02/2016
Fritz + Fränzi
Fritz + Fränzi
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Fr. 7.50 2/Februar <strong>2016</strong><br />
Jesper Juul<br />
Mobbing beginnt nicht<br />
in den Köpfen der Kinder<br />
Anorexie<br />
Wenn der Hunger zur<br />
Sucht wird<br />
Kiffen<br />
Was Jugendliche reizt<br />
Was Eltern tun können
Jeden Donnerstag für<br />
nur CHF 13 ins Kino.<br />
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und Softdrink<br />
inklusive<br />
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Jugendliche und Studierende.<br />
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Editorial<br />
Bild: Geri Born<br />
Nik Niethammer<br />
Chefredaktor<br />
Liebe Leserin, lieber Leser<br />
Nein, ich habe nie gekifft. Habe nicht einen einzigen Joint geraucht. Es hat<br />
mich nicht interessiert. Ich habe einen Höllenrespekt vor Rauschmitteln<br />
aller Art. Sich zudröhnen, betäuben, wegschiessen ist nicht mein Ding.<br />
Wenn ich einen Kick brauche, steige ich aufs Rad und quäle mich den Berg<br />
hoch. Bis die Beine schmerzen und die Gedanken fliegen.<br />
«Ich kiffe, weil es Spass macht», sagt Marco. Der KV-Lehrling zog mit<br />
14 Jahren zum ersten Mal an einem Joint. Heute habe er seinen Konsum<br />
im Griff, «manchmal rauche ich wochenlang nicht». Jetzt sei seine Mutter<br />
dahintergekommen, das stresse ihn total, «allein beim Gedanken an eine<br />
Familiensitzung zum Thema Kiffen ergreife ich die Flucht».<br />
Wie sollen Eltern reagieren, wenn sie merken: mein Kind kifft? Nicht in<br />
Panik verfallen, raten Experten, nichts überstürzen, das Kind nicht unter<br />
Druck setzen. Und keine schnellen Veränderungen erwarten. Kiffen ist<br />
ein Phänomen der Jugend, viele hören von selber wieder auf.<br />
«Kinder brauchen Führung<br />
durch Erwachsene.»<br />
Jesper Juul, dänischer Familientherapeut und<br />
neuer Kolumnist des Schweizer ElternMagazins<br />
Die gute Nachricht im Dossier «Vernebelt» meiner Kollegin Virginia<br />
Nolan: Es wird weniger Hasch geraucht als noch vor zehn<br />
Jahren. Die schlechte: Zwar hat nur eine Minderheit ein<br />
Suchtproblem. Aber die, die es betrifft, werden immer<br />
jünger. Und: Wer früh, also mit 12, 13 Jahren zu kiffen<br />
beginnt, läuft Gefahr, die Entwicklung seines Gehirns zu<br />
beeinträchtigen, seine kognitiven Fähigkeiten dauerhaft<br />
einzuschränken.<br />
Wenn es ums Thema Kiffen geht, wünschen sich Eltern vor allem eins:<br />
Antworten. Und Aufklärung. Wir liefern beides – ab Seite 10.<br />
***<br />
Meine zweite Leseempfehlung: der aufwühlende Bericht einer Mutter über<br />
das Leben ihrer magersüchtigen Tochter. Als Lea noch 30 Kilo wog, sagten<br />
die Ärzte: «Lassen Sie Ihre Tochter los. Sie muss selber entscheiden, ob sie<br />
leben oder sterben will.» Eine Geschichte zwischen Hoffnung und Verzweiflung,<br />
die zum Glück gut ausgeht – ab Seite 36.<br />
***<br />
Sein Markenzeichen ist sein «gelassener Optimismus», dass Eltern nicht<br />
perfekt sein müssen, um ihre Kinder dennoch gut zu erziehen, seine Botschaft:<br />
Jesper Juul ist einer der bedeutendsten Familientherapeuten Europas<br />
und Bestsellerautor. Ab heute schreibt er regelmässig für das Schweizer<br />
ElternMagazin.<br />
Das Thema seiner ersten Kolumne: Mobbing. Der wichtigste Satz: «Mobbing<br />
beginnt nicht in den Köpfen der Kinder.» Jesper Juul – ab Seite 42.<br />
Ich wünsche Ihnen viel Lesevergnügen und Glück an allen Tagen.<br />
Herzlichst, Ihr Nik Niethammer<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>3
Inhalt<br />
Ausgabe 2 / Februar <strong>2016</strong><br />
Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />
fritzundfraenzi.ch und<br />
facebook.com/fritzundfraenzi.<br />
Augmented Reality<br />
Überall, wo Sie dieses Zeichen sehen, erhalten Sie digitalen<br />
Mehrwert im Heft. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos<br />
und Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />
Psychologie & Gesellschaft<br />
35 Notrufnummer 147<br />
Die Anlaufstelle von Pro Juventute für<br />
Jugendliche in Not – vertraulich, kostenlos<br />
und rund um die Uhr.<br />
36 «Sie wog nur noch 30 Kilo»<br />
Leas Mutter musste zusehen, wie sich<br />
ihr Kind fast zu Tode gehungert hat.<br />
Eine Geschichte zwischen Hoffnung und<br />
Verzweiflung.<br />
Auch folgende Anzeige bietet Augmented Reality:<br />
BMW, Seite 76<br />
10<br />
Dossier: Kiffen<br />
Bild: Herbert Zimmermann / 13 Photo<br />
10 Vernebelt<br />
Experten sind sich uneins, wie schädlich der<br />
Cannabiskonsum ist. Für viele Jugendliche<br />
gehört er aber längst zum Alltag.<br />
Hier erzählen sie, warum.<br />
24 «Wer jung beginnt, hat ein Problem»<br />
Suchtexperte Oliver Berg im Interview.<br />
26 Mein Kind kifft – was nun?<br />
Gelassen bleiben, sagen Fachleute. Und<br />
keinen Druck ausüben.<br />
29 Zahlen und Fakten<br />
Kiffen heute mehr Jugendliche als früher?<br />
Cover<br />
«Ich kiffe, weil es Spass<br />
macht.» Für dieses Dossier<br />
haben wir uns mit<br />
Jugendlichen im<br />
Jugendzentrum<br />
Richterswil ZH getroffen.<br />
Bilder: Herbert Zimmermann / 13 Photo, Daniel Auf der Mauer / 13 Photo, Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />
4
30<br />
36<br />
44<br />
Herr Roos, wie werden Familien in Zukunft<br />
leben?<br />
Lea hat sich fast zu Tode gehungert.<br />
Ihre Mutter erzählt.<br />
Wenn alles neu und fremd ist: Zu Besuch<br />
in einer Asylschule in Luzern.<br />
Erziehung & Schule<br />
44 Schule im Asylzentrum<br />
Wie Flüchtlinge innerhalb kürzester<br />
Zeit auf die Regelschule vorbereitet<br />
werden sollen – ein Besuch in der<br />
Asylschule.<br />
48 Über Geld spricht man doch ...<br />
denn Kinder brauchen Orientierung.<br />
Wie man Finanzen in der Familie<br />
thematisiert.<br />
50 Bildung kostet<br />
Wer an der Schule spart, wird<br />
Folgekosten zu tragen haben, sagt<br />
der Dachverband Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schweiz.<br />
54 ADHS-Serie, Teil 5<br />
Oft haben ADHS-Kinder in der Schule<br />
einen schweren Stand: beim Lernen,<br />
mit den Lehrpersonen und den<br />
Kameraden. Wie sie unterstützt<br />
werden können.<br />
Ernährung & Gesundheit<br />
62 Das Kariesmonster<br />
Wir sind Weltmeister im Zähneputzen.<br />
Aber wir lieben eben auch Süssigkeiten.<br />
Digital & Medial<br />
64 «Online war ich ein anderer»<br />
Das Internet kann süchtig machen, wie<br />
das Beispiel von Simon zeigt. Wie Eltern<br />
einer Sucht vorbeugen.<br />
67 Mixed Media<br />
69 Jomo statt Fomo<br />
Warum es Spass machen kann, nicht<br />
immer erreichbar zu sein.<br />
Rubriken<br />
03 Editorial<br />
06 Entdecken<br />
30 Monatsinterview<br />
Zukunftsforscher Georges T. Roos<br />
weiss, wie sich Familienmodelle in den<br />
kommenden Jahren verändern werden.<br />
42 Jesper Juul<br />
Familientherapeut Jesper Juul erklärt,<br />
wie es zu Mobbing an Schulen kommt<br />
und was Lehrer und Eltern tun können.<br />
49 Michèle Binswanger<br />
«Eines spinnt immer.»<br />
52 Fabian Grolimund<br />
Wie Eltern mit ihren Kindern über<br />
Ängste sprechen.<br />
58 Stiftung Elternsein<br />
Ellen Ringier über Flüchtlinge und<br />
Parallelgesellschaften.<br />
60 Leserbriefe<br />
74 Eine Frage – drei Meinungen<br />
Darf ein Vater seinem Kind verbieten,<br />
zu rauchen, wenn er selber qualmt?<br />
Service<br />
59 Verlosung<br />
70 Unser Wochenende …<br />
… auf dem Schlitten.<br />
72 Impressum<br />
73 Buchtipps<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>5
Entdecken<br />
«Nach einer verbreiteten Ansicht bedeutet erwachsen zu werden, dass man auf<br />
die eigenen Hoffnungen und Träume verzichtet und sich mit der Realität abfindet.<br />
Ich finde das nicht erwachsen, sondern trostlos.»<br />
Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman im Wirtschaftsmagazin «brand eins».<br />
Swing it Kids!, das sind 15 Kinder aus dem Bodenseegebiet<br />
zwischen 10 und 16 Jahren, die seit Jahren mit<br />
ihrem Bandleader, dem japanischen Trompeter Dai<br />
Kimoto, jeweils in den Schulferien rund um die Welt<br />
Big-Band- und Jazzmusikkonzerte geben. Kimotos<br />
Sohn Fabian hat die Band bei ihren Auftritten in<br />
Japan, Amerika und Argentinien begleitet und daraus<br />
einen Dokumentarfilm gedreht. Dieser feiert an den<br />
Solothurner Filmtagen Premiere und ist ab dem<br />
11. Februar auch in den Kinos zu sehen.<br />
Bilder: ZVG<br />
Nicht ohne meinen<br />
Schlüsselbund<br />
Weitere Infos und Trailer auf<br />
www.swingkidsfilm.ch<br />
Laden und<br />
starten Sie die<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
scannen Sie diese Seite<br />
und sehen Sie den<br />
Trailer zu<br />
«Swing it Kids!».<br />
«Zu Hause Gutes tun und sich für unser Land<br />
einsetzen», das wollen sechs Gymnasiasten aus<br />
Zürich mit ihrem Schlüsselband UTurn. Von jedem<br />
verkauften Band werden drei Franken an die<br />
Stiftung Kinder in der Schweiz gespendet. Hergestellt<br />
werden die Bänder von einer sozialen Institution in<br />
der Schweiz. Die Stoffe, die sie verwenden, sind<br />
rezyklierte Rest- und Abfallprodukte aus Stoffläden.<br />
So haben die pfiffigen Jungunternehmer bereits für<br />
die Brustkrebsorganisation Pink Ribbon Schweiz<br />
300 Schlüsselbänder genäht. In Planung ist<br />
eine Dance Edition aus alten Jeans des Startänzers<br />
Chris von DJ Bobo. Die Anhänger können individuell<br />
angefertigt und beschriftet werden.<br />
www.uturn-online.ch<br />
6 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>7
Entdecken<br />
«Und? Wie wars in der Schule?» – «Gut.»<br />
«Jeden Tag entlocke ich meinem Sohn neue, aufregende Details.»<br />
Heiko Bielinski auf Twitter<br />
Der kleine Unterschied<br />
Das Tanzhaus Zürich beschäftigt sich im Februar mit dem Thema<br />
Geschlecht und Identität bei Kindern. Was heisst es, ein Junge oder ein<br />
Mädchen zu sein? Und warum ist auf Bäume klettern gerade für Jungs<br />
toll? Die Schweizer Tänzerin und Regisseurin Tabea Martin, 37, nennt ihre<br />
Inszenierung denn auch folgerichtig «Pink for Girls und Blue for Boys». Sie<br />
möchte vor allem die Kinder ermutigen, den Rollenstereotypen zu<br />
entfliehen – und das zu tun, was zur Persönlichkeit passt, und nicht das,<br />
was andere erwarten. Für alle Kinder ab 6 Jahren.<br />
www.tanzhaus-zuerich.ch<br />
3 FRAGEN<br />
an Charlotte Schweizer,<br />
Mediensprecherin Unicef Schweiz<br />
«Wie kinderfreundlich sind Schweizer<br />
Gemeinden?»<br />
Mit dem Label «Kinderfreundliche Gemeinde» zeichnet Unicef<br />
Gemeinden aus, die sich für die vollumfängliche Umsetzung der<br />
Kinderrechtskonvention auf kommunaler Ebene einsetzen.<br />
Kürzlich wurde die Gemeinde Wil SG damit ausgezeichnet.<br />
Interview: Claudia Landolt<br />
Bilder: ZVG<br />
Die Kunsthalle Zürich widmet sich im Februar mit der<br />
Ausstellung «The Playground Project» der Geschichte des<br />
Spielplatzes. Dabei wird mittels Fotos, Filmen und<br />
Modellen die rund 100-jährige Geschichte illustriert. Laut<br />
Kuratorin Gabriela Burkhalter gibt es aber auch<br />
Strukturen für das aktive, freie Spiel, wie etwa den<br />
Lozziwurm, Kletterseile und modulare Spielelemente für<br />
Kinder (und Erwachsene) jeden Alters.<br />
Ab 20. Februar <strong>2016</strong>, weitere Infos auf<br />
www. kunsthallezurich.ch/de/<br />
playground-project.<br />
Frau Schweizer, was wünschen sich Kinder von ihrer Gemeinde?<br />
Kinder wollen sich frei bewegen können, deshalb sind sichere<br />
Schulwege und Strassenübergänge wichtig. Viele schätzen auch<br />
den spontanen Zugang zum Wald, zur Badi, zu Fussball- und<br />
Spielplätzen. Es können aber auch kleine Dinge sein wie zum<br />
Beispiel Nistkästen für Vögel – oder Türglocken, die nicht zu hoch<br />
hängen.<br />
Augenhöhe 1,20 m als Massstab?<br />
Sich in diese Lage zu versetzen, ist sicher hilfreich, denn auf<br />
dieser Höhe sieht die Welt einfach anders aus. Im ebenfalls<br />
ausgezeichneten Basel zum Beispiel dekorierte eine Kindergärtnerin<br />
ihren Raum nicht selbst, sondern liess die Kinder ihn<br />
mitgestalten. Die Dinge hängen nun auf Höhe der Kinderaugen –<br />
und die Kinder findens prima.<br />
Was hat Wil, was andere Gemeinden oder Städte nicht haben?<br />
Wil ist bestrebt, Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte<br />
Akteure in das gesellschaftliche und politische Leben der<br />
Gemeinde miteinzubeziehen. Unicef möchte sensibilisieren<br />
und Denkanstösse für ein kinderfreundliches Umfeld geben, in<br />
welchem Kinder ihr Potenzial optimal ausschöpfen können.<br />
Eine Stadt, die unsere Auszeichnung nicht vorweist, ist nicht<br />
per se eine kinderunfreundliche Stadt.<br />
Weitere Informationen über die Unicef-Initiative auf<br />
www.kinderfreundlichegemeinde.ch<br />
8 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Dossier<br />
Vernebelt<br />
Wie schädlich ist Kiffen wirklich? Experten streiten sich darüber.<br />
Viele fordern ein Verbot, andere die Legalisierung von Cannabis<br />
– oft sogar im Namen des Jugendschutzes. Eltern wünschen sich<br />
vor allem eines: Antworten. Und Aufklärung.<br />
Text: Virginia Nolan Bilder: Herbert Zimmermann / 13 Photo<br />
10 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>11
Dossier<br />
Für dieses Dossier hat sich unsere Autorin<br />
Virgina Nolan mit Jugendkoordinator<br />
Daniele Gasparini und Jugendlichen im<br />
Jugendzentrum Richterswil ZH getroffen, um<br />
mit ihnen über das Kiffen zu sprechen. Sie<br />
tun dies unter falschem Namen.<br />
Wer den Joint<br />
gebaut hat, darf<br />
als Erster daran<br />
ziehen. Wer das<br />
Gras besorgte,<br />
kommt als Zweiter dran. Das seien<br />
ungeschriebene Gesetze, sagt Marco,<br />
und anständige Kiffer hielten sich<br />
daran. «Kiffen ist etwas Kollegiales»,<br />
findet der 16-Jährige, «da macht<br />
man nicht auf Ego.» Heute mag<br />
Marco nicht mitrauchen. Er gibt den<br />
Joint an Leyla weiter, die damit ihr<br />
Wochenende einläutet. In ihrem<br />
Lehrberuf betreut sie Kinder, Kiffen<br />
an Werktagen, sagt sie, sei für sie<br />
darum tabu. Anna und Leyla haben<br />
neue Freunde, seitdem sie kiffen.<br />
«Die alten waren damals voll dagegen»,<br />
sagen sie, und Anna lacht:<br />
«Heute kiffen sie selber.»<br />
Cannabis ist in der Schweiz die<br />
am meisten konsumierte illegale<br />
Droge – und, wie Sucht Schweiz<br />
festhält, «ein Phänomen der Ju -<br />
gend». Medienberichte, wonach das<br />
Rauschmittel immer stärker und<br />
Kiffer immer jünger werden, verunsichern<br />
Eltern. Experten warnen vor<br />
Schäden: Cannabis führe zu Psychosen,<br />
mache dumm und ausserdem<br />
anfällig für härtere Drogen. Alles<br />
falsch, sagen Cannabisbefürworter,<br />
Kiffer seien mindestens so schlau<br />
wie abstinente Altersgenossen und<br />
die These zur Einstiegsdroge eine<br />
längst widerlegte Mär.<br />
Was stimmt denn nun?<br />
Dieses Dossier will informieren, aufklären,<br />
einordnen. Wir haben die<br />
neusten Zahlen zusammengetragen,<br />
mit Fachleuten gesprochen – und wir<br />
lassen Jugendliche zu Wort kommen.<br />
Wir haben sie im Jugendzentrum der<br />
Zürcher Seegemeinde Richterswil<br />
getroffen. Sie reden unter falschem<br />
Namen, wegen der Lehrstelle, aber<br />
auch wegen der Eltern, die nicht<br />
schwarz auf weiss lesen sollen, dass<br />
der Sohn oder die Tochter Cannabis<br />
raucht.<br />
Eine Stunde Weltfrieden<br />
Nico und seine Freunde bestellen<br />
Pizza, sie lachen, wegen des Klischees,<br />
das sie damit bedienen: Kiffer<br />
haben ständig Hunger. Dazu<br />
kommt Nico ein Witz in den Sinn:<br />
«Würde sich die ganze Welt einen<br />
Joint anzünden, hätten wir eine<br />
Stunde Weltfrieden – und danach<br />
akute Lebensmittelknappheit.» Alle<br />
lachen. >>><br />
Cannabis ist die am meisten<br />
konsumierte illegale Droge –<br />
und ein Phänomen der Jugend.<br />
12 Februar <strong>2016</strong>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2016</strong>13
Dossier<br />
14 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Eine Minderheit der Kiffer hat ein<br />
Suchtproblem. Aber die, die es<br />
betrifft, werden immer jünger.<br />
>>> Warum kifft ihr? «Weil es<br />
chillig ist», sagt Fernando, «es entspannt.»<br />
«Es geht ums Zusammensein»,<br />
findet Leyla, «beim Kiffen<br />
haben wir tiefgründige Gespräche.»<br />
Es sind Experimentierfreude und<br />
Neugierde, die Jugendliche zum<br />
Joint greifen lassen, mitunter auch<br />
Gruppendruck und der Reiz des<br />
Illegalen, weiss Daniele Gasparini,<br />
seit 20 Jahren Jugendkoordinator in<br />
Richterswil. Der 63-Jährige hat viele<br />
Trends kommen und gehen sehen.<br />
Kiffen, sagt er, sei ein zeitloses Phänomen.<br />
Gasparini hat nicht den Eindruck,<br />
dass heute mehr Jugendliche<br />
kiffen als früher. Die Statistik gibt<br />
ihm recht: So gaben im Zuge der<br />
international durchgeführten<br />
Gesundheitsumfrage HSBC (Health<br />
Behaviour in School-aged Children)<br />
im Jahr 20<strong>02</strong> rund 37 Prozent aller<br />
15-jährigen Schülerinnen in der<br />
Schweiz an, mindestens einmal in<br />
ihrem Leben gekifft zu haben – 2014<br />
waren es noch 19 Prozent. Bei den<br />
gleichaltrigen Knaben ging die Zahl<br />
im selben Zeitraum von 46 Prozent<br />
sogar auf 30 Prozent zurück (vgl.<br />
Infografiken auf Seite 29).<br />
An den Konsummotiven, glaubt<br />
Gasparini, habe sich dagegen nicht<br />
viel geändert. Eine Schlüssel- >>><br />
Ich erzähle<br />
«Ich kiffe, weil es<br />
Spass macht»<br />
KV-Lehrling Marco, 16, ist<br />
Gelegenheitskiffer. Manchmal<br />
raucht er wochenlang nicht.<br />
«Zum ersten Mal gekifft habe ich<br />
mit 14 im Schullager. Ich spürte<br />
fast nichts. Beim zweiten Anlauf<br />
ein paar Monate später klappte es<br />
besser, es war sehr lustig.<br />
Ich bin Hip-Hop-Fan, und bei<br />
Rappern ist Marihuana ein Riesenthema.<br />
Das allein wäre für<br />
mich kein Grund zum Kiffen: Mitmachen,<br />
weil es dazugehört.<br />
Gruppendruck zieht bei mir nicht.<br />
Ich kiffe, weil es Spass macht.<br />
Letzthin waren wir an einer Hip-<br />
Hop-Party. Dann läuft diese geile<br />
Musik, deine Freunde sind da, alle<br />
sind ein bisschen high, jeder tanzt<br />
– da spürst du es einfach voll,<br />
wenn du weisst, was ich meine.<br />
Das ist unbeschreiblich.<br />
Eine Zeit lang hatte ich es übertrieben,<br />
mehrmals unter der<br />
Woche gekifft. Ich machte mir<br />
deswegen nicht wahnsinnig<br />
Gedanken. Aber da war nun doch<br />
häufiger der Drang, eins zu rauchen,<br />
