit?Bemeriki: Ja, die Wahrheit. In seinen Sendungen erklärteer uns immer klar und deutlich, was in Wahrheitgeschehen war. Als der FPR angriff, gab es sehrviele Tote. Die Familie von Kantano Habimana, einemanderen Journalisten des RTLM, wurde massakriert.Und wie Sie vermutlich wissen, wurde unserStudio mehrmals bombardiert. Wenn ich heute vorIhnen stehe und mit Ihnen spreche, dann nur DankGottes Gnade.Ermittler: Sind Sie gläubig?Bemeriki: Ja, ich bin katholisch erzogen worden.Aber vor allem glaube ich, dass unser Land Friedenbraucht. Wir müssen uns mit Liebe begegnen. Nurdie Liebe kann uns zusammenführen. Wenn Sie jemandentöten, wenden Sie sich gegen Gott. Dennjeder Mensch ist ein Teil Gottes. Wenn Sie das nochauf Erden verstehen, wird Ihnen Gott nach IhremTod verzeihen.Sequenz 2Jeder nimmt seinen Platz einJournalistin, ExilierterJournalistin: Im Herbst 1993 wurde das Abkommenvon Arusha unterzeichnet. Der Friedensprozesswurde eingeleitet, ein Waffenstillstand zwischendem FPR und der Ruandischen Armee beschlossen.Ich bin also nicht nach Ruanda gefahren, um überden Genozid zu schreiben, sondern über den Frieden.Ich war außerdem vom WWF beauftragt worden,über die Gorillas zu berichten, da der FPR denNorden Ruandas besetzte, wo sich der Nationalparkbefindet.Ich traf am 2. April 1994 in Kigali ein, vier Tagevor Beginn des Genozids. Gleich bei meiner Ankunfthörte ich eine Sendung des RTLM. Man konnte denSender nur in Ruanda über Kurzwelle empfangen.Viele hatten mir davon erzählt, aber als ich es dannendlich hörte... Das war unglaublich für mich. MeineMutter ist Ruanderin, und Sie müssen wissen, dassein Radiosender in Ruanda die Stimme der Autoritätist. Auf RTLM hingegen spielten sie die neuestekongolesische Musik, und auch heute noch kommtalles, was angesagt ist, aus Kinshasa. RTLM spieltealso die beste Musik und hatte die besten DJs. Soetwas hatte es in Ruanda vorher nicht gegeben, eswar eine Art interaktives Radio: Die Leute konntenanrufen, die Moderatoren waren live auf Sendungund antworteten ihnen ohne Vorbereitung. Alle hörtenihnen mit <strong>of</strong>fenem Mund zu, und was sie hörten,war unfassbar.*Exilierter: Natürlich spürten wir, dass sich etwas zusammenbraute.Das Friedensabkommen von Arushaverlangte, dass die Regierungsämter zwischen Hutuund Tutsi aufgeteilt und die Armee der Rebellen mitder Regierungsarmee zusammengeführt würden.Für die Leute an der Macht, für die Partei des Präsidenten,war das ein Desaster. Also begannen sie, dieRassenfrage in den Vordergrund zu rücken, und dieMeinungen wurden immer radikaler.Dennoch, niemand konnte das voraussehen. DieTäter waren so alt wie ich. Ich kannte sie, ich trankBier mit ihnen. Es waren dieselben Leute, mit denenich bereits zur Grundschule und ins Gymnasiumgegangen war und mit denen ich an der Universitätstudierte. Manche waren sehr gute Freunde von mir.Einer von ihnen, Edouard hieß er, hatte eine Bar namens‚UNO’. Edouard ist zu einem der schlimmstenMörder des Genozids geworden.In meiner Theatergruppe an der Universität habenwir damals sogar extreme Hutu-Ideologen eingeladen.Es war so eine Art Performance: Wir ließen sieauf der Bühne einen Vortrag halten und diskutiertenanschließend mit ihnen. Natürlich, was sie sagten,machte uns Angst, natürlich. Aber letztlich war esdoch nur Politik, es waren Worte. Es war nicht real.*Journalistin: Beim RTLM war alles Tempo, alles warRhythmus: Pah-pah-pah-pah. Sie brachten uns zumLachen, sie benutzten Schimpfwörter wie ‚Nutte’oder ‚Scheiße’. Sie müssen wissen, dass die Ruandersehr prüde sind. Ruanda ist ein katholisches Land,und deshalb schockierten sie die Leute umso mehr.Es war, als würde man in die Kirche gehen und Flüchehören. Wie wenn der Pfarrer plötzlich anfangenwürde, Beleidigungen von sich zu geben. Bemeriki,Kantano und dieser Italiener, Ruggiu: Sie brachtenselbst die Leute zum Lachen, die sie in den Todschickten.Als ich ankam, war ich sehr überrascht. Die Friedensverträgewaren geschlossen, die UNO und dieUNAMIR waren vor Ort, die belgischen Blauhelmewaren stationiert. Wie konnten sie solche Dinge tolerieren?Es war ja völlig <strong>of</strong>fensichtlich: Die Moderatorensagten, der FPR wolle Ruanda zurück erobern,die Tutsi würden das Feudalsystem wieder einfüh-ren. ‚Ah, diese arroganten Tutsi, man müsste sie...!’Und dann eine bedeutsame Stille. Im Lauf der Monatewurden sie immer deutlicher: ‚Wir müssen sieauslöschen! Wir müssen Schluss mit ihnen machen.’Sie produzierten aber auch sehr ernsthafte Sendungenüber die Geschichte Ruandas. Und sie spieltentraditionelle Lieder. Nicht nach dem Modelldieser kleinen Liebeslieder: „Du liebst mich, ich liebDich.“ Nein, es waren tiefgründige Lieder über dieGeschichte Ruandas. „Erinnert euch an jenen Hutu-Anführer, der von einem Tutsi-König kastriert wurde!“Sie erzählten von Helden, die ich aus meinerJugend kannte, aber das seltsame war, dass sie ausihnen Hutu machten, während sie der Legende nachgar keiner Ethnie angehörten. Das war atemberaubend.Es war verrückt. Man spürte, dass sich etwas– wie soll ich sagen? – dass sich etwas Ungeheureszusammenbraute.*Exilierter: Als der Genozid in Kigali begann, warich in Butare, im Süden Ruandas, in der Nähe vonBurundi. In dieser Region begann das Abschlachtenerst später, so um den 19. April. Die Leute in Butarekannten Massaker gegen die Tutsi seit der Unabhängigkeit.Deshalb hätte zu diesem Zeitpunkt niemandsagen können, ob es sich hier um einen Genozidhandelte oder nur um ein weiteres Massaker.Ich und ein Freund haben uns schließlich entschieden,das Land zu verlassen. Ich erinnere mich,dass ich auf der Flucht im Radio eine Ansprachevon Karamira, Froduald Karamira hörte, einem derHutu-Ideologen. Er war völlig außer sich, er lachteund sagte: „Ja, es hat in Kigali ein paar Tote gegeben.Na und?“ Während zur gleichen Zeit in Kigali fastmeine gesamte Familie umgekommen war.Wissen Sie, ich wurde nie richtig bedroht, ich habekeine Straßensperren und keine Leichen gesehen.Nein, ich habe nichts gesehen, und ich habe deshabimmer abgelehnt, wenn es darum ging, als Zeugeauszusagen. Als ich in Butare war, hat mich meineFamilie dreimal aus Kigali angerufen. Beim drittenAnruf sagte mir mein kleiner Bruder, dass die Interahamwe– die Jugendorganisation der Präsidentenpartei– durch die Strassen zog und jeden, dessensie habhaft wurde, tötete. Ich verstand nicht, was dasbedeuten sollte: ‚Jeden töten’. Es klingt seltsam, aberdas alles war völlig irreal für mich. Die Rede vonKaramira auf RTLM war für mich die erste konkreteErfahrung. Dieser Zynismus, diese Freude in seinerStimme, während er <strong>of</strong>fen den Tod dieser Menschenforderte, das erzeugte in mir das erste Gefühl: Eswar Hass.Sequenz 3Die geschlossene TürÜberlebender, Bemeriki, Ruggiu, ÜberlebendeÜberlebender: Man hörte die Explosion der Maschinedes Präsidenten in der ganzen Stadt. Dann war allesstill. Ich war noch zu klein um zu verstehen, was daszu bedeuten hatte. Aber mein Vater sagte zu mir:„Etwas Grässliches ist passiert.“*Bemeriki: Das Gebäude des RTLM befand sich direktgegenüber dem Präsidentenbüro. Ich schaute ausdem Fenster des Studios, aber ich bemerkte nichtsUngewöhnliches. Also rief ich bei der Präsidentengardean, und der Mann am anderen Ende der Leitungsagte mir: „Warten Sie, Madame, warten Sie!“Er legte den Hörer auf den Tisch, und ich hörte ihnvon weitem rufen: „Das kann nicht sein! Das Flugzeugdes Präsidenten!“ Dabei pfiff er laut durch seineZähne – wie jemand, der sehr erstaunt ist. Als erzurückkam, teilte er mir mit, dass man das Flugzeugdes Präsidenten abgeschossen hatte und der Präsidentund seine Leute alle tot waren.Eine Stunde später sendeten wir im Radio folgendeMitteilung: „Ruanderinnen und Ruander! Wieihr alle wisst, hat sich unser Präsident für eine sehrwichtige Versammlung nach Dar es Salaam begebenund sollte heute Abend zurückkehren. Bevorsein Flugzeug jedoch am Flughafen von Kanombelanden konnte, wurde es von seinen Feinden abgeschossen.“Das war alles. Danach spielten wir ein Stück vonBruckner.*Überlebender: In der Nacht vom 6. auf den 7. Aprilfingen die Interahamwe an, Barrikaden zu errichten.Zuerst suchten sie bekannte Leute im Viertel, Ärzte,Politiker und Intellektuelle. Aber schon nach ein paarTagen töteten sie alle, die nicht beweisen konnten,dass sie Hutu waren. Die Interahamwe machten sichein Vergnügen daraus, ihre Opfer möglichst langsamund qualvoll sterben zu lassen. Sie vergewaltigten dieFrauen vor ihren Ehemännern und töteten die Kindervor den Augen ihrer Mütter.Die Frauen töteten gewöhnlich nicht, aber sie denunziertendie zukünftigen Opfer, man sagte dazu:Mit dem Finger auf sie zeigen. Das RTLM forderteseine Zuhörer auf, anzurufen und zu melden, wosich diejenigen versteckt hielten, die sie als ‚Inyenzi’bezeichneten, als ‚Kakerlaken‘. Wenn im Radio einName fiel, machten die Interahamwe sich s<strong>of</strong>ort aufden Weg und töteten den Betreffenden.


