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1. Von der Schwierigkeit, mit kulturellen Differenzen ... - jugendfest.de

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‚Lebensbewältigung‘ ... schließlich auch dort operiert, wo sich das Individuumsozialstrukturellen Konstellationen ausgesetzt sieht, die psychosozialeIntegrationsprobleme - im Sinne <strong>de</strong>s Gelingens o<strong><strong>de</strong>r</strong> Scheiterns <strong><strong>de</strong>r</strong> biografischenBalance und <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialen Teilhabe - aufwerfen können“ (Böhnisch 1997: 24).Als Bewältigungsmuster von Migration sind (interkulturelle) Zwischenwelteneigenständige, multiple, ambivalente und verän<strong><strong>de</strong>r</strong>liche Wahrnehmungs- undHandlungsmuster, die MigrantInnen in einem wi<strong><strong>de</strong>r</strong>ständigen Wechselspielzwischen sich und ihrer Umwelt entwickeln. Sie sind Ausdruck <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewältigung<strong><strong>de</strong>r</strong> Zugehörigkeit eines Menschen zu min<strong>de</strong>stens zwei ethnisch-<strong>kulturellen</strong>Kontexten und seines Vermögens, sich in ein produktives Verhältnis zu <strong>de</strong>n sichdaraus ergeben<strong>de</strong>n – nicht ausschließlich divergieren<strong>de</strong>n - kollektiven sozialenAnfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen (z.B. zum Verhalten <strong><strong>de</strong>r</strong> Geschlechter und Generationen, in <strong><strong>de</strong>r</strong>Arbeitswelt u.a.) und ihren strukturellen Bedingungen zu setzen.Der hier vorgestellte Zwischenweltenansatz schließt an <strong>de</strong>n Ansatz <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>kulturellen</strong>Zwischenwelten“ von Andrea Hettlage-Varjas und Robert Hettlage an. Hettlage-Varjas/Hettlage (1984) verwen<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n von ihnen geprägten Begriff <strong><strong>de</strong>r</strong> „<strong>kulturellen</strong>Zwischenwelten“ für das Phänomen, dass MigrantInnen im Sinne von Simmels„Exkurs über <strong>de</strong>n Frem<strong>de</strong>n“ (1908/1995) zwar „heute kommen und morgen bleiben“,aber eine ungebrochenere Beziehung zu ihrem Herkunftsland und zu ihrerHerkunft haben, als das in früheren Migrationsforschungen angenommen wur<strong>de</strong>,und dass ihre Einglie<strong><strong>de</strong>r</strong>ung in die Aufnahmegesellschaft, ihreBeziehungsstrukturen und Deutungsmuster weitaus ambivalenter sind (auch imSinne Simmels – M.G.), als es in bis zum Erscheinen ihres Artikels 1984 existentenBegriffen und Theorien wi<strong><strong>de</strong>r</strong>gespiegelt bzw. akzeptiert wur<strong>de</strong>. <strong>Von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>ungebrochenen Assimilationsperspektive weg und hin zur Lebenswirklichkeit <strong><strong>de</strong>r</strong>MigrantInnen und ihrer subjektiven Repräsentation haben Hettlage-Varjas/Hettlage (insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e durch die Beschreibung von Pull- und Push-Effekten 2 sowohl in <strong><strong>de</strong>r</strong> Herkunfts- als auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufnahmegesellschaft) diepsychischen, sozialen und <strong>kulturellen</strong> Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüchlichkeiten, das (meistpsychische, aber auch physische) Pen<strong>de</strong>ln von MigrantInnen zwischen <strong>de</strong>n Weltenumrissen und die sich so konstruieren<strong>de</strong> Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n als „kulturelleZwischenwelt“ bezeichnet. „Zwischenwelt nennen wir jenen psychischen, sozialenund <strong>kulturellen</strong> Standort, <strong>de</strong>n ein Mensch bezieht, wenn er unter <strong>de</strong>m Ansprucheines einheitlichen Lebensentwurfs versucht, gegensätzliche Lebenswelten, von<strong>de</strong>nen er abhängig ist, zusammenzufügen“ (ebd., S. 378). Allerdings scheinen auch2 Unter Pull- und Push-Effekten sind die sozialen und psychischen Phänomene zu verstehen, dassMigrantInnen im Herkunftsland sowohl verbleiben wollen als auch zur Migration motiviert o<strong><strong>de</strong>r</strong>gezwungen wer<strong>de</strong>n, dass im Aufnahmeland sowohl <strong><strong>de</strong>r</strong> Assimilationsprozess erwartet undbeschritten wird als auch Fremdheit und kulturelle An<strong><strong>de</strong>r</strong>sartigkeit zugeschrieben und konstruiertwer<strong>de</strong>n und dass im Falle <strong><strong>de</strong>r</strong> Remigration ins Herkunftsland soziale und kulturelle Zugehörigkeitsowohl wie<strong><strong>de</strong>r</strong> hergestellt als auch verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t wird – MigrantInnen sind fremd in <strong><strong>de</strong>r</strong> Heimat undheimisch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Frem<strong>de</strong>.4