das stresste mich. Zudem<br />
muss ich das Kiffen vor meinen<br />
Eltern verstecken. Das bereitete<br />
mir ein schlechtes Gewissen. Also<br />
reduzierte ich.<br />
Heute kiffe ich manchmal<br />
wochenlang nicht. Jetzt, da ich in<br />
der Lehre bin, könnte ich es mir<br />
anders auch nicht leisten. Ich<br />
glaube, meine Mutter ist mir auf<br />
die Schliche gekommen. Bis jetzt<br />
hat sie mich aber nicht aufs Kiffen<br />
angesprochen, ich hoffe, dass das<br />
so bleibt. Nur schon beim Gedanken<br />
an eine Familiensitzung zum<br />
Thema ergreife ich die Flucht. Ich<br />
gebe meinen Eltern auch keinen<br />
Anlass zur Sorge: Ich war ein<br />
guter Sekundarschüler, auch jetzt<br />
in der Lehre läuft es rund, und<br />
körperlich bin ich im Schuss.<br />
Das Klischee des antriebslosen<br />
Kiffers stört mich. Wenn mein<br />
Kumpel Flurin und ich kiffen, wollen<br />
wir auch was erleben. Wenn<br />
wir nicht in den Ausgang gehen,<br />
suchen wir draussen einen Platz<br />
fürs Zusammensitzen, statt mit<br />
dem Joint auf dem Sofa herumzuhängen.<br />
Das ist uns zu dumm.»<br />
15
Dossier<br />
>>> rolle spiele beispielsweise der<br />
Wunsch, irgendwo dazuzugehören:<br />
«Mit dem Kiffen unterstreichen<br />
Jugendliche ihre Zugehörigkeit zu<br />
einer bestimmten Gruppe.» So<br />
gehöre in gewissen Szenen wie der<br />
Hip-Hop- oder der Reggae-Kultur<br />
Cannabiskonsum zur Gruppenkultur,<br />
genauso wie bestimmte Redensarten<br />
oder der Kleidungsstil Ausdruck<br />
davon seien.<br />
Wo aber liegt die Grenze zwischen<br />
Jugendkultur und Sucht?<br />
«Wenn Leute allein kiffen, stimmt<br />
etwas nicht», finden Leyla und<br />
Anna. Und: Wer nur noch an den<br />
nächsten Joint denke, der habe ein<br />
Problem.<br />
Werte vermitteln statt Druck<br />
aufbauen<br />
So einer, sagt Caroline, sei ihr Sohn.<br />
Die 50-jährige Anwältin hat zu<br />
ihrem Teenager die Verbindung verloren:<br />
«Er schiesst sich jeden Tag mit<br />
einem Joint weg. Was dann im Zimmer<br />
hockt – teilnahmslos, lethargisch,<br />
mit einer Mir-ist-alles-egal-<br />
Haltung –, das ist nicht mehr mein<br />
Sohn.» Auch Flurin und seine Freunde<br />
kennen solche Fälle. «Wer so<br />
abstürzt», glaubt Flurin, «will mit<br />
dem Kiffen Probleme verdrängen,<br />
die er schon vorher hatte: die abgebrochene<br />
Lehre, Konflikte zu Hause,<br />
sowas.» Diese Tendenz bestätigt Gasparini.<br />
Der Jugendarbeiter betont aber,<br />
dass es zur Definition des «Problemkiffers»<br />
keine allgemeingültigen Kriterien<br />
gebe. «Oft reduzieren Eltern<br />
normale pubertäre Erscheinungen<br />
aufs Kiffen, zum Beispiel, wenn ein<br />
Jugendlicher viel schläft und oft<br />
Mit dem Kiffen unterstreichen<br />
Jugendliche ihren Wunsch, zu<br />
einer Gruppe dazuzugehören.<br />
müde ist.» Überhaupt beschränkten<br />
sich Erwachsene viel zu häufig darauf,<br />
von Jugendlichen Abstinenz zu<br />
fordern, statt sie nach ihrem Befinden<br />
zu fragen. Gasparini nennt das<br />
Symptombekämpfung, die vergesse,<br />
nach Ursachen zu forschen. «Wir<br />
sollten uns vielmehr dafür interessieren,<br />
wie es Jugendlichen geht»,<br />
fordert er, «und zwar nicht erst dann,<br />
wenn sie Probleme haben. Prävention<br />
heisst Beziehungsarbeit.»<br />
Christian Kalt ist Leiter der Klinik<br />
für Suchttherapie im aargauischen<br />
Neuenhof, die auch Minderjährige<br />
beim Entzug begleitet.<br />
«Unsere jugendlichen Patienten<br />
haben meist fürsorgliche Eltern»,<br />
sagt Kalt, «sie geben ihr Bestes, aber<br />
sie haben zu wenig Zeit.» Die Schuld<br />
dafür gibt Kalt weniger den Eltern<br />
als einer leistungsorientierten<br />
Gesellschaft, die den Takt vorgibt<br />
und diktiert, was als erstrebenswert<br />
gilt: Erfolg, und zwar sichtbarer.<br />
«Heute sind viele Mütter und Väter<br />
besessen von der Angst, das Kind<br />
könnte sich nicht optimal entwickeln.»<br />
Eltern forderten von ihrem Kind<br />
die Leistungsbereitschaft, die sie<br />
selbst an den Tag legten. Demzufolge<br />
seien die Ansprüche an den Nachwuchs<br />
immens, ebenso das Risiko,<br />
an diesen zu scheitern. «Und weil<br />
alle so beschäftigt sind, ist dann niemand<br />
da, um das Kind aufzufangen»,<br />
sagt Christian Kalt. «Kein<br />
Wunder, muss es als Jugendlicher<br />
irgendwann Dampf ablassen.» Im<br />
schlechtesten Fall seien Drogen das<br />
Ventil. Die beste Prävention sei darum<br />
Zeit, die Eltern ihren Kindern<br />
schenken könnten, und eine Erziehung,<br />
die Werte stärker gewichte als<br />
bare Leistung.<br />
Wenn der Schuss nach hinten<br />
losgeht<br />
«Ich würde Cannabis nicht als Einstiegsdroge<br />
bezeichnen», sagt Klinikleiter<br />
Kalt. Viele der Patienten, die<br />
wegen sogenannt harter Drogen zum<br />
Entzug vorstellig würden, hät- >>><br />
16 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Cannabis<br />
Formen und Fakten<br />
Hanf (lateinisch Cannabis) gehört zu<br />
den ältesten Nutzpflanzen der Welt. Aus<br />
ihr werden etwa Fasern oder Speiseöl<br />
gewonnen. Die Hanfpflanze hat über<br />
450 verschiedene Wirkstoffe, 70 davon<br />
sind sogenannte Cannabinoide, die auch<br />
in der Medizin zum Einsatz kommen.<br />
Das psychoaktive Tetrahydrocannabinol<br />
(THC) ist vor allem für seine berauschende<br />
Wirkung bekannt.<br />
Wegen ihres hohen THC-Gehalts<br />
werden für Drogenhanf weibliche Hanfpflanzen<br />
verwendet. Durch ausgefeilte<br />
Anbaumethoden in sogenannten Indoor-<br />
Plantagen ist der THC-Gehalt von Cannabisprodukten<br />
in den letzten Jahren stark<br />
gestiegen – Maximalwerte kommen auf<br />
fast 30 Prozent. Getrocknete Blüten und<br />
manchmal auch Blätter der weiblichen<br />
Hanfpflanze kommen als Marihuana,<br />
Gras, Weed oder Ganja in den Handel.<br />
Ihr Aussehen ähnelt dem von Tee oder<br />
getrockneten Kräutern. Marihuana wird<br />
meist – pur oder mit Tabak vermischt<br />
– in einem Joint geraucht. Es enthält<br />
durchschnittlich etwas über 10 Prozent<br />
THC.<br />
Das Harz der weiblichen Hanf-<br />
Blütenstände wird als Haschisch, Piece<br />
oder Dope bezeichnet. Haschisch hat<br />
eine dunkle Farbe, seine Konsistenz<br />
kann bröcklig oder fest sein. Für den<br />
Verkauf wird es zu Platten oder Klumpen<br />
gepresst. Haschisch enthält etwas mehr<br />
THC als Marihuana, üblicherweise etwa<br />
12 bis 13 Prozent. Meist wird es geraucht,<br />
kann aber – wie Marihuana – auch via<br />
Wasserpfeife (Bong) konsumiert werden.<br />
Cannabisöl ist in der Schweiz wenig<br />
verbreitet. Es wird durch ein aufwendiges<br />
Destillationsverfahren gewonnen und hat<br />
einen THC-Gehalt von über 50 Prozent.<br />
Es wird Tabak, Getränken oder Speisen<br />
beigemischt – die meisten Jugendlichen<br />
kennen Space Cakes, selbst gebackene<br />
Guetzli mit berauschender Wirkung.<br />
Cannabisöl bewirkt intensive Rauschzustände,<br />
die Dosis ist allerdings nur<br />
schwer kontrollierbar.<br />
Unter Bezeichnungen wie Spice oder<br />
Smoke sind synthetisch hergestellte<br />
Cannabinoide im Umlauf. Sie werden<br />
als Kräutermischungen verkauft, die<br />
angeblich als Raumduft wirken sollen. In<br />
der Tat werden diese Mischungen allerdings<br />
meist geraucht. Künstliche Cannabinoide<br />
sind gefährlich, weil sie stärker<br />
wirken als natürliches Cannabis und ihre<br />
Konzentration stark variieren kann.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>17
Dossier<br />
Je früher jemand mit Kiffen<br />
beginnt, desto häufiger sollte<br />
er konsumfreie Tage einlegen.<br />
>>> ten keine Erfahrung mit Kiffen.<br />
Auch betont er, dass die meisten<br />
Jugendlichen zwar irgendwann mit<br />
Cannabis experimentieren, aber die<br />
wenigsten von ihnen einen problematischen<br />
Konsum entwickeln.<br />
«Das ändert jedoch nichts an der<br />
Tatsache, dass die Gefahren des Kiffens<br />
unterschätzt werden.»<br />
Laut dem Suchtexperten sind es<br />
folgende:<br />
Ein überhöhter THC-Gehalt: Das<br />
Cannabis, welches heute im Umlauf<br />
ist, hat nichts mehr mit dem Kraut<br />
zu tun, das noch vor 20 Jahren<br />
geraucht wurde. Der Gehalt am<br />
Wirkstoff THC, der den Rausch<br />
bewirkt, ist bis zu fünfmal höher.<br />
Wer regelmässig eine solche Dosis<br />
konsumiert, kann den Alltag vermutlich<br />
irgendwann nicht mehr<br />
bewältigen. So ist es nicht erstaunlich,<br />
dass sich in der Suchtklinik<br />
Neuenhof die Anmeldungen von<br />
Jugendlichen häufen, die nicht<br />
Alkohol oder Kokain, sondern Cannabis<br />
aus der Bahn warf.<br />
Risiko für junge Konsumenten: Auf<br />
dem Spiel steht nicht nur ihr Platz in<br />
der Gesellschaft, sondern auch die<br />
Gesundheit der Jugendlichen. So<br />
sind Forscher zumindest einhellig<br />
der Meinung, dass sich Kiffen bei<br />
sehr jungen Konsumenten, die mit<br />
12 bis 13 Jahren anfangen, negativ<br />
auf die Gehirnentwicklung auswirken<br />
kann. Jugendliche mit psychischer<br />
Vorbelastung sind >>><br />
Ich erzähle<br />
«High macht frei»<br />
Valentin, 16, suchte im Gras<br />
seinen Seelenfrieden.<br />
Heute steht er vor einem<br />
Scherbenhaufen.<br />
«Das ist mein zweiter Anlauf in der<br />
Klinik, das erste Mal bin ich rausgeflogen.<br />
Die Behörden haben mich<br />
erneut zum Entzug gezwungen,<br />
mittlerweile würde ich die Sache<br />
aber auch freiwillig durchziehen.<br />
Zu Beginn meiner Lehre als<br />
Koch zog ich in ein Heim für betreutes<br />
Wohnen, weil ich mit meinen<br />
Eltern verkracht war. Dort lernte ich<br />
Joints zu bauen, und bald rauchte<br />
ich nicht mehr mit, um dazuzugehören,<br />
sondern weil sich mir eine<br />
neue Welt eröffnet hatte: High<br />
macht frei. Ich verstand nicht, warum<br />
die Gesellschaft etwas verurteilt,<br />
das mir den inneren Frieden<br />
verschaffte. Ich wiederum verurteilte<br />
jeden, der mir meinen Frieden<br />
wegnehmen wollte. Etwa meine<br />
Eltern. Sie machten anfangs einen<br />
Riesenaufstand wegen dem Kiffen,<br />
mit der Zeit gingen sie auf Distanz.<br />
Zunächst kiffte ich nur abends<br />
und am Wochenende. Mein Chef<br />
wusste davon, er akzeptierte es,<br />
weil ich bei der Arbeit zuverlässig<br />
war. Dann gab es Umstrukturierungen,<br />
ich musste meine Lehre<br />
anderswo fortsetzen. Dann ging es<br />
bergab. Ich begann auch am Morgen<br />
zu kiffen, kam in eine Art Dämmerzustand.<br />
Nur schon wenn einer<br />
zu laut «Guten Morgen» sagte, hätte<br />
ich ihm die Fresse polieren können.<br />
Logisch, dass man mich rauswarf.<br />
Auch im Wohnheim gab es<br />
Stress. Ich zog zu Kollegen, konnte<br />
mich zu nichts mehr aufraffen.<br />
Mittlerweile ging es mir nicht mehr<br />
darum, einen schönen Flash zu<br />
haben, ich wollte nur noch mein<br />
Hirn ausschalten, begann, Gras und<br />
Koks zu kombinieren. Geld konnte<br />
ich meist irgendwie beschaffen –<br />
wie, tut nichts zur Sache. Ich litt an<br />
Verfolgungswahn, war völlig kaputt<br />
und sah auch so aus. Kein Wunder,<br />
dass ich den Bullen ins Netz ging.<br />
Das Schlimmste an der Sucht<br />
ist, dass du dich gegen die wendest,<br />
die dir helfen wollen. Mein Entzug<br />
ist bald zu Ende. Mit dem Kiffen<br />
aufzuhören, ist keine grosse Sache,<br />
körperlich spürst du nicht viel. Für<br />
die Zukunft bin ich guter Dinge. Ich<br />
will meine Lehre fortsetzen. Alles<br />
andere lasse ich auf mich zukommen.<br />
Vielleicht ziehe ich irgendwann<br />
wieder mal an einem Gräschen.<br />
Wenn du ab und zu einen<br />
Joint geniesst und das Zeug am<br />
nächsten Tag wieder beiseitelegen<br />
kannst, hast du es wirklich ge <br />
schafft.»<br />
18 Februar <strong>2016</strong>
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Februar <strong>2016</strong>19
Dossier<br />
20 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
>>> ebenfalls gefährdet (vgl. In -<br />
ter view auf Seite 24).<br />
Verlockender Mischkonsum: Drogen<br />
sind heute nicht nur billiger,<br />
sondern auch einfach zu beschaffen.<br />
Auf der Strasse können Jugendliche<br />
fast alles haben. Zugenommen hat<br />
demzufolge vor allem der Mischkonsum<br />
von Alkohol mit Kokain<br />
und synthetischen Partydrogen,<br />
aber auch Marihuana.<br />
Auf die Frage, ob Kiffer tatsächlich<br />
immer jünger werden, hat die<br />
Statistik keine eindeutige Antwort.<br />
Die aktuellsten Zahlen des Schweizerischen<br />
Cannabismonitorings<br />
stammen aus dem Jahr 2010. Im<br />
Bericht wird das durchschnittliche<br />
Einstiegsalter mit 15,8 Jahren angegeben.<br />
Im Vergleich dazu waren<br />
Jugendliche 2004 bei ihrem ersten<br />
Joint etwas älter, nämlich 16,5 Jahre.<br />
Die HSBC-Studie aus dem Jahr 2015<br />
lässt die Frage zum Einstiegsalter<br />
unbeantwortet. Für Suchtexperte<br />
Kalt steht aber fest: «Zwar hat nur<br />
eine Minderheit der Kiffer ein<br />
Suchtproblem – aber die, die es<br />
betrifft, werden immer jünger.» Das<br />
gelte, sagt Kalt, jedoch für jegliche<br />
Arten von Substanzmissbrauch: von<br />
Alkohol über Cannabis bis hin zu<br />
härteren Drogen.<br />
Harte Drogen, sagt Marco, hätten<br />
er und seine Freunde noch nie probiert.<br />
Angeboten wurden sie jedoch<br />
allen schon. Besonders vor synthetischen<br />
Drogen, sagen die Jugendlichen,<br />
hätten sie Angst, sei deren<br />
Wirkung doch kaum abzuschätzen.<br />
Aber auch ein gewöhnlicher Joint<br />
kann schwere Folgen haben. >>><br />
Literaturtipp<br />
Die Broschüre Im Fokus –<br />
Cannabis kann bei Sucht Schweiz<br />
heruntergeladen werden:<br />
www.suchtschweiz.ch (im Suchfeld<br />
Artikelnummer 20.0034 eingeben).<br />
Oder kostenlos bestellt werden:<br />
info@suchtschweiz.ch.<br />
Ich erzähle<br />
«Jetzt<br />
übertreibst du»<br />
Leyla und Anna, beide 18, haben<br />
zusammen angefangen zu<br />
kiffen. Während Lehrtochter<br />
Leyla nur am Wochenende<br />
raucht, ist Gymnasiastin Anna<br />
nicht so streng mit sich.<br />
Leyla: «Ich kiffe jedes Wochenende.<br />
Unter der Woche geht es nicht,<br />
ich arbeite mit Kindern. Am meisten<br />
schätze ich dabei das Zusammensein<br />
mit Freunden. Wir führen<br />
oft tiefgründige Gespräche, kommen<br />
auf Themen, über die wir<br />
sonst vielleicht nicht reden würden.<br />
Ich würde niemals allein kiffen.<br />
Ich glaube, meine Eltern wissen<br />
Bescheid. Aber ich bin eine<br />
Meisterin der Ausreden. Letzthin<br />
kam ich von einer Party nach Hause<br />
und zwar ziemlich bekifft. Als ich<br />
im Bett lag, kam zuerst die Mutter<br />
ins Zimmer, dann der Vater. Sie<br />
haben mich nur stumm betrachtet,<br />
ich stellte mich schlafend. Dummerweise<br />
hatte ich mein Gras da<br />
hingeworfen, wo es die Mutter morgens<br />
vermutlich gesehen hat. Zu<br />
einer Aussprache ist es bisher<br />
nicht gekommen. Jüngst machte<br />
ich mir Sorgen um Anna. Sie kiffte<br />
einfach zu viel. Ich merkte, wie ihr<br />
plötzlich alles egal war. Sie hatte<br />
kaum mehr Lust, etwas zu unternehmen,<br />
wollte daheim herumhängen,<br />
statt in den Ausgang zu gehen.<br />
Da habe ich ihr gesagt: Anna, jetzt<br />
übertreibst du es. Ich glaube, das<br />
hat sie sich zu Herzen genommen.»<br />
Anna: «Eine Zeit lang habe ich<br />
wirklich zu viel gekifft, ich rauchte<br />
bis zu drei Joints am Tag. In der<br />
Schule lief es daraufhin ziemlich<br />
mies, meine Noten waren im Keller.<br />
Auch sonst fehlte mir jede Motivation,<br />
am Morgen mochte ich kaum<br />
aufstehen. Meine Mutter hatte<br />
schon gemerkt, dass etwas nicht<br />
stimmte, sie hatte in ihrer Jugend<br />
ja auch gekifft. Sie hat versucht,<br />
mit mir zu reden, aber ich konnte<br />
mich jedes Mal herauswinden.<br />
Auch wenn ich keine Lust hatte, mit<br />
ihr darüber zu sprechen – ihre Sorgen<br />
gingen nicht spurlos an mir<br />
vorbei. Es hat mir gutgetan, dass<br />
Leyla ehrlich zu mir war. Wenn dich<br />
jemand kritisiert, dem du vertraust,<br />
änderst du auch etwas. Reduzieren<br />
fiel mir nicht schwer. Ich konsumiere<br />
jetzt deutlich weniger, in der<br />
Schule geht es wieder bergauf.<br />
Unter der Woche ganz aufs Kiffen<br />
verzichten will ich nicht. Am Kiffen<br />
gefällt mir, dass es verbindet,<br />
selbst Fremde. Zum Beispiel im<br />
Ausgang: Wenn die anderen auch<br />
kiffen, hast du sofort einen Draht<br />
zu ihnen. Darum kiffe ich nie allein<br />
– das Gefühl von Gemeinschaft<br />
würde mir fehlen.»<br />
21
Dossier<br />
Viele junge Kiffer missachten<br />
das Gesundheitsrisiko, das von<br />
gestrecker Ware ausgeht.<br />
>>> Lorenzo, 16, hat nach ein<br />
paar schlimmen Erfahrungen mit<br />
dem Kiffen aufgehört. «Beim letzten<br />
Mal habe ich mich danach für drei<br />
Stunden ins Klo eingeschlossen und<br />
auf den Boden gestarrt», berichtet<br />
der Grafiklehrling. «Ich dachte, ich<br />
müsste sterben.» Auf die Panikattacke<br />
folgte ein Tief, das mehrere Tage<br />
lang andauerte. Panik und depressive<br />
Verstimmungen sind eine mögliche<br />
Folge von Cannabiskonsum, im<br />
schlimmsten Fall können sie psychotische<br />
Formen annehmen. Die<br />
Symptome klingen in der Regel ab,<br />
sobald der Körper die Substanz<br />
abgebaut hat.<br />
Viele junge Kiffer missachten das<br />
Gesundheitsrisiko, das von gestreckter<br />
Ware ausgeht, sagt Jugendarbeiter<br />
Daniele Gasparini. «Viele glauben,<br />
sie konsumierten ein Natur -<br />
produkt. Das ist Unsinn. Was die<br />
allermeisten rauchen, ist pure Chemie.»<br />
Wer sein Kraut nicht selbst<br />
anbaue, müsse davon ausgehen, dass<br />
er es mit einem gestreckten Produkt<br />
zu tun habe. Da würden nicht nur<br />
Zucker und Sand beigemischt, auch<br />
Kaliumdünger, flüssige Kunststoffe<br />
oder Blei.<br />
Gasparini schwebt darum ein<br />
Projekt vor, das er in Zusammenarbeit<br />
mit der Hochschule in Wädenswil<br />
umsetzen will: Jugendliche sollen<br />
ihr Gras auf Streckmittel testen<br />
lassen können. Ob das Projekt je<br />
umgesetzt und Marco es dereinst<br />
nutzen wird, ist ungewiss. Er kiffe<br />
heute ja ohnehin weniger als früher.<br />
Das hat auch mit seinem Kumpel<br />
Flurin zu tun, mit dem Marco eine<br />
Abmachung getroffen hat: Sie rauchen<br />
nur noch zu besonderen<br />
Anlässen. «Vor allem», sagt Flurin,<br />
«wollen wir dabei nicht das Stereotyp<br />
vom lustlosen Kiffer abgeben.<br />
Man kann auch kiffen, ohne dass<br />
man dabei jeglichen Antrieb verliert.»<br />
Flurin bezeichnet Cannabis<br />
als Genussmittel. «Aber ich habe<br />
Respekt vor dem Zeug. Oft höre ich<br />
nach zwei Zügen auf. Ich gönne mir<br />
das Kiffen ab und zu – aber ich brauche<br />
es nicht.»