30 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück31Wir hatten uns in unserem Haus verbarrikadiert,als wir am Morgen des 10. April Bemeriki imRTLM sagen hörten: „Im Gitega-Viertel, im rotenHaus nicht weit vom Kino, halten sich Kakerlakenversteckt. Kümmert Euch um sie!“ Wir waren verzweifelt,denn das rote Haus war das Haus unsererFamilie.*Ruggiu: In den Tagen nach dem Tod des Präsidentenänderte sich unser Programm. Wir arbeitetenTag und Nacht. Jeder Moderator hatte seine Eskorteund wir wohnten im Hotel ‚Les Diplomates’. An derWand des Studios brachten wir eine weiße Tafel an– wir nannten sie ‚die Liste der Ereignisse’. Daraufstanden die Namen der Toten und jener, die sichin Gefahr befanden. Die ersten auf der Liste warenmoderate Hutu – was bedeutete, dass die Kräfteder Demokratie nun gemeinsam gegen den Druckder RPF kämpften. Zu diesem Zeitpunkt fingen wiran, Sendungen auszustrahlen, die... es waren radikaleSendungen. Ja. Ich erklärte den Zuhörern desRTLM, dass wir uns jetzt im totalen Krieg befänden.Wir sagten es ganz <strong>of</strong>fen: Wenn die RPF in Kigali andie Macht kommt, werden die Nachfahren der Tutsi,die 1959 vertrieben worden sind, über uns regieren.Sie werden die Hutu vernichten und die Überlebendenversklaven.*Überlebender: Nach der Denunziation befahl unsunser Vater, die K<strong>of</strong>fer zu packen. Wir flüchtetenin eine Schule, weil wir wussten, dass sie von denBlauhelmen bewacht wurde. Dort verbrachten wirdie Nacht dicht nebeneinander liegend. Wir hattennichts zu essen und zu trinken. Viele Kinder starbenin jener Nacht.Am nächsten Morgen mussten wir zusehen, wiedie Soldaten der UNO abzogen. Als die Blauhelmeihr Material zusammengepackt hatten und aufbrechenwollten, legte sich eine Gruppe Kinder vor ihreFahrzeuge. Die Soldaten schossen in die Luft, undals sie davon fuhren, kam ihr die Interahamwe bereitsentgegen. Sie wussten genau, dass diejenigen,die sie zurück ließen, zum Tod verurteilt waren.Es gab sehr tapfere Männer unter den Flüchtlingen.Sie sagten: „Wir werden nicht sterben ohne zukämpfen!“, und leisteten Widerstand. Aber da sie nurmit Steinen bewaffnet waren, konnten sie den Milizennicht lange Stand halten. Gegen Mittag drangendie Interahamwe in die Schule ein und begannen, dieLeute zu zerhacken. Diejenigen, die abgeschlachtetwurden, starben ohne ein Wort zu sagen. Wir hörtennur das Stimmengewirr der Angreifer, wir saßen wiegelähmt inmitten ihrer Schreie. Wir waren bereitstot, bevor man uns niederschlug.Ein Mädchen aus der Nachbarschaft fragte einenHutu, ob er sie töten könne, ohne dass sie leidenmüsse. Er sagte ‚Ja’ und zog sie an ihren Armennach draußen. Aber einer unserer Nachbarn, er hießJuvénal, schrie ihm zu, dass sie schwanger sei, undschlitzte ihr mit der Machete den Bauch auf. Er ließsich Zeit und öffnete ihn schön sorgfältig, so wieman eine Tasche öffnet. Ein anderes Mädchen – siewar sehr hübsch – ging auf einen Interahamwe zuund sagte zu ihm: „Warum nimmst du mich nichtzur Frau, anstatt mich zu töten?“ Die Interahamwezogen sie in eine Ecke und schnitten ihr die Brüsteab. Als sie zurückkamen, streckten sie die beidenBrüste in die Luft und fragten: „Sucht hier vielleichtnoch eine andere Schlange einen Ehemann?“Ich versuchte, mich zwischen den Leichen zu verstecken,als ein Junge mich mit seiner Keule traf. Ichfiel auf die zerhackten Körper und stellte mich tot.Später spürte ich, wie sie mich irgendwo hinwarfenund wie andere Leichen auf mich fielen. Als ich denChef der Interahamwe zum Abmarsch pfeifen hörte,war ich völlig von ihnen zugedeckt.In der Nacht stand ich auf und versuchte, über dieLeichen nach draussen zu kommen. Das menschlicheFleisch war überall, die einzelnen Glieder lagenzerschmettert da, als wären sie von einer Maschinezerstoßen worden. Es war schwierig, dem Massengrabzu entkommen, man musste aufrecht gehen.Ich war voller Blut, mein ganzes Gesicht war blutverschmiert,sogar auf meiner Zunge schmeckte ichBlut. Ich war unsichtbar in der Nacht.Ich habe meine Familie nie wieder gesehen. Ichmachte mich auf den Weg, bevor die Mörder zurückkamen,um von meinen Angehörigen zu nehmen,was übrig geblieben war. Das Geld, das wir fürdie Flucht mitgenommen hatten, ließ ich zurück. Sohabe ich überlebt.*Überlebende: Ich komme aus einem Dorf in der Nähevon Butare, das ist eine Provinz im Süden. Wir wareneine große Familie, vier Jungen und sechs Mädchen.Jetzt sind wir zu viert, zwei Brüder, eine Schwesterund ich. Ich erinnere mich nicht allzu gut, denn ichwar noch sehr klein während des Genozids, abermeine große Schwester hat mir viel erzählt.Ich erinnere mich, dass wir mit meiner Mutter aufdie Felder gingen, um die Ernte einzuholen. Da riefuns jemand zu: „Wir müssen fliehen! Es hat angefangen.“Ich wusste nicht, wovon er sprach. Abermeine Mutter sagte zu mir: „Hab keine Angst! Wirkommen bald wieder.“Noch bevor wir am Ende der Strasse ankamen,fielen die Granaten. Eine meiner Schwestern wurdes<strong>of</strong>ort getötet, eine andere wurde verletzt. Wir saheneinen Graben und versteckten uns darin, ich, meineMutter und meine drei Schwestern.Einige Minuten später kam ein Mann vorbei. Eswar unser Nachbar. Er sah meine Mutter und sagtezu ihr: „Ich werde deine Kinder töten.“ MeineMutter antwortete ihm: „Mach, was Du willst! Es istDein Recht. Mach, was Dir gefällt! Aber töte michzuerst!“Der Mann sagte: „Das lohnt sich nicht. Du wirstohnehin vor Kummer sterben.“Und er schnitt die Beine meiner zwei kleinenSchwestern ab. Ja, ihre Beine waren tatsächlich abgeschnitten!Meine Mutter flehte unseren Nachbarnnoch einmal an, sie zu töten, als hinter ihm plötzlichein Mädchen auftauchte und sagte: „Warte! Du wirstihre Kleider beschmutzen.“Ich sehe sie heute noch vor mir. Sie trägt Shorts,und um ihre Hüften sind die Kleider ihrer Opfer gewickelt.Sie sagt zu meiner Mutter: „Zieh dich aus!“Und als Mama ihr nicht schnell genug gehorcht,wirft das Mädchen sie auf den Rücken und reißt ihralle Kleider vom Leib. Sie entkleidet sie bis zur Unterwäsche.So sehe ich sie vor mir, so erinnere ichmich an sie: völlig nackt.In diesem Moment kommt ein anderer Mann vorbei.Er trägt eine Lanze bei sich und stösst sie mitaller Kraft in den Rücken meiner Mutter. Und danngingen sie.Meine Mutter war noch nicht ganz tot. Ich erinneremich nicht, wovon sie sprach, aber ich kann mirvorstellen, dass sie uns sagte, wir sollten uns um dieKleinen kümmern. Meine Schwestern, die stark bluteten,hatten angefangen zu weinen: „Mama, Mama,wir haben Durst.“ Aber da wir auch noch klein waren,konnten wir nichts machen. Ja, so war das.Später kam unser Nachbar zurück. Er sah uns undsagte: „Kommt mit mir, ich werde mich um euchkümmern.“ Er brachte uns zu einem Ort, wo Toilettenwaren und befahl uns, in eine hinein zu steigen.Aber da waren bereits zu viele Leute drin. Da fingunser Nachbar an zu lachen und sagte: „Oh nein! Sieist besetzt.