Hettlage-Varjas/Hettlage nicht frei von assimilativen Bewertungsgrundlagen zusein, wenn sie – ausgehend von therapeutischen Erfahrungen <strong>mit</strong> PatientInnen, dieals ArbeitsmigrantInnen o<strong><strong>de</strong>r</strong> Flüchtlinge bzw. als <strong><strong>de</strong>r</strong>en Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> zum Beispiel in<strong><strong>de</strong>r</strong> Schweiz leben, - „verengte“ bzw. „erweiterte“ Zwischenwelten alsÜbergangsmuster <strong><strong>de</strong>r</strong> MigrantInnen zur „Welt <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne“ <strong><strong>de</strong>r</strong>Aufnahmegesellschaft normativ verallgemeinern und wenn sie MigrantInnen <strong><strong>de</strong>r</strong>ersten Generation die Ausbildung kultureller Zwischenwelten alsHandlungskompetenzen eher absprechen (vgl. Hettlage-Varjas/Hettlage 1995).Zwischenwelten sind keine Übergangsmuster <strong>de</strong>s Han<strong>de</strong>lns von einer(traditionellen) zur an<strong><strong>de</strong>r</strong>en (mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen) Gesellschaft, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n dauerhafteHandlungsmodi, die sich in bestimmten sozialen Situationen und biografischenPhasen verän<strong><strong>de</strong>r</strong>n und differenzieren.Zunächst sollen wesentliche Kategorien, die interkulturelle Zwischenweltenbestimmen, erläutert wer<strong>de</strong>n:Eigenständig sind interkulturelle Zwischenwelten, weil es sich nicht umvorübergehen<strong>de</strong> Lebensformen von MigrantInnen han<strong>de</strong>lt, die da<strong>mit</strong> ihrenÜbergang von <strong><strong>de</strong>r</strong> Herkunftsgesellschaft zur Aufnahmegesellschaft im Sinne einerassimilativen Erwartungshaltung meistern. Interkulturelle Zwischenwelten sindAusdruck von Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ung und Mischung durch Migration und sie variieren nachindividuellen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen.Ambivalent sind interkulturelle Zwischenwelten nicht nur, weil Individualisierung<strong>de</strong>s (post)mo<strong><strong>de</strong>r</strong>nen Menschen zugleich auch Vergesellschaftung inunterschiedlichen sozialen Beziehungen und <strong>mit</strong> unterschiedlichem emotionalenGehalt und da<strong>mit</strong> in je spezifischer Weise immer Unein<strong>de</strong>utigkeit zwischen Freiheitund kollektiver Abhängigkeit/Bindung <strong>de</strong>s Individuums be<strong>de</strong>utet. Die mo<strong><strong>de</strong>r</strong>neAmbivalenz von MigrantInnen besteht zusätzlich darin, diese Situationgrenzüberschreitend in zwei Gesellschaften zu bewältigen und sich <strong>mit</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>Unein<strong>de</strong>utigkeit zwischen Frem<strong>de</strong>nangst aus eigener Verunsicherung <strong><strong>de</strong>r</strong>Einheimischen heraus und ihrer Assimilationsanfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ung konfrontiert zu sehen.So<strong>mit</strong> sind interkulturelle Zwischenwelten mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne Lebensformen <strong>mit</strong> zugespitzterAmbivalenz und <strong>de</strong>swegen auch <strong>mit</strong> erhöhten Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen an dieBewältigungskompetenzen und Selbstbehauptungsspielräume <strong><strong>de</strong>r</strong> MigrantInnen.Multipel sind interkulturelle Zwischenwelten, weil sie Zugehörigkeiten zuvielfältigen sozialen Kontexten von MigrantInnen ausdrücken, die aber subjektivgewichtet wer<strong>de</strong>n. Die ethnisch-<strong>kulturellen</strong> Zugehörigkeiten zurHerkunftsgesellschaft und zur Aufnahmegesellschaft sowie zu unterschiedlichenethnischen Gruppen können erfahrungsgemäß die Wahrnehmung <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenenPerson überlagern und beeinflussen dann auch die Bewältigung an<strong><strong>de</strong>r</strong>er kollektiverAnfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen (z. B. das Frau-Sein, die Art <strong><strong>de</strong>r</strong> Beschäftigung usw.). DieZugehörigkeit von MigrantInnen ist also multipel im Sinne von „Patchwork-5