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>23
Dossier<br />
«Wer jung mit Kiffen beginnt,<br />
hat ein Problem»<br />
Suchtexperte Oliver Berg über die Wirkung von Cannabis auf unseren Körper, was es mit dem Gehirn<br />
macht – und warum er die Legalisierung befürwortet. Interview: Virginia Nolan<br />
Herr Berg, Sie arbeiten mit Jugendlichen,<br />
die mit Kiffen aufhören oder<br />
ihren Konsum mässigen wollen. Was<br />
motiviert sie dazu?<br />
Viele kommen, weil die Eltern, Lehrer<br />
oder Arbeitgeber sie auffordern,<br />
ihren Konsum in den Griff zu kriegen.<br />
Immer mehr Jugendliche melden<br />
sich allerdings von sich aus, weil<br />
sie selbst merken, dass etwas schiefläuft.<br />
Eltern begegnen ihren Kindern<br />
weniger vorwurfsvoll als früher. Die<br />
meisten fordern von ihnen keine<br />
Abstinenz, sondern einen massvollen<br />
Umgang mit Cannabis.<br />
Was würden Sie als massvollen Konsum<br />
bezeichnen?<br />
Bei Alkohol wissen wir, welche Menge<br />
unbedenklich oder gesundheitsschädigend<br />
ist. Für Cannabis fehlen<br />
solche Richtwerte. Sicher scheint,<br />
dass im Alter vor 15 Jahren so wenig<br />
wie möglich konsumiert werden<br />
sollte. Wenn Personen in diesem<br />
Alter schon kiffen, ist es wichtig, dass<br />
sie drei bis vier konsumfreie Tage pro<br />
Woche einlegen. Heikel wird es,<br />
wenn Jugendliche auf Cannabis<br />
angewiesen sind, um ein positives<br />
Erlebnis zu haben, oder wenn sie<br />
kiffen, um mit den Anforderungen<br />
des Alltags zurechtzukommen. Die<br />
Anfälligkeit für ein Suchtverhalten<br />
hängt, vereinfacht gesagt, von unserer<br />
Biologie und dem sozialen Kontext<br />
ab, in dem wir leben. Gute psychische<br />
Gesundheit und ein solides<br />
Umfeld sind Schutzfaktoren.<br />
Wie schadet Kiffen der Gesundheit?<br />
Wird es geraucht, verursacht Cannabis<br />
ähnliche Krankheitsbilder wie<br />
Tabak: Es kann zu Herzkreislaufproblemen<br />
und hohem Blutdruck führen,<br />
beeinträchtigt die Spermienqualität<br />
und schädigt die Lunge.<br />
Mögliche Folgen davon sind Kurzatmigkeit,<br />
chronischer Husten, Bronchitis<br />
und Lungenkrebs. Egal jedoch,<br />
in welcher Form wir Cannabis konsumieren<br />
– die Forschung geht davon<br />
aus, dass es bei Jugendlichen, die<br />
früh, also mit 12, 13 Jahren mit dem<br />
Kiffen anfangen, einen negativen<br />
Einfluss auf die Gehirnentwicklung<br />
haben kann.<br />
Inwiefern?<br />
Unser Gehirn besitzt eine Reihe von<br />
Rezeptoren für körpereigene Cannabinoide,<br />
die vergleichbare Eigenschaften<br />
haben wie die gleichnamigen<br />
Wirkstoffe aus der Hanfpflanze.<br />
Diese Ähnlichkeit macht es möglich,<br />
dass Cannabinoide aus der Pflanze<br />
an unsere Rezeptoren andocken,<br />
wenn wir Cannabis konsumieren.<br />
Studien legen nahe, dass dies den<br />
Aufbau von Nervennetzwerken im<br />
Gehirn beeinträchtigen kann, sofern<br />
die Entwicklung des Gehirns noch<br />
nicht abgeschlossen ist – und diese<br />
dauert bis zum 21. Lebensjahr. Kiffen<br />
im frühen Jugendalter könnte die<br />
kognitiven Fähigkeiten darum dauerhaft<br />
einschränken.<br />
Dann hat es etwas auf sich mit dem<br />
Mythos, dass Kiffen dumm macht?<br />
In dieser Frage sind sich Studien<br />
uneinig, eine widerlegt die andere.<br />
Forscher gehen im Moment davon<br />
aus, dass kognitive Leistungseinbussen<br />
bei Erwachsenen reversibel sind,<br />
dass Kiffer allfällige Mängel also wie<br />
der wettmachen können, wenn sie<br />
den Konsum einstellen. Es gibt Hinweise<br />
darauf, dass mit bleibenden<br />
Einschränkungen rechnen muss, wer<br />
vor dem 15. Lebensjahr mit regelmässigem<br />
Kiffen anfängt. Ob und in<br />
welchem Mass Cannabis diese Einschränkungen<br />
verursacht, ist jedoch<br />
nicht abschliessend geklärt.<br />
Cannabis soll auch die Psyche beeinträchtigen.<br />
Es kann Angst- und Panikattacken,<br />
Psychosen, Depressionen oder Konzentrationsstörungen<br />
auslösen. Das<br />
Cannabis, welches heute im Umlauf<br />
ist, hat einen viel höheren Anteil an<br />
psychoaktivem THC, das ist der<br />
Wirkstoff, der den Rausch auslöst.<br />
Manchmal sind es fast 25 Prozent.<br />
Der Wirkstoff Cannabidiol hingegen,<br />
der Psychosen entgegenwirkt,<br />
ist über die Jahre fast herausgezüchtet<br />
worden. Das kann die Gefahr für<br />
akute psychotische Symptome erhöhen,<br />
wenn jemand anfällig dafür ist.<br />
Was heisst anfällig in diesem Zusammenhang?<br />
Es muss eine sogenannte Vulnerabilität<br />
vorliegen, eine Verwundbarkeit.<br />
Gründe dafür können die genetische<br />
Veranlagung für eine psychische<br />
Erkrankung oder bereits aufgetretene<br />
psychische Probleme sein. Wir wissen<br />
etwa, dass Kiffen bei Schizophrenie-Patienten<br />
den Krankheitsverlauf<br />
verschlechtern und bei genetischer<br />
Veranlagung das Risiko, an einer<br />
Schizophrenie zu erkranken, erhöhen<br />
kann. Cannabis kann zudem, wie<br />
alle psychoaktiven Substanzen, zu<br />
einer Intoxikationpsychose führen.<br />
24 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Das ist ein Zustand, der Bewusstseins-<br />
und Verhaltensstörungen auslöst.<br />
Die Symptome klingen wieder<br />
ab, sobald der Körper die Substanz<br />
abgebaut hat. Cannabis kann die Psyche<br />
beeinträchtigen – aber bei Ju -<br />
gendlichen ist es schwierig, darüber<br />
zuverlässige Aussagen zu machen.<br />
Warum?<br />
In der Pubertät kommt vieles zusammen.<br />
Jugendliche müssen heute mit<br />
viel Druck umgehen können, dazu<br />
kommen alterstypische Probleme wie<br />
Liebeskummer und Stimmungsschwankungen.<br />
Manche leiden so<br />
stark, dass sich die Grenze zwischen<br />
einer pubertären Erscheinung und<br />
einer beginnenden psychiatrischen<br />
Erkrankung verwischt. Die Dinge<br />
sind nicht einfach voneinander abzugrenzen,<br />
vor allem für Eltern. Typischerweise<br />
neigen Jugendliche in<br />
Problemlagen auch eher dazu, auf<br />
eine Substanz zurückzugreifen, damit<br />
sie sich besser fühlen. Das gilt übrigens<br />
auch für Personen, die an der<br />
Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung<br />
leiden.<br />
Das heisst, ADHS-Patienten sind<br />
suchtgefährdet?<br />
Studien zeigen deutliche Zusammenhänge,<br />
dass eine ADHS-Symptomatik<br />
Einfluss auf das Risiko<br />
einer Suchtentwicklung hat. Bei<br />
betroffenen Jugendlichen, die dann<br />
Cannabis konsumieren, wird das<br />
ADHS aber oft verkannt – weil Cannabis<br />
einen beruhigenden Effekt hat<br />
und die klassischen Symptome der<br />
Krankheit kaschiert.<br />
Cannabis gilt auch als Heilmittel.<br />
Die Hanfpflanze hat über 450 verschiedene<br />
Wirkstoffe. 70 davon sind<br />
sogenannte Cannabinoide. Bisher<br />
arbeitet die Medizin vor allem mit<br />
THC und dem nur schwach psychoaktiven<br />
CBD. Es kommt darauf<br />
an, in welcher Dosierung und Kombination<br />
die Wirkstoffe eingesetzt<br />
werden. Cannabis wird mittlerweile<br />
für die Behandlung einiger Erkrankungen<br />
verwendet, zum Beispiel als<br />
krampflösendes Medikament bei<br />
Multipler Sklerose, gegen chronische<br />
dukten gesetzlich limitiert werden.<br />
Die Regulierung durch den Staat<br />
hätte auch den Vorteil, dass die verkaufte<br />
Ware sauber wäre und nicht<br />
durch gesundheitsschädigende<br />
Streckmittel verunreinigt. Wir könnten<br />
dem Jugendschutz viel effektiver<br />
gerecht werden als heute, wo Konsumenten<br />
auf den illegalen Markt<br />
zurückgreifen.<br />
Oliver Berg<br />
Schmerzen oder bei erhöhtem<br />
Augen innendruck.<br />
Wie lange wirkt Cannabis im Körper?<br />
Wenn jemand täglich kifft und dann<br />
aufhört, ist der Konsum in gewissen<br />
Fällen bis zu drei Monate lang im<br />
Urin nachweisbar. Bei seltenem<br />
Gebrauch sollte der Körper die Substanz<br />
nach zwei bis drei Tagen abgebaut<br />
haben. Darauf kann man sich<br />
aber nicht verlassen. Cannabis ist<br />
fettlöslich und wird in den Fettzellen<br />
gelagert. Es kann auch nach längerer<br />
Zeit reaktiviert werden, zum Beispiel<br />
beim Sport. Dann kann es sogar sein,<br />
dass jemand, der drei Monate lang<br />
nichts konsumierte, positive Urinwerte<br />
hat – Pech, wenn er dann in<br />
eine Polizeikontrolle gerät.<br />
Wie bewerten Sie das Anliegen der<br />
Legalisierung von Cannabis?<br />
Ein staatlich kontrollierter Verkauf<br />
unter strengen Vorgaben böte aus<br />
fachlicher Sicht nur Vorteile. So<br />
könnte zum Beispiel – analog den<br />
Vorschriften für Alkohol oder Tabak<br />
– der THC-Gehalt von Cannabisproist<br />
Facharzt für Psychiatrie und<br />
Psychotherapie. Zu seinen Spezialgebieten<br />
gehört auch der Bereich Adoleszenz und<br />
Sucht. Berg ist ärztlicher Leiter im Arud-<br />
Zentrum für Suchtmedizin in Horgen ZH und<br />
präsidiert die Ärztegruppe Fachkommission<br />
für Heroingestützte Behandlung des<br />
Bundesamtes für Gesundheit.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>25
Dossier<br />
Mein Kind kifft.Was nun?<br />
Wie sollen Eltern darauf reagieren? Alarmiert oder gelassen?<br />
Mit Gesprächen oder Verboten? Text: Virginia Nolan<br />
Dunkle Augenringe,<br />
fehlender Antrieb,<br />
verschlafener Blick:<br />
Nichts von alledem,<br />
was den Kiffer laut<br />
Klischee entlarvt, kann Renate<br />
Büchi an ihrem Sohn beobachten.<br />
Der Gymnasiast ist sportlich, aufgeschlossen,<br />
ein guter Schüler. Erst die<br />
Küchenraffel lässt ihn auffliegen. Die<br />
Mutter will Früchte raffeln, doch das<br />
Gerät ist verschwunden. Sie findet<br />
es ein paar Tage später im Zimmer<br />
des Sohnes. Die Raffel ist verklebt,<br />
braun verfärbt. Renate Büchi denkt<br />
sich nichts dabei, reinigt das Gerät,<br />
stellt es in die Küche. Als sie Käse<br />
reiben will, fehlt die Raffel erneut.<br />
Die Mutter muss nicht lange suchen.<br />
«Isst du so viele Früchte?», fragt sie<br />
ihren Sohn beim Abendessen. Die<br />
vier Geschwister werfen sich verstohlene<br />
Blicke zu und grinsen.<br />
Wochen später liest Büchi in einem<br />
Magazin über Cannabis. Haschisch,<br />
steht da, werde vor Gebrauch zerkleinert<br />
– zum Beispiel mit einer<br />
Küchenreibe. Da macht es klick.<br />
Ich-Botschaften sind ratsam:<br />
«Ich habe gemerkt, dass du<br />
kiffst. Ich mache mir Sorgen.»<br />
Wie merke ich es?<br />
Wie konnten wir nichts bemerken?<br />
«Die Frage plagte mich», sagt Büchi.<br />
Heute, ein gutes Jahrzehnt später,<br />
begegnet sie vielen Eltern, denen es<br />
so ergeht wie ihr damals. Seit ein<br />
paar Jahren gehört die Psychiatriefachfrau<br />
zum Expertenteam der<br />
Jugendberatungs- und Suchtpräventionsstelle<br />
Samowar im zürcherischen<br />
Horgen, berät Jugendliche,<br />
Eltern und Schulen. Auf die Frage,<br />
wie sich Drogenkonsum bemerkbar<br />
mache, gebe es keine schlüssige Antwort,<br />
sagt sie. Beim Kiffen könne es<br />
der aufdringlich süsse Geruch von<br />
Gras sein, der Eltern auffalle, Teilnahmslosigkeit<br />
oder sozialer Rückzug,<br />
die vom Jugendlichen ausgingen.<br />
Nicht selten, weiss Büchi,<br />
bekommen die Eltern jedoch überhaupt<br />
nichts mit.<br />
Wie reagiere ich?<br />
Das Kind kifft also. Auf den Ärger<br />
darüber folgt die Sorge: Kiffen ist<br />
schädlich. Man will dem Sohn, der<br />
Tochter den Ernst der Lage klarmachen.<br />
Aber wie? «Oft schaffen es<br />
Eltern nicht, zum Kind durchzudringen»,<br />
weiss Felix Hanselmann von<br />
der Suchtpräventionsstelle Zürcher<br />
Oberland. «Aus Angst fangen sie an<br />
zu drohen, stellen unrealistische Forderungen:<br />
Wenn du nicht aufhörst<br />
zu kiffen, gehst du nicht mehr in den<br />
Ausgang! Eltern wissen selbst, dass<br />
sie das schwer durchziehen können.»<br />
Dieses Verhalten sei zwar nachvollziehbar,<br />
aber ein schlechtes Signal an<br />
den Jugendlichen, weil dieser merke,<br />
dass die Eltern genauso überfordert<br />
seien wie er selbst.<br />
Nicht aus dem Bauch heraus handeln,<br />
so lautet auch der Rat von Präventionsexpertin<br />
Büchi. Das heisst:<br />
Wut und Ärger etwas verebben lassen,<br />
ein Gespräch planen – und sich<br />
auf dieses auch vorbereiten. Eltern<br />
sollten sich im Vorfeld überlegen,<br />
welche Punkte sie ansprechen, was<br />
sie in Erfahrung bringen möchten,<br />
sich aber auch darüber im Klaren<br />
sein, welche Vorwürfe sie dem Kind<br />
keinesfalls an den Kopf werfen wollen.<br />
«Das erhöht die Chance, dass<br />
die Diskussion einen einigermassen<br />
guten Verlauf nimmt», weiss Büchi.<br />
Ein guter Zeitpunkt fürs Zusammensitzen<br />
sei abends, wenn danach<br />
keine Termine und Hausaufgaben<br />
mehr anstünden.<br />
«Ich habe gemerkt, dass du kiffst,<br />
das macht mir Sorgen.» Ich-Botschaften<br />
sind empfehlenswert, weil<br />
sie den Gesprächspartner nicht in<br />
die Ecke drängen. Wer sich von seinem<br />
Kind Offenheit erhofft, sollte<br />
zumindest versuchen, es nicht in die<br />
Defensive zu drängen. «Du hast hinter<br />
unserem Rücken gekifft!» Auf<br />
diese Variante, sagt Büchi, wäre es<br />
vermutlich hinausgelaufen, wenn sie<br />
ihren Sohn konfrontiert hätte, gleich<br />
nachdem sie ihm auf die Schliche<br />
gekommen war. Vorwürfe, weiss sie,<br />
lassen Jugendliche aber erst recht auf<br />
stur schalten. «Es lohnt sich, seine<br />
Botschaft vorzubereiten, dann geht<br />
sie am Kind nicht spurlos vorbei.»<br />
Gleichzeitig dürften Eltern nicht zu<br />
viel erwarten, sagt die Expertin:<br />
«Wenn der Sohn oder die Tochter<br />
Auskunft gibt, reicht das fürs Erste.<br />
Auf die Sorgen der Eltern wird das<br />
Kind vermutlich nicht eingehen.»<br />
Wer weiss Rat?<br />
Ihre eigene Unwissenheit zum Thema<br />
Cannabis, fand Büchi damals,<br />
war mit ein Grund zur Sorge. «Heute<br />
würde ich einer Mutter in der<br />
gleichen Situation empfehlen, sich<br />
mit ihren Fragen an eine Beratungsstelle<br />
zu wenden», sagt sie, >>><br />
26 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Dossier<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>27
Dossier<br />
Eltern können ein Kind nicht<br />
zu einer Beratung zwingen –<br />
aber motivieren!<br />
>>> «und zwar nicht erst, wenn es<br />
brennt.» Die Hotline «Eltern info<br />
Cannabis» von Sucht Schweiz beispielsweise<br />
hilft zu Bürozeiten unter<br />
der Gratisnummer 0800 104 104<br />
weiter. Auch die Jugendberatungen,<br />
Suchtpräventions- und Drogenfachstellen<br />
der Kantone sind für Eltern<br />
da. Ihr Angebot ist meist kostenlos,<br />
umfasst Information und Beratung.<br />
Aufklärung lohnt sich auch dann,<br />
wenn Kiffen zu Hause kein Thema<br />
ist. Die Suchtpräven tionsstelle der<br />
Stadt Zürich etwa führt auf Anfrage<br />
den Elternabend «Über Cannabis<br />
reden» durch, nach dem gleichen<br />
Prinzip stellt die Stiftung Berner<br />
Gesundheit Eltern ihre Experten zur<br />
Verfügung.<br />
Wie geht es jetzt weiter?<br />
«Eltern erwarten zu schnell Veränderungen»,<br />
sagt Gesundheitssoziologe<br />
Hanselmann. «Gewohnheiten<br />
ändern sich aber nicht von heute auf<br />
morgen.» Er rät Eltern, nicht in<br />
Panik zu verfallen. Kiffen sei ein<br />
Jugendphänomen, dabei müsse nicht<br />
automatisch eine Suchtproblematik<br />
vorliegen.<br />
Wenn Eltern versuchten, Jugendliche<br />
für Absprachen zu gewinnen,<br />
sei das wirksamer als Schimpfen<br />
und Drohen: «Zum Beispiel kann<br />
man Konsumpausen vereinbaren,<br />
weil das für die Gesundheit wichtig<br />
ist.» Die eigenen Sorgen aussprechen<br />
und gleichzeitig Kompromissbereitschaft<br />
signalisieren könne helfen,<br />
die Verbindung zum Kind<br />
aufrechtzuerhalten. Wenn die Dinge<br />
aus dem Ruder laufen, helfe ein<br />
Blick von aussen: «Der Götti, eine<br />
Familienfreundin – sie können verhärtete<br />
Fronten aufbrechen.»<br />
Im Gespräch bleiben bedeutet aber<br />
nicht, ständig übers Kiffen zu reden.<br />
«Egal, wie schwierig eine Lebensphase<br />
ist», sagt Renate Büchi, «sie hat<br />
immer auch Schönes zu bieten.» Es<br />
lohne sich, den Blick auch darauf zu<br />
richten – besonders im Umgang mit<br />
dem Sohn, der Tochter. «Sicher gibt<br />
es andere Gesprächsinhalte: Musik,<br />
Sport, Themen, die uns verbinden.»<br />
Wann ist professionelle Hilfe nötig?<br />
Nichts überstürzen und doch wachsam<br />
bleiben ist für Eltern oft eine<br />
Gratwanderung. Etwa in der Frage,<br />
wann professionelle Hilfe nötig ist.<br />
«Wir dürfen nicht alle Kiffer in einen<br />
Topf werfen», mahnt Pierre-André<br />
Michaud, ehemaliger Leiter der multidisziplinären<br />
Abteilung für die<br />
Gesundheit von Jugendlichen in<br />
Lausanne. Behandlungs- oder zumindest<br />
Beratungsbedarf bestehe<br />
aus seiner Sicht allerdings, wenn<br />
Cannabiskonsum zu Komplikationen<br />
wie Kriminalität, Schulausschluss<br />
oder Unfällen führe, wenn<br />
Jugendliche Cannabis konsumierten,<br />
weil sie damit persönliche Probleme<br />
lösen wollten oder wenn<br />
Schulen und Arbeitgeber auf eine<br />
Behandlung drängten. Eltern könnten<br />
ihr Kind nicht zu einer Beratung<br />
zwingen – aber mit der Aussicht<br />
motivieren, dass es mit Fachpersonen<br />
auch allein sprechen dürfe.<br />
Was sagt das Gesetz?<br />
Hanfpflanzen mit einem THC-Gehalt<br />
von über 1 Prozent gelten als<br />
Drogenhanf, ihr Konsum, Handel<br />
und Anbau ist strafbar. Seit Oktober<br />
2013 wird Cannabiskonsum in der<br />
Schweiz mit einer Ordnungsbusse<br />
von 100 Franken bestraft, sofern<br />
nicht mehr als 10 Gramm der Substanz<br />
im Spiel sind. Das gilt jedoch<br />
nicht für Minderjährige. Werden sie<br />
beim Kiffen erwischt, benachrichtigt<br />
die Polizei in der Regel Eltern und<br />
Jugendanwaltschaft. Die Praxis ist<br />
von Kanton zu Kanton verschieden;<br />
je jünger die Konsumenten sind,<br />
desto mehr wird unternommen.<br />
Jugendliche über 15, die das erste<br />
Mal aufgegriffen werden, kommen<br />
meist mit einer Verwarnung davon.<br />
Gegen Jüngere und solche, die erneut<br />
ins Netz gehen, eröffnet die<br />
Jugendanwaltschaft eine Strafuntersuchung.<br />
Mögliche Strafen sind ein<br />
Verweis, gemeinnützige Arbeit oder<br />
eine Busse. «Wir wollen Jugendliche<br />
nicht kriminalisieren», sagt Patrik<br />
Killer von der Jugendanwaltschaft<br />
Zürich, «sondern versuchen, ihre<br />
Situation als Ganzes zu erfassen.»<br />
Stelle sich im Lauf der Abklärungen<br />
heraus, dass der Cannabiskonsum<br />
die weitere Entwicklung des<br />
Jugendlichen erheblich gefährde,<br />
könne die Jugendanwaltschaft auch<br />
Schutzmassnahmen wie eine therapeutische<br />
Behandlung anordnen.<br />
Immer, so Killer, stehe jedoch die<br />
Verhältnismässigkeit im Vordergrund.<br />
So gehört etwa der obligatorische<br />
Besuch eines Kurses, der die<br />
Risiken von Cannabis thematisiert,<br />
in deutschsprachigen Kantonen zu<br />
den gängigsten Sanktionen.<br />
Hört das wieder auf?<br />
Ob das Ganze irgendwann ein Ende<br />
habe, ist die dringlichste Frage, die<br />
sich besorgte Eltern stellen. «Wir<br />
wissen aus Langzeitstudien, dass der<br />
Cannabiskonsum bei den 15- bis<br />
24-Jährigen am höchsten ist, dass er<br />
bei den 25- bis 34-Jährigen bereits<br />
rückläufig ist und später mit jedem<br />
Altersjahr stark abnimmt», sagt<br />
Frank Zobel, Vizedirektor ad interim<br />
bei Sucht Schweiz. «Die meisten<br />
Jugendlichen, die Cannabis ausprobieren,<br />
kiffen nur gelegentlich und<br />
stellen den Konsum schnell wieder<br />
ein. Von der Minderheit derer, die<br />
regelmässig konsumieren, hören die<br />
meisten im Alter von 20 bis 30 auf<br />
– oft dann, wenn sie im Berufsleben<br />
angekommen sind oder eine Familie<br />
gründen.»<br />
Zu dieser Gruppe gehört der<br />
Sohn von Präventionsexpertin<br />
Büchi: Er liess das Kiffen bleiben, als<br />
das Leben durch Studium und Beruf<br />
anstrengender wurde.