“ Also brachte er uns zu einem Graben, inden sie die Leichen warfen und stieß uns da hinein.Es war auch eine Art Toilette, eine Latrine, das stiegeinem in den Mund, in die Ohren, überall... Er warfuns ein paar Steine nach und schob eine dicke Betonplatteüber das Loch. Meine Schwester versuchte,wieder hinaus zu klettern, aber es war sehr gut verschlossen.Drinnen herrschte die totale Finsternis.Ich weiß nicht, wie lange wir dort eingeschlossenwaren. Aber als der FPR kam und uns sagte, dass dieMassaker vorbei waren und dass wir überlebt hatten,konnten wir es nicht glauben. Die Soldaten hobendie Betonplatte fort, aber meine große Schwestersagte ihnen, wir würden nicht rauskommen, wir würdendrinbleiben. Also kamen sie mit einem Jungenwieder, einem Bekannten von uns, einem Tutsi, deranfing zu schreien: „Das ist die Wahrheit! Kommtheraus, ihr werdet nicht getötet!“ Also stiegen wiraus dem Loch. Wir sahen uns an, es war Mittag, undwir sahen uns an, zum ersten Mal seit sehr langerZeit.Ich weiß nicht, warum wir überlebt haben. Ichkann es nicht begreifen. Ich spreche nicht viel darüberund schon gar nicht in der Öffentlichkeit, weilich mich nicht richtig erinnern kann. Nur wenn ichmeine große Schwester treffe, dann sprechen wirviel über unsere Mutter. Sie erzählt mir, wie sie war.Und so erinnern wir uns an alles.Neulich, bei einer Party, gingen wir zusammen aufdie Toilette. Da sagte meine Schwester zu mir: „Jetztsind wir tot!“ Ich lachte und sagte: „Nein, nein.“ Dazeigte sie auf die Tür und sagte: „Aber schau, siehaben sogar die Türe geschlossen!“ Denn ‚die Türeschließen’ bedeutet, dass man tot ist.Sequenz 4Ich bitte um VergebungErmittler, Ruggiu, Bemeriki.Ruggiu: Während des Genozids war das RTLM einOrakel. Bei jeder Straßensperre, die wir passierten,hielten uns die Männer ihre Radios entgegen, umzu zeigen, dass sie uns zuhörten. Hinter den Straßensperrenentdeckte ich ganze Haufen von Menschen…haufenweise lagen sie da. Sie waren nochnicht mal tot, sie lagen im Sterben. Man hatte siein Stücke geschnitten und übereinander gestapelt.Ich ging zu einem der Interahamwe und sagte ihm:„Wissen Sie, in Belgien versucht man sogar Tierendas Sterben leichter zu machen. Sogar Pferde werdenerschossen, wenn sie leiden.“Ermittler: Warum sind sie nicht geflüchtet?Ruggiu: Wohin hätte ich denn flüchten sollen? Washätte ich denn tun sollen? Ich bin geblieben, weilich keinen besseren Ausweg sah. Aber flüchten?Der FPR hätte mich umgebracht. Und wenn michnicht der FPR umgebracht hätte, dann hätten michdie belgischen Soldaten abgeurteilt, ohne jede Rücksicht.Ermittler: Was taten sie also nach dieser Episode ander Straßensperre?Ruggiu: Ich ging zurück ins Studio.*Bemeriki: Man behauptet, ich hätte mich in meinenSendungen über die Opfer lustig gemacht. Aber ichhabe ja nur in ganz bestimmten Situationen gelacht.Es gibt schließlich Momente, in denen man lachendarf, oder?


32 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück33Ermittler: In einer Sendung vom 14. Mai 1994 sprechenSie über eine Region, in der am Vortag Massakerstattfanden. Sie sagen: „Man kann die Leutenicht mehr finden. Wo sind sie denn hin?“ Und dannlachen sie.Bemeriki: „Man kann die Leute nicht mehr finden“?Ermittler: „Man kann die Leute nicht mehr finden.“Und dann lachen sie.Bemeriki: Nur dieser eine Satz?Ermittler: Ja.Bemeriki: Ich möchte Ihnen etwas erklären: Ein Satzgenügt, um jemanden anzuklagen. Nun können sieaber einen kurzen Abschnitt aus einer Seite herausnehmenund damit ein völlig falsches Bild vermitteln.Sie können hier etwas nehmen und da etwas nehmenund dann die beiden Ausschnitte kombinieren.Im Journalismus wird so etwas <strong>of</strong>t gemacht! ÜbleNachrede ist im Journalismus weit verbreitet! Ichhabe gelacht? Na gut! Aber warum habe ich gelacht?Ich werde Ihnen sagen, warum ich gelacht habe:Weil hier zwei Sendungen zusammen geschnittenwurden. Und deswegen sage ich Ihnen: Damit wiruns besser verstehen, müssen wir <strong>of</strong>fen und ehrlichmiteinander umgehen! Wenn ich mich einverstandenerklärt habe, die ganze Wahrheit zu erzählen – dannsoll man keine Dummheiten erfinden!*Ruggiu: Am 4. Juli 1994 wurde das RTLM aus Kigalievakuiert. Also verließ ich Ruanda und ging zusammenmit all den Menschen, die vor dem FPR flohen,in den Kongo. Ein Jahr später, 1995, reiste ich weiternach Kenia, wo ich mich unter dem Namen TrevorMcCusker niederließ.Ermittler: Wie sorgten sie damals für Ihren Unterhalt?Ruggiu: Ich schrieb ein Buch mit dem Titel Dans latourmente Rwandaise. So konnte ich mich über Wasserhalten.Ermittler: Sprechen wir über Ihr Buch. Ich zitiere ausdem dritten Abschnitt, Seite 20: „’Radio Vérité’ warauch ‚Radio Courage’, und ‚Radio Résistance’. Überallhaben wir versucht, die Bevölkerung gegen unserengemeinsamen Feind, die FPR, zu mobilisieren.“Haben Sie das geschrieben?Ruggiu: Ja.Ermittler: Kommen wir zur Seite 110. Im letztenAbschnitt schreiben Sie dort – ich zitiere: „Ich binstolz, dass ich einer der wenigen war, der die Ruandernicht alleine ihrem düsteren Schicksal überließ.Ich bin mir bewusst, dass man mir vorwirft, dass ichda geblieben bin, als alle Europäer und Amerikanerabzogen. Aber ich war der Ansicht, dass trotz derschwierigen Bedingungen die Arbeit beendet werdenmusste.“ Herr Ruggiu, können Sie bestätigen,diese Worte geschrieben zu haben?Ruggiu: Ja.Ermittler: Entspricht es den Tatsachen, wenn SieRTLM in diesem Buch als ‚Radio Vérité’ und ‚RadioCourage’ bezeichnen?Ruggiu: Es spiegelt meine damalige Überzeugungwieder, ja. Ich habe es geschrieben, um mich zuschützen. Aber jetzt weiß ich, dass es eine Lügewar.*Bemeriki: Als mich die ruandischen Soldaten imKongo gefangen nahmen, flehte ich sie an, mich zuerschießen. Ich versuchte, sie zu zwingen, mich zutöten. Schließlich verweigerte ich eine Woche langdie Nahrung. Ich war überezugt, dass sie mir nun einenFinger nach dem anderen abschneiden würden.Und dann die Hand, dann den Arm. Und dass siemir schliesslich die Augen ausstechen würden – oderwas weiß ich.Ermittler: Aber nichts dergleichen ist passiert?Bemeriki: Nein. Aber ich habe viele Dinge verloren,viele Dokumente... Sie sehen ja selber, ich bin eineGefangene und ich weiß nicht, ob ich irgendwannhier rauskommen werde. Ich kann nur noch zu Gottbeten.Ermittler: Also akzeptieren Sie ihr Urteil?Bemeriki: Wenn ich Verantwortung dafür trage, waspassiert ist, bitte ich um Vergebung. Wenn Menschenwegen meiner Sendungen umgebracht wurden,dann akzeptiere ich das. Ich weiß selber, was ichgetan habe, aber ich kann nichts zugeben, was sichso nicht abgespielt hat. Ich habe niemanden getötet,ich war Journalistin. Für mich zählte nur, dass meineStimme gehört wurde. Das ist alles. Man sollte endlichaufhören, nach Vorwänden zu suchen und zusagen: „Valérie hat die Ruander nicht um Vergebunggebeten!“ Ich habe mit den Patres gesprochen, ichhabe meine Beichte abgelegt. Ich habe um Vergebunggebeten. Also soll man mir vergeben.Sequenz 5Ich verstehe nichtJournalist, Exilierter, Überlebende, Überlebender.Journalistin: Ich wurde erst ziemlich spät evakuiert,am 12. April, zusammen mit den letzten Journalisten.Am 13. April war ich bereits in Paris. Aus derletzten Woche, die ich in Kigali verbrachte, erinnereich mich vor allem an eines: An einen kleinen Jungen,der beim RTLM anrief und fragte: „Ich binacht Jahre alt. Bin ich groß genug, um eine Kakerlakezu töten?“Und der Moderator – ich glaube es war Kantano– antwortete ihm:„Ach wie niedlich! Jeder kann das, weißt Du!“Und ich erinnere mich noch an eine weitere Sache,es war in einer Abendsendung, kurz bevor sie Le dernierSlow spielten. Bemeriki war am Mikro, sie sagte:„Diese Leute mussten getötet werden, und Ihthabt sie getötet. Aber man hätte den Vater nichterschießen sollen, man hätte ihn in kleine Stückeschneiden müssen.