Zur DiskussionBeruf und Alltag die binomischenFormeln, den Logarithmus odergar die Differentialrechnung?Die logischen Systeme an sich benutztspäter kaum jemand, egalaus welchem Fach sie nun stammen.Den Umgang mit Systemenim Allgemeinen aber braucht späterfast jeder. Wie viele Berufsfelderbeinhalten in erster Liniedas Sichzurechtfinden in einemgeschlossenen, mehr oder wenigerin sich logischen Wirkungskreislauf.Der Organisationsmanagerder Müllabfuhr muss z.B.44 Fahrzeuge mit 132 Personenbestücken. Für die 21 älterenFahrzeuge benötigt er mindestensjeweils drei Personen, für dieneueren reichen auch zwei. Bishierhin ist es vielleicht noch reineMathematik. Jetzt aber nimmter den Stadtplan und muss dieBezirke zurechtschneiden: Inwelchen Vierteln passt welchesFahrzeug nicht durch die engenGassen? Welche Hauptverkehrsachsenmüssen unbedingt vor6.45 Uhr versorgt sein? WelcheStraßen können im Winter wegenihres starken Gefälles erst später- wenn der Räumdienst durch ist- angefahren werden. Wie verlaufendie Einbahnstraßen? WievieleTonnen stehen in welcher Straßeund was bedeutet das für diebenötigte Fahrzeugkapazität unddas Fortkommen der Fahrzeuge?Wie hoch ist der durchschnittliche,wie hoch der maximale Krankenstandder Mitarbeiter? Werkommt überhaupt als Fahrer inFrage? Welcher Mitarbeiter darfnicht heben? Welche Personendürfen nicht zusammen arbeiten,damit in allen Einsatzteamsmindestens ein deutschsprachigerMitarbeiter dabei ist? WelchesFahrzeug muss wann und fürwie lange in die Inspektion? Werweiß, wie viele Mosaiksteinchenzusammen gelegt werden müssen,bis der Plan endlich stimmt.6 con.<strong>takt</strong> 3/2011Er stimmt natürlich niemals. Immerwird es einen Wutbürger geben,dessen Auto jeden zweitenMittwoch hinter dem Müllwagenim Stau steht, einen Mitarbeiter,der donnerstags nicht wunschgemäßfrei machen kann, eineMülltonne, deren Leerung sichnach Feiertag um zwei Tage nachhinten verschiebt statt um einen.Es geht nicht um die perfekte Lösung,es geht um die am wenigstenschlechte. Es sei denn, derEinsatzleiter ist ein Künstler.Hätte er doch nur zwei Semesterlang Kontrapunkt studiert!Dann wüsste er ungefähr, wasauf ihn zukommt. Was habenwir geschwitzt, wenn wir uns bisin den dritten Takt vorgekämpfthatten: Jetzt im Alt das g‘ - Mist,Quintparallele - dann eben a‘ -unerlaubte Quart - as‘? Quatsch:leiterfremd! - f‘? - Sekund zumBass - dann das f‘ eben als Vorhaltbehandeln! - jetzt muss esaber vorbereitet werden. Also imzweiten Takt wieder ausradieren.Ausradieren, ausradieren, ausradieren- das war doch die Hauptbeschäftigung.Von vorne nachhinten arbeiten und dann wiedervon hinten nach vorne, schließlichalles zerreißen und ganz neuanfangen. Irgendwann musstedas Opus fertig sein. Wer konnteschon eine perfekte Lösung einreichen?Immer war es doch einKompromiss aus einigen wenigerschwer wiegenden Fehlern.Auch wir haben damals vielleichtgefragt: „Und wozu lerneich das?“ Heute fällt die Antwortin Bezug auf den allgemeinpädagogischenNutzen erstaunlichertragreich aus: Wir mussten lernen,uns in ein kompliziertes logischesSystem mühsam hineinzudenken.Wir mussten bei jedemSchritt viele Aspekte gleichzeitigbeachten. Wir mussten eigeneStrategien entwickeln, um Lösungenfür die komplexen Problemstellungenzu finden. Wir musstenauf der einen Seite strengeRegeln beachten, aber auf deranderen Seite große Freiräumekreativ ausfüllen. Wir musstenuns konzentrieren. Wir musstenlernen, unsere eigenen Fehleraufzuspüren. Wir mussten unterZeitdruck ein Ergebnis zustandebringen. Wir mussten unsereFehler und Lösungen gewichtenund uns zwischen verschiedenenWegen entscheiden. Wir mussteneinsehen, dass wir nicht perfektsind. Wir mussten die Perfektiontrotzdem lieben lernen. Wirlernten die Perfektion andererbewundern. Welch grandiosesBündel doch an Methoden-, Sozial-,Lern- und Selbstkompetenzen- fast möchte man den Begriff„Lebenskompetenzen“ erfinden!Unter dem Gesichtspunkt desÜberfachlichen, der heutzutagedoch so hoch im Kurs steht, kannes wohl nichts lernförderlicheresgeben als die Musiktheorie - außervielleicht noch dem Schachspiel,der lateinischen Grammatikoder dem Zauberwürfel. Ironieund Übertreibung beiseite: Nichtnur der Einsatzleiter der Müllabfuhr,auch der Verkehrsplaner, dereine Ampelschaltung entwirft,der Terminplaner eines Frachthafens,der Stundenplanmachereiner Schule, der Konstrukteur einesParkhauses usw., sie alle sinddoch gut beraten, wenn sie imVerlauf ihrer vorberuflichen Ausbildungmit möglichst vielen unterschiedlichenSystemen möglichstintensiv in Kon<strong>takt</strong> kamen.Musiktheorie kann eines vonvielen Systemen sein, nicht mehrund nicht weniger. Daraus folgtaber immerhin, dass auch derstaubtrockene reine Theorieunterrichtpädagogisch wertvoll seinkann, aber eben nicht unbedingtwertvoller als anderer Unterricht,der die Durchdringung eines logischenSystems zum Ziel hat.