Weniger Cannabiskonsumenten<br />
«Wer hat schon mindestens<br />
einmal Cannabis konsumiert?»<br />
Umfrage bei Schülerinnen und Schülern im Alter<br />
von 15 Jahren, Zeitvergleich 1986 bis 2014.<br />
50 %<br />
40 %<br />
30 %<br />
20 %<br />
10 %<br />
0<br />
13,9<br />
11,6<br />
9,1<br />
86<br />
Mädchen<br />
21<br />
94 98 <strong>02</strong> 06 10 14<br />
Mädchen<br />
23,2<br />
31,7<br />
36,9<br />
45,9<br />
26,9<br />
Jungen Jungen<br />
34,2 35,7<br />
24,8<br />
19,2<br />
Quelle: Marmet, Achimi et al., 2015: Substanzkonsum bei Schülerinnen und Schülern in der Schweiz<br />
im Jahr 2014 und Trend seit 1986. Forschungsbericht Nummer 75. Sucht Schweiz.<br />
30<br />
Jahr<br />
«Warum konsumierst du Cannabis?»<br />
Motive für den Cannabiskonsum 15-jähriger Schülerinnen und Schüler.<br />
... weil es einfach Spass machte.<br />
87 %<br />
... um «high» zu werden («stoned» zu sein).<br />
82 %<br />
86 %<br />
... weil es dann lustiger wurde, als ich mit anderen zusammen war.<br />
80 %<br />
81 %<br />
... weil dadurch Partys besser wurden.<br />
55 %<br />
57 %<br />
... um mich aufzumuntern, als ich in schlechter Stimmung war.<br />
53 %<br />
44 %<br />
... um Probleme zu vergessen.<br />
43 %<br />
28 %<br />
... um mich nicht ausgeschlossen zu fühlen.<br />
11 %<br />
10 %<br />
... weil ich gerne zu einer bestimmten Clique gehören wollte.<br />
6 %<br />
7 %<br />
Quelle: Windlin, Delgrade et al., 2010: Konsum psychoaktiver Substanzen Jugendlicher in<br />
der Schweiz – Zeitliche Entwicklungen und aktueller Stand, Lausanne: Sucht Info Schweiz.<br />
Im nächsten Heft:<br />
Inklusion<br />
Bild: alamy Stockphoto<br />
Menschen mit Behinderung sollen in der<br />
Schweiz wann immer möglich die<br />
Regelschule besuchen. Wie funktioniert<br />
Inklusion? Und warum gibt es in vielen<br />
Kantonen so viele Sonderschüler? Fakten,<br />
Meinungen und Beispiele im März-Dossier.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>29
«Jedes fünfte Kind wird nicht in<br />
eine traditionelle Ehe geboren»<br />
Regenbogenfamilien, Patchwork, Alleinerziehende und Grossfamilien: Schon heute sind<br />
die Familienformen vielfältiger denn je. Das soll in der Zukunft noch viel variantenreicher<br />
werden. Wie genau, weiss der Luzerner Zukunftsforscher Georges T. Roos.<br />
Text: Claudia Landolt Bilder: Herbert Zimmermann<br />
Wir treffen Georges T. Roos in<br />
seiner coolen Altbauwohnung. Dort<br />
wohnt er mit seinen beiden<br />
Teenagerkindern und arbeitet er<br />
auch. Das Gespräch findet am<br />
Esstisch statt, die Fotoaufnahmen<br />
entstehen im Wohnzimmer, wo<br />
zwischen Corbusier-Sesseln und<br />
vielen Büchern auch eine Playstation<br />
steht. Wir sehen: Der Forscher, der<br />
die Megatrends der Zukunft kennt,<br />
ist ein Mann, der das Jetzt durchaus<br />
geniessen kann.<br />
Herr Roos, stirbt die klassische Familie<br />
bald aus?<br />
Die Gesellschaftsform der Familie<br />
wird tatsächlich noch erheblich vielfältiger<br />
und differenzierter, als wir<br />
sie heute bereits kennen. Eine dänische<br />
Studie geht beispielsweise von<br />
37 verschiedenen Familienformen<br />
aus. Vielleicht etwas sehr detailliert,<br />
aber Tatsache bleibt, dass Familien<br />
immer seltener homogene Konstrukte<br />
sind.<br />
Welche Familienform ist Ihnen besonders<br />
aufgefallen?<br />
Die erwähnte dänische Studie besagt,<br />
dass rund 10 Prozent der Samenspenden<br />
von Anfang an gezielt von<br />
Single-Frauen geplant und durchgeführt<br />
werden. Darin sehe ich ein<br />
weiteres Indiz, dass die Rolle des<br />
Vaters ungeklärt ist. Frauen haben<br />
sich über die letzten Jahrzehnte<br />
emanzipiert. Für den Mann als Vater<br />
und Partner fehlen nach wie vor die<br />
zukünftigen Rollenvorbilder.<br />
Wie verändert sich die Rolle der Frau<br />
in den kommenden Jahren?<br />
Schon jetzt wissen wir, dass Frauen<br />
besser gebildet sind als gleichaltrige<br />
Männer. Vor allem gut ausgebildete<br />
Frauen sind immer mehr gefragt im<br />
Arbeitsleben. Das führt dazu, dass<br />
«Rollenvorbilder<br />
für den Mann<br />
als Vater und<br />
Partner fehlen.»<br />
Frauen immer mehr Erziehungsund<br />
Betreuungsarbeit an Schule,<br />
Fachpersonal und Einrichtungen<br />
delegieren. Streng genommen nähert<br />
sich damit die Frauen- oder Mutterrolle<br />
der ursprünglichen Rolle des<br />
Vaters an, der die Familienarbeit an<br />
die Mutter delegiert hatte. Mit der<br />
gewachsenen Unabhängigkeit der<br />
Frau werden solche Formen gesellschaftlich<br />
immer mehr akzeptiert.<br />
Stichwort Haushalt: Auch das ist eine<br />
zusätzliche Belastung für viele Mütter<br />
und Väter. Haben wir es da künftig<br />
etwas einfacher?<br />
Davon gehe ich aus. Die Automatisierung<br />
wird vor dem Haushalt nicht<br />
haltmachen. Es wird Roboter geben,<br />
welche viele Hausarbeiten übernehmen.<br />
Dienstleistungsroboter sind<br />
auf dem Vormarsch, zum Beispiel in<br />
der Pflege. Schon jetzt sind in Japan<br />
Roboter im Einsatz, die in Pflegeheimen<br />
den Bewohnern die Haare<br />
waschen. Es wird auch Roboter<br />
geben, die uns die Putzarbeit abnehmen.<br />
Dazu kommen der Onlinehandel<br />
und ausgebaute Dienstleistungen<br />
aufgrund der digitalen Vernetzung.<br />
In Zukunft werden wir nicht nur<br />
Lebensmittel online bestellen und<br />
sie nach Hause liefern lassen oder sie<br />
an einer Pick-up-Station auf dem<br />
Nachhauseweg vom Büro mitnehmen.<br />
Wir werden gleich das ganze<br />
Menü massgeschneidert erhalten<br />
können oder aber Küchengeräte<br />
haben, die weitgehend autonom eine<br />
Mahlzeit zubereiten können.<br />
Ist die Gesellschaftsform der Ehe<br />
künftig noch aktuell?<br />
Es wird sich weiter verändern, wie<br />
Familien organisiert sind. Heute<br />
kommen die meisten Kinder in einer<br />
Ehe zur Welt. Aber der Anteil nichtehelicher<br />
Kinder beträgt immerhin<br />
schon 20 Prozent, das heisst, jedes<br />
fünfte Kind wird nicht in eine >>><br />
30 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
Georges T. Roos<br />
spürt die Trends der<br />
Zukunft auf.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>31
traditionelle Partnerschaft<br />
hineingeboren. Auch das Alter der<br />
Erstgebärenden steigt weiterhin an.<br />
Frauen werden immer später Mutter,<br />
Männer später Väter. Viele Ehen werden<br />
geschieden, und Mann und Frau<br />
gehen neue Partnerschaften ein. Das<br />
und die Langlebigkeit haben zur Folge,<br />
dass Kinder immer mehr soziale<br />
Eltern haben, also von Personen<br />
umgeben sind, die eine emotionale<br />
Bindung an das Kind haben. Die<br />
Fruchtbarkeitsrate mit 1,5 Kind pro<br />
Frau ist unter der Reproduktionsquote<br />
– das heisst, nicht einmal Vater<br />
und Mutter werden «reproduziert».<br />
Um diese wenigen Kinder herum<br />
scharen sich immer mehr Erwachsene.<br />
Wie das Kraut, das sich um die<br />
Bohne rankt (lacht).<br />
Wie wirkt sich diese Rollendynamik<br />
auf den Mann aus?<br />
Die Rolle des Vaters im Sinne eines<br />
traditionellen Ernährers, der sich<br />
nur abends oder am Wochenende<br />
um den Nachwuchs kümmet, wird<br />
immer weniger attraktiv.<br />
Das bedingt, dass sich die Arbeitssituation<br />
für Männer ändert.<br />
Es ist nach wie vor nicht leicht, als<br />
Vater sein Arbeitspensum anzupassen<br />
oder zu reduzieren. Der eine<br />
oder andere Mann mag sich gehemmt<br />
fühlen, dies bei seinem Arbeitgeber<br />
einzufordern, möglicherweise aus<br />
Angst, auf Unverständnis zu stossen.<br />
Aber es bewegt sich zweifelsohne<br />
etwas. Unternehmungen tun gut daran,<br />
den Bedürfnissen der Mitarbeitenden<br />
in dieser spezifischen Lebensphase<br />
besser Rechnung zu tragen,<br />
um die guten Leute nicht zu verlieren.<br />
Denn je besser die Qualifikation<br />
ist, desto grösser ist das Risiko, dass<br />
man zu einem anderen, besseren<br />
Arbeitgeber wechselt.<br />
Sie sprechen von den grossen Unternehmen.<br />
Nun ist die Schweiz aber das<br />
32 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Monatsinterview<br />
Georges T. Roos<br />
skizziert die<br />
Szenarien, wie<br />
Familien künftig<br />
leben werden.<br />
Land der kleinen und mittleren Betriebe.<br />
Dort scheint die Vereinbarkeit von<br />
Beruf und Familie nicht zuoberst auf<br />
der Agenda zu stehen.<br />
Das stimmt. Für kleinere Betriebe<br />
ist Flexibilität schwieriger. Bei 20<br />
oder 25 Angestellten wird es kompliziert,<br />
wenn ein Drittel nur noch<br />
60 oder 80 Prozent arbeiten will.<br />
«Die Schule muss<br />
eine Art digitale<br />
Alphabetisierung<br />
bieten.»<br />
Dennoch sind Sie überzeugt, dass sich<br />
diese neuen Lebens- und Arbeitsformen<br />
in der Schweiz durchsetzen werden?<br />
Sie können Megatrends nicht aufhalten.<br />
Individualisierung, demografischer<br />
Wandel, Wertewandel<br />
und die eingangs erwähnte veränderte<br />
Frauenrolle drängen in diese<br />
Richtung. Und wollen wir eine<br />
Gesellschaft mit immer weniger<br />
Kindern? Man weiss mittlerweile,<br />
dass Frauen in Ländern, die ausreichende<br />
und gute Kinderbetreuung<br />
und familienergänzende Strukturen<br />
haben, mehr Kinder bekommen als<br />
Frauen in Ländern, die Familien rein<br />
mit finanziellen Anreizen unterstützen.<br />
Das bedeutet: Entscheidend ist<br />
die Möglichkeit, Beruf und Familie<br />
unter einen Hut zu bringen. Studien<br />
belegen zudem: Je besser die familienergänzenden<br />
Einrichtungen,<br />
desto höher die Fruchtbarkeitsrate.<br />
Und es hat sich ja auch schon einiges<br />
getan, auch wenn wir in der Schweiz<br />
noch weit von skandinavischen Verhältnissen<br />
entfernt sind.<br />
Bei den Krippen hat sich einiges<br />
getan, aber bei den schulergänzenden<br />
Einrichtungen ist das Angebot noch<br />
recht dürftig.<br />
Das ist richtig. Solche Lösungen sind<br />
zwingend. Verschiedene Treiber verstärken<br />
diese Tendenz noch. Zu nennen<br />
wäre erstens die gute Ausbildung<br />
der Frau, zweitens der Fachkräftemangel<br />
sowie drittens die ökonomische<br />
Notwendigkeit eines Zweiteinkommens.<br />
Es geht künftig nicht mehr ohne das<br />
Einkommen der Frau?<br />
Auf die künftige Erwerbsgenerationen<br />
kommen grosse Herausforderungen<br />
zu. Die demografische Situation<br />
sowie die höheren sozialen<br />
Abgaben plus die höheren Gesundheitskosten,<br />
die es zu bezahlen gilt,<br />
erlauben es Familien nicht mehr, mit<br />
nur einem Einkommen auszukommen.<br />
Diese Gesamtsituation macht<br />
deutlich, dass man nicht darum herumkommt,<br />
schulergänzende Angebote<br />
zu entwickeln.<br />
Wie sieht die Schule 2<strong>02</strong>5 aus?<br />
Die Schule wird nicht nur einen<br />
gros sen Anteil an Betreuungsfunktionen<br />
übernehmen, sie ist auch<br />
stark von der Kommunikationstechnologie<br />
geprägt. Diese prägt auch die<br />
Wissensvermittlung. Wie sinnvoll ist<br />
es beispielsweise zukünftig, auf einer<br />
Karte alle Schweizer Flüsse und Seen<br />
einzeichnen zu können, wenn uns<br />
das Google Maps auf dem Smart <br />
pho ne in Sekundenschnelle liefert?<br />
Wissen verändert sich. Die Schule<br />
muss demnach Kindern vermitteln,<br />
wie man mit diesem digitalen Wissen<br />
umgeht, eine Art interaktive<br />
Alphabetisierung. Es wird also weniger<br />
wichtig, irgendein Gewässer auf<br />
einer blinden Karte richtig einzuzeichnen,<br />
sondern es wird entscheidend<br />
sein, zu wissen, welches die<br />
grossen Gewässer sind und in welche<br />
Richtung sie fliessen. Kurz: Es<br />
braucht ein übergeordnetes Verständnis<br />
der Dinge, um trotz der<br />
vielen Bäume den Wald sehen zu<br />
können.<br />
Das Wissen um ein übergeordnetes<br />
Verständnis, eine Art Matrix. Werden<br />
klassische Bildungsideale wieder<br />
salonfähig?<br />
Ja, davon bin ich überzeugt. Informationsbeschaffung<br />
ist kein Thema<br />
mehr, matchentscheidend ist, zu<br />
wissen, was diese Informationen<br />
bedeuten und wie sie zu werten sind.<br />
Was wird sonst noch wichtig?<br />
Kreative, musische Bildung und vor<br />
allem Persönlichkeitsbildung. Das<br />
heisst nicht, dass unsere Kinder allesamt<br />
Künstler werden sollen. Aber<br />
die Arbeitswelt wird sich so verändern,<br />
dass erfolgreich ist, wer in der<br />
Lage ist, neue Wege zu finden und<br />
neue Lösungsansätze zu entwickeln.<br />
Auch soziale Kompetenz, also Menschen<br />
in Teams zu motivieren oder<br />
sich gut in diese einzubringen, wird<br />
wichtig. Und man muss sicherlich<br />
mehr können, als bloss eine Aufgabe<br />
repetitiv zu erfüllen. Denn das werden<br />
Maschinen übernehmen.<br />
Was ist mit der Selbstkompetenz?<br />
Wir leben ja heute schon in einer<br />
Multioptionsgesellschaft. Künftig<br />
kann man sich noch schneller in<br />
allen Angeboten verlieren, weil es<br />
noch mehr Optionen geben wird.<br />
Genau deshalb ist es wichtig, Nein<br />
sagen zu können und eine gewisse<br />
Selbstführung zu besitzen. Denn auf<br />
Dauer kann man nicht mit Optionen<br />
leben, sondern muss eine wählen,<br />
auch wenn man sich damit «schuldig»<br />
gegenüber all jenen Optionen<br />
macht, die man nicht wählt. Trotzdem<br />
gibt es keine Alternative zur<br />
Wahl.<br />
«Die eigenen Talente<br />
entwickeln wird<br />
für Kinder immer<br />
wichtiger.»<br />
Das bedeutet ja auch, dass die Ansprüche<br />
an die Persönlichkeitsentwicklung<br />
eines Kindes steigen?<br />
Ja. Die Entwicklung der Persönlichkeit<br />
und der eigenen Talente wird<br />
immer wichtiger.<br />
Übernimmt das die Schule?<br />
Wir beobachten eine zunehmende<br />
Pädagogisierung der Kind >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>33
Monatsinterview<br />
>>> heit. Die Vorstellung, dass das<br />
Kind im Wald herumspringen darf,<br />
sobald die Schule aus ist, ist schon<br />
jetzt pure Romantik. Die Kindheit<br />
wird zunehmend weiter pädagogisiert.<br />
Schon in der Vorschule wird<br />
der Erwerb von Fähigkeiten gezielt<br />
geplant.<br />
Und wer ist dafür zuständig? Die Lehrerschaft?<br />
Ich glaube an eine weitere Ausdifferenzierung<br />
von Fachleuten, die an<br />
Erziehung und Bildung beteiligt sein<br />
werden – eine logische, nicht ganz<br />
unproblematische Konsequenz. Problematisch<br />
daran ist: Es wird immer<br />
enger gerastert, was normal ist. Je<br />
enger der Raster, desto grösser die<br />
Wahrscheinlichkeit, dass man ausserhalb<br />
davon liegt.<br />
Haben es denn die Frauen künftig ein<br />
bisschen einfacher?<br />
Eine heikle Frage! Ich bin der Meinung,<br />
dass durch die veränderte<br />
gesellschaftliche Ausgangslage das<br />
Selbstvertrauen der Frauen steigen<br />
wird. Aber nicht jede Benachteiligung<br />
ist die Schuld der Strukturen.<br />
Auch Männer erfahren Widerstand<br />
und Hindernisse, wenn sie nach<br />
oben wollen. Wer Erfolg haben will,<br />
braucht Biss – das gilt für Männer<br />
und Frauen. Da können Vorbilder<br />
hilfreich sein.<br />
«Ein Vater verpasst<br />
etwas, wenn<br />
er seine Kinder nur<br />
schlafend sieht.»<br />
Zum Beispiel?<br />
Kürzlich habe ich in einer Zeitung<br />
ein Porträt über Nadja Capus gelesen.<br />
Ich war beeindruckt. Sie ist<br />
Strafrechtsprofessorin in Basel und<br />
hat mit dem Schriftsteller Alex<br />
Capus fünf Kinder.<br />
Und männliche Vorbilder?<br />
Dem modernen Mann fehlen weitgehend<br />
Vorbilder – und das schafft<br />
Rollenkonflikte. Ich kenne keinen<br />
einzigen Mann, der keine starke<br />
emotionale Beziehung zu seinen<br />
Kindern hat oder sie sich zumindest<br />
wünscht. In der letzten Konsequenz<br />
jedoch gibt es wenige, die sagen, in<br />
den kommenden drei Jahren, solange<br />
meine Kinder noch so klein sind,<br />
arbeite ich nur 60, 70 oder 80 Prozent.<br />
Es hilft vielleicht, wenn man<br />
sich verdeutlicht, dass es sich ja nur<br />
um einen Lebensabschnitt handelt.<br />
Ein Vater verpasst definitiv etwas,<br />
wenn er seine Kinder nur schlafend<br />
sieht. Es braucht also nicht nur praktikable<br />
Einrichtungen, sondern auch<br />
Männer, die etwas wagen.<br />
>>><br />
Georges T. Roos<br />
und Fritz+Fränzi-<br />
Redaktorin<br />
Claudia Landolt.<br />
Zur Person<br />
Georges T. Roos ist anerkannter<br />
Zukunfts forscher. Er studierte Pädagogik,<br />
Publizistik und Psychologie, arbeitete als<br />
Journalist und Redaktionsleiter sowie<br />
als Mitglied der Geschäftsleitung am<br />
Gottlieb-Duttweiler-Institut. Heute besitzt<br />
er sein eigenes Zukunftsinstitut in Luzern.<br />
www.kultinno.ch<br />
34 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Psychologie & Gesellschaft<br />
Ständig zugedröhnt<br />
Weil sie das Kiffen nicht mehr im Griff hat, wendet sich eine sechzehnjährige<br />
Schülerin an die Notrufnummer 147 von Pro Juventute. Hier helfen<br />
Fach leute Kindern und Jugendlichen – vertraulich, kostenlos und rund<br />
um die Uhr. Text: Susan Edthofer<br />
Die Stimme dringt nur langsam zu dem<br />
Teenager durch. «Antonia*, hast du meine<br />
Frage verstanden und hörst du mir<br />
überhaupt zu?» Benebelt schaut sich das<br />
Mädchen um und sieht ihre Lehrerin vor<br />
sich stehen. Krampfhaft versucht sie Haltung zu bewahren,<br />
doch heute hat sie zu viel intus und überspielen<br />
funktioniert nicht. Seit einiger Zeit wird in der Klasse<br />
bereits über ihre Drogenprobleme getuschelt. Dass das<br />
junge Mädchen seine Lage nicht mehr im Griff hat,<br />
scheint offensichtlich. Alles ist der Sechzehnjährigen<br />
irgendwie gleichgültig geworden.<br />
An einer Party hat Antonia das erste Mal gekifft. Es<br />
blieb nicht bei diesem einen Mal. Hin und wieder rauchte<br />
sie am Wochenende einen Joint, einfach um gut drauf<br />
zu sein. Der Umgang mit den Drogen war dosiert und<br />
kontrolliert. Doch plötzlich war der Drang zum Kiffen<br />
ständig da, auch während der Woche. Alles schien<br />
dumpf und öde, wenn sie nicht geraucht hatte. Um überhaupt<br />
in Schwung zu kommen, kiffte Antonia immer<br />
öfter bereits vor der Schule. Mehr und mehr zog sie sich<br />
zurück und die Spirale begann sich zu drehen.<br />
Als die Eltern hellhörig wurden und vermuteten, dass<br />
Antonia Drogen konsumiert, versuchten sie mit ihrer<br />
Tochter ins Gespräch zu kommen. Doch Antonia blockte<br />
ab, reagierte aggressiv und verstockt. Verzweifelt fragten<br />
die Eltern in der Schule nach. Auch den Lehrpersonen<br />
war aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Obwohl<br />
alle sahen, wie schlecht es Antonia ging, gelang es nicht<br />
einmal ihrer besten Freundin, Nähe aufzubauen.<br />
Vertraulich und rund um die Uhr Hilfe suchen<br />
Alarmiert schaut die Lehrerin ihre Schülerin an diesem<br />
Morgen an. Sie sieht, dass das Mädchen unter Drogen<br />
steht und Hilfe braucht. Wie erwartet, verläuft ein Austausch<br />
wiederum harzig. Antonia wirkt völlig weggetreten<br />
und ist kaum ansprechbar. Da die Lehrerin spürt,<br />
dass Antonia nicht mit jemandem aus ihrem Umfeld<br />
sprechen mag, macht sie ihre Schülerin auf die Notrufnummer<br />
147 von Pro Juventute aufmerksam. «Vielleicht<br />
möchtest du hier mal anrufen. Alles bleibt vertraulich,<br />
du musst nicht einmal deinen Namen nennen.<br />
Tag und Nacht kannst du dich melden<br />
und per Telefon, Mail, SMS erzählen, was<br />
dich bedrückt.»<br />
Sich an eine neutrale Stelle zu wenden,<br />
ist oft einfacher. Deshalb ist das vertrauliche<br />
Angebot der Beratung und Hilfe 147 so<br />
wichtig. Das Spektrum an Fragen ist riesig: «Ich habe<br />
Stress in der Schule.» «Wo erhalte ich die Pille danach?»<br />
«Was wird aus mir, wenn sich meine Eltern scheiden<br />
lassen?» Fachleute unterstützen Jugendliche, eigene<br />
Lösungen zu finden.<br />
Auch Antonia hat sich schliesslich bei der Notrufnummer<br />
147 von Pro Juventute gemeldet, weil sie mit<br />
dem Kiffen aufhören will.<br />
* Name geändert und Beispiel anonymisiert.<br />
«Jugendliche<br />
brauchen eine<br />
Vertrauensbasis,<br />
um empfänglich<br />
für Hilfe zu sein.<br />
Susan Edthofer ist Redaktorin<br />
im Bereich Kommunikation<br />
von Pro Juventute.<br />
Was Eltern tun können – vier Tipps<br />
Reagieren Sie, wenn Sie das Gefühl haben, dass Ihr Kind<br />
suchtgefährdet ist. Suchen Sie das Gespräch und versuchen Sie<br />
auszuloten, was los ist.<br />
Auch wenn sich Misstrauen breitmacht, respektieren Sie die<br />
Privatsphäre Ihres Kindes und suchen Sie nicht heimlich im Zimmer<br />
nach Drogen oder Hinweisen, die auf Drogenkonsum deuten.<br />
Damit Jugendliche für Hilfe empfänglich bleiben, braucht es eine<br />
Vertrauensbasis.<br />
Weisen Sie Ihr Kind auf neutrale Anlaufstellen hin, wie z. B. die<br />
Beratung + Hilfe 147. So zeigen Sie Verständnis, dass es manchmal<br />
einfacher ist, anonym zu bleiben.<br />
Notrufnummer 147 von Pro Juventute<br />
Das Beratungsangebot von Pro Juventute Beratung und Hilfe 147 unterstützt<br />
Kinder und Jugendliche bei Fragen zu Familienproblemen, Gewalt, Sucht,<br />
Schule, Beruf, Liebe, Freundschaft oder Sexualität. Per Telefon, SMS, E-Mail,<br />
Chat oder über die Informationsplattform www.147.ch können sich Kinder<br />
und Jugendliche an diese vertrauenswürdige Anlaufstelle wenden. Fachleute<br />
unterstützen an 365 Tagen, rund um die Uhr – schweizweit und kostenlos.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>35
«Als Mutter fühlte<br />
ich mich hilflos,<br />
auch schuldig,<br />
dass sich meine<br />
Tochter fast zu<br />
Tode hungerte.»<br />
36 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Psychologie & Gesellschaft<br />
«Leas Gesicht hat diesen leeren<br />
Ausdruck. Sie wiegt noch 30 Kilo»<br />