“Das ist es, was ich nicht verstehe. Nehmen wir an,die Leute sind überzeugt, dass es richtig ist, Menschenzu töten – oder sie werden dazu gezwungen–, dann könnte man doch vermuten, sie würden dasmöglichst effizient erledigen. ‚Auslöschen’ bedeutetdoch, dass man so viele Menschen wie möglich inmöglichst kurzer Zeit eliminiert.Nehmen wir... nehmen wir zum Beispiel die Vergewaltigungen.Wenn man in Betracht zieht, wienachdrücklich die sexuellen Fantasmen gegenüberder Tutsi-Frau propagiert wurden, so kann mannachvollziehen, dass sehr viele von ihnen vergewaltigtwurden: die Tutsi-Frau, die mit den Weißenschläft, all diese Dinge... Aber wie soll man verstehen,dass man sich nach einer Vergewaltigung dieZeit nimmt, Glasscherben zu zerdrücken, um sie indie Scheide der Frau einzuführen? Wie kommt mandazu, eine Frau mit einer Eisenstange aufzuspießen,wie es damals fast schon üblich war? Wie kann manzwei- oder dreijährige Kinder vergewaltigen, bis siesterben?*Exilierter: Wie bereits erwähnt, habe ich den Genozidaus der Ferne miterlebt, über das Fernsehen undüber Telefonanrufe. Man teilte mir mit, welche Leuteman umgebracht hatte, wer nicht mehr unter unswar. So hat sich alles aufgelöst, weit weg. Auf einefast nicht mehr physische Weise.1998 ging ich dann endlich zurück nach Ruanda.Es war April, ich kann mich an das genaue Datumnicht mehr erinnern, aber ich könnte es leichtnachprüfen, weil in jenen Tagen Froduald Karamirahingerichtet werden sollte. Damals nahmen dieMenschen in Ruanda ihr Leben wieder auf, aberdie Angst saß immer noch tief. Viele Interahamwehielten sich immer noch in den Flüchtlingslagern imKongo auf, und die alte ruandische Armee griff immernoch von Zeit zu Zeit an.Aber für die Hinrichtung von Karamira wollteich unbedingt in Ruanda sein. Es erschien mir völligselbstverständlich, dass man mit diesen Leuten, diezum Mord aufgerufen hatten, nicht anders verfahrenkonnte, als sie zu töten. Menschen, die so etwashatten tun können, verdienten es nicht, weiter zu leben.Ja, es wäre mir unanständig vorgekommen, sieam Leben zu lassen.Ich erinnere mich, dass ich an jenem Tag etwas zuspät dran war. In Nyamirambo, wo sich das Fussballstadionvon Kigali befindet, hatte sich eine gewaltigeMenge versammelt. Bereits hinter der erstenMoschee war alles voller Autos, schlimmer als beieinem Fußballspiel. Irgendwie schaffte ich es aber,mir einen Weg bis zur ersten Reihe zu bahnen. Ichwollte unbedingt alles sehen.Aber als ich die Verurteilten da stehen sah – siewaren zu sechst – fühlte ich mich plötzlich unwohl.Man hatte sie an Pfähle gebunden. Ja, ich hatte fastMitleid mit ihnen, obwohl das das letzte Gefühl war,das ich für sie empfinden wollte. Maskierte Polizistentauchten auf. Karamira und die anderen trugeneinen Anzug mit einer Zielscheibe, hier, über demHerzen. Ich fand das alles sehr hässlich. Und schonfielen die Schüsse – es gab einen gewaltigen Knall– das alles ging sehr schnell. Ein Polizist ging voneinem zum andern, um ihnen den Fangschuss zugeben. Ein Verrückter begann vor Freude zu schreien.Mich aber ekelte das alles an, es bedeutete mirnichts, nicht mal irgendeine Art von Rache. Da habeich verstanden, dass dies alles nicht wieder gut zumachen war.*Überlebende: Ich gehe sehr selten in meine Gemeindezurück – einmal im Jahr, zur Gedenkfeier. Natürlichwurden wir für die Gacacas gerufen, um als Zeugenauszusagen. Zwei Jahre nach dem Genozid begegnetemeine Schwester dem Mann, der uns in die Toilettengeworfen hatte. Ganz entspannt kam er mitseinem Bündel aus dem Kongo zurück. Als er meineSchwester sah, bot er ihr eine Fanta an und sagte:„Lass uns keine Dummheiten machen. Vergessenwir diese ganze Geschichte.“Bei den Gacaca-Gerichten sagte er:„Aber sie leben noch. Sie sollen herkommen undaussagen, dass ich sie nicht getötet habe.“Er war ein Junge aus unserem Dorf, der Sohn desPfarrers. Heute ist er tot. Er ist im Gefängnis krankgeworden.*Überlebender: Es macht mich verrückt, nach einerAntwort auf die Frage zu suchen, warum man unsin Stücke schneiden wollte. Nie werde ich die Beweggründeunserer Hutu-Nachbarn begreifen. Niewerde ich verstehen, warum wir ausgelöscht werdensollten.Nein, ich glaube nicht an das Ende der Genozide.Ich glaube nicht, dass wir zum letzten Mal dieseschlimmste aller Grausamkeiten erlebt haben. Wennes einen Genozid gegeben hat, dann wird es nochviele geben.


34 HATE RADIO. TheaterstückHATE RADIO. Theaterstück35„Mir ist bewusst geworden, dass während der Ereignisse von 1994 in RuandaMenschen ums Leben kamen und dass es eine direkte Verbindung zwischenihrem Tod und dem gibt, was ich im Radio des Mille Collines gesagthabe.“Foto: Marcel BächtigerBilder: Marcel Bächtiger„Wir hatten uns in unserem Haus verbarrikadiert, als wir am Morgen des 10.April Bemeriki im RTLM sagen hörten: „Im Gitega-Viertel, im roten Haus nichtweit vom Kino, halten sich Kakerlaken versteckt. Kümmert Euch um sie!“ Wirwaren verzweifelt, denn das rote Haus war das Haus unserer Familie.“


36 HATE RADIO. Die verwöhnten Kinder der Dritten WeltHATE RADIO. Die verwöhnten Kinder der Dritten Welt37„Diese festliche Mischung aus zynischem Gelächter, treibender Musik, Bier und Denunziationen“:Organisationsstruktur des RTLM, aufgezeichnet von Georges RuggiuDORCY RUGAMBADIE VERWÖHNTEN KINDER DER DRITTEN WELT1989 begann ich mein Studium an der Nationaluniversität vonRuanda. Damals gab es ausschließlich die Einheitspartei, undPräsident Habyarimana hatte die totale Macht im Land. Ich erinneremich, wie ich zum ersten Mal am grossen Wasserbecken desCampus entlang schlenderte und durch das Tor zum Zentralgebäudeging, über dem die Maxime der Universität eingraviert war:Illuminatio et Salus Populi. Ich fühlte mich wie ein junger Gladiator,der zum ersten Mal die Arena betritt. Während alle übrigenMenschen in Ruanda stets in Angst vor den Machthabern lebten,sagten und taten die Studenten, wozu sie Lust hatten. Die universitäreGesellschaft bildete einen kleinen Staat im Staat mit seineneigenen Regeln und Verhaltensweisen. Die Studenten gingen aufdie Straße und lehnten sich auf, ja, sie errichteten manchmal sogarBarrikaden, bis die Mächtigen sich fügten. Ich erinnere mich, wieich mit vierzehn den Sturz von Ntagerura miterlebte, einem sehreinflussreichen Bildungsminister. Ein großer Aufmarsch von Studentenzog feierlich mit einen Sarg durch die Straßen der Stadt,um den Minister symbolisch zu Grabe zu tragen. Genauso in Erin-Bild: Archiv ICTRnerung geblieben sind mir die alljährlichen Tauffeiern, eine Folgevon Gewalt- und Erniedrigungsszenen. Die Kleider der Erstsemesterwurden zerfetzt, sie wurden geschlagen, rasiert und durch dieStraßen Butares geschleppt, bis man sie schließlich in die Sümpfevon Rwasave warf. Diese Tauffeiern wurden schließlich von denAutoritäten verboten, nachdem mehrere Studenten dabei ums Lebengekommen waren.Die Studenten der Nationaluniversität nannten sich selber salauds,und jede Generation hatte einen besonderen Zweitnamen.Wir nannten uns chanvriers. Auf dem Campus gab es zwei verschiedeneGruppen von salauds. Die einen nannte man connards,die anderen dogs. Sie unterschieden sich im Wesentlichen überihren Zugang zu den Mädchen. Es gab nur etwa zehn ProzentMädchen