"Vorhang Auf" Elternteil
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„Der Winter“ · Daniela Drescher · © Waldow Verlag · www.waldowverlag.de<br />
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“Von Verlierung der Zeit”. (Phlegmatiker, über die Vergänglichkeit nachsinnend). Petrarcameister 16. Jh.<br />
Einen Augenblick bitte,<br />
liebe leserinnen und leser! nur eine kurze Frage: sind sie im Jetzt?<br />
<strong>Elternteil</strong> Heft 105 „Zeit“<br />
INHALT<br />
WAS DIE WELT IM INNERSTEN ZUSAMMENHÄLT<br />
gedanken und atomphysik<br />
Von cornelia haendler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />
ES IST AN DER ZEIT...<br />
... zu sich selbst zu erwachen<br />
Von cornelia haendler und sWami aatma . . . . . . 3<br />
WIE WELT IN DER ZEIT ERSCHEINT<br />
interview mit hans-christian Zehnter<br />
ronald richters kult.kiste i ................10<br />
LUCIAS ABENTEUER IN DER ZEIT<br />
eine buchempfehlung<br />
ronald richters kult.kiste ii . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />
VORHANG AUF IN EIGENER SACHE<br />
Verlagsauffrischung und erlebniswoche<br />
Von eckehard WaldoW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
RHYTHMUS IST LEBEN<br />
märchen selber schreiben iii<br />
Von sebastian Jüngel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
NICHT VERGESSEN! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18<br />
UNSERE WINTERBILDER . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
natürlich sind wir einerseits immer im Jetzt, weil es ja nichts gibt<br />
außer dem Jetzt, denn „gerade eben“ (als sie die überschrift lasen)<br />
ist schon vorbei und „gleich“ (wenn sie den nächsten satz lesen<br />
werden) ist noch nicht da. - aber sind wir auch im Jetzt wirklich<br />
anwesend? mit unserem Wesen an der gegenwart?<br />
meist schwirren wir gedanklich irgendwo herum, in einer erinnerung<br />
an die Vergangenheit oder einer sorge um die Zukunft.<br />
machen sie doch mal die Probe:<br />
nur diesen augenblick wahrnehmen. sich selbst beobachten,<br />
wie sie diese Worte lesen. sich bewusst sein, in welchem raum<br />
sie lesen. sich ganz auf diesen augenblick konzentrieren. aufwachen<br />
aus dem alltagsschlaf, aus den gedankenschleifen heraustreten.<br />
sein...<br />
ich erlebe dieses „einsteigen“ ins Jetzt wie ein zweites aufwachen<br />
am tag. es dauert oft nur einen augenblick, dann bin ich<br />
schon wieder im normenbewusstsein untergetaucht. aber dann<br />
schau ich mir dabei zu - und trete wieder hervor...<br />
und so weiter... immer wieder. manchmal liegt eine stunde dazwischen,<br />
manchmal mehrere tage. aber wer einmal begonnen<br />
hat, diese klarheit und diesen Frieden des Jetzt zu spüren, hört<br />
nicht mehr damit auf und erlebt sie immer öfter, immer länger.<br />
Jedes Jetzt-erleben ist mir ein sieg über die unbewusstheit. das<br />
Ziel ist die dauernde Verbindung mit dem wachen beobachter<br />
des seins - dem ich oder selbst.<br />
das Jetzt ist ohne ausdehnung. die<br />
unendliche Folge ausdehnungsloser<br />
Jetzte heißt „ewigkeit“. mit dem einstieg<br />
ins Jetzt verlassen wir die lineare<br />
Zeit und betreten die ewigkeit. da ist<br />
Friede auf erden.<br />
Herzlich - Ihr Eckehard Waldow
cornelia haendler<br />
Was die Welt im<br />
Innersten zusammenhält<br />
Woraus besteht die Welt? Was ist es,<br />
„was die Welt im innersten zusammenhält“?<br />
diese urfrage menschlicher Wissenschaft<br />
ist nicht neu. seit Jahrhunderten<br />
vollführt sie eine konzentrierte suchbewegung,<br />
um immer tiefer in das geheimnis<br />
der kleinsten bestandteile der<br />
materie, des unteilbaren (=atomos) einzudringen.<br />
Was ist materie? Wäre ein<br />
atom so groß wie ein Fußballstadion,<br />
sein atomkern hätte die größe eines<br />
reiskorns! Versetzen wir uns in die mitte<br />
unseres Fußballstadions, ein reiskorn<br />
auf der handfläche und den blick in die<br />
Weite der Zuschauerränge gerichtet, wo<br />
für unser auge nicht wahrnehmbar elektronen<br />
einen energieraum bilden. Wer<br />
sich mit dem unschuldigen blick des<br />
kindes diese situation vor augen führt,<br />
kann nicht anders, als zu sagen: atome<br />
bestehen fast - das reiskorn nicht außer<br />
acht lassend – atome bestehen fast nur<br />
aus leerem raum.<br />
Materie ist leerer R aum!<br />
materie ist leerer raum! Was ist es aber,<br />
was den leeren raum erfült? Was ist es,<br />
was der materie stabilität verleiht? hier<br />
rühren wir an eines der größten geheimnisse<br />
gegenwärtiger Forschung, für das<br />
die menschheit mehr und mehr zu erwachen<br />
beginnt. der in der tiefe der materie<br />
forschende blick wird notwendig in<br />
einer umwendenden blickbewegung auf<br />
den umgebenden leeren raum gelenkt,<br />
wo den zwischen den teilchen wirkenden<br />
kräfteverhältnissen erhöhte aufmerksamkeit<br />
zukommt. es ist der von<br />
Wolfgang schad postulierte „periphere<br />
blick“¹, der uns dazu auffordert, vom fokussierenden<br />
zu einem umräumlichen<br />
Wahrnehmen uns aufzuschwingen.<br />
Materie ist Energie in Bewegung!<br />
materie ist energie in bewegung! es war<br />
der schweizer atomphysiker dr. carlo<br />
rubbia, der 1984 mit dem nobelpreis<br />
ausgezeichnet wurde, da er auf der suche<br />
nach der sogenannten Weltformel<br />
entdeckte, dass das Verhältnis der materie<br />
zu der sie manifestierenden energie<br />
etwa eins zu einer milliarde beträgt. eine<br />
milliarde energieeinheiten werden benötigt,<br />
um eine materieeinheit zu manifestieren!<br />
in welcher Welt der energien<br />
leben wir, in der die materielle, sinnlich<br />
wahrnehmbare Form nur einen milliardstel<br />
bruchteil darstellt!?²<br />
Die Welt ist Schwingung!<br />
diese energien im umraum stellen sich<br />
immer als ganz bestimmte schwingungsmuster<br />
dar und jedes schwingungsmuster<br />
ist träger einer bestimmten<br />
information. in-Formieren, in-Formbringen,<br />
das ist der Prozess, der sich<br />
vollzieht, wenn z.b. aus flü sigen lösungen<br />
sich kristalle auskristallisieren oder<br />
wenn ein höheres lebensbildeprinzip<br />
Pflanzen in der ihnen eigenen Form in<br />
erscheinung bringt. materie ist Form gewordene<br />
information. auch wir menschen<br />
informieren das uns umgebende<br />
medium atmosphäre mit jedem gedanken,<br />
jedem gefühl, jeder bewegung,… .<br />
die aufsehenerregenden Forschungsergebnisse<br />
des japanischen Wissenschaftlers<br />
masaru emoto, dem es 1994 gelang,<br />
eiskristalle zu fotografieren³, veranschaulichten,<br />
wie verschieden Wasser<br />
auskristallisiert, wenn es einerseits mit<br />
dem empfindungsbetonten Wort „danke“,<br />
andererseits mit dem aburteilenden<br />
Wort „dumm kopf“, je zwei verschiedenen<br />
schwingungsmustern besprochen<br />
wurde.<br />
alles ist schwingung und schwingt nach<br />
dem ihm eigenen informationsmuster.<br />
die atome des stuhls, auf dem ich sitze,<br />
schwingen anders als die des Wassers,<br />
das ich trinke, jeder gedanke, jedes<br />
Wort, jeder ton, jedes gefühl schwingt<br />
anders… ja, jedes mantra hat andere<br />
schwingungsenergien.<br />
Ich bin Mitschöpfer<br />
in Gedanke und Empfindung<br />
Was albert einstein offenbar vor bereits<br />
100 Jahren deklarierte: „es sieht immer<br />
mehr so aus, als ob das ganze universum<br />
nichts anderes ist als ein einziger grandioser<br />
gedanke“, das fasst einer der bedeutendsten<br />
Quantenphysiker der gegenwart,<br />
anton Zeilinger 4 , in die Worte: „der<br />
urstoff des universums ist information“.<br />
man fühlt sich erinnert an jenen urgedanken:<br />
„im urbeginne war das Wort“.<br />
hier offenbart sich auch, welch enorme<br />
Verantwortung uns menschen als mitschöpfer<br />
der erscheinungswelt in gedanken,<br />
gefühlen und taten zukommt.<br />
Wie komplex und vielschichtig die verschiedenen<br />
schwingungsebenen auch<br />
sein mögen, für die Welt ist es nicht<br />
gleichgültig, was ich denke und was ich<br />
fühle. hier lässt sich die Welt aus den<br />
angeln heben, denn – wie rudolf steiner<br />
einmal formuliert: „der einzige ort<br />
im universum, den wir ändern können,<br />
das sind wir selber.“<br />
ob die bindungsenergien zwischen den<br />
menschlichen „atomkernen“, von ich<br />
zu ich die information „dummkopf“<br />
oder die information „danke“ tragen,<br />
hat prägenden charakter für unser aller<br />
Zukunft.<br />
Herzlich danken möchte ich dem Physiker<br />
Helmut Berning, der mich in die<br />
Welt der Quantenphysik eingeführt hat<br />
und dem ich viele wertvolle Informationen<br />
und Hinweise verdanke.<br />
1 Wolfgang schad: der periphere blick, Verlag Freies geistesleben,<br />
stuttgart, 2014<br />
2 dargestellt in: dr. med. barbara hendel, Peter Ferreira:<br />
Wasser & salz, ina Verlags ag baar, 2004<br />
3 masaru emoto: Wasserkristalle, koha-Verlag, 2010<br />
4 anton Zeilinger: einsteins schleier, die neue Welt der<br />
Quantenphysik, Verlag c.h. beck, münchen, 2003<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
3
„dummkoPF!“<br />
„danke!“<br />
cornelia haendler<br />
Es ist an der Zeit …<br />
… zu sich selbst zu erwachen!<br />
Swami Aatma,<br />
geb. 1985 bei Bangalore/Südindien,<br />
spirituelle Schulung durch seinen<br />
Vater Meister Baba Fakruddin. Mit<br />
13 Jahren weitere Unterweisungen<br />
im Himalaya durch Meister Swami<br />
Khedari Nath und weitere Lehrer<br />
(u.a. dem legendären Babaji). Mit 19<br />
Jahren Erleuchtung. Lehrtätigkeit als<br />
spiritueller Meister zunächst in Indien<br />
und seit 2008 auch in Europa.<br />
Einen ungewöhnlich lichten und warmen<br />
Sommer und Herbst beschert uns<br />
dieses Jahr 2015. – Und es beschert uns<br />
einen ungewöhnlichen Menschen. Indien<br />
ist das Land seiner Herkunft, jenes<br />
Indien, das von jeher die Geburtsstätte<br />
außerordentlicher Individualitäten abgab.<br />
Namhafte Meister waren seine Lehrer<br />
im Himalaya, jenem mächtigsten Gebirge<br />
der Erde, wo der Mensch sich in eine<br />
Höhe zu erheben vermag, die - jenseits<br />
des lärmenden Getriebes, jenseits<br />
der wogenden Welt der Leidenschaften<br />
und der nervösen Hektik – ewige Ruhe<br />
und ewigen Frieden verspricht.<br />
Wenn Friedrich rittelmeyer davon redet,<br />
dass es menschen gibt, „in deren<br />
umkreis wir wie in einer höheren luft<br />
atmen, in einem höheren licht erwachen“<br />
1 , so mag dies die Persönlichkeit<br />
dieses inders treffend charakterisieren.<br />
die spürbar herzlich entgegenkommende<br />
Wärme, mit der so unverhofft auf<br />
meine interview-anfrage erwidert wird,<br />
vermehrt sich, als ich dem menschen<br />
persönlich begegne. die treppe herab<br />
kommt eine hohe gestalt, in der sich jugendliche<br />
kraft mit einer ungewöhnlichen<br />
menschlichen reife verbindet. das<br />
ebenmäßig schöne gesicht mit den klaren<br />