I<strong>de</strong>ntität“ (Keupp 1992) o<strong><strong>de</strong>r</strong> ‚Rollenbün<strong>de</strong>l’, erhält aber durch eine min<strong>de</strong>stensdoppelte ethnische Bindung und ihre biografische Bewältigung einen beson<strong><strong>de</strong>r</strong>enCharakter.Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>ständig sind interkulturelle Zwischenwelten auf Grund <strong>de</strong>ssen, dass sie inAnerkennungskämpfen und Zugehörigkeitsbestrebungen in <strong><strong>de</strong>r</strong>Aufnahmegesellschaft entwickelt wer<strong>de</strong>n, aber auch Ausdruck <strong><strong>de</strong>r</strong> Bewältigung <strong><strong>de</strong>r</strong>Entfremdung von <strong><strong>de</strong>r</strong> Herkunftsgesellschaft sind. Die mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger offeneno<strong><strong>de</strong>r</strong> subtilen Machtkämpfe können <strong>mit</strong> unterschiedlich ausgeprägtenEthnisierungsten<strong>de</strong>nzen als <strong>kulturellen</strong> Konstruktionsprozessen und Rassismuseinhergehen 3 .Dynamisch sind interkulturelle Zwischenwelten, weil sie sich individuell verän<strong><strong>de</strong>r</strong>nund auch zwischen verschie<strong>de</strong>nen MigrantInnen unterschei<strong>de</strong>n. Deshalb soll auch<strong><strong>de</strong>r</strong> Plural „interkulturelle Zwischenwelten“ benutzt wer<strong>de</strong>n. Der Lebensentwurf<strong><strong>de</strong>r</strong> MigrantInnen „wird laufend ausgebaut, neu <strong>de</strong>finiert, verän<strong><strong>de</strong>r</strong>t, verfeinert undnimmt ständig eine neue Gestalt an. Seine Dynamik lebt davon, die (Kultur-)Spannungen auszugleichen und zu einem entspannt(er)en Selbst- und Weltbezugzu gelangen, ohne dabei jedoch ein En<strong>de</strong> anvisieren zu können“ (Hettlage-Varjas/Hettlage 1984, S. 378).Zwischenwelten lassen sich also nicht unver<strong>mit</strong>telt an <strong>de</strong>n <strong>kulturellen</strong> Polen‚Aufnahmegesellschaft‘ o<strong><strong>de</strong>r</strong> ‚Herkunftsgesellschaft‘ ‚messen‘ in <strong>de</strong>m Sinne, dasssich MigrantInnen z.B. von <strong><strong>de</strong>r</strong> Herkunftsgesellschaft weg zurAufnahmegesellschaft hin entwickeln o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>kulturellen</strong> Elementen <strong><strong>de</strong>r</strong>Herkunftsgesellschaft unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t verhaftet bleiben. Die Silbe „zwischen“ soll auchnicht suggerieren, dass Migranten und Migrantinnen zwischen <strong>kulturellen</strong>Mustern unterschiedlicher Gesellschaften ‚hängen bleiben‘, d.h. am Ran<strong>de</strong> undkulturlos leben (obwohl sie sozialstrukturell marginalisiert sind). InterkulturelleZwischenwelten beschreiben Handlungsmuster in <strong><strong>de</strong>r</strong> Migration, in <strong>de</strong>nen sich dasIndividuum zu sich und zu unterschiedlichen kollektiven Norm- undWertstrukturen von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaften in ein Verhältnissetzt und diese zu eigenständigen Handlungsmustern integriert. Zwischenweltheißt, psychisch, sozial und kulturell eine Balance zwischen verschie<strong>de</strong>nenkollektiven Anfor<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen herzustellen, die ausgelotet, unterschiedlich gewichteto<strong><strong>de</strong>r</strong> auch nicht bewältigt wer<strong>de</strong>n kann. Als Bewältigungsmuster kennzeichnen3 Sprachlich wer<strong>de</strong>n Türken zu Kanaken, Polen zu Polaken, Vietnamesen zu Fidschis, Deutsche in<strong>de</strong>n alten Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu Wessis, Menschen in <strong>de</strong>n neuen Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zu Ossis.West<strong>de</strong>utsche, die im Osten leben und arbeiten, wollen Wossis sein. Türken in Deutschland heißenin <strong><strong>de</strong>r</strong> Türkei „Alamanyali“ (in Man<strong>de</strong>l/Wilpert 1996, S. 467). Rußland<strong>de</strong>utsche waren in <strong><strong>de</strong>r</strong>Sowjetunion die <strong>de</strong>utschen Nazis und Faschisten, in Deutschland sind sie die Russen. Sie selbstnennen sich in Deutschland zum Beispiel Aussiedlerui, d.h. es wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsche Wörter <strong>mit</strong>russischsprachigen Endungen verwen<strong>de</strong>t. Eine Gang von Jugendlichen türkischer Herkunft in <strong>de</strong>nalten Bun<strong>de</strong>slän<strong><strong>de</strong>r</strong>n nennt sich „Turkish Power Boys“ (in Hamburger 1997, S. 21). ZugehörigkeitsundAnerkennungskämpfe führen zu <strong>kulturellen</strong> und ethnisierten Konstruktionen als Fremd- undSelbstzuschreibungen.6


