18CHEMISTRY & BIODIVERSITYFig. 9. Topographische Karte (aus Google Earth) des Entlebucher Haupttals in Nord–Süd-Ansicht. Fünf Untersuchungsstandorte sind markiert: Flühli (1),Hüttlenen (2), Chragen (3), Südelgraben (4) und Vorderer Hübeli (5). Die sich im Haupttal befindenden Orte 1, 2 und 4 sind dem Nordwind direktausgesetzt; die Standorte 3 (Chragen) und 5 (Vorderer Hübeli) hingegen liegen windgeschützt in einem Seitental bzw. hinter einem Berg (Schrattenfluh).
CHEMISTRY & BIODIVERSITY 19Radionukliden in den Wirtspflanzen von <strong>Wanzen</strong> obige Resultate erklären 9 ).Künstliche radioaktive Niedrigstrahlung muss nicht notwendigerweise genetischeMutationen verursachen. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass die Morphogenese von<strong>Wanzen</strong>larven dadurch gestçrt wird. Im Moment scheint mir dies die einzige sinnvolleErklärung zu sein für diese unerwarteten Phänomene.Zusammenfassend weisen die oben erwähnten Referenzbiotope eine untereGrenze der Schädigungsrate von 1–3% auf. Aus zahlreichen eigenen Untersuchungenvon individuellen <strong>Wanzen</strong> kann ich sagen, dass vor allem morphologische Schäden einguter Indikator für schädigende Umwelteinflüsse sind, und dass <strong>Wanzen</strong> allgemeinsensibler sind, als man bisher glaubte. Die wichtigste Lehre daraus allerdings ist dieFeststellung, dass eine schçne, äusserlich intakte Landschaft nicht unbedingt eine guteWahl für ein Referenzbiotop sein muss. Vielleicht ist es an der Zeit für einenParadigmenwechsel, sowohl was den Zustand der Ökosphäre angeht als auch unsereromantische Vorstellung von einer unversehrten Natur.3.2. Europäische <strong>Wanzen</strong>arten. Während meiner <strong>Feldstudien</strong>, die ich zumeist inEuropa durchführte, sammelte und bestimmte ich ca. 80 verschiedene Arten von<strong>Wanzen</strong> (Tab. 5). Da<strong>bei</strong> habe ich immer wieder beobachtet, dass gesunde <strong>Wanzen</strong> einsymmetrisches Erscheinungsbild aufweisen, was Musterung und Form angeht, und eineglänzende Oberfläche besitzen. Jede Wanze besitzt sowohl individuelle als auchartspezifische Merkmale. Über die Jahre stellte ich fest, dass gewisse Arten anfälligergegenüber <strong>Missbildungen</strong> sind als andere. Pentatomidae, Coreidae und Pyrrhocoridae10 ) erwiesen sich als empfindlicher als etwa Miridae, Nabidae, Scutelleridae,Lygaeidae 11 ) und Tingidae. Rhopalidae und Anthocoridae waren unter den untersuchtenFamilien am unempfindlichsten (Tab. 5 ; s.a. Tab. 7 unten). Im Falle derFamilien Alydidae, Stenocephalidae, Berytidae und Acanthosomatidae liess sich keineeindeutige Aussage machen, weil zu wenig Individuen gefunden und untersucht werdenkonnten. Eine detaillierte Beschreibung kçrperspezifischer <strong>Missbildungen</strong> wird inAbschn. 3.4 beschrieben.3.3. Tschernobyl-Fallout-Gebiete in Schweden, dem Tessin und der Ukraine. EinJahr nach der Katastrophe von Tschernobyl (1986) entschied ich mich, <strong>Wanzen</strong> in denvon der radioaktiven Wolke betroffenen Regionen zu untersuchen. Basierend aufKarten, welche die radioaktive Belastung aufzeigten (Fig. 1 und 2), reiste ich 1987 nachSchweden, wo ich <strong>Feldstudien</strong> in Gysinge, Österfärnebo und Gävle durchführte.Danach untersuchte ich <strong>Wanzen</strong> in Melano und Rancate im Tessin (Südschweiz), undspäter (1990) in der Ukraine, in der Nähe des Atomkraftwerks Tschernobyl selbst (fürgeographische Details, s. Experimentelles).An diesen Orten sammelte ich zunächst eine relativ geringe Anzahl <strong>Wanzen</strong>(s. Tab. 1), weil ich damals in erster Linie als Künstlerin unterwegs war und noch nicht9) Niedrige Strahlendosen sind im mikroskopischen Bereich kaum nachweisbar. Vor allem a- oder b-Teilchen emittierende Radionuklide werden von Organismen aufgenommen und kçnnen lokalschwere Schäden verursachen. Meine Daten beruhen daher auf dem Vergleich von Phänotypen <strong>bei</strong><strong>Wanzen</strong>. Für künftige <strong>Feldstudien</strong> wären interdisziplinäre Untersuchungen wünschenswert.10) Pyrrhocoridae sind in der Schweiz durch Pyrrhocoris apterus (Feuerwanze) vertreten, welche seltenin naturbelassenen Biotopen vorkommen, sondern sich an urbane Gegenden angepasst haben.11) Ausser der Art Lygaeus saxatilis, die sich ebenfalls als empfindlich erwiesen hat.