an der Universität, und während der ersten zwei Monatedes Studiums waren also alle männlichen Studenten damitbeschäftigt, sich eines davon zu angeln. Alle, die es zu einer festenBeziehung brachten, nannte man fortan dogs, die anderen bliebendie connards. Auch innerhalb der connards gab es verschiedeneAbstufungen. Der echte connard wusch sich nur sehr selten,achtete weder auf seine Kleidung noch auf seinen Stil. Normalerweisetrug er einen Parka, der bis zu den Knieen reichte undeinen Strohhut. Er trank viel, beleidigte bei jeder Gelegenheit diePr<strong>of</strong>essoren, respektierte nichts und niemanden und verhielt sichzynisch und brutal.Die Gesellschaft der connards war sehr gut organisiert. Es gabAnführer und Unteranführer, sogenannte barons. Die connardshatten ein Überwachungsorgan, das sich Das wachsame Augenannte. Regelmäßig publizierte Das wachsame Auge eine Wandzeitung.Sie wurde nachts an die Wände der Universität geklebtund konnte am nächsten Morgen solange gelesen werden, bisalle Blätter wieder entfernt waren. Die Zeitung war in einem verschlüsseltenKinyarwanda verfasst, mit einigen lateinischen Stellen,und konnte deshalb nur von Eingeweihten gelesen werden.Auf den losen Blättern wurden insbesondere Bettgeschichten breitgeschlagen. Die connards verbrachten viel Zeit damit, den Mädchenhinterher zu jagen und sie zu bestechen, um zu erfahren,wer mit wem schlief. Wenn sie eine dabei erwischten, setzte eineAbordnung der connards ihr eine Krone auf und hob sie damit inder Hierarchie der inyaga – der Nutten – auf die nächste Stufe.Die salauds erlaubten sich alles. Ich erinnere mich an einenFall, der damals für viel Aufsehen sorgte. Die Studenten der medizinischenFakultät traktierten einen Nachtwächter mit einemglühenden Bügeleisen, weil er ein Fahrrad gestohlen hatte. DieBehörden und die Einwohner Butares waren empört, und dieFolterer wurden zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt. AusProtest gegen dieses Urteil ging ein ganzer Pulk von Studenten aufdie Straße, denn die salauds fühlten sich unantastbar. Als ich nochauf der Grundschule war, tauchten sie gelegentlich anlässlich derVolleyball-Spiele wie ein Schwarm Heuschrecken im Internat aufund verwüsteten alles: das Mobiliar, die Fensterscheiben, alles.Diese absolute Freiheit, die ihnen zugestanden wurde, faszinierteuns. Als der Rektor des Kleinen Seminars, an dem ich studierte,ihnen eines Tages dabei zusah, wie sie seine Schule zerstörten,kommentierte er dies mit der lakonischen Bemerkung „Das ist alsodie intellektuelle Elite unseres Landes... die verwöhnten Kinder derDritten Welt.“Der Krieg brach in Ruanda am 1. Oktober 1990 aus. Die Regierungverhängte umgehend den Ausnahmezustand. Die Kursean der Universität fielen aus und wurden während eines ganzenJahres nicht wieder aufgenommen. In der Zwischenzeit verändertesich das politische Klima drastisch. Wie in vielen afrikanischenLändern war gegen Ende der achtziger Jahre unter dem Druck derinternationalen Gemeinschaft ein Mehrparteiensystem eingeführtworden. Der öffentliche Raum in Ruanda, in dem die Meinungenimmer strikt monopolisiert gewesen waren, wandelte sich mitdem Aufkommen mächtiger Oppositionsparteien. Insbesonderedie MDR gewann immer mehr Anhänger und weckten damit denGroll vieler Hutu aus dem Süden und aus den zentralen Provinzen.Schließlich schlossen sich die MDR, die PSD und die PL zu einerKoalition gegen die Partei des Präsidenten, die MRND, zusammen.Alle drei Parteien waren gegen den Krieg und drängten dieRegierung dazu, Verhandlungen mit der FPR aufzunehmen.Ich erinnere mich an einen Besuch des Präsidenten an der Universitätirgendwann zwischen 1991 und 1992. Es sollte ihm einEhrendoktortitel verliehen werden. Als Habyarimana in seinem Talarin den H<strong>of</strong> trat, um die Studenten zu begrüßen, brach plötzlichein Handgemenge aus. Die Studenten, die der MRND angehörten,hatten um den Präsidenten einen Kordon gebildet, wurden von derwütenden Menge überwältigt, und der Präsident wurde in unsereNähe gedrängt. Wir waren außer uns, wir beschimpften ihn, undeinige versuchten sogar, auf ihn zu spucken. Diese Szene warvöllig surreal: Wir standen dicht vor dem Mann, dessen Namenwir noch zwei Jahre zuvor kaum gewagt hatten auszusprechen,und wir verfluchten ihn lauthals.In diesem Rausch der Redefreiheit gelang es den Extremistender Hutu Power-Bewegung, die Feindschaft zwischen Hutu undTutsi ins Zentrum der politischen Auseinandersetzungen zu rücken.Auch wer diese Lesart der gesellschaftlichen Lage nicht billigte,kam nun nicht mehr darum herum, darüber zu sprechen. Und sowurde schließlich die CDR gegründet. In den Reden des MRNDwurde zur ethnischen Frage nie eindeutig Position bezogen,höchstens mit einem Augenzwinkern, die CDR hingegen brachteeinen unverblümt rassistischen Diskurs ins Spiel. Die geradeerst erlangten Freiheiten flogen uns förmlich um die Ohren, undzwei <strong>of</strong>fen assistische Medien gewannen gewaltigen Einfluss: dieZeitung Kangura und das RTLM. Die Anhänger des CDR an derUniversität fingen an, lauthals in die immer radikaler werdendenReden einzustimmen. Dem Kostüm der connards wurde ein neuesAccessoire hinzugefügt: alle Sorten von Waffen. Viele Studententrugen nun dicke Eisenstangen bei sich, manchmal auch Messer.Die Fenster im Campus waren gegen Diebstahl vergittert, undnicht selten schlug jemand mit einer Eisenstange oder einer Machetegegen die Gitter und rief uns dabei Morddrohungen zu. Äußerungenwie „wir werden alle Tutsi ausrotten“ wurden so normal,dass wir ihnen kaum mehr Beachtung schenkten. Wir hatten unsallmählich an diese karnevaleske Stimmung gewöhnt, in der diefreie Meinungsäußerung keine Grenzen mehr hatte. Die Studenten,die <strong>of</strong>fen bedroht wurden, verließen den Campus und suchtenbei ihren Familien oder bei Freunden Zuflucht. Ich erinnere michan den Tag, als bekannt wurde, dass der Chef der Interahamwe,Georges Ntaganda, sich auf dem Campus eingemietet hatte. EinAngriff der Milizen stand also kurz bevor, und tags darauf warein Grossteil der Studenten verschwunden. Während einiger Zeit


38 HATE RADIO. Die verwöhnten Kinder der Dritten Welt39schliefen sie im Krankenhaus, in den Hügeln oder irgendwo in derStadt. Einige begannen, ein Leben im Untergrund zu führen. Wirwussten nicht mehr, wo sie sich aufhielten. Sie kamen nur nochtags auf den Campus und verschwanden bei Einbruch der Nachtwieder in den umliegenden Hügeln. Dies ging so lange, bis wir esallmählich als ein Spiel betrachteten. Wir spielten Katz und Maus,und das Versteckspiel der Mäuse bereitete den Katzen besondersviel Vergnügen.Was mich anging, so wusste ich nicht genau, ob ich flüchtenoder mich gemeinsam mit den Katzen über all das amüsieren sollte.Schließlich machte ich beides: Ich lachte über die connards, diebereits zum Großteil von den Hutu Power-Parteien rekrutiert wordenwaren, und gleichzeitig fürchtete ich sie. In dieser Situationgründete ich im Frühjahr 1992 eine Tanzgruppe. Für die erste Probeder Gruppe auf dem Vorplatz des Auditoriums hatten sich überhundert Studenten versammelt. Es war der 8. Februar 1992, undam selben Tag war der FPR bei einem Angriff bis ins Umland vonKigali vorgerückt. Ich wollte gerade mit den Proben beginnen, alseine Gruppe connards