Zügen wird umrahmt von dem<br />
kunstvoll zum turban geschlungenen<br />
farbigen tuch. dunkle sonnen sind seine<br />
augen, sonnen mit einem goldenen<br />
glanz, in deren Fokus ein kosmos sich<br />
spiegelt. das lange indische gewand<br />
vervollständigt das bild menschlicher<br />
Würde. der mann geht barfuß – an jedem<br />
ort und zu jeder Jahreszeit, wie ich<br />
später erfahre.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
4
„You don´t see things as they are, you<br />
see them as you are.<br />
If you learn to see things as they are,<br />
you will see yourself as you are.”<br />
„om namah shivaya!“ grüßt der charismatische<br />
inder, der sich, gerade einmal<br />
30 Jahre alt, als swami aatma vorstellt.<br />
er wirkt königlich unnahbar und zugleich<br />
seltsam vertraut. die Vitalität, die<br />
von ihm ausgeht, erfüllt sofort den<br />
raum, in dem wir an einem kleinen<br />
tisch Platz nehmen.<br />
Was ich im Vorhinein erfahren konnte,<br />
dass ein in östlicher spiritualität zu einer<br />
meisterschaft gelangter lehrer unterwegs<br />
sei, der es zu einer vollkommenen<br />
beherrschung seiner eigenen körperlichkeit<br />
gebracht hat, der seinen alterungsprozess<br />
und seine körpertemperatur<br />
regulieren kann, der menschen in einer<br />
ihnen gemäßen Weise über Vergangenes<br />
und Zukünftiges aufklären und<br />
heilungsprozesse einleiten kann, lässt<br />
mich nicht gerade unbefangen sein.<br />
Vielleicht ist er gar nicht 30 Jahre alt, frage<br />
ich innerlich – und als könne der<br />
swami meine gedanken lesen, ist sein<br />
erstes, dass er mit seiner klangvollen,<br />
kräftigen stimme versichert, er sei ein<br />
völlig normaler mensch, wie jeder andere<br />
auch. er spricht in schönem, klaren<br />
englisch mit dem ureigenen akzent der<br />
inder und ergänzt: Jeder könne innere<br />
Fähigkeiten entwickeln, wenn er sich<br />
nur ernsthaft auf den inneren Weg begebe.<br />
stattdessen erzeugten wir menschen<br />
gedanklich Probleme, die einen solchen<br />
druck verursachten, dass zuletzt der<br />
körper erkrankt.<br />
die selbstverständlichkeit, mit der er wie<br />
ein uralter Freund ein vertrautes gespräch<br />
beginnt, lässt die befangenheit<br />
weichen. seine Worte sind schlicht, gerade<br />
und klar. der eindruck des unergründlichen<br />
nimmt jedoch zu, denn dieser<br />
mensch ist weitaus mehr als er vermittelt.<br />
im spiegel seiner erscheinung<br />
meint man zu gewahren, dass die eigene<br />
Persönlichkeit nicht auf den kleinen engen<br />
lebensumkreis beschränkt ist, sondern<br />
in ein viel höheres, helleres lebensreich<br />
reicht. eine helle Freude beseelt<br />
mich, diesem menschen begegnet zu<br />
sein und an ihn Fragen richten zu dürfen.<br />
Woher kommst du?<br />
Woher er komme, frage ich und muss<br />
meine gedanken konzentrieren, die sich<br />
ausdehnen möchten über sehr viel weitere,<br />
größere Zeiträume hinaus. doch je<br />
größer einer ist, desto bescheidener und<br />
unauffälliger gibt er sich. „ich komme<br />
aus bangalore, südindien“, lautet die<br />
schlichte antwort, mit der er meine ausschweifenden<br />
gedanken konzentriert.<br />
als mit abstand jüngstes von vier kindern<br />
sei er in einer ländlich abgelegenen<br />
gegend in der geborgenheit seiner Familie<br />
aufgewachsen. bereits sein Vater,<br />
baba Fakruddin, war ein spiritueller<br />
meister, der zuhause die menschen um<br />
sich scharte und sein Wissen, seine<br />
Weisheit und sein können weitergab.<br />
diese Zusammenkünfte, sogenannte<br />
satsangs, nahm schon der kleine Junge<br />
mit der selbstverständlichen unbefangenheit<br />
der unschuldig offenen seele<br />
auf. hier tummelte er sich meist, denn<br />
der altersunterschied zu den älteren<br />
brüdern war zu groß, als dass er das<br />
spiel mit ihnen der väterlichen nähe<br />
hätte vorziehen wollen. so nahm er von<br />
klein auf die Weisheitslehren seines Vaters<br />
auf, die die bewusstseinserweckung<br />
des eigenen selbst zum gegenstand hatten.<br />
dass der kleine noor, wie sein bürgerlicher<br />
name lautete, kein gewöhnlicher<br />
Junge war, zeigte sich bald. nicht nur,<br />
dass schon früh die Prophezeiungen um<br />
dieses kind reden machten, nicht nur,<br />
dass auch die eltern gewahrten, dass<br />
dieses kind nicht allein in der materiellen<br />
Welt seine aufgabe finden werde,<br />
auch sein zukünftiger meister aus dem<br />
himalaya erkannte die berufung dieses<br />
Jungen, als er ihn im alter von sieben<br />
Jahren das erste mal erblickte.<br />
Wie es ihm selber damit ergangen sei,<br />
frage ich. die Wärme, die in diesem gespräch<br />
von ihm ausgeht und mit innerer<br />
Freude erfüllt, ist nicht leicht in Worte<br />
zu fassen, denn die Fröhlichkeit, mit der<br />
er erwidert, zunächst habe ihn das gar<br />
nicht interessiert, diese Fröhlichkeit ergreift<br />
auch mich. er habe nicht gewusst,<br />
warum er diese spirituellen dinge lernen<br />
und meditationen erüben solle. er wollte<br />
wie die anderen kinder spielen und essen,<br />
was andere kinder essen. und dennoch<br />
– es war sein Weg, und immer<br />
mehr begann er, dieses spirituelle leben<br />
zu lieben. Wer sein karma lieben lernt,<br />
ist auf dem besten Weg der selbsterkenntnis.<br />
selbsterkenntnis und karmaerkenntnis<br />
ist immer zugleich erkenntnis<br />
der eigenen lebensaufgaben. in unserem<br />
schicksal begegnen wir unseren<br />
selbstgestellten aufgaben. es ist absolut<br />
selbstgewollt und selbstverursacht.<br />
Wohin gehst du?<br />
13 Jahre war der heranwachsende noor<br />
alt, als sein meister ihn das erste mal im<br />
Jahre 2000 in die gewaltigen massive<br />
des himalaya mit sich führte. hier wurde<br />
er unterwiesen auf einem Wege spiritueller<br />
schulung. in einer Zeit, in der andere<br />
kinder schreiben und rechnen lernten,<br />
lernte noor meditieren, 12, 14, 16<br />
stunden täglich. manchmal war es wie<br />
in einem gefängnis, erläutert er mit sonorer<br />
stimme, aber es war ein gefängnis,<br />
das er liebte. und die liebe und die<br />
Wärme, die aus seinen dunklen augen<br />
strahlt, lässt keinen Zweifel an der echtheit<br />
seiner Worte. aber er liebte auch<br />
die mutter und wollte nicht zu lange auf<br />
distanz leben. so kam er wechselweise<br />
zu seiner Familie im elterlichen heim,<br />
wo er vorübergehend auch die dorfschule<br />
besuchte, und zu seinen meistern<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
5
in den bergen. er lernte die ebenen<br />
wechseln und stand auf diesem Wege<br />
sechs bis sieben Jahre lang in enger<br />
Verbindung zu seinen hohen lehrern,<br />
darunter auch der sagenumwobene,<br />
legendäre babaji. Was swami erläutert,<br />
unterstreicht er mit gesten seiner ungewöhnlich<br />
großen und schönen hände<br />
mit eigener aura. hinter ihm flutet sonnenlicht<br />
durch die scheibe und taucht<br />
den redenden in helles licht.<br />
das jahrelange meditative arbeiten ließ<br />
die Persönlichkeit immer durchlässiger<br />
werden. aus einem tiefen innenraum<br />
stetigen übens erwuchsen die kräfte, die<br />
im wahrsten sinne des Wortes magisch<br />
genannt werden können. doch darüber<br />
verliert er selber kein Wort.<br />
seine hohen Fähigkeiten erwirbt der<br />
mensch nicht, um sich selbst als fähiger<br />
zu erweisen, sondern um sich umso<br />
mehr in den dienst seiner mitmenschen<br />
zu stellen. er verfügt über die angemessene<br />
demut, sich nicht zu besserem berufen<br />
zu fühlen, sondern den menschen<br />
wahrzunehmen, der seiner hilfe bedarf.<br />
der wahre meister stellt seine Fähigkeiten<br />
niemals zur schau. der wahre meister<br />
beansprucht niemals einer zu sein.<br />
der wahre meister ist ein meister der<br />
menschlichkeit. er repräsentiert durch<br />
sein seltenes menschentum, wonach andere<br />
suchen und ringen.<br />
es ist das Jahr 2006 und eine Zeit, in der<br />
viele menschen von der empfindung eines<br />
gewaltigen Zeitenumschwungs ergriffen<br />
werden, als die schulung des 19-<br />
jährigen noor nicht mit dem abitur,<br />
nein, mit seiner erleuchtung ihre kulmination<br />
erfährt. auch darüber redet er<br />
nicht, denn wer diesen Prozess durchlaufen<br />
hat, hat zu schweigen gelernt.<br />
durch ein jahrelang konzentriert gerichtetes<br />
denken und Fühlen hat er die vollkommene<br />
kontrolle über denken und<br />
Fühlen, sowie über körperliche befindlichkeiten<br />
erlangt. sein ich ist herrscher<br />
geworden über körper, seele und geist.<br />
Wie swami aatma Physisch-materielles<br />
beherrscht, kann der erleben, der ihm<br />
persönlich begegnet.<br />
Das Leben – ein Wunder<br />
der jugendliche noor war somit im alter<br />
von nur 19 Jahren gereift zu swami<br />
aatma. mit der erleuchtung hatte sein<br />
meister seine arbeit vollendet und ging<br />
vollbewusst und vorbereitet über die<br />
schwelle: er starb.<br />
swami aatma, der die völlige selbstbeherrschung<br />
errungen hatte und sich im<br />
Vollbesitz seiner kräfte und energien befand,<br />
entwickelte nun den Wunsch, die<br />
erde zu bereisen, um sein Wissen und seine<br />
Fähigkeiten anzuwenden. so sprach er<br />
mit seinen eltern. Wie im rahmen einer<br />
Familie füreinander sorge getragen werde,<br />
dieses Verständnis sei in indien ein<br />
ganz anderes als bei uns, erklärt der swami<br />
mir. Wenn in indien kinder größer<br />
werden, übernehmen sie die sorge für die<br />
eltern. in deutschland hingegen verlassen<br />
die kinder ihre eltern, um ihr individuelles<br />
leben zu leben und die eltern gehen<br />
in altersheime. das sei völlig entgegen<br />
seiner kultur und gesinnung.<br />
als der Vater ihm mitteilte, dass die situation<br />
finanziell so nicht stimme, erwiderte<br />
er: gut, er werde hart arbeiten und seine<br />
Verantwortung tragen. also arbeitete er<br />
rund zwei Jahre lang sehr hart als taxifahrer<br />
und erwarb sich dadurch die möglichkeit,<br />
ein kleines geschäft für die reparatur<br />
elektronischer geräte zu eröffnen.<br />
nach 18 monaten suchte ihn ein<br />
großer bauunternehmer auf, der an eben<br />
jener stelle seines ladens ein großes bauvorhaben,<br />
ein shoppinghotel verwirklichen<br />
wollte und ihm eine geldsumme<br />
bot. nein, erwiderte swami, dieses geschäft<br />
sei wichtig für ihn, er könne es<br />
nicht abgeben. da bot der bauherr die<br />
zweifache und dreifache und als swami<br />
immer noch ablehnte, die fünffache summe.<br />
er wollte partout in den besitz dieses<br />
ladens gelangen, der sich an genau jener<br />
stelle befand, wo der große haupteingang<br />
des hotels liegen sollte. ohne den<br />
laden wäre das gewaltige bauvorhaben<br />
nicht zu verwirklichen gewesen. Was er<br />
denn verlange, wollte der baulöwe wissen<br />
und swami entgegnete, er wolle kein<br />
geld. stattdessen begann er ihm seine<br />