interkulturelle Zwischenwelten <strong>de</strong>n Versuch zur Herstellung von ‚Normalität’ inEntscheidungszwängen ohne sich ohne Zwang entschei<strong>de</strong>n zu können. Da diesesVerständnis interkultureller Zwischenwelten insgesamt aktiv han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Menschenvoraussetzt, wird ihr prinzipiell produktiver Charakter angenommen.Das Adjektiv „interkulturell“ erscheint zwar als Dopplung in Bezug auf die Silbe„zwischen“, soll aber <strong>de</strong>n interaktiven Charakter zur Entwicklung vonZwischenwelten hervorheben. In <strong>de</strong>n sozialen Beziehungen <strong>mit</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regelungleicher Machtverteilung sowohl zwischen ‚Frem<strong>de</strong>n’ und Einheimischen alsauch unter <strong>de</strong>n ‚Frem<strong>de</strong>n’ entwickeln die Menschen je individuelle Zwischenwelten.Darüber hinaus ist das Wort „interkulturell“ zum Kennwort gewor<strong>de</strong>n, um vorallem in <strong><strong>de</strong>r</strong> Erziehungswissenschaft ethnische Differenz und <strong>de</strong>n pädagogischenUmgang <strong>mit</strong> ihr in verschie<strong>de</strong>nen, sich zum Teil auch wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprechen<strong>de</strong>n Ansätzenund Konzepten zu erörtern (vgl. dazu Gemen<strong>de</strong>/Schröer 2002; Gemen<strong>de</strong> 2002).„Interkulturell“ soll als Begriff dafür stehen, dass Zwischenwelten nach politischerAnerkennung von Migrantinnen und Migranten einerseits und nachInfragestellung bisheriger Bil<strong><strong>de</strong>r</strong> von ihnen im politischen und pädagogischenHan<strong>de</strong>ln an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits drängen.Interkulturelle Zwischenwelten lassen sich nun auf unterschiedlichen Ebenenanalysieren: als transnationale Lebensräume zwischen Herkunfts- undAufnahmeland, als ambivalente Orte sozialer Konstruktion von ethnischerGemeinsamkeit im Aufnahmeland und als psychische Repräsentanz <strong><strong>de</strong>r</strong> Dualitätzwischen Eigenem und Frem<strong>de</strong>m.Die Lebenswirklichkeit von MigrantInnen lässt sich <strong>mit</strong> doppelter Freisetzung auszwei nationalstaatlich gefassten Gesellschaften kennzeichnen, d.h. sie verlassen diegesellschaftlichen Strukturen ihrer Herkunftslän<strong><strong>de</strong>r</strong>, ohne sie kulturell, sozial undpsychisch völlig aufzugeben, aber sie sind ihnen auch nicht mehr ungebrochenzugehörig. Gleichzeitig wird ihre Zugehörigkeit zu <strong>de</strong>n gesellschaftlichenStrukturen Deutschlands in Frage gestellt, nicht nur auf Grund vongesellschaftlichen Pluralisierungsprozessen im Allgemeinen, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n beson<strong><strong>de</strong>r</strong>swegen <strong><strong>de</strong>r</strong> mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger sie betreffen<strong>de</strong>n Ausgrenzungen durch Gesetze undsoziale Diskriminierungen im Aufnahmeland. So erleben sie eine doppelteEntfremdung, sie sind „fremd in <strong><strong>de</strong>r</strong> Heimat und heimisch in <strong><strong>de</strong>r</strong> Frem<strong>de</strong>“. DieseSituation erschwert die Orientierung und es bleibt mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger latent bei <strong><strong>de</strong>r</strong>nicht ein<strong>de</strong>utig zu beantworten<strong>de</strong>n Frage: Zu welchem Land bin ich zugehörig? Fürdie befragten MigrantInnen lässt sich die ‚Antwort’ als physische und psychischePen<strong>de</strong>lsituation zwischen <strong>de</strong>n Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n, als „ewiges Hin und Her“ zwischen <strong>de</strong>nLän<strong><strong>de</strong>r</strong>n und Gesellschaften beschreiben.Die ambivalente Situation doppelter Zugehörigkeit und Entfremdung in Bezug aufzwei Län<strong><strong>de</strong>r</strong> setzt sich im Aufnahmeland als Frage nach <strong><strong>de</strong>r</strong> doppeltenGruppenzugehörigkeit fort. Erlebt wird auch hier in unterschiedlichem Maße7