einen bekannten protestantischen Gospelanstimmte: Ari hafi umwami agiye kuza, was wörtlich ungefährheißt: „Nah ist die Rückkehr des Königs“. Der Gospel spricht vonJesus Christus, der zum jüngsten Gericht auf die Erde zurückkehrt.Als die connards ihn jedoch sangen, meinten sie ganz <strong>of</strong>fensichtlichdie Rückkehr des Tutsi-Königs nach Ruanda und griffen damiteines der Lieblingsthemen der Hutu Power-Bewegung auf:Ihr zufolge kämpfte der FPR nicht für mehr Demokratie, sondernfür die Rückkehr der Tutsi-Monarchie und die Wiedererlangungder Privilegien der Tutsi-Aristokratie. Was als einfache Tanzprobebegonnen hatte, endete in einem Alptraum. Angst breitete sichunter den Tänzern aus, und am nächsten Tag kamen nur nochzehn Leute zur Probe. Alles, sogar eine harmlose Tanzgruppe, warunwiderruflich zu einer ethnischen Angelegenheit geworden.So erlebte ich die Jahre vor dem Genozid als Teil einer Jugend,die zwar das Privileg hatte, an der Universität zu studieren, aberüber keinerlei politisches Bewusstsein verfügte. Niemand ahnte,dass all dies in einem Genozid enden würde. Ein großer Teil derVALERIE BEMERIKI Ich habe soebenerfahren, dass vier Tutsi-Rebellender Kontrolle der Milizen entgangensind. Diese Nachricht lässt uns einHausangestellter von Sinshoboye Bernardzukommen, er ist immer noch am Telefon.Hallo, junger Freund. Wie alt bist Du?ANRUFER Ich bin 11 Jahre alt.VALERIE BEMERIKI 11 Jahre... Und willstconnards, die später zu Anführern der Milizen wurden, verstandennicht, in wessen Dienst sie da genommen wurden. Wir wareneine Generation ohne Zukunft, eine undefinierbare Muskelmasse,die sich unmerklich zu einer höllischen Maschinerie aufstellte. Wirwaren bereit, alles und jeden zu vernichten, wenn auch nur zumSpaß.Der Genozid begann in Butare erst sehr spät. Es waren Osterferien,viele Studenten waren auf dem Campus geblieben,um ihre Prüfungen vorzubereiten oder ihre Abschlussarbeiten zuschreiben. Viele der Verfolgten konnten sich noch eine Weile unterihren Mitstudenten verstecken. Als aber schließlich die Milizenin Butare einzogen, erhielten alle connards, die mehrere Jahrelang geübt hatten, Mörder zu spielen, eine richtige Waffe. Mitderselben Gewissenhaftigkeit und demselben Zynismus, mit demsie sich vorher um Bettgeschichten gekümmert hatten, begannensie, ihre Mitstudenten zu verfolgen.Ich konnte Ruanda am 12. April 1994 verlassen, eine Wochevor Beginn des Genozids in Butare. Als ich einige Jahre später dieSendungen von RTLM wieder hörte, diese festliche Mischung auszynischem Gelächter, treibender Musik, Bier und Denunziationen,erkannte ich darin die Geisteshaltung der salauds wieder: eineLeere, mit Mord gefüllt. Der Moderator Habimana Kantano, denich in HATE RADIO spiele, seine Leichtigkeit und Enspanntheit, mitder er den Genozid betreibt, erscheint mir bezeichnend für diesemeine Generation der „verwöhnten Kinder der Dritten Welt“: demNihilismus verfallen und fasziniert von einer Gegenkultur, die innichts anderem bestand als in der Vernichtung aller Kultur.Dorcy Rugamba, geboren 1970 in Kigali, verkörpert in HATE RA-DIO den Moderator Kantano Habimana.Du den Zuhörern vielleicht sagen, wie Duheißt?ANRUFER Ich heiße Nzizorera Honeste.VALERIE BEMERIKI Honeste... hast Du inDeinem Quartier Rebellen gesehen?ANRUFER Ja, sie waren zu viert, allein verwaschenen Jeans. Sie fragtenmich: „Zeig uns doch mal, wo sie heuteBild: Archiv ICTRNachmittag die Leute umgebracht haben.“Und sie zwangen mich, ihnen einenSchleichweg zu zeigen, damit sie an denStraßensperren vorbeikommen.VALERIE BEMERIKI Wo sind sie hin?ANRUFER Zwei von ihnen gingen in RichtungKimisagara – da wo sich die Gebäude derAPACE-Schule befinden –, die zwei anderennach Nyakabanda.KANTANO HABIMANA Sie sind tatsächlichüberall. In jedem Loch, in den Sümpfen,in den Kloaken, überall hat es noch vondiesem Unrat. Sie trinken mittlerweilewie streunende Hunde Wasser aus denLatrinen. Was für eine Ironie, dasssolche Leute unser Land regieren, unsereOffiziere werden, unsere Fahrzeugebenutzen und in unseren Häusern schlafenwollen.VALERIE BEMERIKI Zuhörer, wie Ihr soebengehört habt, können die Rebellen auchgeheime Wege benutzen. Die Nachbarnvon diesem Jungen, der bei SinshoboyeBernard lebt, sollen sich bei ihmerkundigen, wo er sich von ihnengetrennt hat. Jagt sie!KANTANO HABIMANA Ihr vier, weil Ihr heutezum allerletzten Mal RTLM hört, will ichEuch Folgendes sagen: Ruanda gibt esnur einmal auf der Welt. Ruanda befindetsich hier, in Zentralafrika, wo Gott eshingestellt hat. Und so müsst Ihr auchverstehen, dass wir Ruander uns von einpaar Ugandern nicht aus unserem Landvertreiben lassen. Und auch wenn Ihrdie Stadt Kigali einnehmt, wird es Euchnichts bringen. Ihr stürzt Euch damit nurin den Tod, denn Kigali ist eine Falle.Und wenn Ihr Euch in der APACE-Schuleverstecken wollt, erwarten Euch da dieRuander bereits mit ihren Macheten undKnüppeln, um euch leiden zu lassen, bevorIhr sterbt. Denn es ist nicht angenehm,einem Löwen den Kopf ins Maul zu legen.Ihr in der APACE-Schule, ihr werdet alleverrecken und niemand von euch wird esüberleben, um darüber zu berichten.VALERIE BEMERIKI Honeste, sag mal, was istDeine Lieblingsmusik?ANRUFER Ich mag den Zouk.KANTANO HABIMANA Den Zouk! Du fängst jafrüh an, Honeste!VALERIE BEMERIKI Honeste, hast Du unsnoch etwas zu sagen?ANRUFER Ja, ich möchte meiner MutterHallo sagen, meinem Vater und meinenkleinen Schwestern. Sie wohnen inder Gemeinde Runda in der PräfekturGitarama. Sie sollen wissen, dass es mirsehr gut geht bei Sinshoboye Bernard unddass ich <strong>of</strong>t an sie denke. Ja, ich h<strong>of</strong>fe,dass der Krieg bald vorbei ist und wiruns alle gesund wiedersehen.VALERIE BEMERIKI Das war also ein jungerRuander. Courage, Honeste!DJ JOSEPH Liebe Zuhörer, ich möchte euchdaran erinnern, dass ihr wie jeden Abendnach 9:30 Uhr die Musik selber wählendürft. Also ruft uns an und nennt unsEure Lieblingslieder aus Ruanda, ausZaire, aus Frankreich, aus Amerika undsogar aus Uganda, denn das RTLM spieltMusik aus der ganzen Welt... Hier einZouk für Dich, Honeste!(Aus dem Reenactment)


40 HATE RADIO. Fragmente einer Sprache des HassesHATE RADIO. Fragmente einer Sprache des Hasses41ASSUMPTA MUGIRANEZAFRAGMENTE EINER SPRACHEDES HASSES→ INYENZI: KÜCHENSCHABE, KAKERLAKEDas Wort INYENZI wurde erstmals währendder ‚Ereignisse von 59’ verwendet,wie man heute den Aufstand bezeichnet,der die Abschaffung der Monarchie, dieGründung der Republik Ruanda (1959) unddie Unabhängigkeit (1962) begleitete. Eswar die Partei der Hutu-Bewegung MDR-Parmehutu (Mouvement DémocratiqueRépublicain – Partei für die Emanzipationdes Hutu), die die Revolution anführte,und so wurde bereits in den politischenDiskursen jener Zeit als „Tutsi“ bezeichnet,wer verfolgt, geschlagen und massakriertwerden sollte. Viele unter denjenigen, diediesen ersten ethnisch motivierten Massakernentkommen konnten, flüchteten indie Nachbarländer. Unterstützt durch diePartei der Monarchisten (UNR – UnionNationale Rwandaise), unternahmen dieExilierten verschiedene Versuche, mit Gewaltdas Land zurückzuerobern, die jedochalle scheiterten. Jeder dieser Angriffewurde begleitet von einer äußerst gewaltsamenRepression in den Grenzregionen.1964 wurden die Massaker an den Tutsiin der Provinz Gikongoro und im