spirituelle sicht darzulegen, seine Vision<br />
und die situation seiner eltern. daraufhin<br />
erwiderte der bauherr, gut, er wolle zahlen,<br />
was die eltern benötigten und er,<br />
swami könne gehen, wohin er wolle -<br />
wenn er nur gehe. so erfüllte jeder des<br />
anderen Wünsche. es wurde möglich,<br />
den eltern ein haus zu erwerben und sie<br />
mit kapital zu versorgen.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
6<br />
der Weg war geebnet. alles vollzog sich<br />
in seinem leben wie ein Wunder für ihn,<br />
erläutert der swami. er sei nicht wirklich<br />
ein guter geschäftsmann. aber was man<br />
aus tiefstem herzen wirklich will, mit innerer<br />
kraft und allem ernst, das komme<br />
auch – davon ist er überzeugt – zu den<br />
eigenen Füßen. es sei eine Frage des<br />
selbstlosen Willens.<br />
Das sich selbst<br />
zum Leuchten bringende Ich<br />
Welche selbstbeherrschung und charakterstärke<br />
diesen erleuchteten leiten,<br />
wird jeder gewahren können. Wer die<br />
meisterschaft über die materie gewonnen<br />
hat, muss jede spur von egoismus<br />
überwunden haben, muss gelernt haben,<br />
die konzentration zu einem brennglas<br />
selbstloser liebe und erkenntniskraft<br />
werden zu lassen. seine mission ist,<br />
bewusstsein zu wecken, klärungs- und<br />
reinigungsprozesse in gang zu bringen,<br />
Wachstum einzuleiten und heilung zu<br />
bewirken auf allen ebenen. aber wie ein<br />
katalysator in der chemie Prozesse in<br />
gang bringt und beschleunigt, ohne sich<br />
selber in Verbindung zu bringen, so<br />
bringt auch der meister in gang, was<br />
letztendlich nur aus der eigenen inneren<br />
substanz, aus dem eigenen ich gewonnen<br />
werden kann. Wer agiert, das ist das<br />
innere menschliche ich, das die eigene<br />
substanz ergreift, jenes stumpfe erz, das<br />
durch die arbeit am eigenen selbst immer<br />
leuchtender und kristalliner zur erscheinung<br />
kommt. Wie gewöhnlich sind<br />
die substanzen, sand, kalk und soda,<br />
aus welchen man durchsichtiges glas<br />
gewinnt. tatsächlich ist glas kein chemischer<br />
stoff, sondern ein energetischer
Zustand, der durch Zufuhr einer extrem hohen energie<br />
erreicht wird. auf dem schulungsweg kann nur ein jahrelanges<br />
stetiges üben die brennkraft entfachen, die die<br />
Voraussetzung ist für die Verwandlung der inneren substanz.<br />
Päckchen<br />
Märchenlotto | Erzählspiel:<br />
Koko und Dreinusshoch<br />
ist<br />
die<br />
Geschichte<br />
einer<br />
ungewöhnlichen<br />
Freundschaft<br />
zwischen einem Zwerg und<br />
einem Marienkäfer.<br />
DIN A5 Büchlein<br />
15 x Karten<br />
Erhältlich bei www.ml-viriot.de<br />
Frühling 2016<br />
VORHANG AUF - HEFT 106<br />
BÄUME<br />
Eiche, Birke, Esche, Tanne,<br />
Ahorn, Kirsche, Bonsai...<br />
Spagettibaum, Stammbaum,<br />
Schlagbaum, Purzelbaum...<br />
Baumhäuser, Baumtiere,<br />
Wald, Baumbewohner,<br />
Baumhoroskop, Baumbaum...<br />
Was ist deine Sendung?<br />
swami aatma begann zu reisen. die englische sprache<br />
erwarb er sich autodidaktisch durch sein interesse an anderen<br />
menschen, durch stetigen austausch und konversation.<br />
nach europa kam er das erste mal 2008.<br />
ich frage ihn, wie er die menschen in deutschland erlebe.<br />
„Verschlossen“, antwortet swami, „im geist sind die<br />
menschen oftmals sehr rege, im herzen aber vielfach<br />
verschlossen. sie nehmen sich nicht die Zeit für sich<br />
selbst. Viele menschen zieht es hierher in die ländlich-ruhigere<br />
bodensee-gegend, wo sie sich sagen: hier habe<br />
ich mein heim, mein geld, hier bin ich sicher. aber ich<br />
frage: Wo ist dein innerer raum, dein innerer reichtum,<br />
deine innere sicherheit? es gibt in Wahrheit keine äußere,<br />
es gibt nur eine innere sicherheit, einen inneren<br />
reichtum. es geht darum, innerlich ruhig zu werden und<br />
die nervosität abzulegen, sich selbst wirklich wahrzunehmen<br />
- sich selbst zu erkennen. die menschen schauen<br />
von klein auf mit ihren vorgefertigten meinungen hinaus<br />
in die Welt. ich zeige hingegen gerne, wie man nach<br />
innen schaut. ich unterrichte, wie gedanken kontrolliert<br />
werden können. und manche Fragen lassen sich nicht<br />
mit dem Verstand, sondern nur mit dem herzen beantworten.<br />
Viele emotionale muster sitzen sehr tief in den<br />
menschen: lust, ärger, stolz, eifersucht, missgunst,<br />
Wut,… . sie tauchen blitzschnell als automatismus auf –<br />
ohne die innere bewusste erlaubnis. sie zeigen ihre Wirkung<br />
im gesicht, im körper, im ganzen menschen und<br />
werden schließlich zur erkrankung im physischen leib.<br />
Wie schnell macht sich ärger auf dem schauplatz des bewusstseins<br />
ohne meine innere Führung breit. Wenn ich<br />
aber keine kontrolle gewinne, dann gewinnt er über meinen<br />
körper kontrolle. das leben in resonanz erzeugt die<br />
gemäße äußere Wirklichkeit: Solange ich mich noch ärgere,<br />
begegnen mir Menschen, die mich ärgern. Ich sage:<br />
Lebe in Kontrolle deiner Gedanken und Gefühle! Jeder ist<br />
sein eigener Erzieher!“<br />
da der gedanken- und gefühlskontrolle auch auf dem<br />
anthroposophischen schulungsweg ein großes gewicht<br />
zukommt, frage ich den swami, was er von rudolf steiner<br />
und der anthroposophie hält. „rudolf steiner ist eine<br />
überaus große seele“, erwidert er, „und an der anthroposophie<br />
gibt es überhaupt nichts auszusetzen“. und er<br />
wiederholt: „rudolf steiner is a special and a very good<br />
person!“ die überströmende kraft, die seinen Worten<br />
nachdruck verleiht, lässt uns für momente verstummen.<br />
als ich den swami nach seinem hauptanliegen frage, erwidert<br />
er: „ich möchte ein bewusstsein von spiritualität<br />
schaffen. spiritualität aber bedeutet bewusstwerdung! es<br />
ist an der Zeit, in der die menschen zu ihrer Freiheit und<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
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unabhängigkeit, zu ihrer eigentlichen<br />
sendung erwachen können. es gibt heute<br />
unglaublich viele auffassungen von<br />
spiritualität. sie beziehen sich auf religion,<br />
Yoga, Pilgerschaften, kultische Zeremonien<br />
in gemeinschaften, usw. aber<br />
es ist wichtig zu wissen, dass die spiritualität<br />
(spirit, lat. = geist) alles durchzieht.<br />
die natur ist spirituell, in liebe<br />
verbunden zu sein, ist spirituell – nichts<br />
in dieser Welt, dem nicht ein geistiges<br />
zugrunde liegt. Zu dieser geistigkeit zu<br />
erwachen, dazu ist es heute an der Zeit -<br />
und diese Zeit ist kostbar“.<br />
„ich sage: nutze die Zeit! Wenn du geld<br />
verlierst, kannst du es wiedergewinnen,<br />
aber die Zeit, die du verlierst, ist nicht<br />
wiederzugewinnen. Was ein kind in einer<br />
bestimmten altersphase nicht gelernt<br />
hat, lernt es später nur schwer.<br />
Zeitverschwendung ist Lebensverschwendung.<br />
ich sage jedem: Verschwende<br />
keine Zeit! übe, gib deinem<br />
leben sinn, werde wesentlich, lebe präsent!<br />
dann gehst du auch erfüllt und<br />
glücklich zu bett und erlebst den nächsten<br />
tag als einen gesegneten, der dir<br />
wieder 24 stunden schenkt. Jeder<br />
mensch erhält täglich 24 stunden Zeit<br />
geschenkt, nicht mehr und nicht weniger.<br />
bei vielen menschen ist der körper<br />
gegenwärtig, aber die gedanken sind<br />
abwesend, sie leben einen 24-stündigen<br />
automatismus, werden wie roboter…<br />
aber ein roboter kann niemals zur<br />
selbsterkenntnis gelangen. hier innezuhalten,<br />
sich auf den wahren sinn des lebens<br />
zu besinnen, dazu rufe ich auf. ändere<br />
deinen sinn! renne nicht durch die<br />
Zeit, um ein äußeres Vermögen zu machen.<br />
besinne dich auf dein inneres<br />
Vermögen! die Zeit wartet nicht auf<br />
dich. und eines der größten lebensgeheimnisse<br />
lautet: Verlasse die Zeit! in einem<br />
reißenden Fluss kann man nicht<br />
schwimmen lernen. halte inne! der einwand,<br />
dass die äußeren lebensumstände<br />
den menschen bestimmen, kann hier<br />
nicht geltend gemacht werden, denn jeder<br />
lebensumstand ist vollständig vom<br />
menschen selber kreiert. und jeder lebensumstand<br />
kann jederzeit auch verwandelt<br />
werden. alles ist selbstgemacht<br />
– wenn nicht in diesem, dann in vergangenen<br />
leben. nichts kommt von ungefähr,<br />
selbst dieses interview nicht. die<br />
energien schwingen immer zurück -<br />
auch in dieser begegnung. Wir sind uns<br />
bereits begegnet, wir begegnen uns heute<br />
und wir werden uns wieder begegnen.<br />
aber wie auch immer begegnungen verlaufen<br />
– eines ist entscheidend: dass es<br />
in guter absicht geschieht - das ist das<br />
Wesentliche!“<br />
Der beste Weg ist der Schulungsweg<br />
um auch einen blick auf das gegenwärtige<br />
Zeitgeschehen zu werfen, frage ich<br />
swami, wie er die situation der zunehmenden<br />
Flüchtlingsströme sieht. er erklärt,<br />
wie die hauptagitatoren ihren egoismus<br />
in einem machtspiel ausspielen,<br />
das von großem übel für die Zukunft ist.<br />
„die Zerstörung der erde erfolgt nicht<br />
durch Vulkanausbrüche, Wirbelstürme<br />
oder tsunamis, sondern im gegenüber<br />
von mensch zu mensch. es können sich<br />
heute entsetzliche abgründe in der<br />
menschlichen seele auftun und die gefahr<br />
ist nicht fern. Wir leben in einer sehr<br />
gefährdeten situation, wenn wir nicht<br />
aufwachen und uns unserer spiritualität<br />
bewusst werden. hier gilt es auch, zum<br />
herzen zu finden, denn ein scharfsinniger<br />
intellekt, der dem egoismus dient,<br />
kann unglaubliches unheil anrichten.<br />
hinter den kulissen sind drahtzieher am<br />
Werk, die unendliches leid erzeugen.<br />
aber der egoismus der machthaber findet<br />
seine resonanz auch in den Flüchtlingen,<br />
die nicht für ihr eigenes land, für<br />
eine bessere gesellschaft bleiben und<br />
eintreten wollen, sondern in einem anderen<br />
land ein besseres leben und mehr<br />
Wohlstand für sich selber erhoffen. es ist<br />
kein hohes bewusstsein, das sich sagt:<br />
ach, in deutschland kann ich viel geld<br />
machen. es ist sogar töricht zu denken:<br />
hier bin ich reich. die tomaten, die in<br />
meinem land 10 cent kosten, kosten<br />
hier 1,50 euro. es ist immer einfach, den<br />
schnellen Weg einzuschlagen und<br />
schwierig, den guten, langsamen Weg zu<br />
erklimmen. gift wirkt im körper immer<br />
sehr schnell, die medizin wirkt nur langsam.<br />
schlechte gewohnheiten stellen<br />
sich rasch und von selber ein, gute gewohnheiten<br />
sind schwer zu erringen.“<br />
als ich swami frage, ob man dem nicht<br />
auch Positives abgewinnen könne, dass<br />
grenzen sich öffnen, erwidert er: „natürlich,<br />
alles hat seine guten seiten. aber<br />
die menschen sollten in einer richtigen<br />
Weise, auf richtigen Wegen zu uns gelangen.<br />
