"Vorhang Auf" Elternteil
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lich ja meine ex. die schuhe sind ja<br />
nichts mehr wert, löchrig und ausgetreten<br />
wie sie sind, aber ich vermochte nicht,<br />
sie wegzuwerfen, erinnern sie mich doch<br />
an eine schöne Zeit.“ hier staut sich ein<br />
Vorgang, denn mit dem erzählten habe<br />
ich noch keinen einzigen schritt richtung<br />
supermarkt gemacht, ja nicht einmal<br />
die schuhe angezogen.<br />
mit dem stauen des erzählflusses halten<br />
sie inne. sie beschreiben einen sachverhalt<br />
detaillierter (die schuhe als löchrig<br />
und ausgetreten) oder sie führen, auf der<br />
stelle tretend, neues ein (die ehemalige<br />
Freundin) – und verzögern damit den<br />
weiteren Verlauf der geschichte, um<br />
spannung zu erzeugen. auf die spitze getrieben<br />
hat dieses Prinzip laurence stern<br />
(1713–1768) in seinem roman „tristram<br />
shandy“.<br />
ein typischer stau im märchen sind hindernisse,<br />
bewährungen und das abarbeiten<br />
von Proben, die von mal zu mal anspruchsvoller<br />
werden. auch gibt es situationen<br />
des innehaltens, etwa wenn einfach<br />
mal sieben Jahre – oder gar 100 Jahre<br />
wie bei „dornröschen“ – scheinbar<br />
nichts geschieht, nichts jedenfalls, was<br />
groß berichtet wird. ansonsten geht es in<br />
einem märchen vor allem vorwärts,<br />
rückblicke sind selten, ausschmückungen<br />
kommen nicht vor. es geht um eine<br />
tür oder ein tor, nicht um eine alte oder<br />
eine holztür, auch nicht um ein steintor.<br />
es ist einfach eine tür, ein tor. und eine<br />
tür knarrt auch nicht wie im krimi, sondern<br />
man geht einfach hindurch. Fertig.<br />
und weil es um etwas allgemeinmenschliches<br />
geht, tragen märchengestalten<br />
selten einen namen und falls<br />
doch, dann einen allgemeinen wie hänsel<br />
und gretel, vergleichbar mit hinz und<br />
kunz. oder sie werden mit einem symbolischen<br />
amt bezeichnet wie könig, koch,<br />
Jäger. es gibt keine lene, keine Jana, es<br />
gibt auch keinen tobias oder stefan.<br />
denn alles, was zu sehr ins detail geht,<br />
lenkt ab. und ein märchen ist eine stark<br />
optimierte geschichte.<br />
der hirnforscher gerald hüther führte<br />
zum umgang mit stress in seinem buch<br />
„biologie der angst“ (2012) aufschlussreich<br />
aus: ist eine störung beherrschbar,<br />
festigt sie bestehende handlungsabläufe.<br />
sie werden effizienter und ausdifferenzierter,<br />
spezialisierter. Führt die störung<br />
zu einer krise, die nicht beherrscht wird,<br />
werden bisherige neuronale Verschaltungen<br />
gelöscht und damit die grundlagen<br />
für neues Verhalten geschaffen. (allerdings<br />
kann eine zu starke überforderung<br />
dazu führen, dass man auf alte Verhaltensweisen,<br />
die in tieferen hirnbereichen<br />
„für den notfall“ abgelegt sind, zurückgreift.)<br />
Gleichzeitigkeit verschiedener Entwicklungsstadien<br />
entwicklungen vollziehen sich dabei<br />
nicht einfach nur „glatt“. bei einem Fossil<br />
des urvogels archaeopterix lassen sich<br />
merkmale finden, die typisch für ein reptil<br />
sind, andere, die typisch für einen Vogel<br />
sind, und drittens übergangsformen.<br />
der biologe Wolfgang schad erkennt<br />
auch im geborenen menschen verschiedene<br />
entwicklungsstadien („heterochromie“):<br />
eine spätgeburt sei der mensch<br />
hinsichtlich der „kopfinnenorgane“ und<br />
des „nervensinnessystems“, was ein<br />
übe rleben bei geburt mit sieben monaten<br />
möglich macht. eine „normalgeburt“<br />
ist der mensch hinsichtlich des schließens<br />
des „noch offenen Fensters in der<br />
herzscheidewand“ mit beginn der lungenatmung,<br />
„wodurch der arterielle und<br />
der venöse teil des kreislaufs endgültig<br />
getrennt werden“. auf eine Frühgeburt<br />
weisen das Verdauungssystem und die<br />
gliedmaßen, die erst relativ spät ein sichaufrichten<br />
erlauben. (Zeitschrift „seelenpflege“<br />
nr. 3/2015)<br />
Kausalität, Verwandlung, Umstülpung<br />
die von Wolfgang schad angesprochene<br />
„Verschiedenzeitlichkeit“ führt uns zu<br />
verschiedenen darstellungsformen. rudolf<br />
steiner charakterisierte einmal in einem<br />
Vortrag zum themenbereich „die<br />
Wirklichkeit der höheren Welten“ (26.<br />
november 1921) verschiedene Formen<br />
des denkens. das gewöhnliche denken<br />
sei ein kombinieren von „auseinanderliegenden<br />
gebilden“, die sich in räumlichen<br />
Verhältnissen abspielen. Wenn man<br />
es zusätzlich versteht als ein denken in<br />
kausalen Zusammenhängen, also in ursache-Wirkung-beziehungen,<br />
wird der<br />
bezug zum märchen deutlich: eine situation<br />
ist nicht mehr befriedigend, also geht<br />
das tapfere schneiderlein einen neuen<br />
Weg. die schwiegermutter möchte die<br />
schönste im land sein, also versucht sie,<br />
das schöne schneewittchen aus dem<br />
Weg zu räumen. all diese motive wurzeln<br />
in der Vergangenheit und rufen eine<br />
neue handlung hervor.<br />
beim morphologischen denken geht es<br />
um die Verwandlung einer Form in die<br />
nächste, um jeweils gegenwärtige gestaltungen,<br />
vergleichbar mit dem bearbeiten<br />
von einem stück ton: aus einem klumpen<br />
wird eine scheibe wird ein teller.<br />
der held, die heldin verändert sich auf<br />
dem Weg. hier zeigen sich übergangsphänomene<br />
(nicht mehr lehrling, noch<br />
nicht meister).<br />
beim Prinzip der umstülpung schlägt etwas<br />
in eine gänzlich andere eigenschaft<br />
um: im märchen wird aus einem bär „eines<br />
königs sohn“, aus dem Prinz ein könig<br />
– hier wird auf die reife, ein Ziel, die<br />
Zukunft gewiesen. aus dem nichtsnutz<br />
ist ein meister, ein könig, ein Weiser geworden.<br />
es gibt also die Wiederholung, die zyklisch<br />
verläuft und als Pflege auf den erhalt<br />
von etwas zielt, und eine weitere, die<br />
durch den Widerstand zu einer steigerung<br />
bisheriger oder zu gänzlich neuen<br />
Fähigkeiten führt. dieser ablauf kann gestaut<br />
oder weitergeführt werden. Formal<br />
gesprochen: tendenziell sorgen adjektive<br />
und nebensätze für ein innehalten,<br />
hauptsatzreihungen fürs Vorantreiben<br />
(und dann… und dann… und dann…).<br />
Fortsetzung folgt.<br />
margret von borstel: „hänsel und gretel“.<br />
links: „dornröschen i“. als Postkarten erhältlich.<br />
<strong>Vorhang</strong> auF • elternteil • heft 105 • Zeit<br />
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