Bugeserabereits erstmals <strong>of</strong>fiziell als „Genozid“bezeichnet. Der Begriff INYENZI bezeichnetedamals in erster Linie die Exilierten, diefür ihre Rückkehr nach Ruanda kämpften.Oft wurde der Begriff auch verwendet, umMassaker an Unschuldigen zu legitimieren,die man beschuldigte, die anderen INYENZIzu unterstützen.In den 60er und 70er Jahren wuchsein Kind in Ruanda mit Geschichten überdie INYENZI auf, die ihm eine diffuse Angsteinflössten, welche nicht mehr allzu vielmit der Abscheu zu tun hatte, die es gegenüberkleinem Ungeziefer, den KAKER-LAKEN empfand. Im Geschichtsunterrichtlernte es viel darüber, wie die Tutsi denHutu erst das Land gestohlen hatten, umdann eine bösartige und ungerechte Feudalherrschaftzu etablieren. Es lernte, dasswährend der Revolution von 59 der Königund seine Schergen vertrieben, die Republikgegründet und so den Hutu ihre Rechtezurückgegeben worden waren, nachdemsie Jahrzehnte lang als Sklaven gelebt undunsägliche Erniedrigungen hatten übersich ergehen lassen. Es lernte, welchesUnheil die Angriffe der INYENZI über Ruandagebracht hätten, wären sie nicht von dermächtigen Armee und den Partisanen desParmehutu unter der Führung von PräsidentGrégoire Kayibanda niedergeschlagenworden.Nach dem Putsch Juvénal Habyarimanasgegen Kayibanda aber sprach mankaum mehr von der 59er Revolution unddem Kampf gegen die INYENZI. Die Machtging von den Hutu aus dem Süden (derHerkunftsregion des gestürzten Präsenten)über in die Hände der Hutu aus demNorden. Nun musste das neue Regimebesungen werden. Doch als am erstenOktober 1990 der FPR (Front PopulaireRwandais) Ruanda angriff, holte das durchdie Einführung des Mehrparteiensystemsbereits stark angeschlagene Regime diealten Geschichten wieder hervor und ließdie Angst vor den INYENZI aufleben. Immerwenn das Regime Massaker an einem Teilder Bevölkerung veranlasste, verpassteman ihnen die Etikette INYENZI. Der Generalstabschefder ruandischen Armee legtefest, wer zum Feind erklärt wurde: dieTutsi, die Ruanda von Burundi und Ugandaaus angriffen und diejenigen, die sie imLandesinneren unterstützten. Andere kümmertensich darum, seine Strategie derBevölkerung verständlich zu machen: AlleFeinde waren nun INYENZI.Zu Beginn war INYENZI noch eine fatalereBezeichnung als Inkontanyi („dieTapferen“, Selbstbezeichnung der FPR-Soldaten) oder Tutsi und trat häufiger inVerbindung mit einer Todesdrohung auf.Erst in der Hasspropaganda der ZeitungKangura und des RTLM, die sich in denletzten Monaten vor dem Genozid immermehr ausbreitete, wurden die BezeichnungenTutsi, Inkontanyi und INYENZI allmählichgleichbedeutend. Während den 100 Tagendes Genozids ab April 1994 meinte manschließlich exakt dasselbe, wenn man sagte,man hätte einen Tutsi, einen INYENZI odereinen Inkontanyi getötet – es gab nur nocheinen einzigen Feind.Die extremistische Zeitung Kangura zögertenicht Folgendes auszuführen: „EineKAKERLAKE kann keinen Schmetterling gebären,und genau so ist es. Eine KAKERLAKEgebiert immer nur eine weitere KAKERLAKE.Die Geschichte Ruandas zeigt uns, dassdie Tutsi immer dieselben geblieben sindund sich nie geändert haben. Wir kennenaus der Geschichte unseres Landes nurihre Bösartigkeiten und Gemeinheiten. Umdas zu verstehen, reicht es, wenn wir darandenken, dass wir sie immer Schlangennannten. Ein Tutsi verführt mit Worten,und seine Bösartigkeit hat keine Grenzen.Ein Tutsi ist jemand, dessen Rachegelüstenie erlöschen, bei dem Du nie genauweißt, was er denkt, der lacht, obschon erschrecklich leidet.“Das RTLM hingegen benutzte damalsin seinen Reden über die Massaker dieBezeichnung INYENZI in einer umkehrendenLogik. Es lastete den INYENZI die Verbrechenan, die von den Hutu begangen wordenwaren und sparte in den detaillierten Ausführungender verübten Grausamkeitennicht mit Übertreibungen. Es beschuldigtedie INYENZI, alle Seen und Flüsse bis zumNil und dem Mittelmeer mit den Leichender Hutu gefüllt zu haben und schloss eineRede mit dem Satz: „Sie verstehen h<strong>of</strong>fentlich,dass die Grausamkeiten der INYENZInicht mehr rückgängig zu machen sind undnur noch mit der totalen Vernichtung derINYENZI wieder gut gemacht werden können,mit ihrer totalen Vernichtung.“Bilder: Archiv ICTR→ GUKORA: ARBEITEN, UMBRINGEN,MASSAKRIERENDen Begriff GUKURA (wörtlich: ARBEITEN)kann man heute kaum mehr in seinerursprünglichen Bedeutung verstehen.Während des Genozids ging man nicht indie Sümpfe, um Menschen umzubringen,sondern um zu ARBEITEN: Man stand morgensauf, nahm seine ARBEITSUTENSILIEN zurHand und begab sich zu den Versammlungen,bei denen man die Instruktionenerhielt. Man ARBEITETE in Teams, man befolgteInterventionspläne, man machte sichgemeinsam und singend auf den Weg, umseine Nachbarn, die Tutsi zu töten. Bei derARBEIT begann man mit denjenigen, die ammeisten Widerstand leisteten, die Männerim kampftüchtigen Alter. Dann ging manzu den Frauen über, zu den Kindern undschließlich zu den Alten. Die ARBEIT bestandauch darin, dass man die Habe der Getötetenplünderte, ihre Häuser zerstörte,ohne dabei die Dachziegel zu vergessenoder das Blech, die Türen, die Fenster,die Backsteine. Was man nicht mitnehmenkonnte, zündete man an. Schließlich kehrteman zum QG zurück (dem Versammlungsort– meist kleine Geschäftszentren, woalkoholische Getränke vorhanden waren),machte seinen Rapport und wurde bezahlt.In seiner Rede vom 19. April 1994 andie südlichen Provinzen des Landes (Gikongoround Butare) rief der InterimspräsidentThéodore Sindikubwabo die Bevölkerungauf, aktiv an den Massakern teilzunehmen,denn im Süden hatten die Massaker bis zudiesem Zeitpunkt erst sehr vereinzelt begonnen.Der Präsident reiste also nach Butare,um sich an die Gemeinde zu wenden– nachdem man, wohlgemerkt, den Präfektender Stadt und seine Familie, die sichgegen die Massaker gewehrt hatten, ausdem Weg geräumt hatte. In seiner Redeermahnte er die ARBEITER, effizienter zu sein:„Diejenigen, die sich nicht betr<strong>of</strong>fen fühlen,die keine Verantwortung übernehmenwollen oder es vorziehen, den anderen beider ARBEIT zuzuschauen, sollen gehen!“ Erfügte hinzu, dass die willigen ARBEITER sichso schnell wie möglich derjenigen entledigensollten, die sie dabei behinderten„damit diejenigen, denen ihre ARBEIT amHerzen liegt, die Möglichkeit haben, damitanzufangen.“Diese Rede wurde am 21. April 94über die Kurzwellen von Radio RuandaKangura, Novemberausgabe 1990, Titelseite:- Tutsi, göttliche Rasse!- Welche Waffen können wir benutzen, um die Kakerlaken endgültig zu vernichten?- Und wenn es noch eine Hutu-Revolution geben würde, um die Tutsi-Kakerlaken zu besiegen?gesendet. Weder die zukünftigen Opfernoch die Täter hatten damals Mühe, diegesamte Bedeutung jener Botschaft zu verstehen,da die ARBEIT und das ARBEITEN alleübrigen alltäglichen Tätigkeiten verdrängthatte. Man ging nicht mehr ins Büro, aufsFeld oder an die Universität. Man standmorgens auf, um die Tutsi auszurotten.Es war die Zeit der Macheten, wie JeanHatzfeld sie nannte.Assumpta Mugiraneza, Fachberaterin desIIPM, ist Linguistin und Soziologin in Parisund Kigali. Die „Fragmente einer Sprachedes Hasses“, ein Wörterbuch der Sprachedes ruandischen Genozids, erscheinen invollständiger Form im Rahmen der PublikationHATE RADIO.Kamarampaka, Aprilausgabe 1993, S. 14:- Die Tutsi-Rebellen am Werk.