es gibt immer für alles eine lösung,<br />
einen Weg. der beste Weg ist der<br />
schulungsweg, der den menschen offenbart,<br />
wie sie zu einem bewussteren leben<br />
gelangen!“<br />
Appell an die Eltern<br />
da mich in unserem themenzusammenhang<br />
besonders die Fragen der eltern<br />
angehen, bitte ich swami seine botschaft<br />
an die eltern von kindern zu formulieren.<br />
Wie alle mitteilungen, die<br />
swami macht, ist auch die an die eltern<br />
kräftig und schlicht:<br />
„Wenn eltern ein kind bekommen, verändern<br />
sich die energien und Verantwortlichkeiten<br />
vollkommen. Vater und<br />
mutter sind von nun an vollständig für<br />
eine andere seele mitverantwortlich.<br />
diese Verantwortlichkeiten kann man<br />
auch nicht teilen. schon die werdende<br />
mutter benötigt die Verbindung zum<br />
ehemann, seinen schutz. dieser schutz<br />
besteht, wenn alle in Verbindung stehen.<br />
es genügt nicht, wenn der mann<br />
meint, die mutter sorge bereits und er<br />
gebe den finanziellen halt – der mann<br />
muss auch seine energien geben.<br />
eltern müssen begreifen, dass sie mit einem<br />
kind nicht in trennung gehen dürfen.<br />
eltern können als ehefrau und ehemann<br />
getrennt werden, aber niemals als<br />
mutter und Vater. Fehlt ein elternteil,<br />
geht es den kindern nicht gut. dann verändern<br />
sich die energetischen Verhältnisse<br />
im kind auf ganz ungesunde Weise.<br />
Wenn mutter und Vater nicht in liebe<br />
ihre kinder gemeinsam betreuen,<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
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sind die schwierigkeiten vorprogrammiert.<br />
das ist auch der grund, warum<br />
kinder heute so verdreht sind. sie haben<br />
nicht die klarheit in ihrem leben und<br />
leiden unter geistigen und seelischen<br />
mankos. Wenn sie größer werden, machen<br />
sie die falschen schritte, suchen<br />
die falschen menschen, können gefühle<br />
nicht genießen und das leben wird<br />
schwierig. beide eltern sind voll verantwortlich<br />
und diese Verantwortlichkeit<br />
wiegt schwer. die mutter lebt mehr vor,<br />
wie wir zu liebenden menschen werden,<br />
der Vater mehr, wie wir Verantwortung<br />
in der äußeren Welt übernehmen.<br />
diese Qualitäten müssen ausbalanciert<br />
werden. kommst du von deiner beruflichen<br />
tätigkeit nach hause, so lass alles<br />
diesbezügliche an der haustüre zurück<br />
und sei eine gute mutter oder ein guter<br />
Vater. sprich und betätige dich mit den<br />
kindern – nicht mit handys, Fernseher,<br />
kino – sondern im direkten gegenüber.<br />
Frage die kinder nach ihrem befinden,<br />
fühle mit ihnen, verleihe sicherheit in<br />
herzensfragen, vermittle wahre Werte<br />
und sei darin in allem ein Vorbild!<br />
Wenn du deine eigenen Probleme löst,<br />
werden kinder lernen, schwierigkeiten<br />
gewachsen zu sein.<br />
streite niemals in gegenwart von kindern<br />
– das ist gegenwärtig das größte<br />
Problem, das sich mir zeigt! die eltern<br />
sind die gestalter der Zukunft ihrer kinder,<br />
streit und Zank im beisein der kinder<br />
muss zur unmöglichkeit werden.<br />
rede stattdessen mit deinen kindern,<br />
wie sie sich fühlen, warum sie sich so<br />
fühlen und wie sie sich ihre Zukunft erträumen.<br />
die herzensverbindung ist<br />
wichtig. und niemals verwöhne kinder<br />
mit teuren dingen und wertvollen geschenken.<br />
schenke vielmehr Zeit, liebe<br />
und Weisheit. schenke ein inneres, kein<br />
äußeres Vermögen!<br />
Wenn das kind sich zutiefst getragen<br />
und verstanden fühlt, wächst eine starke,<br />
gesunde seele heran. erziehe so, dass<br />
ein starkes ich sich entwickelt. und verliere<br />
dein kind nie aus den augen, wisse,<br />
wo es sich aufhält, mit wem es<br />
spricht und wohin es strebt! das ist deine<br />
elterliche Verantwortung!“<br />
Während der swami mit einem unnachahmlichen<br />
ausdruck innerer kraft seine<br />
Worte gerade heraus und unmissverständlich<br />
wählt, wirkt er selbst wie ein<br />
mächtiger Vater: kraftvoll, gütig und voller<br />
liebe. sicher, er selbst werde auch<br />
seine eigene Familie einst gründen, erzählt<br />
er freimütig mit hellem blick. dass<br />
seine Projekte mit Waisenkindern in indien<br />
ihn auch in weiterem sinne einen<br />
Vater sein lassen, ist unbestritten.<br />
eine solche kraft geht von ihm aus, dass<br />
der eindruck des unergründlichen sich<br />
stetig steigert. immer neue Fragen entstehen<br />
in mir und insgeheim tut es mir leid,<br />
diesen menschen nicht einfach nach<br />
hause einladen zu können, denn wer<br />
wollte einen „dalai lama“ beispielsweise<br />
zu sich an den küchentisch bitten…?<br />
„Jetzt notierst du dir deine Fragen in<br />
ruhe, und ich suche dich nochmals zuhause<br />
auf“, sind die abschließenden<br />
Worte, die mir zuletzt wirklich die sprache<br />
verschlagen.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
9<br />
Spirituelle Zusammenkünfte = Satsangs<br />
um den inder auch im kreis der ihn aufsuchenden<br />
menschen wahrnehmen zu<br />
können, besuche ich die sogenannten<br />
satsangs, im rahmen derer swami Fragen<br />
beantwortet und seine spirituelle<br />
lehre vermittelt. auf dem Weg durch die<br />
abendsonne zu jenem privaten Quartier<br />
des meisters, beginnt es zu regnen. der<br />
in Folge sich wölbende regenbogen<br />
leuchtet so farbintensiv, dass die natur<br />
bereits auf geheimnisvolle Weise einzustimmen<br />
beginnt. noch ist wenig bekannt,<br />
dass ein indischer meister im lande<br />
weilt. doch die nachricht verbreitet<br />
sich schnell. am ersten abend versammeln<br />
sich sieben, am dritten abend<br />
zwölf und nach ablauf der Woche bereits<br />
fast vierzig Personen - im alter zwischen<br />
5 monaten und 80 Jahren. das<br />
weinerlich werdende kleine kind wird<br />
augenblicklich ruhig, als swami dieses<br />
zu sich nimmt. es ist ein bild für götter,<br />
den Vitalität ausstrahlenden inder mit<br />
dem kleinen kind auf dem schoß, in das<br />
augenblicklicher Friede einkehrt. ich<br />
entsinne mich, wie unsere beiden kleinen,<br />
unbändigen, völlig ungezügelten<br />
terrier auf den besuch swamis reagierten.<br />
niemals haben unsere hunde solchen<br />
anstand bewiesen, die sonst jeden<br />
besucher anspringen. dass sie einen<br />
großen bogen um swami drehten, als sei<br />
seine aura nicht zu durchdringen, war<br />
schon höchst ungewöhnlich. dass aber<br />
beide wie höchste achtung erweisend<br />
vor ihm zu boden gingen, die köpfchen<br />
zu ihm hochgewandt und wild<br />
schwanz wedelnd gebannt so verharrend,<br />
solange swami ihnen aufmerksamkeit<br />
schenkte – das war wie ein ausschnitt<br />
aus einem Franz von assisi-Film.<br />
es hat sich aber tatsächlich genauso ereignet.<br />
„irgendwelche Fragen?“ fragt der inder,<br />
dessen feine gestalt und aufrichtige<br />
Freundlichkeit allen gegenüber, die in<br />
seinen umkreis treten, die menschen<br />
auf eigentümliche Weise berührt. antworten<br />
erteilt er nur, wenn man ihn<br />
fragt. den freien Willen zu respektieren,<br />
hat höchste Priorität. und der meister erzählt<br />
nichts, was der Fragende nicht<br />
auch aufzunehmen und zu tragen bereit<br />
wäre. Fragen sind seine nahrung, erklärt<br />
er den hörern. und jeder gewahrt, wie<br />
selbstvergessen ein mensch sich zu geben<br />
imstande ist, der wenig mehr als<br />
Fragen zu sich nimmt und des Weiteren<br />
nur einer schlichten schlafstatt bedarf,<br />
wo auch immer er in erscheinung tritt.<br />
Wer sein inneres kraftwerk entzündet,<br />
für den ist es gleichgültig, an welchem<br />
ort er sein Wirken entfaltet. auch an der<br />
unscheinbarsten stelle vermag er in umfassend<br />
menschheitlichem sinne zu wirken.<br />
er ist unabhängig von heim, einkommen<br />
und persönlichem besitz und<br />
persönlich weder verletzbar, noch bestechlich<br />
oder verführbar. sein Wirken<br />
ist überpersönlich und seine strahlkraft<br />
schützt ihn auf allen ebenen – auch vor<br />
schädlichen einflüssen der atmosphäre<br />
oder der nahrung. die Willenskraft, die<br />
aus der überwindung der leidenschaf-
ten resultiert, die liebesfähigkeit, die im<br />
mitfühlen mit jedem ansuchenden einen<br />
je individuellen ausdruck findet<br />
und die schlichtheit und reinheit der<br />
gedanken führen vor augen, wohin ein<br />
mensch sich zu entwickeln imstande ist.<br />
Erkenne dich selbst!<br />
„erkenne dich selbst!“ lautet sein ruf. erwache<br />
zu dir selbst, erkenne, wer du<br />
wirklich bist – und das ist mehr als deine<br />
derzeitige Persönlichkeit, mehr als der<br />
winzige ausschnitt gegenwärtigen erlebens.<br />
Welche persönlichen Fragen auch<br />
gestellt werden, an jeden ergeht der appell,<br />
durch sich selbst Verwandlung herbeizuführen<br />
und den schlüssel des lebens<br />
zu ergreifen. die antwort auf<br />
schwierige schicksalsfragen ist übung,<br />
ist leben in einfachheit, schlichtheit, ist<br />
spirituelle Praxis aus Freiheit.<br />
die ganz persönlichen antworten sind<br />
dem geschützten raum vorbehalten,<br />
denn swami liest in den menschen wie<br />
in offenen büchern. Viele menschen<br />
kommen mit beziehungsproblemen, mit<br />
energieproblemen – auch krankheit ist<br />
ein mangel an energie -, die auf karmischen<br />
tatsachen beruhen. hier hilft er,<br />
die Probleme in Freiheit und unabhängigkeit<br />
selber angehen zu können. den<br />
idealen Partner kann man ebenso wenig<br />
erwarten wie man seine erleuchtung erwarten<br />
kann. man muss seine inneren<br />
kräfte entfachen, ein bewusstsein der eigenen<br />
energien entwickeln und die<br />
selbstkontrolle beherrschen, so dass<br />
lust, ärger, habsucht, neid, stolz und<br />
andere abhängigkeiten unmöglichkeit<br />
werden. Wer hoch schwingt, zieht hoch<br />
schwingende ereignisse an. einen idealen<br />
Partner kann man nicht passiv erwarten,<br />
ein idealer Partner kann man nur<br />
werden. Wir können heute nicht passiv<br />
erwarten, was von den himmeln herunterkommt,<br />
wir müssen unseren eigenen,<br />
inneren himmel erschaffen, ein kraftwerk<br />
an leben, licht und liebe in uns<br />
selber entfachen.<br />
Welche kraft darin liegt, allen menschen<br />
in guter absicht, interessiert und<br />
in positiver haltung, sprich lächelnd<br />
entgegenzutreten, nicht naiv – sondern<br />
wachbewusst und authentisch, das machen<br />
sich viele nicht wirklich bewusst,<br />
die mit dem scharfschneidenden<br />
schwert eines scharfsinnig geschmiedeten<br />
intellekts über andere ein vernichtendes<br />
urteil fällen. das richten in die<br />
lenkung des schicksals zu legen und die<br />
urteilsschärfe auf die eigene Wandlung<br />
zu richten, hieße am aufbau und nicht<br />
an der Vernichtung mitzuwirken.<br />
Viele Fragen entstehen zu bestimmten<br />