Lea* ist 14, als sie anfängt, ihr Gewicht zu kontrollieren. Mit 15 kann sie kaum<br />
noch essen, mit 16 fürchten die Eltern ihren Tod. Ihre Mutter erzählt von Leas Weg<br />
in die Magersucht, ihrem Kampf gegen die Krankheit und davon, was ihr letztlich<br />
in ein glückliches Leben zurückgeholfen hat.<br />
Text: Leas Mutter (möchte nicht namentlich genannt werden) Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo<br />
Es ist Herbst 2009. Unsere<br />
Tochter Lea ist 14 Jahre<br />
alt. Wie andere Mädchen<br />
in diesem Alter hat<br />
sie in den letzten Monaten<br />
etwas zugenommen. Ihr Körper<br />
hat weibliche Formen und Rundungen<br />
bekommen, dick ist sie aber<br />
keineswegs. «Mama, ich möchte ein<br />
bisschen aufs Essen schauen», sagt<br />
sie. In der Biologie wird gerade die<br />
«Ernährungslehre» durchgenommen.<br />
Wir Eltern finden das gut –<br />
bewusst essen schadet nicht. Zuerst<br />
lässt Lea die Schokolade weg. Dann<br />
fängt sie an, Dinkelbrötchen für die<br />
Pause zu backen. Ganze Listen von<br />
Kalorientabellen finde ich später in<br />
ihrem Bett unter der Matratze.<br />
Lea hat Liebeskummer. Sie möchte<br />
aber nicht darüber sprechen.<br />
Schliesslich ist es normal, dass sich<br />
ein Kind in diesem Alter langsam<br />
von den Eltern zurückzieht, sich ins<br />
Zimmer verzieht, weg vom Familientisch.<br />
Eine enge Freundin hat<br />
Lea nicht mehr. Nach dem Übertritt<br />
in die Bezirksschule ist für sie vieles<br />
nicht mehr so wie in der Primarschule.<br />
Dort hatte sie zwei Freundinnen,<br />
die auch in der Nachbarschaft<br />
wohnten. Alles war überschaubar,<br />
nicht so in der Bezirksschule mit<br />
über 700 Schülern.<br />
«Die Portionen<br />
werden immer<br />
kleiner, die<br />
Mahlzeiten zur<br />
Qual.»<br />
Joghurt mit Früchten oder Suppe.<br />
«Lea, deine Portionen werden immer<br />
kleiner! Du musst essen, schliesslich<br />
bist du noch im Wachstum und<br />
brauchst eine Menge Energie.» Unsere<br />
Ermahnungen schlägt sie in den<br />
Wind. Sie esse ja! Ich koche viel<br />
Fisch, Reis, Gemüse. Das hat Lea<br />
gerne. So isst sie wenigstens etwas.<br />
«Es ist nur eine Phase, es geht vorbei»,<br />
sage ich mir. Dass ich mich so<br />
zur Komplizin meiner Tochter<br />
mache, sie in ihrem Wahn unterstütze,<br />
verdränge ich. Dass sie krank ist,<br />
dass das Hungern zur Sucht geworden<br />
ist, ist mir zu diesem Zeitpunkt<br />
noch nicht bewusst. Der Weg in die<br />
Essstörung ist ein schleichender Prozess.<br />
Frühling 2010<br />
schoben, die Portionen werden stetig<br />
kleiner, unser Familienleben wird<br />
immer mehr von den unschönen<br />
Auseinandersetzungen rund ums<br />
Essen belastet. Die gemeinsamen<br />
Mahlzeiten werden zur Qual. Auch<br />
unsere zwei Jahre jüngere Tochter<br />
Kathrin leidet. Lea bleibt stur. Sie isst<br />
kiloweise Äpfel, lernt verbissen in<br />
ihrem Zimmer und schottet sich<br />
immer mehr von ihrem sozialen<br />
Umfeld ab. Ihre Noten sind besser<br />
denn je und «rechtfertigen» ihr Verhalten.<br />
Sommer 2010<br />
Am Sporttag bricht Lea zusammen.<br />
Zu Hause erzählt sie nichts davon.<br />
Ihre Lehrerin ruft mich an, macht<br />
mich auf die Abmagerung unserer<br />
Tochter aufmerksam. Wie ich erst<br />
später erfahre, machen sich auch ihre<br />
Klassenkameraden Sorgen, versuchen<br />
mit Lea zu sprechen, auf sie<br />
einzuwirken. Kurz vor den Sommerferien<br />
nehmen wir mit dem Schulsozialarbeiter<br />
Kontakt auf. «Ich will<br />
mir Mühe geben», verspricht sie uns<br />
und packt zu meiner Beruhigung ein<br />
extragrosses Pausenbrot ein – essen<br />
tut sie es nicht.<br />
In den Sommerferien fährt sie<br />
zwei Wochen ins Blauringlager.<br />
Dort eskaliert die Situation. Lea isst<br />
nichts mehr, nimmt in dieser Zeit<br />
vier Kilo ab. Als ich auf der Lager-<br />
Nun ist es offensichtlich: Lea hat<br />
abgenommen, sieht aber noch<br />
immer gut aus, schön schlank! Sie<br />
Winter 2009/2010<br />
Lea ist immer strenger zu sich, zum<br />
Nachtessen gönnt sie sich nur noch<br />
bekommt Komplimente. Vermehrt<br />
haben wir Streit am Esstisch. Die<br />
Sauce wird auf den Tellerrand ge<br />
Homepage meine Tochter abgebildet<br />
sehe – abgemagert, mit >>><br />
37
ihren dünnen Armen und hysterisch für meine Älteste, habe<br />
Beinen –, komme ich endlich zur<br />
Einsicht: Unsere Tochter ist krank.<br />
Magersüchtig.<br />
Nach ihrer Rückkehr vereinbare<br />
fünf Kochtöpfe gleichzeitig auf dem<br />
Herd stehen. Irgendwas muss sie<br />
doch essen! Manchmal zwingt Lea<br />
sich dazu.<br />
ich einen Termin bei der Gynäkologin.<br />
Die Ärztin spricht Klartext mit<br />
Lea. Sie weist sie auf die schweren<br />
Folgen einer Magersucht hin und<br />
warnt sie, dass sie sich die Zukunft<br />
verbaue, falls sie ihr Essverhalten<br />
nicht ändere. Es sieht so aus, als ob<br />
Lea verstanden hat. Wir sind erleichtert.<br />
Um unsere Tochter nicht nur<br />
körperlich, sondern auch psychologisch<br />
zu betreuen, erhalten wir beim<br />
Kinder- und Jugendpsychologischen<br />
Dienst (KJPD) einen Termin für ein<br />
Gespräch mit einer Psychologin.<br />
Auch das entlastet uns.<br />
Aber es dauert Wochen, bis das<br />
Gespräch stattfindet.<br />
Herbst 2010<br />
Endlich haben wir einen Termin bei<br />
der Psychologin. Lea muss auf die<br />
Waage. Sie wiegt knapp 38 Kilo, hat<br />
einen BMI von unter 17. Die Psychologin<br />
thematisiert einen Klinikeintritt.<br />
Natürlich möchte Lea nicht<br />
weg von zu Hause. Aber ich als Mutter<br />
kann die Verantwortung nicht<br />
mehr übernehmen. Ich habe Angst,<br />
dass mein Kind vor meinen Augen<br />
stirbt. Die Situation zu Hause ist<br />
auch für Kathrin zur Qual geworden.<br />
Alles dreht sich nur noch ums Essen<br />
und schlussendlich um die grosse<br />
Schwester. Dies belastet das Verhältnis<br />
der Mädchen sehr.<br />
Die Psychologin stellt uns eine<br />
Spital-Wohngruppe für junge Frauen<br />
mit Essstörungen vor. Doch<br />
«Endlich komme ich<br />
zur Einsicht: Unsere wenige Tage später wird Lea notfallmässig<br />
in dieses Spital eingeliefert.<br />
Tochter ist krank.<br />
Ihr körperlicher Zustand hat sich<br />
Magersüchtig.» noch einmal dramatisch verschlechtert.<br />
Sie möchte essen, aber kann<br />
nicht mehr. Sie wiegt 36 Kilo, wird<br />
In der Zwischenzeit wollen wir nach<br />
Griechenland fahren, Familienferien<br />
machen.<br />
«Geniesst die Zeit und versucht,<br />
das Thema Essen beiseitezulassen»,<br />
rät uns die Ärztin.<br />
Es wird der absolute Horror.<br />
Jeden Tag wird die Gestalt von Lea<br />
schmaler, ihr Gesicht ausdrucksloser.<br />
Ihr Anblick im Bikini versetzt<br />
uns einen Stich ins Herz. Am liebsten<br />
isst sie Gurken-Tomaten-Salat<br />
ohne Öl und Essig. Das Essen nicht<br />
zum Thema zu machen, ist fast<br />
unmöglich. Immer wieder gibt es<br />
Streit – die ganze Familie ist hilflos.<br />
Mitte August beginnt Leas letztes<br />
Schuljahr. Es geht ihr immer<br />
schlechter. Zusehends wird sie<br />
schwächer. Ihre Hände fühlen sich<br />
kalt an, die Haare fallen büschelweise<br />
aus. Ich bin verzweifelt, koche<br />
schwächer und schwächer. Unsere<br />
Tochter wird mit Geräten überwacht.<br />
Es folgen Gespräche mit Psychologen<br />
und einem erfahrenen<br />
Arzt. Endlich können wir mit einem<br />
Profi sprechen, der uns versteht. Er<br />
erklärt uns, dass es sich bei Anorexie<br />
(Magersucht) um eine sehr ernst zu<br />
nehmende Krankheit handle. Rund<br />
ein Drittel der Betroffenen sterbe<br />
daran, ein Drittel lebe mit der Essstörung<br />
und nur ein Drittel werde<br />
geheilt.<br />
Lea unterschreibt einen Vertrag,<br />
in welchem sie sich bereit erklärt,<br />
eine vorgeschriebene wöchentliche<br />
Gewichtszunahme anzustreben.<br />
Der abrupte Eintritt in die Klinik<br />
ist für uns als Familie sehr einschneidend.<br />
Ohne Vorbereitungszeit<br />
müssen wir unsere Tochter von<br />
heute auf morgen loslassen, Kathrin<br />
hat ebenfalls plötzlich ihre Schwester<br />
«verloren».<br />
Trotzdem sind wir froh, dass die<br />
Verantwortung nicht mehr in erster<br />
Linie bei uns liegt. Uns ist bewusst,<br />
dass wir unserer Tochter zu nahe<br />
stehen – ohne professionelle Hilfe<br />
geht es nicht mehr. Zu Hause kehrt<br />
etwas Ruhe ein. Endlich kann ich<br />
kochen, was ich will, und es gibt keine<br />
Diskussionen mehr.<br />
Lea kann in die Wohngruppe ziehen.<br />
«Lea, du musst essen, eine<br />
Magensonde ist sehr schlimm, ich<br />
weiss, wovon ich spreche», motiviert<br />
sie eine Bewohnerin gleich beim<br />
Eintritt. Der Kontakt zu den Schulkolleginnen<br />
bricht ab. Alle sind mit<br />
der Situation überfordert. Anstatt<br />
Schule hat Lea nun Psychotherapie<br />
und Gespräche innerhalb der Gruppe.<br />
Dazu kommen Physiotherapie<br />
und Werken. Auch wir Eltern und<br />
ihre Schwester nehmen regelmässig<br />
an einer Familientherapie teil. Lea<br />
versteht sich gut mit ihrer >>><br />
«Es dauert bis zu einem<br />
Jahr, bis eine Essstörung<br />
offensichtlich wird»<br />
Viele Eltern fragen sich, woran man eine<br />
beginnende Essstörung erkennt und<br />
wie sie ihrem Kind helfen können. «Das<br />
Thema so früh wie möglich ansprechen»,<br />
rät Chefärztin Bettina Isenschmid.<br />
Interview: Evelin Hartmann<br />
Frau Isenschmid, welches sind Anzeichen<br />
für eine beginnende Essstörung?<br />
Wenn sich Jugendliche zurückziehen, die<br />
Mahlzeiten nicht mehr mit der Familie<br />
einnehmen wollen, immer unzufriedener<br />
mit sich sind, zu Stimmungsschwankungen<br />
neigen.<br />
Beschreiben sie nicht gerade einen typischen<br />
Teenager?<br />
Stimmt, es kann sich bei solchem Verhalten<br />
um einen normalen Pubertätsverlauf<br />
«Lea ritzt sich,<br />
um sich zu<br />
spüren, wie sie<br />
sagt. Es gibt<br />
Momente, da<br />
kennen wir<br />
unsere Tochter<br />
nicht mehr.»<br />
38 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Psychologie & Gesellschaft<br />
handeln, doch wenn andere Themen<br />
zusätzlich immer mehr an Bedeutung<br />
gewinnen, wie das Gewicht, Kalorien<br />
zählen, Zucker und Fette vermeiden, sollten<br />
Eltern hellhörig werden. Der Weg in eine<br />
Essstörung ist ein schleichender Prozess,<br />
bis die Anzeichen offensichtlich werden,<br />
dauert es in der Regel ein halbes bis ein<br />
ganzes Jahr.<br />
Wie sollten Eltern reagieren?<br />
Das Thema früh ansprechen und der<br />
Tochter beziehungsweise dem Sohn seine<br />
Beobachtungen mitteilen. Dabei ist es<br />
wichtig, Ich- anstatt Du-Botschaften auszusprechen:<br />
«Ich habe dieses oder jenes<br />
beobachtet und mache mir Sorgen» anstatt<br />
«Du gehst nach dem Essen immer auf die<br />
Toilette brechen, du hast eine Essstörung».<br />
Letzteres führt höchstwahrscheinlich zu<br />
einer Abwehrhaltung.<br />
Und wenn das Kind trotzdem alles<br />
abstreitet?<br />
Nicht abwimmeln lassen, sondern das<br />
Thema immer wieder ansprechen. Eltern<br />
können sich auch ohne ihr betroffenes Kind<br />
an eine Beratungsstelle wenden und dem<br />
Kind später davon berichten. Meistens<br />
erklären sich die Betroffenen dann selbst<br />
bereit, mitzugehen.<br />
Inwieweit sind die Eltern in die Therapie<br />
miteinbezogen?<br />
Das hängt vom Alter des Kindes ab: Je<br />
jünger das Kind, desto grösser ist die<br />
Verantwortung der Eltern für das Thema<br />
Essen. Sie werden dann auch in eine<br />
Psychotherapie miteinbezogen. Sind die<br />
Teenager schon 15 oder 16, entscheiden<br />
sie in der Regel selbst, wer sie in diesem<br />
Prozess begleitet. Manche wollen beispielsweise<br />
lieber ihre beste Freundin dabeihaben.<br />
Dies sollten Eltern akzeptieren.<br />
Was raten Sie Eltern in solch einer<br />
Situa tion?<br />
Die gesunden Anteile ihres Kindes zu<br />
stärken versuchen, anstatt es immerzu<br />
als Kranken zu behandeln. Und ihm das<br />
Angebot machen, über seine Probleme zu<br />
sprechen, anstatt ständig nach dem Essen<br />
zu fragen. Das ist sicher nicht leicht, aber<br />
wichtig.<br />
Und bei Rückschlägen ...<br />
... eine Rückmeldung geben: «Es ging doch<br />
gut. Jetzt habe ich das Gefühl, dass es<br />
wieder schlimmer wird. Ich hoffe, du findest<br />
den Mut, mit deiner Therapeutin darüber<br />
zu sprechen.» Das ist besser, als hinter<br />
dem Rücken des Kindes die Therapeutin<br />
anzurufen.<br />
Bettina Isenschmid<br />
ist Fachärztin für Psychiatrie und<br />
Psychosomatik und leitet als Chefärztin das<br />
Kompetenzzentrum für Essstörungen (KEA)<br />
am Spital Zofingen, www.spitalzofingen.ch/kea<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>39
Betreuerin. Sie basteln viel<br />
zusammen. So kann Lea ihre kreative<br />
Seite ausleben, was ihr viel bedeutet!<br />
Mit dem Gewicht geht es langsam<br />
bergauf. Wir besuchen sie unter<br />
der Woche, und am Wochenende<br />
darf sie nach Hause kommen – vollbepackt<br />
mit Menüplan, Rezepten<br />
und Kalorienaufstellungen.<br />
Winter 2010/11<br />
Winter 2011/12<br />
Auch hier hält sie sich nicht an die<br />
Abmachungen. Ihr Gewicht stagniert.<br />
Einmal entdecke ich in ihrem<br />
Schrank einen BH, gefüllt mit rund<br />
einem Kilo Schrauben und Muttern.<br />
Ihr Trick, um aus der geschlossenen<br />
Abteilung zu kommen.<br />
Deshalb muss sie nach einem halben<br />
Jahr die Klinik verlassen. «Die<br />
Magersucht ist nach wie vor voll<br />
präsent», sagt mir die Psychiaterin<br />
am Telefon. Ab Januar 2012 wohnt<br />
sie wieder bei uns und geht in die<br />
Schule. Erneut muss sie die Klasse<br />
wechseln, wird dort aber gut aufgenommen.<br />
Sie beginnt mit einer<br />
ambulanten Therapie im Kompegen<br />
und zur Untersuchung bei ihrer<br />
Frauenärztin meldet. Gleichzeitig<br />
geht sie in die Klinik zur Gesprächstherapie<br />
und fängt wieder mit der<br />
Schule an, eine Klasse tiefer, zu viel<br />
Stoff hat sie verpasst. Die Verantwortung<br />
rund ums Essen liegt nun wieder<br />
bei mir. Die Szenen am Tisch<br />
sind ähnlich wie vor Leas Klinikeintritt.<br />
Wieder kommen Gefühle der<br />
Ohnmacht, Wut, ja sogar Hass in mir<br />
hoch. «Sie müsste nur essen, dann<br />
wäre das Problem gelöst!» Davon bin<br />
ich überzeugt.<br />
Lea geht wöchentlich zum Wiegen.<br />
Sie trinkt vor dem Arztbesuch<br />
bis zu 4 Liter Wasser und zieht trotz<br />
wärmeren Temperaturen viele Klei<br />
«Wir mussten<br />
Lea loslassen.<br />
Wir haben ihr<br />
gesagt, dass es<br />
nun an ihr liege,<br />
ob sie leben wolle<br />
oder nicht.»<br />
Lea will nicht mehr zunehmen. Ihre<br />
Betreuerin hat gekündigt und auch<br />
eine liebgewonnene Freundin wird<br />
aus der Klinik entlassen. Lea möchte<br />
ebenfalls nach Hause und weg vom<br />
Klinikalltag. Man einigt sich darauf,<br />
dass sie sich wöchentlich zum Wieder<br />
an, um ihren Gewichtsverlust<br />
wettzumachen. Wir Eltern und die<br />
Ärztin stellen Lea zur Rede. Sie verspricht<br />
und lügt uns im selben Satz<br />
an. Es gibt Momente, da kennen wir<br />
unsere Tochter nicht mehr. Nein, sie<br />
ist nicht mehr unsere Tochter – dieses<br />
Mädchen tickt so komplett<br />
anders, hat nicht mehr das sanfte<br />
Wesen, die geerdete Art.<br />
Lea ritzt sich, um sich zu spüren,<br />
wie sie sagt. Ihr Gesicht hat wieder<br />
diesen leeren Ausdruck. Nach vier<br />
Wochen zu Hause wiegt Lea knapp<br />
30 Kilo.<br />
Ein zweites Mal muss sie notfallmässig<br />
ins Spital eingeliefert werden.<br />
Lea ist moralisch und körperlich<br />
total am Ende. Sie hält sich nicht an<br />
die Vereinbarungen ihrer Wohngruppe,<br />
fliegt aus dem Therapieprogramm.<br />
Für uns Eltern ist dieser<br />
Rauswurf dramatisch. Wohin nun<br />
mit unserer Tochter? Glücklicherweise<br />
darf Lea noch im Spital bleiben,<br />
bis wir für sie einen geeigneten<br />
Platz gefunden haben. Nach zahlreichen<br />
Besprechungen mit Ärzten und<br />
Fachleuten finden wir für unsere<br />
Tochter einen Therapieplatz in einer<br />
psychiatrischen Klinik, etwa eine<br />
halbe Stunde von zu Hause entfernt.<br />
Einmal mehr heisst es Abschied<br />
nehmen. Zeitweise ist sie in der<br />
geschlossenen Abteilung.<br />
40 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Psychologie & Gesellschaft<br />
tenzzentrum für Essstörungen<br />
(KEA) in Zofingen.<br />
Dann, beim Skifahren, zieht sie<br />
sich einen Oberschenkelhalsbruch<br />
zu. Lea hat Angst, dass sie langsam<br />
«zerbricht», lässt ihre Knochendichte<br />
messen – der Punkt, an dem auch<br />
mein Mann und ich uns Hilfe<br />
suchen müssen, sonst wären wir<br />
ebenfalls krank geworden. Der Therapeut,<br />
ein Mediator, bittet uns,<br />
unsere Tochter «loszulassen». Für<br />
mich als Mutter ist dies wie ein<br />
Befreiungsschlag. Wir versprechen<br />
ihm, Lea nicht mehr «in den Teller<br />
zu schauen», sie essen zu lassen, was<br />
sie will, oder eben zuzulassen, dass<br />
sie nichts isst – dies alles ohne Kommentar.<br />
Wir sagen Lea, dass es nun an ihr<br />
liege, ob sie leben wolle oder nicht.<br />
Dass wir mit unseren Kräften am<br />
Ende seien und kaputt gehen würden,<br />
wenn wir uns nicht abgrenzten<br />
von ihr. Es ist knallhart, das alles<br />
umzusetzen. Es ist ein langer Weg.<br />
Heute weiss ich, dass es diesen Leidensweg<br />
brauchte. Wir Eltern mussten<br />
an unsere Grenzen kommen,<br />
sonst hätten wir Lea nicht loslassen<br />
können.<br />
Winter 2012/13<br />
Lea verliebt sich. Er heisst Matteo.<br />
Diese Liebe «therapiert» unsere<br />
Tochter innert Kürze. Wir können<br />
es kaum fassen. Matteo kocht und<br />
isst sehr gerne. Meistens wohnt sie<br />
nun bei ihrem Freund und seiner<br />
Familie. Langsam normalisiert sich<br />
Leas Essverhalten. Ein halbes Jahr<br />
später beginnt sie eine Lehre als<br />
Fachangestellte Gesundheit, in einer<br />
Wohngruppe mit leicht bis mitteldementen<br />
Bewohnern. Sie muss dort<br />
auch kochen und essen. Die Arbeit<br />
bereitet ihr grosse Freude – sie wird<br />
gebraucht und gleichzeitig geschätzt.<br />
Winter 2015/16<br />
Noch immer geht sie regelmässig zur<br />
Therapie im Kompetenzzentrum für<br />
Essstörungen. Doch heute dürfen<br />
wir sagen, dass Leas Essverhalten<br />
wieder normal ist. Das grenzt für<br />
mich an ein Wunder! Es gab eine<br />
Zeit, da haben wir nicht mehr daran<br />
geglaubt, dass sich Lea von ihrer<br />
Anorexie befreien kann – wir haben<br />
zeitweise mit ihrem Tod gerechnet.<br />
Das war für uns Eltern und ihre<br />
Schwester die reinste Hölle, all die<br />
Diskussionen, die Streitigkeiten rund<br />
ums Essen, um Kilos und Kalorien,<br />
all die Beschuldigungen, die Lügen.<br />
Rückblickend habe ich das<br />
Gefühl, dass viele verschiedene Faktoren<br />
zu Leas Magersucht geführt<br />
haben. Sie fühlte sich in ihrer Klasse<br />
nicht integriert. Sie hatte keine richtige<br />
Freundin. Sie «hungerte» regelrecht<br />
nach Aufmerksamkeit, wollte<br />
doch auch zu den Schönen und<br />
Schlanken gehören, bei den Jungs<br />
gut ankommen.<br />
«Die Liebe zu ihrem<br />
neuen Freund<br />
hat unsere<br />
Tochter gerettet.»<br />
Ihr fehlte es vor allem in der Oberstufe<br />
an einem gesunden und guten<br />
Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl<br />
und Selbstvertrauen. Die Angst vor<br />
der Zukunft machte sich breit, all die<br />
Fragen rund um die Berufswahl. Sie<br />
verglich sich auch ständig mit ihrer<br />
Schwester, die nach aussen alles viel<br />
lockerer nimmt und nicht so introvertiert<br />
ist wie Lea.<br />
Es gab eine Zeit, in der ich mich<br />
als Mutter schuldig fühlte und mir<br />
Vorwürfe machte, dass es zu dieser<br />
schlimmen Krankheit kam und sich<br />
meine Tochter sozusagen fast zu<br />
Tode hungerte. Insbesondere fühlte<br />
ich mich schuldig, weil es seine Zeit<br />
dauerte, bis ich es wahrhaben wollte,<br />
dass meine Tochter magersüchtig ist.<br />
Fachpersonen sind sich einig und<br />
Studien belegen: Je früher man eine<br />
Magersucht behandelt, desto grösser<br />
sind die Heilungschancen. Rückblickend<br />
ist es einfacher, gewisse Feststellungen<br />
zu machen: Heute würde<br />
ich früher mit meiner Tochter den<br />
Arzt aufsuchen und die Essstörung<br />
thematisieren. Ich würde mir auch<br />
früher Hilfe bei einer Fachstelle<br />
holen.<br />
Dass Lea es letztendlich geschafft<br />
hat, liegt auch an mehreren Faktoren:<br />
Der Oberschenkelhalsbruch<br />
löste in ihr eine riesengrosse Angst<br />
aus, dass sie nun auch innerlich<br />
«zerbricht». In all den Therapien<br />
wurde Osteoporose thematisiert –<br />
immer vergebens. Bei diesem Unfall<br />
hat sie es am eigenen Leibe erfahren.<br />
Sie hat die Kontrolle über ihren Körper<br />
verloren.<br />
Ein wesentlicher Faktor, welcher<br />
zur Genesung unserer Tochter führte,<br />
war sicher auch die Liebe zu<br />
ihrem Freund. Er akzeptierte und<br />
liebte Lea so, wie sie ist. Auch die<br />
Belastung bezüglich Berufswahl<br />
konnte mit der erhaltenen Lehrstelle<br />
geklärt werden. Endlich hat Lea<br />
wieder ein Ziel vor Augen.<br />
Wer mir in dieser schweren Zeit<br />
die grösste Stütze war? Mein Mann.<br />
Hand in Hand sind wir diesen Weg<br />
gegangen und haben uns gegenseitig<br />
unterstützt. Wenn es mir schlecht<br />
ging, hat er mich wieder aufgebaut.<br />
Wir durften auch auf liebe Menschen<br />
im Familien- und Freundeskreis<br />
zählen, die uns mit guten<br />
Gesprächen und viel Einfühlungsvermögen<br />
begleiteten, die ein offenes<br />
Ohr hatten und einfach da<br />
waren. Geblieben ist mir nach dieser<br />
Zeit eine grosse Dankbarkeit, dass<br />
Lea in ein normales Leben zurückgefunden<br />
hat und mit Freude den<br />
Alltag meistern kann.