42 43GEORGES RUGGIU Liebe Zuhörer, es ist nun10:10 im Studio von RTLM und wir gehenvon den nationalen zu den internationalenNachrichten über.Man spricht von einem Gipfeltreffen inAngola, das alle Staatsoberhäupter derRegion an einen Tisch bringen soll. DasTreffen bringt die Staatsoberhäupterder Region der Grossen Seeen zusammen,<strong>of</strong>fensichtlich um die Probleme in Ruandazu diskutieren. Die Probleme in Ruandasind sehr ähnlich wie die in Angola, mitdem Unterschied, dass sie in Angola schonseit 19 Jahren andauern.Eine weitere Neuigkeit ist, dass YasserArafat gestern in Gaza, Palästina,ehrenvoll empfangen wurde. Er wirdin der Stadt Jericho den Zeremonienanlässlich der Vereidigung der Regierungvorsitzen. Yasser Arafat bittet daspalästinensische Volk, sich keine Sorgenum seine Zukunft zu machen, denn – soerklärte er: „Ich werde die Versucheder Weltbank, unsere Wirtschaft zukontrollieren, nicht akzeptieren.“ Wirhaben bereits darauf hingewiesen, dass„die internationale Hilfe nie rechtzeitigkommt.“ Yasser Arafat sagte zu denPalästinensern: „Vertraut auf eure eigeneKräfte und nicht denjenigen, die Euchreinlegen wollen.“Außerdem sind heute schlechteNachrichten aus North Carolina in denUSA eingegangen, wo ein Flugzeug desTyp DC9 abstürzte und 18 Menschen mitsich in den Tod riss. Wir haben Euchbereits vor ein paar Tagen von tragischenFlugzeugabstürzen berichtet, dieMenschen das Leben kosteten. Ja, solcheDinge geschehen auch in den USA.In Yemen, genau wie es in unseremLand vor einigen Monaten passierte,fällten die Vereinten Nationen einenEntscheid, der die Kriegsparteienzum Waffenstillstand auffordert. DerEntscheid ist aber nicht wirksam, denndie Gefechte im Land gehen weiter. DerVertreter des <strong>International</strong>en RotenKreuzes macht darauf aufmerksam,dass die zentrale Wasserstelle durchEinschüsse beschädigt worden unddie Stadt mit 450‘000 Einwohnernohne Trinkwasser geblieben ist. DieBevölkerung droht, an Durst zu sterben.Bedenken Sie, dass die Hitze in diesemLand mit den Temperaturen in unseremLand nicht vergleichbar ist. In Yemenkennt man Temperaturen bis zu 40° C,während wir hier nur 25° C haben.Kommen wir zu den Weltmeisterschaften inden USA. Im Spiel Schweiz gegen Spanienbesiegte gestern Spanien die Schweizmit 3:0 Toren. Die Schweiz ist damitausgeschieden, denn wie ich bereitserklärte, wird dieses Turnier nach einemdirekten Ausscheidungsverfahren gespielt.Am gleichen Spieltag schlug DeutschlandBelgien mit 3:1 Toren.KANTANO HABIMANA Lass mich kurzetwas anfügen, Georges... was dieseWeltmeisterschaften in den USA angeht.Ich möchte anfügen, dass einer derSpieler ermordet wurde. Es handelt sichdabei um einen bekannten kolumbianischenSpieler. Er wurde in der Stadt Medellinin den USA von Leuten umgebracht, dieihn beschuldigten, aus Versehen einTor einkassiert zu haben. Was für einseltsames Verhalten. Sie schossen ausnächster Nähe auf ihn, so dass er aufder Stelle tot umfiel.GEORGES RUGGIU Kommen wir zur Tour deFrance. Man kündigte bereits vor Beginndes Wettkampfs den Sieg des SpaniersMiguel Indurain an. Alle – sogar wir –dachten, er würde dabei harte Konkurrenzhaben von Tony Rominger. Aber all dasist nicht eingetr<strong>of</strong>fen. Gestern siegteder Engländer Chris Boardman auf einerStrecke von 7,2 Kilometern mit einerdurchschnittlichen Geschwindigkeit von56,152 Stundenkilometern und konntenach diesem Etappensieg das Gelbe Trikotüberziehen.KANTANO HABIMANA Wir sind also am Endedieser Sendung angelangt. Sie warenin Begleitung von Kantano Habimana,Georges Ruggiu und Valérie Bemeriki.Am Mischpult: Joseph Rutsikira. Aberbevor wir aufhören, möchte ich von einerDiskussion erzählen, die ich gesternmit einem Vater hatte. Er sagte zu mir:„Hör mal, Kantano, Du weißt doch, dasswir im Krieg sind und dass wir darübertraurig sind. Was also soll diese Musik,die ständig bei Euch läuft, diese Musikfür junge Leute, diese heisse Musik, beider man immer mittanzen möchte? Als ichnach Hause kam und diese Musik beim RTLMhörte, war ich schockiert!“Da antwortete ich ihm: „In derruandischen Kultur ist es <strong>of</strong>t der Fall,dass die Leute in Trauer sind. Aber auchwenn sie wie wir heute traurig sind undweinen, nimmt immer jemand die Harfe undspielt ihnen ein Lied. Denn man kann dochnicht verlangen, dass während einer Zeitwie dieser die Leute nicht lachen sollen.Nichtsdestotrotz ist RTLM in Trauer.“Wir wollen also nach vorne schauen.Lasst uns den Tag abschließen, wie wirjeden Tag abschließen, mit dieses Liedvon Joe Dassin, das unser Präsident sosehr liebte: Le dernier slow! UnsereStreitkräfte sollen es hören, sie sollentanzen, an der Front die Stellung haltenund diese Selbstmörder endlich aufhalten.Courage und bis morgen!(Auszug aus dem Reenactment)Bild: Lennart Laberenz


44 45Joe Dassin: Le Dernier SlowEt si ce soir, on dansait le dernier slow,Comme si l‘air du temps se trompait de tempo.Et si ce soir on dansait le dernier slow,Un peu de tendresse au milieu du disco.C‘était pourtant bien,De danser très doux,Et de se fondre au pointD‘oublier tout autour de nous.C‘était pourtant bonEt moi j‘étais pourFinir sur les violonsPour commencer l‘amour.Et si ce soir, on dansait le dernier slow,Un peu de tendresse au milieu du disco.Et si ce soir, on dansait le dernier slow,Un peu de tendresse au milieu du disco.On ne verra plus,Ces joue contre joue,Entre deux inconnus,Qui n‘avaient pas de rendez-vous.Mais on verra bien,C‘est gagné d‘avance,Les amoureux de demain,Vont nous inventer d‘autres danses.Et si ce soir, on dansait le dernier slow,Un peu de tendresse au milieu du disco.Et si ce soir, on dansait le dernier slow,Un peu de tendresse au milieu du disco...Bild: Frank Schröder


IIPMHATE RADIO„Man schaut einem DJ, drei Moderatoren undeinem Mann der Security bei der Arbeit zu.Dazwischen fläzen sie sich in die Sessel,ordnen ihre Unterlagen, trinken aus derWasserflasche, knabbern Nüsse, gähnen undstrecken sich. Aber genau darum sitzt man,wenn es vorbei ist, so befangen vor diesemStück. Es gibt hier vis-à-vis der über800 000 Toten keine grimmigen Schergen zusehen. Nur ziemlich normale Typen, die inflottem Parlando zum Massenmord aufrufen.Bei RTLM arbeiteten die bewunderten Hipstereiner ganzen Generation von jungen Ruandern.Sie wagten die derbsten Witze undtrugen die schnittigsten Anzüge. Sie bestelltenBier und Marihuana, live über denSender, und sie spielten die schärfstenkongolesischen Beats. Was man in „Hate Radio“sieht und hört, ist Demagogie im Gestusvon Punkrock. „Ihr werdet alle verrecken“,richtet Kantano Habimana den Tutsiaus, die ihm zuhören. Und man ertapptsich, wie man dazu mit dem Fuss wippt,im ansteckenden Rhythmus des Zouk. „HateRadio“ ist wie das geblitzte Foto einer Gesellschaft,die in den Abgrund stürzt.“Christoph Fellmann im „Tages-Anzeiger“Kantano Habimana / Ermittler / ExilierterValérie Bemeriki / ÜberlebendeGeorges RuggiuDJ Joseph / ÜberlebenderJournalistinStimmenBuch & RegieDramaturgie & Conceptual ManagementAusstattung & KostümeVideoTonDramaturgische Mitarbeit & ProduktionsleitungÖffentlichkeitsarbeitRegieassistenzBeratung TondesignWissenschaftliche MitarbeitLichtdesign Video BrüsselCorporate DesignWeb-DesignProjektdokumentationFachberatungCasting BrüsselCasting KigaliPR KigaliAufführungsrechteDorcy RugambaNancy NkusiSébastien FoucaultAfazali DewaeleEstelle MarionThomas Bading, Sven TjabenMilo RauJens DietrichAnton LukasMarcel BächtigerJens BaudischMilena KipfmüllerYven AugustinMascha Euchner MartinezPeter GöhlerEva-Maria BertschyAbdeltife MouhssinNina WoltersJonas WeissbrodtLennart Laberenz (Film), Daniel Seiffert (Fotografie)Assumpta Mugiraneza, Simone Schlindwein, Marie-Soleil FrèreSebastiâo TadzioDidacienne NibagwireFlora Kaitesischaefersphilippen Theater und Medien GbRHATE RADIO ist eine Koproduktion des IIPM Berlin/Zürich mit Migros-Kulturprozent Schweiz, Kunsthaus Bregenz,Hebbel am Ufer (HAU) Berlin, Schlachthaus Theater Bern, BeursschouwburgBrüssel, migros museum für gegenwartskunstZürich, Kaserne Basel, Südpol Luzern, Verbrecher Verlag Berlin,Kigali Genocide Memorial Centre und Ishyo Arts Centre Kigali.Mit der Unterstützung von Hauptstadtkulturfonds (HKF),Migros-Kulturprozent Schweiz, Pro Helvetia – Schweizer Kulturstiftung,Stiftung Kulturelles Basel-Land, Bildungs- und Kulturdepartementdes Kantons Luzern, Amt für Kultur St. Gallen,Ernst Göhner Stiftung, Stanley Thomas Johnson Stiftung, Amtfür Kultur des Kantons Bern, Alfred Toepfer Stiftung F. V. S., GGGBasel, Goethe-Institut Brüssel, Goethe-Institut Johannesburg,Brussels Airlines, Spacial Solutions, Commission Nationale deLutte contre le Génocide (CNLG), Deutscher Entwicklungsdienst(DED), Contact FM Kigali, IBUKA Rwanda (Dachorganisation derOpferverbände des Genozids in Ruanda), Hochschule der KünsteBern (HKB), Friede Springer Stiftung.

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