individuellen krankheitssituationen und<br />
jedem ratsuchenden vermittelt der inder<br />
das gefühl, für ihn ganz alleine präsent<br />
zu sein. er sieht, wie bei jedem konkret<br />
die Vitalkräfte ins gleichgewicht gebracht<br />
werden können durch spezielle,<br />
individuell verabreichte meditative Praxis,<br />
durch individualisiert angeschaute<br />
kontrolle der gefühle und gedanken<br />
und durch ratgebende Vorschläge zu ernährung<br />
und leben. als heiler greift er<br />
selber nur in jenen Fällen ein, in denen<br />
der Fragende selbst die kraft aufzubringen<br />
nicht imstande ist, vorausgesetzt,<br />
das karma lässt heilung zu. er verlangt<br />
nichts für seine dienste am menschen.<br />
die dankbarkeit und den Wunsch, etwas<br />
zurückzutragen, entwickelt der<br />
mensch auf je eigene, originäre Weise.<br />
Der Geistesmensch = Atma<br />
Wie müde, erschöpft und gestresst auch<br />
immer die menschen sich einfinden an<br />
diesem abend, die kraft, die Freude und<br />
harmonie, die der heilige mann verbreitet,<br />
ergreift jeden eigentümlich und<br />
stark, und sein humor tut sein übriges.<br />
eine teilnehmerin klagt, nachts nicht gut<br />
in den schlaf zu finden. „Wenn sie eine<br />
Frau sind und nicht schlafen können, so<br />
halten sie den mann zunächst auf abstand“,<br />
lautet die erheiternde antwort.<br />
„Wenn sie ein mann sind, und nicht<br />
schlafen können, so nehmen sie die Frau<br />
in die arme. befindet der mann sich<br />
wirklich im Frieden, so kommt er auch<br />
nicht auf falsche ideen.“ die tatsache,<br />
dass ja dann beide nicht schlaf finden<br />
können, lässt auch den letzten in lachen<br />
ausbrechen.<br />
Was swami jedoch tief in das reich<br />
energetischer Verhältnisse eintauchend<br />
erläutert, sind diffizilere kräfteverhältnisse,<br />
die im energetischen organismus<br />
des menschen urständen. er spricht über<br />
die chakren und energiekanäle, die sogenannten<br />
nadis, welche die chakren<br />
verbinden. nicht von ungefähr lautet der<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
10<br />
name des swami aatma. atma heißt<br />
auch der geistesmensch, der in den<br />
Vollbesitz seiner menschlichen energien<br />
gelangt ist und physiologische Prozesse<br />
unter kontrolle hat und zu regulieren<br />
vermag. atma ist jedoch zugleich auch<br />
der atem. mithilfe eines geregelten atmens<br />
in der meditation baut der mensch<br />
an seinem geistigen leib. die energie,<br />
die aus dem hauptkanal (=sushumna)<br />
entlang der inneren Wirbelsäule fließt,<br />
durch die chakren reflektiert wird und<br />
über den körper hinausstrahlt, bildet die<br />
menschliche aura.<br />
die menschliche aura lesen zu können,<br />
sei keine übermenschliche kraft, erläutert<br />
er. Wer zu den energien tieferen Zugang<br />
habe, könne über Persönlichkeit,<br />
charakter und entwicklungsmöglichkeiten<br />
ganz offen sprechen – wie ein arzt,<br />
nur eben auf energetischer ebene.<br />
Was des inders eigene aura, die achtungsatmosphäre<br />
so mächtig erscheinen<br />
lässt, ist seine eigene achtung menschlicher<br />
Würde, auch vor dem geringen,<br />
noch unvollkommenen und ungeläuterten.<br />
stets hat er die selbsterkenntnis<br />
und selbsterziehung im auge und dabei<br />
eine spürbar gewaltige toleranz, den<br />
mitmenschen ihre unzulänglichkeiten<br />
zuzugestehen, während er den Willen<br />
zu ihrer selbstverwandlung durch seine<br />
Worte und durch sein sosein so stärkt,<br />
dass jeder sich zutiefst verstanden und<br />
gekräftigt fühlt.<br />
göttlich mag man den menschen nennen,<br />
der durch seine große anteilnahme,<br />
seine überströmende herzlichkeit<br />
und Friedfertigkeit den höheren menschen<br />
im gegenüber berührt – und göttlich<br />
mag man den tag nennen, der einem<br />
einen solchen menschen zum geschenk<br />
macht.<br />
swami atma, cornelia haendler<br />
1 rittelmeyer: „meditation“, urachhaus , 1989<br />
Fotos: thiele Wüster
Wie Welt in der Zeit zur erscheinung kommt<br />
Kult.Kiste I: Interview mit Hans-Christian Zehnter<br />
Die<br />
KULT.KISTE<br />
Kultur für Klein und Groß<br />
Hans-Christian Zehnter, geboren 1963<br />
in Bochum, Diplom-Biologe; von 1993<br />
bis 2000 Naturwissenschaftliches Studienjahr<br />
und wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
an der Naturwissenschaftlichen<br />
Sektion am Goetheanum in Dornach,<br />
Schweiz. 2005 bis 2010 Redakteur bei<br />
der Wochenschrift ‹Das Goetheanum›.<br />
Vor 2005 und seit 2010 Mitarbeit im<br />
Tagungsorganisations- und Empfangsbereich<br />
des Goetheanum. Vorträge,<br />
Seminare und Kurse mit dem Schwerpunkt<br />
anthroposophischer Naturanschauung,<br />
zahlreiche Artikel sowie<br />
Buchpublikationen.<br />
Webseite: sehenundschauen.ch<br />
Hans-Christian Zehnter, Sie erforschen,<br />
wie es Tag wird. Was passiert da?<br />
ich beobachte, wie Welt zur erscheinung<br />
kommt. dazu gehe ich gern mit einer<br />
gruppe immer wieder verschiedener menschen<br />
noch im nachtdunkel nach draußen<br />
und beobachte an einem ort über zirka<br />
zwei stunden, wie sich die sinnliche darstellung<br />
aus der nacht in den tag hinein<br />
verwandelt. dies im einzelnen und in seiner<br />
Phänomenfülle zu beschreiben, wäre<br />
ein eigenes Publikationsprojekt wert. ich<br />
will hier nur kurz ein paar wichtige etappen<br />
andeuten. in der nacht schauen wir gerne<br />
an den sternenhimmel, zum kosmos empor.<br />
hier fühlen wir uns beheimatet. „kosmos“<br />
kann mit „ordnung“, „schönheit“,<br />
„glanz“ übersetzt werden. dieser kosmos<br />
zeigt sich in seiner kleinstmöglichen erscheinungsweise:<br />
durch kleine lichtpunkte.<br />
ihre beziehungen, ihre ordnung zueinander<br />
sind bereits etwas übersinnliches.<br />
die irdische Welt indes macht uns unsicher.<br />
ein finsteres, farbloses grau-in-grau<br />
ohne räumliche tiefe umgibt uns. der andere<br />
mensch hat kein gesicht, nur eine<br />
stimme. sein leib besteht aus einer flimmernd-bewegten<br />
kontur und einer flimmernd-getupften<br />
grauschwarzen binnenfläche.<br />
alles hat noch etwas luft-, Wolkenartiges.<br />
schaut man am eigenen leib herab, so<br />
entdeckt man, dass die eigenen Füße nicht<br />
zu sehen sind. – Perfekter kann man gespenster<br />
nicht inszenieren.<br />
im lauf des morgens findet nun eine fundamentale<br />
Verwandlung statt. im blick<br />
nach oben entziehen sich die sterne zunehmend<br />
der sichtbarkeit. Zunächst am<br />
himmel, dann auch mehr und mehr im<br />
umkreis erscheinen erste Farben. Parallel<br />
dazu bauen im Frühjahr die singvögel mit<br />
ihrem gesang einen klangdom auf, eine<br />
art nachklang des sternenglitzerns. mehr<br />
und mehr stellen sich auch die Formen<br />
und körperlichkeiten der Welt ein. gesichter<br />
zeigen sich nach und nach, und in<br />
dem moment, in dem ich meine eigenen<br />
Füße sehe, hat auch die Welt ringsum eine<br />
sichtbare und begehbare tiefe. Jetzt<br />
herrscht um uns herum „ordnung“,<br />
„schönheit“, „glanz“. der kosmos ist auf<br />
die erde gekommen – in seiner fülligsten<br />
und üppigsten erscheinungsweise.<br />
dieses Wunder findet jeden morgen<br />
statt. ein erquickender nebeneffekt dabei<br />
ist, dass die sinne nach einer solch<br />
intensiven beobachtung wie geputzt<br />
sind und die Welt ringsum wie neu<br />
wirkt, taufrisch. oftmals sieht die kleidung<br />
dann wie neu gekauft aus, man<br />
selbst erlebt das sehen und hören der<br />
Welt ringsum noch einige stunden danach<br />
klarer, reiner, präsenter.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
11
Fotos von unserem Jahreslaufkreis-ausblick … sie zeigen schön, wie unterschiedlich z.b. das städtische Wohngebiet erscheinen kann!<br />
Sie arbeiten mit zwei Gruppen am Goetheanum.<br />
Ja. die eine ist der sogenannte „Jahreslaufkreis“.<br />
Wir treffen uns seit gut zehn<br />
Jahren jeden montag, um den Jahreslauf<br />
der natur zu verfolgen. dazu beobachten<br />
wir immer denselben landschaftsausblick;<br />
zunächst ungefähr eine halbe stunde<br />
draußen vor ort. das wird uns überhaupt<br />
nicht langweilig - im gegenteil!<br />
anschließend werden diese beobachtungen<br />
mit hilfe des sogenannten seelenkalenders<br />
von rudolf steiner vertieft.<br />
Wir nehmen jedes mal ein Foto und<br />
schreiben ein Protokoll. das kann wöchentlich<br />
von der Webseite heruntergeladen<br />
werden.<br />
die zweite gruppe nennt sich „anblick<br />
– Zum sehen geboren, zum schauen bestellt“<br />
– siehe ebenfalls Webseite. diese<br />
gruppe hat zum anliegen, im sinne<br />
goethes und steiners ein schauendes<br />
Verhältnis zur natur zu entwickeln und<br />
zu vermitteln. stichworte sind hier: liebe<br />
zur Wahrnehmung; andacht; aufmerksamkeitsschulung;<br />
geistes-gegenwart<br />
im hier und Jetzt; Wirklichkeit als<br />
ort des ereignens; überwindung der<br />
subjekt-objekt-trennung; das übersinnliche<br />
im sinnlichen mitsehen lernen usw.<br />
Wie erleben Sie die Zeit bei Ihren Forschungen?<br />
bei der thematik „Zeit“ halte ich meist<br />
erst einmal den atem an. Wir haben dazu<br />
heute ein so ungeklärtes Verhältnis,<br />
dass es recht kompliziert ist, hier wieder<br />
zu einer sachgemäßen anschauung<br />
durchzudringen – das gilt auch für mich<br />
selbst.<br />
das Welken einer Pflanze setzt ihr<br />
Wachsen voraus. keine einzelne erscheinung<br />
einer Pflanze im Jahreslauf ist<br />
die ganze Pflanze. die ganze Pflanze<br />
findet sich nur in unserem inneren, als<br />
ein vorstellungsfreies, sich aber sinnlich<br />
offenbarendes, wirkendes Wesen. diesem<br />
Wesen ist es zu eigen, dass es sich –<br />
sobald es in erscheinung tritt – in Werden<br />
und Vergehen äußert, sonst wäre es<br />
keine Pflanze, kein lebewesen.<br />
ähnliches gilt auch für den ganzen Jahreslauf.<br />
seinem Wesen nach ist er wie<br />
ein dreigegliederter mensch zu denken:<br />
der Winter entspricht dem kopf-Pol, der<br />
sommer dem stoffwechsel-gliedmaßen-<br />
Pol, Frühling und herbst machen zusammen<br />
das rhythmische system aus.<br />
sobald dieses dreigegliederte Wesen in<br />
die erscheinung tritt, spielt es sich in der<br />
notwendigen Folge von Frühling, sommer,<br />
herbst und Winter ab.<br />
Zeit ist insofern leben, rhythmus zwischen<br />
„in-die erscheinung-treten“ und<br />
„Ver-Wesen-tlichen“. sie urständet keineswegs<br />
in einer materie an sich, sondern<br />
ergibt sich durch das in-erscheinung-treten<br />
von zuvor unsichtbarem.<br />
ich will versuchen, das an einem beispiel<br />
zu erläutern. alles, was im sonnenlicht<br />
steht, weist u.a. durch schatten auf<br />
sein in-bezug-stehen zur sonne hin. der<br />
bezug selbst ist übersinnlich und durch<br />
unser erlebendes denken erfassbar. er<br />
ist ganz ätherischer natur. der bezug<br />
zwischen sonne und gegenstand verläuft<br />