Normeninkonfor<strong>mit</strong>ät und es bleibt mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> weniger latent bei <strong><strong>de</strong>r</strong> nicht immerein<strong>de</strong>utig zu beantworten<strong>de</strong>n Frage: Bin ich <strong><strong>de</strong>r</strong> (lokalen) ethnischen Gruppe imAufnahmeland zugehörig? Die nicht ein<strong>de</strong>utige Zugehörigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> befragtenMigrantInnen zur ethnischen Gruppe und ihre differenzierte Wahrnehmung aufeinem Kontinuum subjektiver Gruppenzugehörigkeiten soll weiter untenausführlicher dargestellt wer<strong>de</strong>n.Die ambivalente Situation doppelter Zugehörigkeit und Entfremdung in Bezug aufzwei Län<strong><strong>de</strong>r</strong> und in Bezug auf zwei ethnische Gruppen im Aufnahmelandrepräsentiert sich auch im Selbst. Die Frage lautet dann: Wie bin ich mir selbstzugehörig? Gefragt wird nach <strong>de</strong>m Verhältnis von Eigenem und Frem<strong>de</strong>m; unddiese Frage ist eine emotionalisierte vor allem <strong>de</strong>shalb, weil die Beziehungzwischen Eigenem und Frem<strong>de</strong>m im Selbst <strong>mit</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Verarbeitung von Trennungenund Entwertungen verbun<strong>de</strong>n ist. Die Zugehörigkeit als „halb“ und „zerrissen“, undso z.B. die Zweisprachigkeit als halb wahrzunehmen und zu interpretieren, das ist<strong><strong>de</strong>r</strong> eine Weg, <strong>de</strong>n (die befragten) MigrantInnen von Außen gespiegelt bekommenund selbst unter <strong>de</strong>n gesellschaftlichen und sozialen Umstän<strong>de</strong>n gehen. DieBefragten <strong>de</strong>uten aber auch auf eine an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Lebenswirklichkeit. Die Bewältigungvon Fremdheitserfahrungen und emotionaler Betroffenheit <strong><strong>de</strong>r</strong> eigenen Person zurAufrechterhaltung bzw. Stabilisierung <strong>de</strong>s Selbstwertgefühls erfolgt oft auchscheinbar unproblematisch, fast automatisch einerseits bzw. in mehr o<strong><strong>de</strong>r</strong> wenigerheftiger Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung <strong>mit</strong> sich selbst, aber in einer für die betroffene Personausbalancierten Form, an<strong><strong>de</strong>r</strong>erseits. Hier ließe sich dann von „doppelt“ im Sinneeines produktiven Verarbeitens unterschiedlicher Sprachen, Normen und Werteund auftreten<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Schwierigkeit</strong>en in diesem Prozess sprechen. So vollziehen sichz.B. Sprachwechsel und Sprachmischung je nach Kommunikationssituation undInteraktionspartner fast automatisch, zum Teil auch, um emotional anstrengen<strong>de</strong>Situationen zu bewältigen.Ich will mich hier im Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>en <strong><strong>de</strong>r</strong> ambivalenten Gruppenzugehörigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong>MigrantInnen im Aufnahmeland widmen. Um die subjektive Wahrnehmung <strong><strong>de</strong>r</strong>Zugehörigkeit <strong><strong>de</strong>r</strong> InterviewpartnerInnen (hier beispielhaft von 14 4 befragtenMännern und Frauen aus Vietnam) zur ethnischen Gruppe zu erfassen, sollten sieihre wahrgenommene Gruppenzugehörigkeit spontan grafisch verorten undkommentieren. Das Ergebnis <strong><strong>de</strong>r</strong> Auswertung ist die Feststellung einerchangieren<strong>de</strong>n (vgl. auch Mecheril 1997) subjektiven Zugehörigkeit zu ethnischnationalenGruppen in Deutschland auf folgen<strong>de</strong>m Kontinuum (vgl. Abb.1):4 Die Zahlen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Abbildung 1 geben die Verteilung von 14 InterviewpartnerInnen vietnamesischerHerkunft in ihrer subjektiven Gruppenzugehörigkeit an.8


Gesamtbevölkerungin Deutschland1xVietnamesenin Deutschland1x5x4x3xAbb.1 Ethnische Selbstverortung• Erstens die teils unproblematisierte und teils problematisierte Zugehörigkeitzur eigenen ethnischen Gruppe in Deutschland bzw. zum konkreten lokalenNetzwerk als „VietnamesIn, <strong><strong>de</strong>r</strong> bzw. die jetzt in Deutschland lebt“. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Mitte<strong>de</strong>s Kreises verorteten sich Männer und Frauen, die in <strong><strong>de</strong>r</strong> ethnischen Ökonomiebeschäftigt sind bzw. Beschäftigung suchten. Sie haben verhältnismäßigintensive soziale Beziehungen in <strong><strong>de</strong>r</strong> vietnamesischen community undreflektieren keine größeren Probleme da<strong>mit</strong>, zumal sie auf diese Beziehungen,die da<strong>mit</strong> verbun<strong>de</strong>nen Solidaritäten und ein gutes Image <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe beruflichauch angewiesen sind.Etwas mehr am Rand markierten sich Personen, <strong><strong>de</strong>r</strong>en subjektive Zugehörigkeitzur ethnischen Herkunftsgruppe auf Grund wahrgenommener Diskriminierungund eingeschränkter Rechte in <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufnahmegesellschaft bewusst gewählt und<strong>de</strong>shalb problematisiert wird (in etwa die „rebellische I<strong>de</strong>ntifikation“ beiEisenstadt (vgl. Heckmann 1992, S. 206, Fußnote 46)),• zweitens die souverän gelebte o<strong><strong>de</strong>r</strong> beanspruchte doppelte ethnischeZugehörigkeit als duale Orientierung (vgl. ebd., S. 206f.) <strong>mit</strong> Nähe und Distanzzur ethnischen Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heit und zur Mehrheit, die aber auch in die Marginalität(vgl. ebd., S. 206) (sich nicht doppelt, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n halb fühlen) kippen kann,• drittens die Ablehnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Zuschreibung ethnischer Zugehörigkeit, weil sienicht angenommen wird o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht gelingt, und die Betonung universalistischerAnsprüche, als Mensch anerkannt zu wer<strong>de</strong>n und zu leben, <strong><strong>de</strong>r</strong> seine Biografieso wie alle Menschen unter bestimmten Bedingungen gestalten und kritischeLebensereignisse bewältigen muss und9


• viertens <strong><strong>de</strong>r</strong> Versuch, Ein<strong>de</strong>utigkeit in <strong><strong>de</strong>r</strong> Anpassung (Assimilierung) an ‚dieDeutschen’ zu suchen, die aber nicht ohne die Verdrängung o<strong><strong>de</strong>r</strong>Rationalisierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Herkunft realisiert wer<strong>de</strong>n kann. Die dritte und vierteTypisierung lassen sich gleichermaßen aus <strong>de</strong>n Interviews <strong>mit</strong> <strong>de</strong>nMigrantInnen interpretieren und verdichten, die sich außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong>herkunftsethnischen Gruppe verorteten.Changieren<strong>de</strong> Zugehörigkeit heißt, dass die subjektive Zugehörigkeit zwischen <strong><strong>de</strong>r</strong>Ablehnung einer zugeschriebenen ethnisch-nationalen Zugehörigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong>entsprechen<strong>de</strong>n Berufung auf ein allgemeines Mensch-Sein, einer doppeltenGruppenzugehörigkeit und <strong><strong>de</strong>r</strong> ein<strong>de</strong>utigen Zuordnung zu einer ethnischen Gruppewechselt bzw. hin- und herpen<strong>de</strong>lt je nach sozialer Situation und biografischemEreignis. Es ist das „Hin und Her“ zwischen Län<strong><strong>de</strong>r</strong>n, Gruppen und psychischenZustän<strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Reflexion dieses Hin und Her. Die Bewältigungsdimension wirdgleichfalls <strong>de</strong>utlich, in<strong>de</strong>m die Befragten Bezug nehmen auf ein<strong>de</strong>utigeZuschreibungen und Erwartungen <strong><strong>de</strong>r</strong> Aufnahmegesellschaft und sich – unterdirekter und indirekter Problematisierung dieser Ein<strong>de</strong>utigkeit – ein<strong>de</strong>utigverorten bzw. die doppelte Zugehörigkeit als belastend empfin<strong>de</strong>n 5 .3. Reflexive Interkulturalität und Zwischenwelten: zwischenrelativistischen und universalistischen Ansätzen pädagogischerInterventionDer Begriff Interkulturalität hat sich für die pädagogischen Arbeitsfel<strong><strong>de</strong>r</strong>eingebürgert, die sich auf MigrantInnen beziehen und in <strong>de</strong>nen sie in <strong><strong>de</strong>r</strong> Regelauch zur Zielgruppe pädagogischer Intervention gehören, selbst wenn Einheimischezunächst als un<strong>mit</strong>telbare AdressatInnen Kenntnisse über sie und Kompetenzen imUmgang <strong>mit</strong> ihnen erwerben sollen. Letztlich stellt sich die Frage nach <strong>de</strong>n Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>n,die wir uns von <strong>de</strong>n sogenannten Frem<strong>de</strong>n machen und <strong>de</strong>n pädagogischen Umgang<strong>mit</strong> ihnen, <strong>mit</strong> ihren Bildungsprozessen und ihren sozialen Problemen bestimmen.Interkulturalität enthält das Konstrukt „Kultur“, das auf verschie<strong>de</strong>ne Ebenen <strong><strong>de</strong>r</strong>Betrachtung verweist - die universalistische und die relativistische - und <strong>de</strong>shalbfür Ambivalenzen und für entsprechen<strong>de</strong> pädagogische <strong>Schwierigkeit</strong>en sorgt: DerMensch erschließt sich durch Bildung „Kultur“. Er erwirbt Kenntnisse, Fähigkeitenund Fertigkeiten, Einstellungen, Gefühle, Verhaltensweisen usw. und er prägt soseine „Individualität“ aus. Er erwirbt Kompetenzen z.B. für <strong>de</strong>n Arbeitsmarkt imSinne eines „lifelong learning“, aber auch so genannte menschliche Tugen<strong>de</strong>n wieSolidarität, Verantwortung, Anerkennung von An<strong><strong>de</strong>r</strong>en usw. zum Überleben <strong><strong>de</strong>r</strong>5 Fallgeschichten zum Kontinuum <strong><strong>de</strong>r</strong> subjektiven Gruppenzugehörigkeiten vgl. Gemen<strong>de</strong> 2002, S.141ff.10