Kolumne<br />
Mobbing beginnt nicht in den<br />
Köpfen der Kinder<br />
Wenn in einer Schule überdurchschnittlich häufig gemobbt wird, ist der Grund oft ein<br />
Führungsproblem. Jesper Juul über fehlendes Selbstwertgefühl von Jugendlichen<br />
und die Herausforderung an Lehrkräfte, mit ihrem Verhalten Mobbing zu verhindern.<br />
Jesper Juul<br />
ist Familientherapeut und Autor<br />
zahlreicher internationaler Bestseller<br />
zum Thema Erziehung und Familien.<br />
1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />
nach dem Schulabschluss zur See, war<br />
später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />
und Barkeeper. Nach der<br />
Lehrerausbildung arbeitete er als<br />
Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />
und bildete sich in den Niederlanden<br />
und den USA bei Walter Kempler zum<br />
Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />
leidet Juul an einer Entzündung der<br />
Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />
Rollstuhl.<br />
Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />
Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />
Ehe geschieden.<br />
Dem Thema Mobbing<br />
in Schulen und auf<br />
sozialen Netzwerken<br />
wurde in den letzten<br />
zehn Jahren in ganz<br />
Europa viel Beachtung geschenkt.<br />
Dieser Artikel konzentriert sich auf<br />
Mobbing in Schulen. Von diversen<br />
Seiten der Gesellschaft wurden bisher<br />
verschiedenste Methoden und<br />
Programme entwickelt, aber gemäss<br />
unserem heutigen Stand (Schweden<br />
hat fundierte Nachforschungen<br />
betrieben) haben diese bisher weder<br />
eine präventive Wirkung gezeigt<br />
noch das Mobbingproblem gelöst.<br />
Im Gegenteil: Man hat festgestellt,<br />
dass die Mobbingraten in den ersten<br />
ein bis zwei Jahren zwar zunächst<br />
sanken, danach stiegen diese jedoch<br />
auf ein noch höheres Niveau als vor<br />
dem Start der Programme und<br />
Kampa gnen. Millionen wurden verschwendet,<br />
und die Kinder wurden<br />
einmal mehr alleingelassen.<br />
Entscheidend dafür, ob es zu<br />
Mobbing kommt oder nicht,<br />
ist die Führung der Kinder<br />
durch die Erwachsenen.<br />
Mobbingopfer erhalten ausser moralischer<br />
Unterstützung meistens keine<br />
weitere Hilfe, und viele Eltern<br />
entscheiden sich, neue Schulen für<br />
ihre Kinder zu finden. Kinder, die<br />
mobben, werden auf verschiedene<br />
Weisen bestraft. Dies führt tendenziell<br />
dazu, dass sich das Verhalten<br />
dieser Kinder sogar noch verschlimmert.<br />
Beide Gruppen erhalten keine<br />
Alternativen, um mit sich selbst und<br />
anderen umzugehen.<br />
Wie die Lehrer, so die Schüler<br />
Das grundlegende Missverständnis<br />
hinter den meisten Kampagnen ist<br />
die Annahme, dass Mobbing in den<br />
Köpfen der Kinder beginnt, was aber<br />
nicht der Fall ist. Es ist korrekt, dass<br />
Kinder die Fähigkeit haben, gemein<br />
und scheusslich zueinander zu sein.<br />
Entscheidend dafür, ob dies geschieht<br />
oder nicht geschieht, ist jedoch einzig<br />
und alleine die Führung durch<br />
die Erwachsenen.<br />
Im gleichen Masse widerspiegelt<br />
Mobbing am Arbeitsplatz die Qualität<br />
der Führung in einem Betrieb.<br />
Aus unseren klinischen Erfahrungen<br />
wissen wir, dass in Schulen, in<br />
welchen häufiges Mobbing zwischen<br />
Kindern betrieben wird, auch Mobbing<br />
unter Lehrpersonen stattfindet.<br />
Der einzige Unterschied besteht<br />
darin, dass intelligente Erwachsene<br />
sehr subtile Wege verwenden, um<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
42 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
andere schlechtzumachen; Wege,<br />
die nicht so leicht bewiesen werden<br />
können. Mobbing ist eine Reaktion<br />
auf ein dysfunktionales soziales System<br />
in Institutionen und Organisationen.<br />
Die wichtigste Führungskraft in<br />
Schulen ist die Schulleiterin oder<br />
der Schulleiter. Ihr/sein Führungsstil,<br />
ihre/seine Werte und Prinzipien<br />
spiegeln sich im Verhalten der meisten<br />
Lehrpersonen wider. Auch die<br />
Eltern tragen einen wichtigen Teil<br />
zum Ganzen bei: die Art und Weise,<br />
wie sie ihre Kinder erziehen, und die<br />
Art und Weise, wie sie eingeladen<br />
werden, eine konstruktive Rolle in<br />
der Schule zu spielen – und nicht<br />
nur kontaktiert zu werden, um sich<br />
Beschuldigungen über die eigenen<br />
Kinder anzuhören.<br />
Wenn in einer Institution überdurchschnittlich<br />
häufig gemobbt<br />
wird, liegt dem ein Führungsproblem<br />
zugrunde, was eine grosse<br />
Herausforderung darstellt. Um diesen<br />
Aspekt der Kultur in spezifischen<br />
Schulen umzuwandeln, muss<br />
mit der Herstellung eines konstruktiven<br />
Denkrahmens unter Lehrpersonen<br />
begonnen werden. Meistens<br />
benötigen diese eine Auffrischung<br />
in Entwicklungs- und Sozialpsychologie<br />
(Beziehungskompetenz) sowie<br />
ein adäquates Führungstraining.<br />
Keines von beidem ist meines Wissens<br />
in der Lehrerausbildung enthalten.<br />
«Was ist ein guter Freund?»<br />
Der zweite Schritt beinhaltet eine<br />
philosophische Übung, welche sich<br />
sehr von einer moralischen Lektüre<br />
unterscheidet. Dies muss im ersten<br />
Monat des ersten Schuljahres passieren<br />
und wird etwa 50 Minuten in<br />
Anspruch nehmen. Die Lehrperson<br />
fragt jedes Kind: «Was ist ein guter<br />
Freund?» – Sie hört sich die Antworten<br />
an, ohne diese zu kommentieren<br />
oder zu bewerten, und lässt die Kinder<br />
in kleinen Gruppen untereinander<br />
sprechen (es ist wichtig, Mädchen<br />
und Jungen zu mischen). Am<br />
Wo überdurchschnittlich häufig<br />
gemobbt wird, liegt<br />
ein Führungsproblem vor.<br />
Ende kann die Lehrperson eine<br />
Zusammenfassung auf die Wandtafel<br />
schreiben und sicherstellen, dass<br />
alle Kollegen und Eltern informiert<br />
und dazu ermutigt werden, die Sache<br />
weiterzuverfolgen.<br />
Diese Übung sollte mindestens<br />
einmal pro Jahr wiederholt werden.<br />
Hierzu sollten jeweils zusätzliche<br />
Fragen gestellt werden: «Hat jemand<br />
von euch eine schlechte Erfahrung<br />
mit einem anderen Kind gemacht?<br />
Was ist passiert und wie hast du dich<br />
dabei gefühlt?» Kinder werden diese<br />
Fragen angstfrei beantworten, so -<br />
bald sie erfahren haben, dass ihre<br />
Lehrperson mit solchen Situationen<br />
umgehen kann, ohne zu moralischen<br />
Beschuldigungen oder Strafen<br />
zu greifen.<br />
Generell ist es wichtig, dass sich<br />
Kinder immer sicher und geschätzt<br />
fühlen, wenn sie etwas sagen möchten,<br />
das vielleicht nicht direkt mit<br />
dem Lehrplan zu tun hat. Alternative<br />
Schulen, die anstreben, eine auf<br />
Dialog basierende Kultur zu schaffen,<br />
sind diesbezüglich erfolgreicher.<br />
Das folgende Beispiel kann als<br />
aussergewöhnlicher, mutiger Akt<br />
eines aussergewöhnlichen Mädchens<br />
angesehen werden, aber die<br />
Realität ist, dass seine Initiative ohne<br />
engagierten Beitrag aller Erwachsenen<br />
nicht möglich gewesen wäre.<br />
Der Gedanke wäre in seinem Kopf<br />
gewesen, aber nie ausgesprochen<br />
worden. Es ist auf fruchtbaren Bo -<br />
den gestossen.<br />
Ein achtjähriges dänisches Mädchen<br />
fragte seinen Lehrer um<br />
Erlaubnis, vor ihre Klasse zu treten<br />
und eine persönliche Nachricht zu<br />
übermitteln. Der Lehrer schlug vor,<br />
dass es an ihrem Tisch aufsteht, aber<br />
das Mädchen bestand darauf, alle Klassenkameraden<br />
anzuschauen.<br />
«Ich möchte euch etwas Wichtiges<br />
sagen. Einer der Jungs in dieser Klasse<br />
hat Lernschwierigkeiten, und ein paar<br />
von euch hänseln und mobben ihn deswegen.<br />
Das macht ihn sehr unglücklich,<br />
und ich denke, dass es falsch ist<br />
und dass diejenigen damit aufhören<br />
sollten.»<br />
Ihre Klassenkameraden applaudierten,<br />
und am gleichen Abend rief der<br />
Lehrer ihre Mutter an und erzählte ihr,<br />
was ihre Tochter getan hatte, und sagte<br />
ihr, dass sie stolz auf sie sein könne. Die<br />
Mutter veröffentlichte die Geschichte<br />
auf Facebook und erhielt während der<br />
Nacht Hunderte von Likes. Am nächsten<br />
Tag gingen Mutter und Tochter<br />
zum Frühstücksfernsehen, und für ein<br />
paar Wochen war das Ereignis in der<br />
Öffentlichkeit und wurde in Hunderten<br />
von Schulzimmern und Tausenden<br />
Familien diskutiert.<br />
Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />
in Zusammenarbeit mit<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>43
44 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
«Ich küsse, du küsst,<br />
er küsst …»<br />
Sie kennen oft noch nicht einmal unser Alphabet, wissen nicht, wie lange sie in der<br />
Schweiz leben werden – sollen aber in wenigen Wochen fit gemacht werden für den<br />
Unterricht in der Regelschule. Wie geht das? Zu Besuch in einer Asylschule.<br />
Text: Bianca Fritz Bilder: Filipa Peixeiro / 13 Photo<br />
Während die<br />
kleinen Schüler<br />
Silben klatschen<br />
(unten),<br />
konjugieren die<br />
Teenager Verben.<br />
Morgens kurvt ein<br />
kleiner Bus das<br />
steile Strässchen<br />
herauf, durch das<br />
Gelände des Kantonsspitals.<br />
Vor dem letzten Gebäude<br />
am Waldrand bleibt er stehen<br />
und spuckt eine Gruppe Schülerinnen<br />
und Schüler mit bunten Rucksäcken<br />
aus. Sie eilen vorbei am Empfang<br />
des Asylzentrums und am<br />
Büro, vor dem Asylbewerber sitzen,<br />
warten, laut diskutieren. Die Kinder<br />
sind spät dran an diesem Morgen,<br />
weil ihr Schulbus im Stau stand.<br />
Hektisch ziehen sie ihre Jacken aus,<br />
verteilen sie auf die Haken an der<br />
Wand und huschen ins Klassenzimmer.<br />
Dort sitzen ihre Mitschüler<br />
bereits über ihren Aufgaben gebeugt.<br />
Sie hatten einen kürzeren Schulweg:<br />
von den oberen Stockwerken des<br />
Asylzentrums ins Erdgeschoss. Die<br />
Lehrerinnen nehmen die verspätete<br />
Ankunft der Schulbuskinder aus<br />
den anderen Asylzentren gelassen<br />
hin. Die Ausnahmesituation ist hier<br />
der Normalfall.<br />
In der Schule im Asylzentrum<br />
Hirschpark in Luzern ist alle zwei<br />
Wochen Einschulung. Fast genauso<br />
häufig werden Schülerinnen und<br />
Schüler verabschiedet. Zum Zeitpunkt<br />
unseres Besuches büffeln 48<br />
Kinder und Jugendliche in sechs<br />
Klassen, aber die Zahl ändert sich<br />
ständig – meist wächst sie. Schul-<br />
pflichtig sind in der Schweiz alle<br />
Kinder – unabhängig von ihrem<br />
Aufenthaltsstatus. Mit dem wachsenden<br />
Zustrom an Flüchtlingen<br />
gibt es also auch immer mehr Kinder,<br />
die in den kantonalen Durchgangszentren<br />
darauf warten, dass ihr<br />
Asylantrag bearbeitet wird.<br />
Schon in dieser Zeit ist Bildung<br />
für sie Recht und Pflicht zugleich.<br />
Dabei fahren die Kantone unterschiedlichste<br />
Modelle. Von der<br />
sofortigen Eingliederung in die<br />
Regelschule mit zusätzlichem<br />
Deutschunterricht über spezielle<br />
Kleinklassen bis hin zu Schulklassen<br />
direkt in den Asylzentren, wie sie<br />
eben in Luzern geführt werden.<br />
Wenn der Asylstatus geklärt ist, geht<br />
es für die Bewerber entweder in die<br />
Gemeinden – und damit auf die<br />
Regelschulen – oder ins Heimatland<br />
zurück.<br />
Im Durchschnitt bleiben die Kinder<br />
in Luzern zwei bis drei Monate<br />
in den Durchgangszentren. Es gibt<br />
aber auch immer solche, die schon<br />
nach wenigen Wochen weiterziehen.<br />
Und es gibt jene, deren Status bis zu<br />
einem Jahr oder länger unklar bleibt.<br />
Sie sehen ihre Mitschüler ständig<br />
kommen und gehen.<br />
Das Gefälle ist riesig<br />
Bevor die Kinder in die Klassen eingeteilt<br />
werden, stellen sie sich bei der<br />
Schulleiterin Silvia Rüttimann vor.<br />
Sie versucht herauszufinden, ob die<br />
Kinder bereits die Schule besucht<br />
haben, ob sie lesen und schreiben<br />
können, ob sie auch lateinische oder<br />
hauptsächlich arabische Schriftzeichen<br />
gelernt haben. «Das Gefälle ist<br />
riesig», sagt sie. Die schwierigste<br />
Aufgabe sei es, die Kinder zwar nach<br />
Niveau einzuteilen, ihnen aber trotzdem<br />
die Chance zu geben, mit<br />
Gleichaltrigen zu lernen. «Wir können<br />
den 16-jährigen Analphabeten<br />
nicht zu den Primarschülern und<br />
Kindergartenkindern stecken», sagt<br />
sie. Für die acht Volksschullehrerinnen,<br />
die mit einem festen Pensum<br />
an der Schule im Asylzentrum arbeiten,<br />
heisst das vor allem eines: Sie<br />
müssen jeden Schüler einzeln >>><br />
«Wir können den 16-jährigen<br />
Analphabeten nicht zusammen<br />
mit Kindergartenkindern und<br />
Primarschülern unterrichten.»<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>45
«Die Kinder saugen alles auf,<br />
wollen alles wissen,<br />
ganz ohne Vorbehalte.»<br />
>>> betreuen. Jedem Aufgaben auf<br />
seinem Niveau zuteilen, seinen Fortschritt<br />
gewähren und trotzdem die<br />
Gruppe zusammenhalten. Ein ständiger<br />
Spagat. Deshalb sitzen in den<br />
Klassenzimmern auch im Normalfall<br />
nicht mehr als zehn Schüler. Der<br />
Spracherwerb steht im Vordergrund,<br />
alle Lehrpersonen habe eine Zusatzausbildung<br />
im Bereich «Deutsch als<br />
Fremdsprache». Vormittags hat jeder<br />
Schüler zehn Lektionen Deutsch pro<br />
Woche. Nachmittags stehen je zwei<br />
Lektionen Rechnen, Gestalten oder<br />
Sport auf dem Stundenplan. Und<br />
dann sind da noch Dinge, die mitgelernt<br />
werden, ohne dass sie direkt<br />
benannt werden: dem Tag Struktur<br />
geben, schulfähig werden.<br />
Hohes Aggressionspotenzial<br />
Gerade bei den Jüngsten, den angehenden<br />
Primarschülern, ist das ein<br />
Thema. Sie sitzen im ersten Stock an<br />
kleinen Tischen und kleben bunte<br />
Punkte hinter Bilder und Worte.<br />
Jeder Punkt steht für eine Silbe. Wer<br />
unsicher ist, klatscht zusammen mit<br />
Lehrerin Pia Schnyder Perrollaz und<br />
Praktikant Anis Ayachi in die Hände<br />
und zählt nach. «Re-gen-schirm.»<br />
«Sturm-wind.» Die Worte haben die<br />
Kinder gerade erst gelernt – sie stammen<br />
aus einer Geschichte vom Igel<br />
im Winterschlaf.<br />
Manche Schüler knobeln und<br />
grübeln so fest, dass man fast meint,<br />
Dampf aus den kleinen Köpfen aufsteigen<br />
zu sehen. Sie reiben sich die<br />
Nase, ziehen die Münder zusammen<br />
und versuchen es: «Zwei?» «Nein,<br />
hör noch einmal hin!» Andere seufzen<br />
und ruckeln ungeduldig auf<br />
ihren Stühlen herum.<br />
Die Kinder an Schulstrukturen zu<br />
gewöhnen, ist alles andere als einfach,<br />
berichtet die Lehrerin: «Viele<br />
haben zuvor noch nie in einem Kreis<br />
gesessen, manche noch nie gespielt.»<br />
Dazu kommt, dass einige Kinder ein<br />
hohes Aggressionspotenzial mitbringen<br />
– es aus ihrer Familie nicht<br />
anders kennen. «Wer das Spielzeug<br />
in der Hand hat, glaubt, dass es nun<br />
ihm gehört, und andere werden mit<br />
Schlagen und Kratzen abgewehrt»,<br />
erzählt Pia Schnyder Perrollaz. In<br />
diesen Mo menten ist sie als Lehrerin<br />
und Mensch besonders gefordert.<br />
Sie muss erklären, warum man im<br />
Schulzimmer nicht schlagen darf.<br />
Und das oft nur mit Gesten und<br />
Mimik, weil die richtigen Worte<br />
noch fehlen.<br />
Aber es gibt auch die andere Seite<br />
der Arbeit im Asylzentrum. Die<br />
beispiellose Begeisterungsfähigkeit<br />
der Kinder. Wann immer Pia Schnyder<br />
Perrollaz eine Frage stellt,<br />
schnellen alle Finger gierig in die<br />
Höhe und die Kinder rufen «Ich, ich,<br />
ich …». «Sie saugen alles auf, wollen<br />
alles wissen, ganz ohne Vorbehalte»,<br />
erzählt die Lehrerin.<br />
Zugleich su chen sie Nähe. Praktikant<br />
Anis, 22, hat es ihnen besonders<br />
angetan. Vielleicht, weil er als<br />
Halbtunesier auch Arabisch spricht.<br />
Vielleicht auch, weil er, wie er selbst<br />
sagt, «nicht so sehr Autorität ausstrahlen<br />
muss und manchmal auch<br />
nur dabeisitzen darf». Immer wieder<br />
kommt eines der Kinder zu ihm und<br />
schmiegt sich an seinen Arm. Auch,<br />
als sie am Ende der Stunde gemeinsam<br />
das Lied vom Igel im Winterschlaf<br />
singen, laut, falsch und mit<br />
ganz viel Körpereinsatz.<br />
Dass die meisten Kinder sehr gerne<br />
zur Schule gehen und es auch<br />
keine Überzeugungsarbeit bei den<br />
Eltern braucht, weiss auch Schulleiterin<br />
Silvia Rüttimann aus Erfahrung.<br />
«Allen ist Schule enorm wich<br />
tig.» Und das nicht nur wegen des<br />
Schulstoffs. Es geht auch darum,<br />
dass die Kinder einmal rauskommen<br />
aus den beengten Wohnverhältnissen<br />
im Asylzentrum.<br />
Bei Familie Rashid kann man das<br />
gut sehen. Seit sie vor drei Monaten<br />
aus Syrien über die Türkei und<br />
Deutschland in die Schweiz gekommen<br />
ist, wohnt sie zwei Stockwerke<br />
über der Schule in einem kleinen<br />
und blitzblank ge putzten Zimmer.<br />
Darin stehen zwei Stockbetten und<br />
ein Gitterbettchen mit einem Neugeborenen.<br />
Dazu ein Waschbecken,<br />
eine Mikrowelle, ein Kühlschrank,<br />
ein kleiner Tisch – das wars.<br />
Hier lebt die sechsköpfige Familie.<br />
Und alle versuchen still zu sein,<br />
wenn die drei schulpflichtigen Kinder<br />
ihre Hausaufgaben machen. Das<br />
versichert Vater Muhammed, der<br />
selbst oft mit dem Wörterbuch anzutreffen<br />
ist. «Bildung ist wichtig», sagt<br />
er mit einem ernsten Gesicht. Er<br />
steht vor einer Wand, an der die<br />
Stundenpläne der Kinder hängen,<br />
zusammen mit Porträtfotos. Darunter<br />
sind Schultheke und Schuhe aufgereiht.<br />
Bis vor ein paar Monaten<br />
gab es im Asylzentrum noch einen<br />
Raum, in dem die Kinder in Ruhe<br />
Hausaufgaben machen konnten.<br />
Doch dieser wird jetzt als zusätzlicher<br />
Schlafraum gebraucht.<br />
Über die Lehrerin tuscheln<br />
Einzig unter den Teenagern gibt es<br />
einige, die manchmal nicht ganz so<br />
begeistert wirken von den Schulstunden.<br />
Für sie ist die Lehrerin auch mal<br />
Anlass, in der Muttersprache zu<br />
tuscheln. Und es gibt Jungen, die<br />
man dreimal ermahnen muss, bis sie<br />
ihr Handy ausschalten. Das mag an<br />
der Pubertät liegen. Vielleicht auch<br />
daran, dass sie den schwierigsten<br />
Weg zu gehen haben. Die Jugendlichen<br />
sollen in wenigen Wochen oder<br />
Monaten so gut Deutsch lernen und<br />
erste Schulinhalte so gut vermittelt<br />
be kommen, dass sie bald «die tiefste<br />
Regelschulklasse, die für ihr Alter<br />
noch vertretbar ist», besuchen kön<br />
46 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
«Ich, ich, ich!»<br />
Alle Kinder<br />
wollen unbedingt<br />
zeigen, wie der<br />
Sturmwind tönt.<br />
nen. So drückt es Schulleiterin Silvia<br />
Rüttimann aus. Deshalb geht es in<br />
diesen Klassen auch viel weniger<br />
spielerisch zu als bei den Jüngeren.<br />
Gerade werden kräftig Verben konjugiert.<br />
«Ich küsse, du küsst …»<br />
«Weisst du denn, was küssen heisst?»,<br />
wirft die Lehrerin ein, und das Mädchen<br />
aus Afghanistan formt scheu<br />
einen Kussmund unter ihrem Kopftuch.<br />
«Ja, genau!» Dann lobt sie eine<br />
Eritreerin dafür, dass sie das Verb<br />
«rennen» richtig durchkonjugiert<br />
hat – ohne abzulesen, denn lesen<br />
kann sie noch nicht.<br />
Ein Klassenzimmer weiter wirft<br />
Lehrerin Heidy Müller auch immer<br />
wieder ein Wort in Farsi oder Arabisch<br />
in die Runde, wenn die Verständigung<br />
hakt. Das meiste aber,<br />
gibt sie selbstkritisch zu, vergisst sie<br />
schon bald, nachdem es ihr die<br />
Schüler beigebracht haben. «Umso<br />
bewundernswerter finde ich es, was<br />
die Kinder hier leisten.»<br />
Die meisten sprechen Deutsch in<br />
kurzen Sätzen. «Ich komme aus<br />
Syrien.» «Ich bin 14 Jahre alt.» Das<br />
geht schon. Auch: «Ich habe zwei<br />
Schwestern.» Warum diese aber bei<br />
den Eltern in Syrien geblieben sind,<br />
warum der Junge, der das berichtet,<br />
ganz alleine in die Schweiz gekommen<br />
ist, dafür fehlen die deutschen<br />
Worte noch. Stattdessen lächelt er<br />
und zuckt mit der Schultern.<br />
Klar ist: Er ist nicht der Einzige,<br />
der ohne Familie hier ist. Im Kanton<br />
Luzern wurde extra ein Zentrum für<br />
rund 70 sogenannte UMAs – also<br />
«unbegleitete minderjährige Asylsuchende»<br />
– errichtet. Eine besondere<br />
Herausforderung für die Lehrpersonen?<br />
Silvia Rüttimann: «Traumata<br />
spüren wir selten. Nur punktuell<br />
erzählt mal ein Elternteil etwas,<br />
wenn es darum geht, das Verhalten<br />
der Kinder zu erklären.» Im Unterricht<br />
ist das, was die Kinder erlebt<br />
haben, im Normalfall aber kein Thema.<br />
Lehrerin Pia Schnyder Perrollaz<br />
ist überzeugt: «Die Kinder sind erst<br />
einmal damit beschäftigt, anzukommen<br />
– was sie zu verarbeiten haben,<br />
zeigt sich erst viel später, wenn sie<br />
zur Ruhe gekommen sind.»