gleichzeitig. Jochen bockemühl<br />
prägte hierfür den begriff „erscheinungszusammenhang“,<br />
rudolf steiner nannte<br />
dies den lichtäther.<br />
auch die nacht kann als schatten der<br />
sonne aufgefasst werden. Vom standpunkt<br />
des menschen aus betrachtet ist<br />
dieser Zusammenhang nicht in der<br />
gleichzeitigkeit, sondern in der Folge<br />
von tag und nacht zu denken. die<br />
nacht folgt dem tag als schatten der<br />
sonne. Wir treten hiermit in einen Zusammenhang<br />
ein, der die sich verwandelnden<br />
erscheinungen in einem lebendigen<br />
Zusammenhang erhält; hierfür<br />
prägte Jochen bockemühl den begriff<br />
des Verwandlungszusammenhanges.<br />
rudolf steiner nannte es den chemischen<br />
äther.<br />
in dieser art verstehe ich die arbeit der<br />
Zeitenwesen: den bezug von aufeinander<br />
folgenden erscheinungen lebendig<br />
zu erhalten, indem sie das Frühere im<br />
späteren bewahren.<br />
Hat sich an der Zeitwahrnehmung etwas<br />
geändert im Laufe Ihrer Arbeit?<br />
Ja! Wir führen – wie schon erwähnt –<br />
seit mehr als zehn Jahren wöchentlich<br />
unsere Jahreslaufbeobachtungen durch.<br />
ich fühle mich mehr und mehr von dem<br />
strom getragen, der sich durch die 52<br />
Wochen zieht. ich erlebe nicht mehr eine<br />
lose Folge von ereignissen, sondern<br />
ein bezug herstellendes strömen zwischen<br />
den einzelnen beobachtungseinheiten,<br />
Woche für Woche.<br />
Wie erleben Sie Ewigkeit - im Sinne von<br />
alles ist immer da?<br />
dieses anfängliche erlebnis hat etwas<br />
überschau-, etwas Panoramaartiges. insofern<br />
bewegt man sich in einem ewigen.<br />
dieses ewige wird in jedem moment gewollt<br />
und kreativ hervorgebracht; es<br />
schaut voraus und zugleich zurück. daher<br />
die doppeldeutigkeit des Wortes<br />
„einstmals“ als „war“ und „wird sein“.<br />
andererseits ist jedes Jahr in seinem irdischen<br />
erscheinen wieder ein ganz eigenes,<br />
vorher nie da gewesenes ereignis –<br />
allein schon dadurch bedingt, dass wir<br />
menschen aus diesem göttlichen Panoramazusammenhang<br />
herausgefallen<br />
sind und wir ja unfraglich den ganzen<br />
naturkreislauf global überprägen.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
12
Erleben Sie auch rückwärts laufende Zeit<br />
– oder gibt es manchmal Ahnungen davon?<br />
ich möchte mich auch da auf Forschungen<br />
von Jochen bockemühl beziehen.<br />
im Wachsen einer Pflanze durchschreitet<br />
ihre blattreihe folgende bildemotive:<br />
stielen, spreiten, gliedern, spitzen –<br />
und zwar in der genannten reihenfolge.<br />
das einzelne blatt aber durchläuft genau<br />
die gegenläufige richtung: spitzen,<br />
gliedern, spreiten und stielen. diese<br />
gegenläufigkeit im Wachstum einer<br />
Pflanze hat bockemühl in dem folgenden<br />
diagramm zusammengefasst:<br />
man sieht dadurch sehr schön, wie die<br />
Pflanze ihrem ausgangspunkt wieder<br />
zuströmt.<br />
in bezug auf unsere Jahreslaufarbeit<br />
drängt es sich geradezu auf, dass wir unsere<br />
nun über zehnjährigen aufzeichnungen<br />
mit der Frage auswerten, ob es<br />
da auch solche bildemotive gibt, wie in<br />
der blattreihe und ob sich da vielleicht<br />
auch ein dem gegenläufiger Prozess entdecken<br />
lässt – aber dafür bräuchte es<br />
einfach eine gediegene finanzielle Forschungsfreistellung.<br />
Was sind Ihre Forschungsziele?<br />
in bezug auf den Jahreslaufkreis geht es<br />
uns vor allem um zweierlei: darum, den<br />
bezug zum Jahreslauf der natur nicht zu<br />
verlieren und den Jahreslauf in seiner<br />
seelisch-geistigen dimension miterfassen<br />
zu lernen.<br />
in bezug auf „anblick“: Wir<br />
betätigen/beteiligen uns in recht vielen<br />
Feldern: u.a. in landschaftswahrnehmung,<br />
sinnesanschauung, tierwelt, ornithologie,<br />
biologisch-dynamischem<br />
Weinbau, aber auch kunst und geldwirtschaft.<br />
Jedes dieser Felder hat seine<br />
je eigenen Forschungsziele. – ganz allgemein<br />
gilt: es geht uns darum, eine<br />
wirklichkeits- und geistgemäße anschauung<br />
von natur und kultur zu erarbeiten<br />
und zu erüben, in der die klassische<br />
kantsche subjekt-objekt-spaltung<br />
und der materialismus überwunden<br />
werden können.<br />
man mache sich die Folgen eine solches<br />
lebensgefühls des „abgekoppelt-seins“<br />
für die menschliche kultur deutlich: ich<br />
kann als mensch eigentlich nur eine<br />
konsternierte haltung einnehmen, ich<br />
kann keine Verantwortung übernehmen,<br />
ich kann nur noch meine – sinnlose –<br />
existenz hinnehmen ... und mich in das<br />
(un-)Vergnügen des konsums stürzen.<br />
genau da sind wir heute angelangt.<br />
Was ist die Methode?<br />
Will man schlagworte dafür geben,<br />
dann handelt es sich um goetheanismus,<br />
um Phänomenologie, um ästhetik<br />
als sinnliche erkenntnis oder auch um<br />
eine spirituelle naturanschauung in den<br />
stufen imagination, inspiration und intuition,<br />
so wie es steiner als wissenschaftliche<br />
methode ausgearbeitet hat.<br />
Zentral scheint mir, dass man sich als<br />
ausgangspunkt die konstitution unserer<br />
Wirklichkeit bewusst macht: es ist ja<br />
sinnlos, von einer Wirklichkeit zu sprechen,<br />
die ohne den wahrnehmenden<br />
menschen gegeben ist. Wie sollte die<br />
denn aussehen? es würde sie ja keiner<br />
sehen, oder besser: wahrnehmen!<br />
der Wahrnehmungsseite ist dabei keine<br />
materie unterlegt, das sinneserlebnis<br />
selbst macht die stoffseite der Wirklichkeit<br />
aus. und das, was der mensch in<br />
seinem innern angesichts einer sich ergebenden<br />
Wirklichkeit erlebt, das macht<br />
die natur der sache aus, ist also durchaus<br />
objektiv.<br />
sich dieser konstitution der Wirklichkeit<br />
in einer aktuellen situation inne zu werden,<br />
diese situation auch in diesem sinne<br />
erleben und verstehen zu lernen, das<br />
ist zugleich methode und Ziel.<br />
Das ausführliche Gespräch wird in dem Interview-<br />
Buchprojekt von Stefanie Benke und Ronald Richter<br />
„Vom Auffinden des Fadens“ (Arbeitstitel) über eine<br />
neue erkenntnisgetragene Empfindung zwischen Ich<br />
und Welt erscheinen; mit freundlicher Unterstützung<br />
der Förderstiftung der AGid.<br />
I -Hierfür bedürfte es aber entsprechender Fördergelder,<br />
mit denen wir für eine solche Publikation<br />
freigestellt werden könnten. Gleiches gilt für die Beschäftigung<br />
mit der Frage, warum die Vögel singen<br />
und v.a.m.<br />
II - s. R.Steiner: Der Jahreslauf als Atmungsvorgang<br />
(GA 223), Vortrag vom 2. April 1923.<br />
III - S. J. Bockemühl (Hrsg.): Erscheinungsformen des<br />
Ätherischen, Stuttgart 1985.<br />
IV - Aus J. Bockemühl: Bildebewegungen im Laubblattbereich<br />
höherer Pflanzen, in: W. Schad (Hrsg.):<br />
Goeth. Naturwissenschaft, Band 2, Botanik, Stuttgart<br />
1982. V - ebd.<br />
VI - S. auch H.-C. Zehnter: Zeitzeichen – Essays zum<br />
Erscheinen der Welt, Dornach 2011.<br />
Fotos: hans-christian Zehnter<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
13
Kult.Kiste II<br />
luzias neue abenteuer in der Zeit<br />
das engelkind luzia hat sehnsucht.<br />
sehnsucht nach der erde. ihre abenteuer<br />
im ersten buch (wir berichteten darüber)<br />
konnten sie wenig abschrecken. luzia<br />
meint: auf der erde lässt sich was lernen,<br />
viel mehr als im himmel, wo die erzengel<br />
für ordnung sorgen.<br />
Wie uns die bewegten, farbigen abbildungen<br />
zeigen, ist luzia bereits gewachsen.<br />
Zeit ist ja seit ihren letzten abenteuern<br />
auf der erde ins land gegangen. allerdings:<br />
engelkinder sind ungeboren,<br />
sie sind vor der Zeit, auch wenn es paradox<br />
erscheint, dass luzia dann noch ein<br />
kind und sogar gewachsen ist. „das ungeborene<br />
ist dem menschen ebenso wesenhaft<br />
wie die unsterblichkeit“, sagt<br />
rudolf steiner und fährt fort, dass das<br />
ewige zwei seiten hat, „die unsterblichkeit<br />
und die ungeborenheit", durch die<br />
wir erst „das dauernde … das wahrhaft<br />
ewige im menschen“ begreifen.<br />
das zeitlos ewige scheint von der Zeit<br />
geheimnisvoll durchwirkt und umgekehrt.<br />
haben wir nicht alle schon beglückende<br />
Zeitlosigkeit erfahren - wenn<br />
vielleicht auch immer seltener? Zum<br />
beispiel beim lesen der luzia-geschichten?<br />
ähnlich wird es sich mit der Zeit im Zeitlosen<br />
verhalten. sonst könnten wir keine<br />
beziehung zum ewigen, zum geistigen<br />
aufnehmen, denn alles spiegelt sich in<br />
sympathie und antipathie. und die luzia-geschichten<br />
könnte es auch nicht<br />
geben. Wir würden sie nicht verstehen.<br />
die ewige ordnung der Zeitlosigkeit<br />
verlangt, dass luzia einen auftrag<br />
braucht, um wieder zur erde zu dürfen.<br />
den erhält sie von den erzengeln. aber<br />
die haben viel zu viel zu tun, als sich um<br />
solche aufträge zu kümmern.<br />
also geht luzia zum erzengel Wegbereiter.<br />
der ist allem anschein nach nicht<br />
gar so streng. Zuerst muss luzia allerdings<br />
ihr kleid selbst weben, das ihr die<br />
passende zeitliche gestalt verleiht, und<br />
damit hofft sie, endlich den verflixten<br />
auftrag zu ergattern.<br />
tatsächlich: erzengel Wegbereiter<br />
macht es möglich. Wir kennen ihren<br />
auftrag nicht, wissen aber, dass er dazu<br />
dient, etwas zu lernen vom menschen,<br />
der ja auf der erde ist, Fähigkeiten zu<br />
entwickeln, die auch für den himmel<br />
neu und notwendig sind.<br />
schwupp! findet luzia sich auf einer<br />
Verkehrsinsel wieder. ihr Ziel ist das<br />
kaufhaus, wo sie im ersten buch das<br />
kaufen lernt. sie setzt sich die sonnenbrille<br />
auf, denn erfahrungsgemäß ist es<br />
darin ganz schön mollig und vor allem<br />
sehr hell. doch Pustekuchen! das kaufhaus<br />
zu dieser frühmorgendlichen stunde<br />
ist zappenduster.<br />
luzia ist ratlos und wendet einen alten<br />
himmelstrick an, von dem auch wir was<br />
lernen können: Wenn man nicht mehr<br />
weiter weiß, einfach vom gedanken loslassen,<br />
um so einen leerraum zu schaffen<br />
für neues …<br />
klar, so einfach, wie es klingt, geht das<br />
auch für luzia nicht. Plötzlich stehen<br />
statt eines neuen gedankens zwei männer<br />
mit sonnenbrillen vor ihr, aktenkoffer<br />
in der einen und silberne armbanduhr<br />
in der anderen hand - die sonnenbrillenmänner,<br />
von denen es noch viel,<br />
viel mehr gibt. alle sehen sich sehr ähnlich<br />
und legen ein ziemliches tempo<br />
vor. so sind wir mitten drin im abenteuer,<br />
in dem es um nicht weniger geht als<br />
bei momo oder dem Film matrix.<br />
ist es nicht die heldengeschichte, die<br />
wir alle, jeder auf seine Weise, bestehen<br />
müssen? es geht um die konfrontation<br />
von Wirklichkeit und geistigem, das<br />
sich oft genug nur noch in den Widersacherkräften<br />
manifestiert. damit aber die<br />