einen Menschheit und von Menschlichkeit (thematisiert z.B. von Peukert 1994).Durch Bildung „Kultur“ zu erschließen be<strong>de</strong>utet auch, von unterschiedlichenSozietäten und ihren je spezifischen kollektiven Deutungsmustern auszugehen (wiees implizit z.B. Mollenhauer 1996 tut). So<strong>mit</strong> verfügt je<strong><strong>de</strong>r</strong> Mensch über kulturelleKompetenz, die ihn <strong>mit</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en verbin<strong>de</strong>t, aber auch von an<strong><strong>de</strong>r</strong>en trennt. Ofterfolgt die Trennung aufgrund von Diskriminierung und Ausgrenzung von kulturellhomogen erscheinen<strong>de</strong>n Gruppen, aber auch aufgrund positiver Diskriminierungzur Unterscheidung <strong>de</strong>s Frem<strong>de</strong>n vom Eigenen und zu seiner sozialenAnerkennung. Während universalistische Positionen die Freiheit und formellrechtlicheGleichheit <strong><strong>de</strong>r</strong> Individuen betonen und ihre <strong>kulturellen</strong> Bindungen anGruppen vernachlässigen, kann durch eine relativistische Sichtweise dasIndividuum in ein kulturelles Korsett gepresst wer<strong>de</strong>n, aus <strong>de</strong>m es sich nur schwerzu lösen vermag. Kultureller Wan<strong>de</strong>l und Grenzüberschreitungen wer<strong>de</strong>n dannnicht mehr wahrgenommen o<strong><strong>de</strong>r</strong> gar verhin<strong><strong>de</strong>r</strong>t. Im pädagogischen Geschehen dieseunterschiedlichen <strong>kulturellen</strong> Ebenen – die Gleichstellung unterschiedlicherIndividuen in Bildungsprozessen und ihre universell-humanistische Bildung, dieAnerkennung kultureller, an differente Gruppen gebun<strong>de</strong>ne Kompetenzen inBildungsprozessen und ihre Individualisierung - zu berücksichtigen, kommt wohl<strong><strong>de</strong>r</strong> „pädagogischen Quadratur <strong>de</strong>s Kreises“ nahe. 6Dieses Dilemma entspricht im Grun<strong>de</strong> genommen <strong>de</strong>m lebenswirklichen ‚Problem’,dass MigrantInnen sich je nach biografischer und sozialer Situation ein<strong>de</strong>utigkulturell verorten (als Deutsche o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vietnamesen in Deutschland), kulturelleZuschreibungen ablehnen und sich als unverwechselbare Individuen wahrnehmenund/o<strong><strong>de</strong>r</strong> auf ihre gleichzeitige kulturelle Zugehörigkeit zu unterschiedlichenGruppen beharren. Changieren<strong>de</strong> Zugehörigkeit heißt dann, dass sowohl dieZuschreibung einer dieser Zugehörigkeiten als auch das Absprechen einer dieserSelbstwahrnehmungen <strong>de</strong>m ungeduldigen Auflösen von Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüchen gleichkäme.Um verantwortungsbewusst <strong>mit</strong> <strong>kulturellen</strong> <strong>Differenzen</strong> umzugehen, hat WernerSchiffauer (1997, S. 167ff.) eine Reihe von „Lösungsstrategien“ für ethnologischesArbeiten entwickelt. Diese sollen hier auch für pädagogisches Han<strong>de</strong>ln und seineReflexion zu Grun<strong>de</strong> gelegt wer<strong>de</strong>n und da<strong>mit</strong> das oben beschriebene Dilemma6 Das Dilemma zeigt sich auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> sozialpolitischen Diskussion um die For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach sozialerUmverteilung und ihre Verbindung <strong>mit</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> For<strong><strong>de</strong>r</strong>ung nach kultureller Anerkennung von Gruppen.Nancy Fraser (zit. in Benhabib 2000, S. 33f.) stellt zwar fest, dass ein Be<strong>de</strong>utungsverlust <strong>de</strong>sKlassenbegriffs in <strong>de</strong>n politischen Vorstellungen zu Gunsten <strong>de</strong>s Aufstiegs einer „I<strong>de</strong>ntitätspolitik“,eine Verdrängung sozialer Politik durch kulturelle zu beobachten wäre, verweist aber gleichzeitigauf die ambivalente Inter<strong>de</strong>pen<strong>de</strong>nz von bei<strong>de</strong>n. Die Herausbildung von Gruppeni<strong>de</strong>ntitäten ist inbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>em Maße eine Konsequenz von Demokratisierungsprozessen und wohlfahrtsstaatlicherUmverteilungspolitik. Kollektive Ansprüche, zum Beispiel von ethnischen Min<strong><strong>de</strong>r</strong>heiten, „drängennach Verwirklichung universalistischer Gerechtigkeit in <strong><strong>de</strong>r</strong> gesamtgesellschaftlichen Organisationvon Macht und Reichtum“ (ebd., S. 38), wer<strong>de</strong>n dann aber gleichzeitig durch Sozialpolitik geför<strong><strong>de</strong>r</strong>t(vgl. ebd., S. 35).11