Reicht das als Begründung für einWiederauferstehen der strengenMusiktheorie in Lehrplänen undArbeitsmaterialien aus? Werfenwir noch einmal einen Blick aufdie Ars musica aus jenen Zeiten,als sie noch hoch gehalten wurde.In der mittelalterlichenHandschriftthront sie wie eineHerrscherin inmitteneiner GuidonischenHand,einem damalsweit verbreitetenHilfsmittel, umdie Position derv e rs c h i e d e n e nTonschritte imdiatonischen Systemim wahrstenSinne des Wortes„begreiflich“ zumachen. DreierleiImpuls kann unsdiese Darstellunggeben: Zum einen,dass lebendigerTheorieunterrichteiner Veranschaulichungbedarf- eine pädagogischeBinsenweisheit,die aber offensichtlichnichterst seit der Erfindungdes Qualitätsprogrammsbekannt ist unddie wir auch heutenoch beherzigensollten. Zweitens scheint mirwichtig, dass die Theorie immerdazu dienen muss, in die Sacheselbst, also in die Musik, hineinzuführen.Dem Klosterschülerhalf die Guidonische Hand dabei,eine Melodie fehlerfrei vom Blattzu singen. In ähnlicher Weise sollteauch heute der Theorieunterrichtkonkrete musikpraktischeZur DiskussionFähigkeiten entwickeln helfen.Zum dritten scheint mir bedeutsamzu sein, dass die Frauengestaltwie eine Art Schutzpatronineine Aura der Heiligkeit um die innerenZusammenhänge der Töneverbreitet. Das Zusammenwirkender dem Menschen zunächst verborgenen,vollkommenen Proportionenin der Musik wurde alsAbbild oder Sinnbild der Perfektionder gesamten Schöpfung begriffen,eine heilige Ordnung also,die von Gott gegeben war, diesich ähnlich in den wohlgeformtenProportionen der menschlichenHand widerspiegele und indie der Mensch gedanklich immernur stückweit eindringen könne.Eine Denkweise, die uns heutigenMenschen weitgehend fremd gewordenist, die aber nichts destotrotz faszinieren kann, weil siephilosophische und theologischeFragen auf die Musik bezieht.Ob diese Gedanken nun veraltetsind, oder nicht, kann jeder fürsich selbst beantworten. Dass esaber wertvoll sein kann, sich imUnterricht damit auseinanderzu setzen, steht aber wohl außerFrage.von Andreas WagnerBildnachweis: Handschrift aus derAbtei Adlerspach, 13. Jahrhundert,Bayerische StaatsbibliothekMünchen, Clm. 2599, fol. 97 r,Abdruck mit freundlicher Genehmigungder Bayerischen Staatsbibliothek.Hinweis: Im kommenden geht es schwerpunktmäßig um Musik in der Ganztagsschule: Konzepte, Erfolge,Enttäuschungen. Da zu den ersten beiden Stichpunkten bislang kaum Verwertbares gefunden wurde,droht der Artikel sehr einseitig auszufallen. Wir suchen also jemanden, der für die kommende Ausgabeeinen positiven Aufsatz zum Thema GTS und Musik verfassen möchte. Es werden dann zwei Plädoyers,quasi einmal pro einmal contra, abgedruckt werden. Bei Interesse bitte Kon<strong>takt</strong> aufnehmen über redaktion@vds-rlp.decon.<strong>takt</strong> 3/2011 7