„geistige berührung“ wieder einem<br />
„Zauberstab gleicht“, wie es novalis<br />
verspricht, darf dem kampf nicht ausgewichen<br />
werden. und luzia lernt, wie es<br />
der titel schon verspricht, buchstäblich<br />
zu kämpfen. alles spielt sich in der aristotelischen<br />
einheit von raum und Zeit<br />
ab, in verdichteter Zeit: so erlernt luzia<br />
den kampfsport Judo an einem einzigen<br />
tag!<br />
spiegelt luzias sehnsucht und tatendrang<br />
sich nicht in den Worten rudolf<br />
steiners über den menschen wider, der<br />
in sich das ewige erwecke, „um den daseinswert<br />
der Welt zu erhöhen“? Was in<br />
ihm geistig aufblitze, sei „ein göttliches,<br />
das vorher verzaubert war, und das ohne<br />
seine erkenntnis brach liegen bliebe.“<br />
davon erzählt uns dieses wunderschöne<br />
buch, das weder die kenntnis philosophischer<br />
gedanken noch die des ersten<br />
buchs verlangt. der autor sebastian Jüngel<br />
und die illustratorin Johanna schneider<br />
schaffen es, uns in spannungsgeladene<br />
szenen und Farbräume immer tiefer<br />
hineinzuziehen, so dass jeder, kind und<br />
erwachsener, davon gepackt sein wird.<br />
Sebastian Jüngel: Luzia lernt kämpfen<br />
Bebildert von Johanna Schneider<br />
Verlag Ch. Mölmann, 48 Seiten, 16 Euro<br />
Übrigens: Man kann die Kult.Kiste auch im<br />
Märchen.Radio hören - ein Programm für<br />
Klein und Groß auf www.kultradio.eu oder<br />
www.maerchen-radio.de bitte den grünen<br />
Player-Button drücken.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
14
KINDERMUND<br />
UND ELTERNKOPF<br />
Zuschriften und Kinderfotos erwünscht!<br />
„mama, ich weiß jetzt warum das rechtschreibung heißt:<br />
stimmt’s? Weil man links anfängt und dann nach rechts schreibt!“<br />
kind: „mama, es sind nur noch zwei kleine Pizzen da, wir sind<br />
aber drei, dann geht es nicht auf! könnte ich die dann vielleicht<br />
haben?“ mutter: „Warum?“ kind: „na, weil ich auch schon mehr<br />
nudeln hatte!“<br />
Ferdi (6): „also mama, stimmt’s? den osterhasen gibts doch gar<br />
nicht. ich weiß nämlich, dass ihr die ostereier versteckt!... denn<br />
wie soll er schließlich in unser haus reinkommen?“... grübelnd...<br />
„höchstens, wenn man ein Fenster offen lässt - aber unten. oben<br />
ist es ja zu hoch für ihn...“<br />
Wir haben ein süßigkeitenkorb oben auf dem regal stehen.<br />
Valentin (4): „mama? Wenn ich 20 bin, dann komm ich bestimmt<br />
schon ganz allein oben an die süßigkeiten! dann kann ich mir<br />
ganz allein die gummibärchen nehmen!“<br />
„Liebes <strong>Vorhang</strong> Auf team, das hier bin ich Adrian mit meiner Schwester Jana<br />
und in der Mitte ist der Waldgeist vom Loßburger Zauberwald im Schwarzwald.<br />
Wir sind begeisterte <strong>Vorhang</strong> Auf - Leser und Rätsel-Löser und freuen uns schon<br />
auf das nächste Heft. Liebe Grüße an Euch alle von Adrian und Jana“<br />
„Wie hat gott das eigentlich gemacht - eva aus der rippe? und<br />
wie hat er dann adam gemacht?“<br />
im kindergarten: Jonathan möchte gern mitspielen, weiß aber<br />
nicht so recht wie... die kindergärtnerin schlägt vor, er könne<br />
doch fragen, ob er das baby sein darf. darauf Jonathan: „ nee, lieber<br />
ein normales kind!“<br />
karen Johanna heidecker, 4fache Jungsmutter, kössern.<br />
Hier gibt es „<strong>Vorhang</strong> Auf“ und noch viel mehr!<br />
ZEITSCHRIFTEN,<br />
BÜCHER, MINERALIEN...<br />
KUNSTDRUCKE,<br />
POSTKARTEN, NATURFARBEN...<br />
NATURKOST, TEXTILIEN<br />
SPIELWAREN,SPEISEN...<br />
20148 HAMBURG R.-STEINER-BUCHHANDLUNG<br />
Rothenbaumchaussee 103, Tel. 040/442411<br />
• Kinder- und Jugendbuch, Anthroposophie,<br />
Spielzeug, Kunstkarten, Kaffee<br />
44892 BOCHUM, Buchhandlung LESEZEICHEN<br />
Hauptstr. 220, Tel. 0234/9270873, Fax 9270875<br />
• Kinder-, Jugendbücher, Anthroposophie<br />
75433 MAULBRONN, LUCIA-LADEN<br />
Bahnhofstr. 1a, Tel. 07043/2996<br />
• Spielsachen, Bücher, Wolle, Westfalenstoffe<br />
Materialien zum Puppen- u. Bärenbasteln<br />
22926 AHRENSBURG OLLEFANT<br />
Rathausplatz 37/38, Tel. 04102/56362<br />
• Rund ums Kind, Schulranzen, Spielzeug<br />
45257 ESSEN, KINDERKRAM<br />
Kupferdreherstr. 182, Tel 0201/485442<br />
Fax 0201/482375 • Schöne Sachen<br />
zum Spielen, Schenken und Sammeln.<br />
92318 NEUMARKT/PÖLLING<br />
• DER KINDERSPIELZEUGLADEN – S’SCHREINER-ECK<br />
Glückstr.2, Tel.09181/31814 Fax 45912<br />
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Bornkampsweg 36 i, Tel. 04102/8035680<br />
• Alle Produkte des Waldow Verlages!<br />
Öffnungszeiten nach tel. Vereinbarung<br />
25337 ELMSHORN BÜCHERSTUBE M.CHR. RÖBKE<br />
Hainholz 40, Tel. 04121-5785049<br />
• www.buecher-stube.de<br />
66450 BEXBACH, NATURZWEIG<br />
•Tel./Fax 06826/50288<br />
68199 MANNHEIM, BITTERSÜSS<br />
Friedrichstr. 10, Tel. 0621/84309809 Fax 84309949<br />
• Naturkost + Café<br />
94032 PASSAU, KOLIBRI<br />
Theresienstr. 11 Tel/Fax 0851/36905<br />
• Spiel und Kunst, Naturtextilien, Kinder- Fachbücher<br />
94032 PASSAU, MARTINAS WOHLFÜHLOASE<br />
Theresienstr. 34 Tel. 0851/9884525<br />
• Die etwas andere Buchhandlung,<br />
WOHLFÜHLGESCHENKE & MEHR<br />
28870 OTTERSBERG AMTSHOF-BUCHHANDLUNG<br />
Am Vie 1, Tel. 04205-1244<br />
• Anthroposophie, Pädagogik, Kinderbücher<br />
70188 STUTTGART, HEIDEHOF-BUCHHANDLUNG<br />
W. Militz u. Co., Gerokstraße 10<br />
• Bücher, Spiele, Drucke, Schreibwaren<br />
CH-4143 DORNACH, LITERA<br />
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15
g<br />
Vorhan<br />
auf!<br />
Liebe Freunde von „<strong>Vorhang</strong> Auf“!<br />
inzwischen haben wir im Zuge unserer<br />
umstrukturierung und Verlagsauffrischung<br />
wichtige schritte vollzogen und<br />
viele weitere sind in Vorbereitung:<br />
Info3<br />
unsere infrastruktur, das heißt, der Vertrieb,<br />
die rechnungsstellung und der<br />
kundenservice wird seit 1. oktober<br />
durch unsere Freunde von info3 und<br />
amselhof-kunstdrucke in Frankfurt<br />
durchgeführt. es handelt sich weder um<br />
eine Fusion noch um eine „freundschaftliche<br />
übernahme“ - wie mancherorts<br />
gemunkelt wurde - sondern rein um eine<br />
dienstleistung, um eine Zusammenführung<br />
der Frankfurter kapazitäten mit unseren<br />
Vertriebsbedürfnissen. Wir freuen<br />
uns sehr über diese Zusammenarbeit<br />
und erwarten eine gegenseitige belebung<br />
unserer aktivitäten. - es gab ein<br />
paar unregelmäßigkeiten in der überleitung,<br />
wovon die meisten durch Probleme<br />
einer bestimmten telefongesellschaft<br />
hervorgerufen wurden, die unsere<br />
bisherigen nummern nicht weiterleiten<br />
konnte. Wir bitten nachträglich um Verständnis<br />
- bei erscheinen dieser ausgabe<br />
von „<strong>Vorhang</strong> auf“ sollte alles gut in seinen<br />
neuen bahnen laufen.<br />
Erziehungskunst<br />
durch die unterstützung in der Verwaltung<br />
können wir uns in der redaktion<br />
ganz den inhalten von „<strong>Vorhang</strong> auf“<br />
widmen und endlich mehr darum kümmern,<br />
unsere Zeitschrift in angemessenem<br />
umfang bekannt zu machen.<br />
in der dezemberausgabe der Zeitschrift<br />
„erziehungskunst“, die an allen Waldorfschulen<br />
verteilt wird, haben wir das<br />
erste mal vier seiten für kinder gestaltet,<br />
die Januarausgabe ist bereits vorbereitet.<br />
auch diese freundschaftliche Zusammenarbeit<br />
ist ein glücksfall für beide<br />
seiten.<br />
Garten der Phantasie<br />
durch zwei neue engagierte mitarbeiterinnen<br />
im bereich marketing, die wir<br />
beim nächsten mal vorstellen, entstehen<br />
Umstrukturierung,<br />
Verlagsauffrischung<br />
gerade mehrere interaktive Plattformen<br />
von „<strong>Vorhang</strong> auf“ im internet. das<br />
kernstück wird ein blog sein, also ein<br />
digitales Journal, auf dem wir wichtige<br />
pädagogische artikel und anregungen<br />
zur Phantasiepflege kostenlos veröffentlichen<br />
und sie die möglichkeit haben,<br />
mit interessierten leserinnen und lesern<br />
direkt zu kommunizieren. der blog wird<br />
voraussichtlich im laufe des Januar bereitstehen<br />
und trägt den namen „garten<br />
der Phantasie“.<br />
www.garten-der-Phantasie.de<br />
doch das ist nicht alles. die erneuernde<br />
energie bei „<strong>Vorhang</strong> auf“ umfasst weitere<br />
spannende bereiche, von denen wir<br />
im Frühling berichten.<br />
Wenn sie sich zwischenzeitlich informieren<br />
wollen, abonnieren sie bitte unseren<br />
kostenlosen newsletter auf<br />
www.WaldowVerlag.de<br />
herzlich - ihr eckehard Waldow<br />
Willkommen im Garten der Phantasie!<br />
Für unsere erste <strong>Vorhang</strong> auf erlebniswoche<br />
der neuen generation haben wir<br />
einen ganz besonderen ort ausgewählt:<br />
Weite Wiesen, Felder und Wälder.<br />
Vogelgezwitscher in den bäumen, der<br />
geruch nach „echten kühen“ und wunderschöne<br />
Vulkanseen, die man hier<br />
maare nennt. in jedem Örtchen trifft<br />
man auf Wanderer, welche die atemberaubende<br />
gegend zum aktiven erholen<br />
und ausspannen nutzen. Für die arbeit<br />
immer auf dem handy erreichbar zu<br />
sein, muss man gar nicht erst versuchen:<br />
handynetze gibt es hier nicht.<br />
die Vulkaneifel bietet uns viel raum,<br />
dem natürlichen Forschungsdrang der<br />
kinder nachzugehen und alles das, was<br />
wir sonst in <strong>Vorhang</strong> auf lesen, hautnah<br />
mitzuerleben.<br />
hier können wir uns nach lust und laune<br />
in der freien natur bewegen; den römern<br />
in trier, den rittern auf den manderscheider<br />
burgen und den Vulkanausbrüchen<br />
vor millionen von Jahren nachspüren.<br />
betreut wird die Freizeit von erfahrenen<br />
erlebnis-, kunst- und Waldorfpädagogen.<br />
unter anderem begleitet uns der<br />
herausgeber der Zeitschrift eckehard<br />
Waldow.<br />
Wir wohnen in einem naturpädagogisch<br />
orientierten hüttendorf, welches über<br />
ein weitläufiges gelände mit spiel- und<br />
sportplätzen, Feuerstellen, grillplätzen<br />
und ein riesen-tipi verfügt.<br />
selbstverständlich legen wir wert auf eine<br />
hochwertige, reichhaltige und kindgerechte<br />
Verpflegung.<br />
Wir werden uns selber neu kennen lernen,<br />
uns mit unglaublichen dingen beschäftigen<br />
und einfach nur sein.<br />
Wir freuen uns auf eine unvergessliche<br />
(Frei-) Zeit. - hanna Waldow, clelia<br />
kügler, raffael Waldow, Jan kügler,<br />
eckehard Waldow.<br />
anmeldung und weitere informationen<br />
auf www.ahoicamps.de oder telefonisch<br />
unter 040 84892377.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
16
Sebastian Jüngel<br />
„Rhythmus ist Leben“<br />
Märchen selber schreiben III<br />
In einer Serie von 4 Artikeln zeigt der<br />
Schriftsteller Sebastian Jüngel in anregender<br />
Weise die Schritte auf, die es Jedem<br />
möglich machen, selber Märchen zu (er-<br />
)finden und zu schreiben. Ob am Schluss<br />