zwischen universalistischen und relativistischen Orientierungen in <strong><strong>de</strong>r</strong> Pädagogikund changieren<strong>de</strong>n <strong>kulturellen</strong> Zugehörigkeiten (inter<strong>kulturellen</strong> Zwischenwelten)von MigrantInnen ‚handhabbarer’ machen: Kulturelle <strong>Differenzen</strong> sollen nachSchiffauer erstens bezüglich „<strong>de</strong>s Raums zwischen <strong>de</strong>n Kulturen“ (ebd., S. 167)hinterfragt wer<strong>de</strong>n, d.h. es soll die Genese von Kultur als Austausch- undInteraktionsprozess thematisiert wer<strong>de</strong>n. Interkulturalität wür<strong>de</strong> dann be<strong>de</strong>uten,nach <strong>kulturellen</strong> Mischungen, Überschneidungen, Übernahmen zu fragen. Zweitenswird da<strong>mit</strong> Kultur als dynamischer Prozess verstan<strong>de</strong>n, <strong><strong>de</strong>r</strong> auch durch Brüche undWi<strong><strong>de</strong>r</strong>sprüchlichkeiten gekennzeichnet ist, die es zu erfassen gilt. <strong>Von</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>e,dass die <strong>kulturellen</strong> Elemente in einer Gesellschaft sich als eine in sichgeschlossene Struktur beschreiben lassen, ist abzukehren (vgl. ebd., S.167).Drittens verstehen sich kulturelle Deutungen auch als Hinwendung auf das Eigeneund als Entschleierung von Dichotomien zwischen Tradition und Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne,Abweichung und Normalität usw. im Eigenen. Viertens sind kulturelle Diskurse<strong>mit</strong> an<strong><strong>de</strong>r</strong>en gesellschaftlichen Diskursen zu verbin<strong>de</strong>n und Machtbeziehungenzwischen <strong>de</strong>n Diskursen zu analysieren. In diesem Zusammenhang kann dann auchgeklärt wer<strong>de</strong>n, welche Faktoren einen Differenz- und welche einenGleichheitsdiskurs hervorbringen (vgl. ebd., S. 168). Eine fünfte Konsequenzbesteht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hinwendung zum Individuum. Da<strong>mit</strong> ergibt sich die Möglichkeit zuklären, „was ‚Kultur‘ <strong>de</strong>m einzelnen be<strong>de</strong>utet: In welcher Hinsicht (und wann) sieein ‚Gefängnis‘ darstellt, in welcher Hinsicht sie aber auch Bastion <strong>de</strong>sSelbstrespekts sein kann“ (ebd., S. 168).An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass wir offensichtlich auch sprachliche<strong>Schwierigkeit</strong>en haben, Zwischenwelten adäquat auszudrücken. Was und wenmeinen wir, wenn wir von Türken o<strong><strong>de</strong>r</strong> Vietnamesen sprechen? In <strong>de</strong>n Medientaucht <strong><strong>de</strong>r</strong> Begriff von Deutsch-Türken, Deutsch-Vietnamesen usw. auf, PaulMecheril und Thomas Teo (1994) sprechen von An<strong><strong>de</strong>r</strong>en Deutschen. Die<strong>Schwierigkeit</strong> besteht in <strong><strong>de</strong>r</strong> Analyse <strong>de</strong>s wechseln<strong>de</strong>n „Hin und Her“ <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>kulturellen</strong> Selbstwahrnehmung. So kann es richtig sein, <strong>mit</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ausgesie<strong>de</strong>ltenrussland<strong>de</strong>utschen Mutter einer Schülerin Russisch zu sprechen, um zunächst eineBrücke zu bauen und ihr emotional nahe zu kommen. Aber zugleich signalisiert sie,dass sie Deutsch sprechen will, vielleicht, um nicht als „Russin“ stigmatisiert zuwer<strong>de</strong>n, vielleicht, um Deutsch zu lernen und als „Deutsche“ anerkannt zu wer<strong>de</strong>n.Letztlich spricht sie eine Mischsprache bestehend aus Wörtern unterschiedlicherSprachen und wechselt zwischen <strong>de</strong>n Sprachen, die ihrer Lebenswirklichkeitentsprechen.Mit Heiko Kleve (2001, S. 39) stimme ich überein, dass sich gera<strong>de</strong> Sozialarbeit(und Bildung) durch brüchige und flexible Patchwork-I<strong>de</strong>ntitäten und da<strong>mit</strong> durchAmbivalenz und Unschärfe auszeichnen. Dies for<strong><strong>de</strong>r</strong>t Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzung <strong>mit</strong>Zwischenwelten und „reflexive Interkulturalität“ im pädagogischen Geschehen.12


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