Erziehung & Schule<br />
Tabuthema Geld?<br />
«Papa, können wir nach Australien in die Ferien? Da kann man mit Delfinen schnorcheln, und die Koalas<br />
sind so süss!» Der Vater denkt an den fünfstelligen Betrag, den die Reise kostet. Verlegen ringt er nach<br />
einer Antwort an seine Teenagertochter, die anders lautet als «Nein, das ist zu teuer!» Text: Andreas Hieber<br />
MoneyFit-Tipp<br />
Fachleute empfehlen, das Thema Geld in Erziehung<br />
und Bildung auf keinen Fall zu tabuisieren,<br />
sondern spätestens ab dem Teenageralter aktiv zu<br />
besprechen. Konkret:<br />
Das Familienbudget inkl. das Einkommen<br />
der Eltern offenlegen<br />
Finanzielle Verantwortung für persönliche<br />
Auslagen übergeben<br />
Wichtige Anschaffungen gemeinsam<br />
besprechen und Entscheidungen<br />
treffen<br />
Das Beispiel macht deutlich:<br />
Mit den eigenen Kindern<br />
über Geld reden ist nicht<br />
einfach! Dies obwohl Geld<br />
in unserer Gesellschaft allgegenwärtig<br />
ist. Es durchdringt fast jeden<br />
Lebensbereich. Geld ist nicht nur<br />
Zahlungsmittel, sondern steht für<br />
Anerkennung, Sicherheit, Macht,<br />
Lebensqualität.<br />
Ab wann und wie sollen Kinder und<br />
Jugendliche mit der Realität materieller<br />
Werte in Berührung kommen?<br />
Wenn es schon schwerfällt, unter<br />
Erwachsenen über die persönlichen<br />
Finanzen zu sprechen, wie geht das<br />
dann mit den eigenen Kindern?<br />
Ein Blick in die Fachliteratur und<br />
der Austausch mit Experten von<br />
Budget- und Schuldenberatungsstellen<br />
machen klar: Damit Kinder<br />
später verantwortungsvoll mit Geld<br />
umgehen können, müssen sie an<br />
das Thema herangeführt werden.<br />
Und genau deshalb ist es zentral, mit<br />
Kindern und Jugendlichen offen über<br />
Geld zu reden – auch wenn es nicht<br />
immer leichtfällt.<br />
«Es ist für Eltern eine besondere<br />
Herausforderung, heranwachsenden<br />
Kindern und Jugendlichen<br />
eine realistische Einschäzung der<br />
Lebenskosten zu vermitteln», sagt<br />
Andrea Fuchs, Präventionsfachfrau<br />
der Schuldenberatungsstelle Aargau<br />
und Solothurn. Jugendliche wüssten<br />
in der Regel zwar gut Bescheid<br />
über jene Kosten, mit denen sie<br />
direkt in Berührung kommen – von<br />
Kioskauslagen und Mobilitäts- und<br />
Handykosten bis zu Kosten für<br />
Ausgang und Reisen. «Die meisten<br />
Teenager», so Andrea Fuchs weiter,<br />
«haben aber kaum Vorstellungen<br />
von jenen Lebenskosten, die weniger<br />
offensichtlich sind: Steuern, Versicherungen,<br />
Krankenkasse, Wohnungsmiete,<br />
Rückstellungen.»<br />
Gerade um einer späteren Verschuldung<br />
vorzubeugen, ist es im<br />
Interesse der Eltern, hier Abhilfe zu<br />
schaffen. Möglichkeiten dazu bietet<br />
der Familienalltag viele, hier einige<br />
Ideen:<br />
• Sprechen Sie mit Ihren Kindern ab<br />
dem Schuleintritt beim Einkaufen,<br />
beim Kleiderkauf usw. durchaus<br />
auch die Kosten an; zeigen Sie auf,<br />
was wie viel kostet, und stellen Sie<br />
Vergleiche an.<br />
• Übertragen Sie Ihren Kindern<br />
etwa ab dem 13. Lebensjahr konkrete<br />
finanzielle Verantwortung,<br />
z. B. indem sie monatlich einen<br />
Betrag erhalten für Kleider, Schuhe,<br />
Handykosten.<br />
• Thematisieren Sie – spätestens<br />
wenn es um die Berufswahl geht<br />
– den Zusammenhang zwischen<br />
Arbeit und Einkommen. Zeigen Sie<br />
auf, wie viel Sie selbst in welchem<br />
Alter verdient haben.<br />
• Diskutieren Sie offen das Familienbudget<br />
und legen Sie dar, welche<br />
Bereiche wie viel kosten und welche<br />
Spielräume Sie bei der Ausgabengestaltung<br />
tatsächlich haben.<br />
Adreas Hieber<br />
ist ausgebildeter Gymnasiallehrer und<br />
Co-Leiter des Projektteams MoneyFit<br />
(LerNetz AG).<br />
In dieser Kolumne werden zum<br />
Thema «Geld und Jugendliche»<br />
Hintergrundwissen und konkrete<br />
Tipps vermittelt. Seit über zehn<br />
Jahren setzt sich PostFinance mit<br />
kostenlosen Angeboten für die<br />
Steigerung der Finanzkompetenz<br />
der Jugend ein.<br />
moneyfit.postfinance.ch<br />
postfinance.ch<br />
48 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kolumne<br />
Eines spinnt immer<br />
Michèle Binswanger<br />
Die studierte Philosophin<br />
ist Journalistin und Buchautorin.<br />
Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />
ist Mutter zweier Kinder<br />
und lebt in Basel.<br />
Es lohnt sich, Grossmüttern zuzuhören, auch wenn sie manchmal<br />
etwas viel erzählen. Es lohnt sich, weil sie so viel mehr<br />
erlebt und deshalb eine andere Perspektive haben. Die mir in<br />
dieser Hinsicht liebste Grossmutter war die in Glarus. Wenn<br />
wir bei ihr am Esstisch sassen, ihre Spätzli und ihren Braten<br />
assen, und später noch zum Kaffee, standen irgendwann alle auf und gingen<br />
ihren Beschäftigungen nach. Ich blieb sitzen und hörte ihr zu. Ihr<br />
Leben war nach heutigen Massstäben unkompliziert verlaufen: in Luzern<br />
aufgewachsen, Ausbildung in Genf, einen Glarner geheiratet, in den Zwischenkriegsjahren<br />
zu ihm gezogen, sechs Kinder grossgezogen. Damals<br />
war man ihr als Katholikin im protestantischen Städtchen mit grossem<br />
Misstrauen begegnet. Eine Zugezogene, konnte die tüchtig genug sein,<br />
passte so eine überhaupt in den Bergkanton? Sie passte und sass mit<br />
neunzig immer noch in ihrem Haus am Rathausplatz, inzwischen eine<br />
Glarnerin ganz und gar, und erzählte mir, der Mutter ihrer Urenkel, von<br />
früher. Und ich dachte daran, wie anders wir heute leben, wie viel sich<br />
seither verändert hat.<br />
Nun, nicht alles hat sich verändert. Die Grossmutter in Glarus mag<br />
nicht auf der ganzen Welt herumgereist sein, wie man das heute tut,<br />
Selbstverwirklichung war keine Option, aus dem ihr zugedachten Leben<br />
auszubrechen auch nicht. Und trotzdem hatte sie ihre an Aufregungen<br />
nicht zu knappe Reise gemacht und daraus eine Lebensweisheit destilliert,<br />
die sie mir mitgab und die mich noch heute begleitet. «Eines spinnt<br />
immer», sagte sie manchmal, wenn sie von ihren Kindern und deren<br />
Geschicken erzählte. «Eines spinnt immer.»<br />
Damals war ich latent am Anschlag, die zwei kleinen Kinder, das Jonglieren<br />
mit Beruf, Beziehung und allem anderen, und so hätte ich natürlich<br />
lieber gehört, dass sich das bald geben, das Leben wie ein ruhiger<br />
Fluss sein Bett finden und ruhig dahinfliessen würde. Aber ich ahnte,<br />
dass in ihren Worten eine grosse Wahrheit stecken musste. Und heute<br />
glaube ich, dass sie mit ihren Worten nicht nur ihre eigene grosse, psychologisch<br />
komplizierte Familie meinte. Denn der Satz trifft eigentlich<br />
auf jede Familie zu: «Eines spinnt immer.»<br />
Manchmal sind es die Kinder, aus denen man nicht schlau wird,<br />
manchmal der Partner oder die eigenen Eltern oder Geschwister. Manchmal<br />
spinnt man selbst, und manchmal ist schwierig zu eruieren, wer<br />
denn nun genau spinnt. Aber ich fand ihre Einsicht tröstlich, sie, die<br />
schon so viel erlebt hatte, musste es wissen.<br />
Jeder möchte alles immer so gut wie möglich machen und richtig hinkriegen.<br />
Das gelingt manchmal, aber der Normalfall ist es nicht. Normal<br />
ist, dass es Probleme gibt. Eines spinnt immer. Und sollte das mal zufälligerweise<br />
nicht der Fall sein, sollte man nicht vergessen, dass dies eine<br />
Ausnahme ist.<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>49
An der Bildung sparen –<br />
das kann teuer werden<br />
Durch den Sparkurs der Kantone sind dem Bildungswesen in jüngster Vergangenheit<br />
265 Millionen Franken entzogen worden. Bis 2018 sind mindestens weitere<br />
535 Millionen Franken Einsparungen geplant. Das kann nicht gut gehen und ist<br />
vermutlich auch gar nicht notwendig. Text: Franziska Peterhans<br />
«Weniger Geld heisst auch<br />
weniger Zeit für die Förderung<br />
jedes Einzelnen.»<br />
Franziska Peterhans ist Zentralsekretärin des<br />
Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz<br />
LCH. Sie lebt in Baden und ist Mutter dreier<br />
erwachsener Kinder.<br />
E<br />
s gibt nur eines, was auf<br />
Dauer teurer ist als Bildung<br />
– keine Bildung.»<br />
Dieses Zitat von John<br />
F. Kennedy lässt sich<br />
durch verschiedene gesellschaftliche<br />
und volkswirtschaftliche Überlegungen<br />
erhärten. Die Schweiz hat<br />
sich zum Ziel gesetzt, 95 Prozent der<br />
Jugendlichen zu einem Abschluss<br />
der Sekundarstufe II zu führen. Gute<br />
Bildung für alle Kinder und Jugendlichen<br />
erhöht die Chancengerechtigkeit<br />
in einer Gesellschaft.<br />
Kinder, die von klein auf ihren<br />
Neigungen und Möglichkeiten entsprechend<br />
gefördert werden, sind<br />
zufriedener und in der Schule er <br />
folgreicher. Sie können ihre Kompetenzen<br />
und ihre Talente später bei<br />
ihrer beruflichen Tätigkeit oder im<br />
Studium einbringen und ihr Wissen<br />
und ihre Fähigkeiten im gesamten<br />
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen<br />
Um feld gewinnbringend einsetzen.<br />
Eine gute öffentliche Schulbildung<br />
ist damit auch die beste<br />
Absicherung gegen Arbeitslosigkeit<br />
und soziale Abhängigkeit, die einer<br />
Schülerin oder einem Schüler mitgegeben<br />
werden kann.<br />
Sparen auf Kosten der Kinder<br />
Was aber zurzeit in der Schweiz passiert,<br />
läuft diesen Zielen entgegen.<br />
Sämtliche Kantone kürzen die Bildungsausgaben<br />
massiv. Andere wollen<br />
die Eltern zur Kasse bitten, indem<br />
sie Gebühren und Kosten für diverse<br />
Leistungen erheben. Dies ist gesetzeswidrig,<br />
da im Volksschulgesetz<br />
der kostenlose Besuch der Volksschule<br />
festgeschrieben ist.<br />
Drei konkrete Beispiele<br />
1. Der 13-jährige Silvan freut sich<br />
jeden Donnerstag auf das Fach<br />
Technisches Gestalten. Die Arbeit<br />
an der Hobelbank mit Feile und<br />
Säge motiviert ihn. Er kommt mit<br />
dem Bau seines Vogelhäuschens<br />
rasch vorwärts mit. Nun soll die<br />
Klasse mit 15 Schülerinnen und<br />
Schülern zusammengelegt werden,<br />
da nur noch Klassen mit<br />
mindestens 17 Jugendlichen in<br />
zwei Abteilungen unterrichtet<br />
werden dürfen. Im Werkraum<br />
stehen aber nur 10 Werkbänke<br />
und 10 Werkzeugsets zur Verfügung.<br />
Dass es zu Staus und Wartezeiten<br />
kommt, ist voraussehbar.<br />
Die Kinder langweilen sich, profitieren<br />
weniger, die Unfallgefahr<br />
steigt, der Lärmpegel ebenfalls.<br />
2. Die Kinder der 5. Klassen durften<br />
traditionell an einem Sommerlager<br />
teilnehmen. Dieses stand jeweils<br />
unter einem bestimmten Thema<br />
50 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Erziehung & Schule<br />
aus dem naturwissenschaftlichen<br />
oder dem kulturellen Bereich. Das<br />
Lager war bis anhin für Sie als<br />
Eltern beinahe kostenlos. Nun<br />
gibt es dafür kein oder zumindest<br />
viel weniger Geld von der Ge <br />
meinde und vom Kanton. Die<br />
Lehrerin Ihres Kindes teilt Ihnen<br />
mit, dass das Lager nicht mehr<br />
durchgeführt werden könne oder<br />
dass ein deutlich höherer Elternbeitrag<br />
geleistet werden müsse.<br />
Dies ist jedoch vielen Eltern nicht<br />
möglich. Den Kindern gehen mit<br />
dem Wegfall der Lager wertvolle<br />
so ziale Lernerlebnisse und<br />
wichtige Erfahrungen beispielsweise<br />
beim Organisieren eines<br />
solchen Lagers verloren.<br />
3. Familie Hamidi kam vor einem Jahr<br />
als Asylsuchende in den Kanton<br />
Thurgau. Die siebenjährige Aysha<br />
besuchte den Kindergarten und<br />
seit August die 1. Klasse. Sie erhält<br />
regelmässig Deutschzusatzunterricht<br />
DAZ. Noch kann sie aber dem<br />
Unterricht nur mit Mühe folgen.<br />
Nun wurde den Eltern eröffnet, sie<br />
hätten sich zu wenig bemüht, dass<br />
ihre Kinder die deutsche Sprache<br />
lernen. Deshalb müssten sie sich<br />
an den Kosten des Deutschzusatzunterrichts<br />
beteiligen.<br />
Schweiz LCH beläuft sich der bereits<br />
beschlossene Abbau von Bildungsressourcen<br />
in den Jahren 2013 bis<br />
2015 auf mindestens 265 Millionen<br />
Franken. Zwischen <strong>2016</strong> und 2018<br />
planen die Kantone weitere 535 Millionen<br />
Franken an der Bildung einzusparen.<br />
Zusammen mit den Massnahmen<br />
der Gemeinden ergibt das<br />
einen Abbau an der Bildung von<br />
rund einer Millliarde Franken. Die<br />
grössten Abstriche betreffen die<br />
Anstellungsbedingungen der Lehrpersonen.<br />
An zweiter Stelle folgen<br />
die Unterrichtsbedingungen.<br />
Der LCH warnt vor einem solchen<br />
Kahlschlag: Sparmassnahmen<br />
in der Bildung sind in Wirklichkeit<br />
Abbaumassnahmen zu Lasten der<br />
Lernenden und Lehrenden. Sie<br />
gefährden die Qualität des Schweizer<br />
Bildungswesens. Die Zeche<br />
bezahlen später die Sozial- und Justizdepartemente,<br />
also die Gesellschaft,<br />
was ganz einfach eine Verlagerung<br />
der Kosten bedeutet.<br />
Von den Kürzungen konkret<br />
betroffen sind auch Lehrerinnen<br />
und Lehrer und als Folge davon die<br />
Schülerinnen und Schüler. Klassengrössen<br />
und Pflichtpensen werden<br />
erhöht. Weiterbildung wird reduziert<br />
oder ganz gestrichen. Lehrpersonen<br />
müssen Lohnkürzungen in<br />
Kauf nehmen. Diese Verschlechterungen<br />
tragen zur Erhöhung der<br />
Belastungen einer bereits stark ge <br />
forderten Berufsgruppe bei. Und sie<br />
wirken sich negativ auf die Rekrutierung,<br />
Motivation und schliesslich<br />
auch auf die Gesundheit der Lehrpersonen<br />
aus.<br />
Notwendig oder ein Taktierspiel?<br />
Notwendig oder ein Taktierspiel?<br />
Sind diese Kürzungen der Kantone<br />
im Bildungsbereich überhaupt<br />
nötig? Der LCH bezweifelt dies,<br />
denn wie aus Ausführungen des<br />
Chefökonomen des Schweizerischen<br />
Gewerkschaftsbundes, Daniel Lampart,<br />
hervorgeht, schätzen viele Kantonsregierungen<br />
die finanzielle Lage<br />
systematisch schlechter ein, als sie<br />
tatsächlich ist. Sie stellen die Staatsschulden<br />
zu hoch und das Vermögen<br />
zu tief dar.<br />
Es ist schwer nachvollziehbar,<br />
dass die in den vergangenen Jahren<br />
erfolgten Steuersenkungen und<br />
-erleichterungen für Unternehmen<br />
und vermögende Privatpersonen<br />
nun mit Abbau in der Bildung aufgefangen<br />
werden sollen.<br />
Integration der Schwachen leidet<br />
Wenn Klassen zusammengelegt und<br />
Klassengrössen erhöht werden,<br />
wenn Halbklassenunterricht abgebaut<br />
wird, wenn Unterstützungsangebote<br />
gekürzt oder kostenpflichtig<br />
werden, wenn Freifächer abgebaut<br />
oder der Deutschzusatzunterricht<br />
für Fremdsprachige gestrichen wird,<br />
bleibt für die individuelle Förderung<br />
und die Integration von Kindern mit<br />
speziellen Bedürfnissen oder Migrationshintergrund<br />
weniger Zeit. Die<br />
Bildungschancen reduzieren sich,<br />
speziell für Kinder und Jugendliche<br />
aus sozial und wirtschaftlich benachteiligten<br />
Schichten.<br />
Nach Erhebungen des Dachverbandes<br />
Lehrerinnen und Lehrer<br />
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Februar <strong>2016</strong>51
Elterncoaching<br />
Mit Kindern über<br />
Ängste sprechen<br />
«Mensch, Nicole, man hat doch nicht jedes Mal Bauch- und Kopfweh, wenn<br />
man zu einer Geburtstagsparty eingeladen ist. Jetzt sag doch einfach,<br />
was mit dir los ist!»<br />
Fabian Grolimund<br />
ist Psychologe und Autor («Mit<br />
Kindern lernen»). In der Rubrik<br />
«Elterncoaching» beantwortet<br />
er Fragen aus dem Familienalltag.<br />
Der 36-Jährige ist verheiratet<br />
und Vater eines Sohnes, 3, und<br />
einer Tochter, 11 Monate. Er lebt<br />
mit seiner Familie in Freiburg.<br />
www.mit-kindern-lernen.ch<br />
www.biber-blog.com<br />
Widerstehen Sie dem Drang, die<br />
Ängste Ihres Kindes mit «guten<br />
Argumenten» zu widerlegen.<br />
Oft steht uns als Eltern<br />
der Wunsch im Weg,<br />
unserem Kind möglichst<br />
rasch Erleichterung<br />
zu verschaffen,<br />
indem wir Ratschläge geben<br />
oder mit Argumenten gegen die<br />
kindliche Angst angehen. Damit<br />
verunmöglichen wir es dem Kind<br />
jedoch, in sich hineinzuhorchen<br />
und uns zu sagen, was es wirklich<br />
beschäftigt:<br />
Mutter: «… jetzt sag doch einfach,<br />
was los ist!»<br />
Nicole: «Was mache ich, wenn<br />
auf der Party niemand mit mir spielen<br />
will?»<br />
Mutter: «Florian würde dich<br />
doch nicht einladen, wenn er dich<br />
nicht mag.»<br />
Nicole: «Die ganze Klasse ist eingeladen<br />
…»<br />
Mutter: «Dann sind Sabrina und<br />
Mahide auch dabei – und mit denen<br />
verstehst du dich doch gut. Wie<br />
willst du denn Freunde finden, wenn<br />
du dich in deinem Schneckenhaus<br />
verkriechst?»<br />
Es ist hilfreich, wenn wir uns in<br />
solchen Momenten als Forscher<br />
oder Entdecker sehen, die gemeinsam<br />
mit dem Kind seine Gefühlswelt<br />
auskundschaften. Dabei kann<br />
man an Orte geraten und Dinge<br />
sehen, die unangenehm sind. Gerade<br />
dann wird der Wunsch umso<br />
stärker, die Sache mit einem Tipp<br />
«zu regeln». Wenn wir diesem<br />
Drang widerstehen und weiter offen<br />
zuhören können, erfahren wir mehr.<br />
Nicole: «Was mache ich, wenn<br />
ich dort bin und niemand mit mir<br />
spielen will?»<br />
Mutter: «Hm … Warum meinst<br />
du denn, hat Florian dich eingeladen?»<br />
Nicole: «Alle sind eingeladen –<br />
seine Mutter hat sicher gesagt, er<br />
müsse die gesamte Klasse einladen.»<br />
Mutter: «Sabrina und Mahide<br />
kommen in diesem Fall auch?»<br />
Nicole: «Ja …»<br />
Mutter: «Du hast trotzdem Angst,<br />
dass du am Ende alleine dastehst?»<br />
Nicole: «Sabrina und Mahide<br />
haben den gleichen Schulweg wie<br />
ich – aber weisst du, wenn wir in der<br />
Schule sind, gehöre ich nicht wirklich<br />
dazu – dann sind sie mit Jessica<br />
und Svetlana zusammen.»<br />
Wir Eltern treffen ständig An <br />
nahmen über die Welt unserer Kinder<br />
und glauben meist, recht gut im<br />
Bild zu sein. So ging Nicoles Mutter<br />
davon aus, dass ihre Tochter in der<br />
Klasse gut integriert ist und Sabrina<br />
und Mahide verlässliche Freundinnen<br />
ihrer Tochter sind. Erst ein offenes<br />
Ohr und die Annahme, «mein<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
52 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Kind würde keine Bauchschmerzen<br />
entwickeln, wenn es keinen triftigen<br />
Grund dazu gäbe», machten ihr<br />
bewusst, dass ihr Kind ziemlich isoliert<br />
war.<br />
Auch beim Finden einer Lösung<br />
sollten wir unser Kind genau beobachten<br />
und bei Zeichen von Anspannung<br />
genauer nachfragen:<br />
Mutter: «Hm … du musst da<br />
nicht hingehen. Aber vielleicht wird<br />
es schön und du lernst die anderen<br />
besser kennen. Was würde dir helfen<br />
hinzugehen? Du könntest doch Florians<br />
Mutter sagen, dass du nach<br />
Hause willst – dann hole ich dich<br />
sofort ab.»<br />
Nicole: «Ja …»<br />
Mutter: «Überzeugt dich nicht,<br />
gell?»<br />
Nicole: «Wenn die dann mit den<br />
anderen von der Klasse redet, wird<br />
es oberpeinlich.»<br />
Mutter: «Und wenn du Papas<br />
Handy mitnimmst? Dann schleichst<br />
du dich aufs Klo, schreibst mir eine<br />
SMS, und ich hole dich sofort ab?»<br />
Nicole: «Das fände ich gut.»<br />
Ängste sind nicht rational<br />
Manchmal erliegen wir auch dem<br />
Irrglauben, wir könnten Ängste bei<br />
anderen durch gut begründete Argumente<br />
wegdiskutieren. Damit erreichen<br />
wir jedoch nur, dass das Kind<br />
nicht mehr über seine Ängste<br />
spricht. Viele Ängste sind irrational<br />
– aber deswegen nicht weniger real.<br />
Dem Spinnenphobiker können wir<br />
noch so viele Beweise liefern, dass<br />
Spinnen ungefährlich sind. Er wird<br />
das alles bejahen – und sich trotzdem<br />
fürchten.<br />
Es gibt daher eine Frage, die wir<br />
nicht stellen sollten: «Warum macht<br />
dir das Angst?» Kinder – und auch<br />
Erwachsene – kommen bei dieser<br />
Frage unnötig in Erklärungsnot.<br />
Eine bessere Frage ist: «Was könnte<br />
denn passieren?»<br />
Jonas, sieben Jahre alt, wurde von<br />
seinem Freund und dessen Eltern<br />
ins Alpamare eingeladen. Bereits<br />
zwei Wochen vor dem Besuch konn-<br />
te er nicht mehr schlafen. Seinem<br />
Vater gelang es, mit dieser Frage<br />
genauer zu erfassen, wovor sich sein<br />
Kind fürchtet:<br />
Vater: «Hey … das macht dir<br />
ganz schön Angst, dieser Alpamare-<br />
Besuch, hm?»<br />
Jonas: «…»<br />