eine Auswahl selbstgeschriebener Märchen<br />
unserer LeserInnen in <strong>Vorhang</strong> Auf<br />
erscheint? Alles ist möglich...<br />
eine der grundlegenden erfahrungen in<br />
unserem leben ist die Wiederholung: es<br />
wird am morgen hell, wir wachen<br />
auf; es wird am abend dunkel,<br />
wir schlafen ein. Wir stehen<br />
auf, waschen uns, ziehen uns an,<br />
essen etwas. als baby und kleinkind<br />
geschieht das alles mit einem,<br />
später ergreift man die sich<br />
wiederholenden Pflegeschritte<br />
selbst. denn was nicht gepflegt<br />
wird, verkommt oder geht ein<br />
wie eine Zimmerpflanze ohne<br />
Wasser.<br />
Wiederholung kann aber noch<br />
mehr sein als erhalt des bestehenden:<br />
nach dem Prinzip „Versuch und<br />
irrtum“, dem üben, erlernen wir<br />
etwas neues. Wir lernen, uns<br />
aufzurichten und zu gehen. Wir<br />
lernen, die schuhe zu binden,<br />
mit einer schere zu schneiden,<br />
auf dem Fahrrad zu fahren. Wir<br />
lernen ein musikinstrument spielen.<br />
oder wir lernen tanzen, bis<br />
aus dem erinnern einer abfolge<br />
von stellungen eine leichte, spielerische<br />
bewegung wird. dazu gibt es traditionellerweise<br />
den dreischritt lehrling,<br />
geselle und meister und den sieben-Jahres-rhythmus,<br />
der idealisiert auf entwicklungsschritte<br />
wie Zahnwechsel, Pubertät<br />
und mündigkeit bezug nimmt. hier führt<br />
Wiederholung zu einer schrittweisen<br />
steigerung von Fähigkeiten oder existenziellen<br />
erlebnissen.<br />
im märchen ist es nicht anders: aus dem<br />
kreis des gewohnten will der held, die<br />
heldin ausbrechen (oder wird von außen<br />
dazu angestoßen), denn sie möchten etwas<br />
neues lernen. sie verlassen den kreis<br />
und ergreifen eine Folge von (neuen)<br />
schritten.<br />
Widerstand macht es interessant<br />
dass aus einer Wiederholung etwas neues<br />
entstehen kann, ist doch überraschend,<br />
oder? denn Wiederholung führt<br />
ja durch Pflege nicht nur zum erhalt des<br />
bestehenden; Wiederholung führt auch<br />
zur abnutzung: ein brett in der küche<br />
wird dünner, ein messer wird stumpf,<br />
kleidung wird abgewetzt. damit Wiederholung<br />
zum erwerb einer Fähigkeit wird,<br />
braucht es etwas, was einen hindert, einfach<br />
so wie bisher weiterzumachen. Widerstand<br />
schafft zugleich spannung im<br />
erzählen. Wenn ich ihnen erzähle: „ich<br />
war gestern einkaufen“, werden sie möglicherweise<br />
sagen: „aha“, vielleicht<br />
noch: „Wie schön.“ damit wäre das gespräch<br />
beendet. denn was sollen sie mit<br />
dieser information anfangen?<br />
in der regel wecken wir interesse nicht<br />
durch das alltäglich-immergleiche, sondern<br />
durch das besondere.<br />
also ich ging natürlich nicht einfach einkaufen,<br />
sondern „mitten auf dem Weg<br />
zum supermarkt, da geschah es, dass…“<br />
und schon bin ich mitten in (m)einer geschichte.<br />
sie kennen vermutlich auch tage,<br />
an denen einfach nichts so recht gelingen<br />
will: „als ich zum einkaufen<br />
gehen wollte, klingelte<br />
das telefon und es meldete<br />
sich mein Freund, der einfach<br />
nicht aufhören kann zu<br />
schwätzen. dummerweise war<br />
ich ans telefon gegangen,<br />
denn nun saß ich nicht nur in<br />
der tinte, sondern auch auf<br />
brennenden kohlen, würde<br />
doch der supermarkt in 15 minuten<br />
schließen. als mein<br />
Freund endlich aufgelegt hatte,<br />
zog ich mir schnell die schuhe<br />
an, aber der schnürsenkel riss!<br />
o.k., ich schlüpfte in die turnschuhe<br />
(merkwürdig, dass bei<br />
ihnen noch nie die senkel gerissen<br />
sind). Jetzt aber schnell,<br />
sagte ich mir, öffnete die Wohnungstür<br />
– und stand vor der<br />
hauswartin. sie hatte den Fußboden<br />
feucht aufgewischt, da<br />
konnte ich nicht mal so eben<br />
rüber. endlich war das Wasser<br />
getrocknet! noch fünf minuten.<br />
beim supermarkt stellte ich fest, dass<br />
ich nicht genug geld dabei hatte…“<br />
Stauen und lösen – innehalten und<br />
weiterführen<br />
bei dieser art des erzählens staut sich immer<br />
wieder aufs neue der erzählfluss.<br />
das kann man beliebig weiter führen:<br />
„die turnschuhe erinnerten mich daran,<br />
wie ich mit meiner Freundin bei Wind<br />
und Wetter draußen war. nun ja, eigent-<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
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lich ja meine ex. die schuhe sind ja<br />
nichts mehr wert, löchrig und ausgetreten<br />
wie sie sind, aber ich vermochte nicht,<br />
sie wegzuwerfen, erinnern sie mich doch<br />
an eine schöne Zeit.“ hier staut sich ein<br />
Vorgang, denn mit dem erzählten habe<br />
ich noch keinen einzigen schritt richtung<br />
supermarkt gemacht, ja nicht einmal<br />
die schuhe angezogen.<br />
mit dem stauen des erzählflusses halten<br />
sie inne. sie beschreiben einen sachverhalt<br />
detaillierter (die schuhe als löchrig<br />
und ausgetreten) oder sie führen, auf der<br />
stelle tretend, neues ein (die ehemalige<br />
Freundin) – und verzögern damit den<br />
weiteren Verlauf der geschichte, um<br />
spannung zu erzeugen. auf die spitze getrieben<br />
hat dieses Prinzip laurence stern<br />
(1713–1768) in seinem roman „tristram<br />
shandy“.<br />
ein typischer stau im märchen sind hindernisse,<br />
bewährungen und das abarbeiten<br />
von Proben, die von mal zu mal anspruchsvoller<br />
werden. auch gibt es situationen<br />
des innehaltens, etwa wenn einfach<br />
mal sieben Jahre – oder gar 100 Jahre<br />
wie bei „dornröschen“ – scheinbar<br />
nichts geschieht, nichts jedenfalls, was<br />
groß berichtet wird. ansonsten geht es in<br />
einem märchen vor allem vorwärts,<br />
rückblicke sind selten, ausschmückungen<br />
kommen nicht vor. es geht um eine<br />
tür oder ein tor, nicht um eine alte oder<br />
eine holztür, auch nicht um ein steintor.<br />
es ist einfach eine tür, ein tor. und eine<br />
tür knarrt auch nicht wie im krimi, sondern<br />
man geht einfach hindurch. Fertig.<br />
und weil es um etwas allgemeinmenschliches<br />
geht, tragen märchengestalten<br />
selten einen namen und falls<br />
doch, dann einen allgemeinen wie hänsel<br />
und gretel, vergleichbar mit hinz und<br />
kunz. oder sie werden mit einem symbolischen<br />
amt bezeichnet wie könig, koch,<br />
Jäger. es gibt keine lene, keine Jana, es<br />
gibt auch keinen tobias oder stefan.<br />
denn alles, was zu sehr ins detail geht,<br />
lenkt ab. und ein märchen ist eine stark<br />
optimierte geschichte.<br />
der hirnforscher gerald hüther führte<br />
zum umgang mit stress in seinem buch<br />
„biologie der angst“ (2012) aufschlussreich<br />
aus: ist eine störung beherrschbar,<br />
festigt sie bestehende handlungsabläufe.<br />
sie werden effizienter und ausdifferenzierter,<br />
spezialisierter. Führt die störung<br />
zu einer krise, die nicht beherrscht wird,<br />
werden bisherige neuronale Verschaltungen<br />
gelöscht und damit die grundlagen<br />
für neues Verhalten geschaffen. (allerdings<br />
kann eine zu starke überforderung<br />
dazu führen, dass man auf alte Verhaltensweisen,<br />
die in tieferen hirnbereichen<br />
„für den notfall“ abgelegt sind, zurückgreift.)<br />
Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungsstadien<br />
entwicklungen vollziehen sich dabei<br />
nicht einfach nur „glatt“. bei einem Fossil<br />
des urvogels archaeopterix lassen sich<br />
merkmale finden, die typisch für ein reptil<br />
sind, andere, die typisch für einen Vogel<br />
sind, und drittens übergangsformen.<br />
der biologe Wolfgang schad erkennt<br />
auch im geborenen menschen verschiedene<br />
entwicklungsstadien („heterochromie“):<br />
eine spätgeburt sei der mensch<br />
hinsichtlich der „kopfinnenorgane“ und<br />
des „nervensinnessystems“, was ein<br />
übe rleben bei geburt mit sieben monaten<br />
möglich macht. eine „normalgeburt“<br />
ist der mensch hinsichtlich des schließens<br />
des „noch offenen Fensters in der<br />
herzscheidewand“ mit beginn der lungenatmung,<br />
„wodurch der arterielle und<br />
der venöse teil des kreislaufs endgültig<br />
getrennt werden“. auf eine Frühgeburt<br />
weisen das Verdauungssystem und die<br />
gliedmaßen, die erst relativ spät ein sichaufrichten<br />
erlauben. (Zeitschrift „seelenpflege“<br />
nr. 3/2015)<br />
Kausalität, Verwandlung, Umstülpung<br />
die von Wolfgang schad angesprochene<br />
„Verschiedenzeitlichkeit“ führt uns zu<br />
verschiedenen darstellungsformen. rudolf<br />
steiner charakterisierte einmal in einem<br />
Vortrag zum themenbereich „die<br />
Wirklichkeit der höheren Welten“ (26.<br />
november 1921) verschiedene Formen<br />
des denkens. das gewöhnliche denken<br />
sei ein kombinieren von „auseinanderliegenden<br />
gebilden“, die sich in räumlichen<br />
Verhältnissen abspielen. Wenn man<br />
es zusätzlich versteht als ein denken in<br />
kausalen Zusammenhängen, also in ursache-Wirkung-beziehungen,<br />
wird der<br />
bezug zum märchen deutlich: eine situation<br />
ist nicht mehr befriedigend, also geht<br />
das tapfere schneiderlein einen neuen<br />
Weg. die schwiegermutter möchte die<br />
schönste im land sein, also versucht sie,<br />
das schöne schneewittchen aus dem<br />
Weg zu räumen. all diese motive wurzeln<br />
in der Vergangenheit und rufen eine<br />
neue handlung hervor.<br />
beim morphologischen denken geht es<br />
um die Verwandlung einer Form in die<br />
nächste, um jeweils gegenwärtige gestaltungen,<br />
vergleichbar mit dem bearbeiten<br />
von einem stück ton: aus einem klumpen<br />
wird eine scheibe wird ein teller.<br />
der held, die heldin verändert sich auf<br />
dem Weg. hier zeigen sich übergangsphänomene<br />
(nicht mehr lehrling, noch<br />
nicht meister).<br />
beim Prinzip der umstülpung schlägt etwas<br />
in eine gänzlich andere eigenschaft<br />
um: im märchen wird aus einem bär „eines<br />
königs sohn“, aus dem Prinz ein könig<br />
– hier wird auf die reife, ein Ziel, die<br />
Zukunft gewiesen. aus dem nichtsnutz<br />
ist ein meister, ein könig, ein Weiser geworden.<br />
es gibt also die Wiederholung, die zyklisch<br />
verläuft und als Pflege auf den erhalt<br />
von etwas zielt, und eine weitere, die<br />
durch den Widerstand zu einer steigerung<br />
bisheriger oder zu gänzlich neuen<br />
Fähigkeiten führt. dieser ablauf kann gestaut<br />
oder weitergeführt werden. Formal<br />
gesprochen: tendenziell sorgen adjektive<br />
und nebensätze für ein innehalten,<br />
hauptsatzreihungen fürs Vorantreiben<br />
(und dann… und dann… und dann…).<br />
Fortsetzung folgt.<br />
margret von borstel: „hänsel und gretel“.<br />
links: „dornröschen i“. als Postkarten erhältlich.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
18
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Geschäftsführung, Redaktion:Waldow Verlag<br />
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