Vater: «Wenn man etwas noch<br />
nicht kennt, kann einem das schon<br />
Schiss machen. Was meinst du, was<br />
könnte denn passieren?»<br />
Jonas: «Tanja hat gesagt, dass mal<br />
einer bei der Rutsche aus der Kurve<br />
gespickt ist …»<br />
Vater: «Da weiss ich jetzt nicht,<br />
ob die Geschichte stimmt. Aber klar,<br />
dass dich das beunruhigt. Was hast<br />
du denn noch vom Alpamare<br />
gehört?»<br />
Jonas: «Da gibt es ein Bad mit<br />
riesigen Wellen!»<br />
Vater: «Ja, das Wellenbad … das<br />
findest du unheimlich …»<br />
Jonas: «Ja, was, wenn mir die<br />
Wellen über den Kopf gehen und es<br />
mich untertaucht?»<br />
Vater: «Weisst du was? Wir gehen<br />
dieses Wochenende einfach zu zweit<br />
hin und schauen uns das Ganze mal<br />
in Ruhe an. Wenn es dir Angst<br />
macht, gehen wir wieder und finden<br />
eine Ausrede, damit du nicht mitmusst.<br />
Einverstanden?»<br />
Jonas war unter dieser Voraussetzung<br />
bereit, das Erlebnisbad auszukundschaften.<br />
Sein Vater setzte sich<br />
mit ihm an den Rand des Wellenbads,<br />
dort erkannte Jonas bald, dass<br />
«die Köpfe über den Wellen schwimmen».<br />
Die Rutschen wollte er benutzen,<br />
als er gesehen hatte, dass auch<br />
kleinere Kinder Spass daran haben.<br />
Sein Vater konnte ihm zusätzlich<br />
Angst nehmen, indem er beim<br />
Beobachten feststellte: «Aha, wenn<br />
man will, dass man nur langsam<br />
runterrutscht, muss man gerade sitzen<br />
– und wenn man will, dass es<br />
richtig schnell flutscht, kann man<br />
sich auf den Rücken legen.» Jonas<br />
entschied sich zuerst für die sichere<br />
Methode und wurde mit jeder Partie<br />
mutiger.<br />
Das gute Gespräch über die Angst<br />
Fragen Sie bei Ängsten nicht nach dem<br />
«Warum». Kinder fühlen sich dadurch unter<br />
Druck gesetzt, ihre Ängste erklären oder rechtfertigen<br />
zu müssen.<br />
Die Frage «Was könnte da passieren?» und ein<br />
offenes Ohr helfen Kindern dabei, ihre Ängste<br />
genauer zu beschreiben.<br />
Die Frage «Was würde dir helfen?» ist eine Ermutigung,<br />
sich mit der Situation auseinanderzusetzen.<br />
Das Angebot, das Kind zu begleiten und<br />
zu unterstützen, wirkt mehr als gute Argumente.<br />
Fragen Sie «Was könnte denn<br />
passieren?» statt «Warum<br />
macht dir das Angst?».<br />
In der nächsten Ausgabe:<br />
Wie Sie Ihr Kind dabei unterstützen können, sich seinen<br />
Ängsten zu stellen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>53
Fast immer tun sich Kinder mit AD(H)S in der Schule schwer.<br />
Zudem werden sie von den Lehrerpersonen als besonders<br />
schwierig und anstrengend empfunden. Wie können Eltern<br />
und Lehrpersonen diese Kinder unterstützen? Text: Annette Cina<br />
54 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Serie<br />
AD(H)S führt je nach<br />
Stärke des Syndroms<br />
bei vielen Kindern zu<br />
Lernproblemen –<br />
unabhängig von der<br />
Intelligenz. Die Betroffenen weisen<br />
Schwierigkeiten in Bereichen auf,<br />
die für die Kinder im Schulalltag<br />
notwendig sind (Konzentrationsfähigkeit,<br />
Ausdauer). Aber auch in<br />
Bereichen, die ihnen den Schulalltag<br />
erschweren (Impulsivität,<br />
Hyperaktivität), weil sie nicht selten<br />
zu Problemen mit Klassenkameraden<br />
und Lehrpersonen führen.<br />
Die Konzentration spielt eine<br />
bedeutsame Rolle beim Lernen<br />
und Verarbeiten von Lernstoffen.<br />
Sich konzentrieren heisst, seine<br />
Aufmerksamkeit willentlich über<br />
eine längere Zeit auf eine bestimmte<br />
Aufgabe zu richten und dabei<br />
das Ziel der Aufgabe nicht aus den<br />
Augen zu verlieren. Dazu muss<br />
idealerweise all das, was ablenkt<br />
und nicht wichtig ist, ausgeblendet<br />
werden können.<br />
Dies ist eine Hauptschwierigkeit<br />
bei von AD(H)S betroffenen Kindern:<br />
Ihre Wahrnehmung und<br />
Informationsverarbeitung ist überfordert.<br />
Sie haben zu viele Informationen,<br />
die sie nicht verbinden,<br />
verarbeiten und sortieren können.<br />
Daher leben AD(H)S-Kinder stark<br />
im Hier und Jetzt. Vorausschauen,<br />
planen, sich konzentrieren und die<br />
Energie darauf verwenden, ein Ziel<br />
zu erreichen, ist für sie extrem<br />
schwierig und kräfteraubend.<br />
Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit<br />
über längerer Zeit zu<br />
fokussieren, äussern sich darin,<br />
dass die Kinder dem Unterricht<br />
nicht aufmerksam folgen können.<br />
Sie werden von vielem abgelenkt:<br />
von dem, was draussen vor dem<br />
Fenster läuft, von einem Geräusch<br />
im Gang, von Klassenkameraden,<br />
die miteinander sprechen. Viel von<br />
dem, was die Lehrpersonen erzählen,<br />
geht im Strudel unter oder<br />
wird überhört. Die Kinder vergessen,<br />
was sie tun sollen, beenden die<br />
Aufgaben nicht oder verlieren<br />
Sachen, die sie benötigen. Gruppenarbeiten<br />
sind schwierig. Wegen<br />
der geringen Aufmerksamkeitsspanne<br />
haben die Kinder aber<br />
nicht nur im Unterricht Mühe,<br />
sondern auch zu Hause bei den<br />
Hausaufgaben und während Tests.<br />
Impulsivität und Hyperaktivität<br />
bezeichnen ein Verhalten, bei dem<br />
spontan auf etwas reagiert wird –<br />
ohne zu überlegen, was in der<br />
Si tuation eine gute Reaktion sein<br />
könnte. ADHS-Kinder müssen<br />
einfach reagieren, und zwar sofort.<br />
Sie sehen oder hören etwas, und<br />
schon handeln sie, ohne die Konsequenzen<br />
zu bedenken.<br />
Manchmal zeigen diese Kinder<br />
auch riskantes Verhalten, weil sie<br />
die Gefahren nicht vorherbedenken.<br />
Das Zappeln und Sichbewegen<br />
können auch Zeichen einer<br />
inneren Anspannung sein, die<br />
abgebaut werden muss. Im Schulalltag<br />
zeigt sich das so: Sie rufen<br />
die Antwort in den Klassenraum,<br />
ohne den Finger aufzustrecken, sie<br />
unterbrechen andere, können nicht<br />
warten und drängeln vor oder nehmen<br />
anderen etwas weg, ohne zu<br />
fragen. Kurz: Dem Kind fällt es<br />
schwer, das, was es spürt, fühlt und<br />
denkt, zurückzuhalten und zu kontrollieren.<br />
Auf das Umfeld wirken<br />
impulsive Personen unkontrolliert,<br />
oft übertrieben und unbedacht.<br />
Aufgrund dieser unterschiedlich<br />
stark ausgeprägten Schwierigkeiten<br />
erstaunt es nicht, dass von AD(H)S<br />
betroffene Kinder besonders in der<br />
Schule viele Rückschläge<br />
erfahren und das Gefühl entwickeln<br />
können, ungenügend zu<br />
sein. Denn von einem Kind wird<br />
erwartet, dass es eine gewisse Zeit<br />
stillsitzen und zuhören, Aufgaben<br />
konzentriert erledigen und Regeln<br />
im gemeinsamen Umgang miteinander<br />
einhalten kann. Doch für<br />
AD(H)S-Kinder ist das unglaublich<br />
schwierig.<br />
Anstrengend für alle Seiten<br />
Für Lehrpersonen ist ein Kind mit<br />
ADHS in der Schulklasse meist<br />
sehr anstrengend. Es erfordert viel<br />
mehr Aufmerksamkeit und Kontrolle<br />
als die anderen Kinder.<br />
Manchmal ist ein geordneter<br />
Unterricht wegen eines einzigen<br />
Kindes, das nicht stillsitzen kann<br />
und immer dreinredet, sehr<br />
schwierig. Ständiges Ermahnen,<br />
An wei sen und Kontrollieren kann<br />
Lehrpersonen ermüden und frustrieren,<br />
gar überfordern und hilflos<br />
werden lassen. Besonders dann,<br />
wenn keine Strategie mehr zu helfen<br />
scheint. Die Beziehung zwischen<br />
Kind und Lehrperson leidet<br />
unter solchen Umständen sehr.<br />
Für Eltern von ADHS-Kindern<br />
besteht die Herausforderung darin,<br />
mit den Schwierigkeiten des Kindes<br />
aus dem Schulalltag ruhig und<br />
unterstützend umzugehen. Sie<br />
müssen das Kind ermahnen, die<br />
Hausaufgaben zu erledigen, es<br />
erinnern, die richtigen Sachen in<br />
die Schule mitzunehmen. In<br />
Elterngesprächen bekommen sie<br />
immer wieder zu hören, dass ihr<br />
Kind schwierig ist. Sie machen sich<br />
Sorgen und fühlen sich oft auch<br />
hilflos den Beurteilungen der<br />
Lehrpersonen ausgeliefert.<br />
Kinder mit AD(H)S nehmen im<br />
Vorschulalter die Kernprobleme<br />
selber oft nicht wahr. Im Schulalter<br />
aber wissen sie, dass sie an ders<br />
sind, viele können ihre Probleme<br />
gut beschreiben. Vor allem spüren<br />
sie, dass sie es schwerer haben als<br />
andere Kinder. Denn sie merken,<br />
dass sie immer wieder Störenfriede<br />
sind, Ärger mit den Eltern und<br />
Lehrpersonen haben und auch<br />
ausgegrenzt werden. So fühlen sich<br />
diese Kinder nicht selten von ihren<br />
Mitmenschen ungerecht behandelt.<br />
Die Lernstörungen und negativen<br />
Reaktionen des Umfelds auf<br />
ihr Verhalten lösen Selbstzweifel<br />
aus, da die Kinder ihr Potenzial<br />
nicht auszuschöpfen vermögen.<br />
Bis zu 45 Prozent der Kinder mit<br />
AD(H)S leiden an weiteren Verhaltens-<br />
oder emotionalen Störungen<br />
wie Angst, Depressivität, geringem<br />
Selbstwertgefühl, aggressivem Verhalten<br />
oft als Folge der schwierigen<br />
Erfahrungen, auch im Schulalltag.<br />
Das kann hilfreich sein<br />
Man muss genau beobachten, was<br />
für das Kind besonders schwierig<br />
ist. Das hilft, Strategien zu finden,<br />
damit es in den entscheidenden<br />
Momenten aufmerksam sein kann.<br />
Da es sich um grundsätzliche<br />
Schwierigkeiten des Kindes handelt,<br />
ist es wichtig, dass Lehrpersonen<br />
und Eltern am gleichen Strick<br />
ziehen. Das bedeutet, dass sie über<br />
ein gemeinsames und gut begründetes<br />
Wissen darüber verfügen,<br />
was die typischen Verhaltensweisen<br />
von AD(H)S-Kindern sind,<br />
warum es so ist, wie sie das Kind<br />
unterstützen können. Ab sprachen<br />
und klare Vereinbarungen helfen,<br />
dass Schule und Elternhaus koordiniert<br />
zusammenarbeiten. Auch<br />
da gilt: Jedes Kind ist anders!<br />
• Positive Entwicklungsschritte<br />
erkennen. Sieht man ständig die<br />
Schwierigkeiten und Probleme,<br />
besteht die Gefahr, die Bemühungen<br />
des Kindes, seine Stärken<br />
und positiven Seiten nicht<br />
mehr zu bemerken. Damit erhält<br />
das Kind auch kaum mehr Lob,<br />
und aus seiner Sicht lohnt sich<br />
sein Engagement nicht mehr. So<br />
wird es immer schwieriger, das<br />
Kind dazu zu motivieren, mitzuarbeiten<br />
und sich zu bemühen.<br />
Es ist hilfreich, bewusst auf<br />
Situa tionen zu achten, in denen<br />
dem Kind etwas gelingt. Das<br />
ermöglicht einem, die eigene<br />
Frustration zu überwinden und<br />
dem Kind Anerkennung zu<br />
schenken – etwa wenn es ihm<br />
gelingt, sich wirklich alle Hausaufgaben<br />
aufzuschreiben, ruhig<br />
zuzuhören, den Finger aufzustrecken.<br />
• Ablenkung minimieren. Für Kinder<br />
mit ADS/AD(H)S ist es<br />
schwierig, etwas Interessantes,<br />
das aber nicht wesentlich ist,<br />
auszublenden. Daher ist ein<br />
ruhiger Arbeitsplatz wichtig. Der<br />
ist vorne bei der Lehrperson, die<br />
Störungen oder Unaufmerksamkeiten<br />
in wichtigen Situationen<br />
rasch erfassen und auch ruhig<br />
darauf reagieren kann. Möglicherweise<br />
ist es auch sinnvoll,<br />
einen Einzeltisch einzurichten,<br />
vor allem wenn die Mitschüler<br />
stark gestört werden. Wichtig ist,<br />
dem Kind zu erklären, warum es<br />
einen Einzeltisch erhält. Das Ziel<br />
sollte positiv formuliert sein,<br />
etwa im dem Sinne, dass es sich<br />
besser konzentrieren könne, und<br />
nicht im Sinn, dass es weniger<br />
störe.<br />
• Klare Signale für wichtige Informationen.<br />
Für Kinder mit AD(H)S<br />
müssen Informationen, die<br />
wichtig sind, deutlich signalisiert<br />
werden. Sie bekommen zum Beispiel<br />
oft einfach nicht mit, wenn<br />
die Lehrperson die Hausaufgaben<br />
gibt. Klare Routinen, genügend<br />
Ruhe und Zeit für wichtige<br />
Informationen erhöhen die<br />
Chance, dass alle Kinder diese<br />
56 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Serie<br />
Infos aufnehmen. So kann ein<br />
Gong signalisieren: «Jetzt kommen<br />
die Hausaufgaben. Jeder<br />
nimmt sein Hausaufgabenheft.»<br />
• Rückmeldungen geben. AD(H)S-<br />
Kinder brauchen häufiger positive<br />
Rückmeldungen oder auch<br />
Anweisungen, sich wieder auf<br />
das Wesentliche zurückzubesinnen.<br />
Häufiger Blickkontakt zum<br />
Kind signalisiert ihm: «Ich bin<br />
bei dir und bemerke, dass du es<br />
gut machst» oder «Ich bemerke<br />
auch, dass du nun nicht mehr bei<br />
uns bist». «Geheime» Zeichen<br />
können ohne viele Worte helfen,<br />
das Kind am Ball zu halten.<br />
• Auszeiten gewähren. Wenn ein<br />
Kind wirklich nicht mehr ruhig<br />
bleiben kann, helfen kleine Auszeiten.<br />
Hierbei kann dem Kind<br />
eine Aufgabe gegeben werden,<br />
die mit Bewegung verbunden ist,<br />
sodass es mit Erlaubnis aufstehen<br />
und sich bewegen darf.<br />
• Grundsätzlich gilt: Kinder mit<br />
AD(H)S benötigen mehr Training,<br />
Wiederholungen und Routinen<br />
als andere Kinder. Es geht<br />
nicht darum, dass diese Kinder<br />
nicht wollen, sondern darum,<br />
dass es ihnen nicht gelingt. Die<br />
Kinder brauchen daher Hilfestellungen,<br />
um die Fähigkeiten<br />
entwickeln zu können, die sie<br />
haben.<br />
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Verhaltenstipps für Lehrpersonen und<br />
Eltern: www.mit-kindern-lernen.ch von<br />
Fabian Grolimund, Nora Völker und<br />
Stefanie Rietzler.<br />
Annette Cina<br />
Dr. phil., Fachpsychologin für Psychotherapie<br />
FSP. Sie arbeitet als Oberassistentin am Institut<br />
für Familienforschung und -beratung und ist<br />
Leiterin des Zentrums für Psychotherapie an der<br />
Universität Freiburg.<br />
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Februar <strong>2016</strong>57
Stiftung Elternsein<br />
Ohne Mitgefühl und Gemeinschaft entstehen<br />
gefürchtete Parallelwelten<br />
Ellen Ringier über die Integration von Ausländern und Flüchtlingen<br />
Bild: Vera Hartmann / 13 Photo<br />
Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />
die Stiftung Elternsein.<br />
Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />
In den 90er-Jahren hatte ich das Vergnügen,<br />
eine Rede des kürzlich verstorbenen<br />
Altbundeskanzlers Helmut<br />
Schmidt zu hören. Er sprach in Bern.<br />
Das Haus war voller Parlamentarier,<br />
Bundesräte und Parteichefs. Helmut<br />
Schmidt stellte dem Publikum die rhetorische<br />
Frage, wie lange wohl ein an<br />
Hunger leidender Mensch aus der<br />
Sahara brauche, um nach Sizi lien überzusetzen.<br />
Die Antwort gab er selber:<br />
einen Tag. Und wie lange wohl ein an Hunger leidender<br />
Mann aus Moskau brauche, um nach Berlin zu<br />
reisen: ebenfalls einen Tag!<br />
Und nun ist sie da, die Flüchtlingswelle, unmittelbar<br />
vor den Toren der Schweiz. Menschen aus einer<br />
fremden Zivilisation auf der Flucht vor Krieg, ökologischer<br />
Bedrohung und ökonomischer Not. Sie<br />
suchen, was bei uns selbstverständlich ist: eine lebenswerte<br />
Zukunft. Und nun? Unsere Politiker haben es<br />
sträflich versäumt, Antworten zu finden.<br />
Wir alle waren die vergangenen 20 Jahre so sehr<br />
damit beschäftigt, unseren Wohlstand zu mehren, und<br />
haben gleichzeitig die Empathie gegenüber unseren<br />
bereits im Lande befindlichen Ausländern verloren.<br />
Wir haben die schon bestehenden Parallelwelten<br />
geduldet und sich selber überlassen. Und heute stehen<br />
wir der humanitären Katastrophe völlig unvorbereitet<br />
gegenüber. Wir haben 20 Jahre verstreichen lassen,<br />
ohne eine Bewältigungsstrategie zu entwickeln.<br />
Ich bin der Meinung, dass nicht die Fluchtgründe<br />
über die Zukunft der Flüchtlinge entscheiden sollen,<br />
sondern die realen Chancen der Integration. Doch die<br />
geschieht nicht einfach von selber! Ohne echte, flächendeckende<br />
integrative Massnahmen irren Flüchtlinge<br />
herum, und sie werden sich notgedrungen sozial<br />
und religiös motivierten Parallelwelten anschliessen.<br />
Bereits heute haben wir eine wachsende Zahl von<br />
Jugendlichen mitten in unserer Gesellschaft, die zwar<br />
unsere Schulen besuchen, nicht aber unseren Wertekodex<br />
verinnerlicht haben.<br />
Der Dalai-Lama sagt, die Grundlage des Weltfriedens<br />
sei das Mitgefühl. Stimmt das, so haben wir den Frieden<br />
verspielt.<br />
Vor einigen Jahren brachte meine damals 16-jährige<br />
Tochter ein gleichaltriges Mädchen aus Basel mit<br />
nach Hause, das uns schilderte, wie der muslimische<br />
Vater seine Tochter in einer Diskothek vor den Augen<br />
aller schlimm verprügelt habe. Alle Anwesenden hätten<br />
zugesehen, keiner habe sich schützend vor das<br />
Opfer gestellt. Das Mädchen konnte Vater und Bruder<br />
entfliehen. Die Vorgängerbehörde der KESB (Kinderund<br />
Erwachsenenschutzbehörde) hat die junge Frau<br />
nach Zürich in ein Heim eingewiesen und damit dem<br />
Zugriff der Familie entzogen – zum Glück!<br />
Unsere Gesellschaft zerfällt auch ohne Flüchtlingsproblem<br />
bereits in zwei Welten: in die des Erfolgs, des<br />
Wohlstands, der Freiheit, sich verwirklichen zu können,<br />
und in die, in der um jeden Rappen gerungen<br />
wird und sich zu Armut Überforderung bis hin zu<br />
Krankheit gesellt. Die Armen werden aus der Gesellschaft<br />
ausgegliedert, ausgegrenzt und – bildlich<br />
gesprochen – unsichtbar. Sie fühlen sich überflüssig<br />
und minderwertig.<br />
Parallelwelten entstehen in dem Masse, in dem sich<br />
eine Gesellschaft vom Prinzip der auf Empathie und<br />
Mitgefühl beruhenden Gemeinschaftlichkeit verabschiedet.<br />
Weil ein Bewältigungskonzept fehlt, macht<br />
sich Angst vor den Flüchtlingen breit, und diese<br />
Angst, so fürchte ich, wird das Humanitäre als Angelpunkt<br />
unserer Zivilisation gnadenlos ersticken. Was<br />
für eine erschreckende Ausgangslage zur Bewältigung<br />
der unaufhaltsam heranrollenden Flüchtlingswelle!<br />
STIFTUNG ELTERNSEIN<br />
«Eltern werden ist nicht schwer,<br />
Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />
Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />
Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie<br />
richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und<br />
Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern,<br />
Kindern, Lehrern und die Vernetzung der eltern- und<br />
erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschsprachigen<br />
Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer<br />
ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch<br />
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Do sier<br />
In den drei<br />
Wohngruppen<br />
leben Kinder im<br />
Alter von<br />
wenigen Tagen<br />
bis etwa<br />
16 Jahren.<br />
ie Zinnsoldaten<br />
stehen die Star-<br />
Wars-Figuren<br />
auf dem Buffet<br />
aufgereiht. Der<br />
Nachbarschaft für den Heimstandort<br />
bewu st gewählt.<br />
ungewi s.<br />
Do sier<br />
>>><br />
Text: Michael In Albon<br />
as Arbeitsleben hat<br />
sich in den vergangenen<br />
Jahren stark verändert.<br />
Angeste lte<br />
haben heute immer<br />
häufiger funktioniert.<br />
zeigen.<br />
Michael In Albon<br />
Leserbriefe<br />
Die schönste Zeit<br />
meiner Kindheit<br />
Gut, dass es Heime gibt<br />
(«Im Heim zu Hause», Heft 9/2015)<br />
Liebe Macherinnen und Macher von Fritz+Fränzi<br />
und liebe Eltern<br />
Im Heim zu Hause<br />
Im Kinderheim Sonnhalde in Münsingen BE so len Kinder und Jugendliche<br />
ein sicheres Zuhause finden, wenn ihre Eltern ihnen keines mehr bieten können.<br />
Viele so len nur Monate oder wenige Jahre bleiben, nicht wenige bleiben<br />
ihre ganze Kindheit. Ein Hausbesuch. Text: Evelin Hartmann Fotos: Ruben Ho linger / 13 Photo<br />
W<br />
Schreibtisch ist aufgeräumt.Schulhefte<br />
liegen oben auf, an der Wand<br />
Fabio*, 1, sitzt in seinem Zimmer.<br />
hängt ein Poster mit einer Weltkarte.<br />
In der Welt, di er sich mit seinem<br />
Polizei eines Nachmi tags geklingelt<br />
hat. «Wir waren gerade am Spielen<br />
und mu sten sofort mitgehen», erinnert<br />
er sich. Er wei s, da s sich seine<br />
dem wird vor Gericht um das Sor-<br />
der bei sich haben wo len. Zu Hause<br />
sind die Brüder nur an den Wochen-<br />
Einfamilienhäuser, Vater, Mu ter,<br />
Eltern damals getrennt haben. Seitgerecht<br />
gestritten, da beide die Kinenden<br />
und in den Ferien.<br />
ein, zwei, manchmal auch drei Kinder.<br />
Sie to len durch liebevo l ange-<br />
mit Trampolin, Sandkasten, Wi pe.<br />
Riesige Schlafsäle, mieses E sen,<br />
dazu Schikane, Mi sbrauch, Gewalt<br />
legte Gärten, springen auf ihren<br />
Trampolinen, spielen Fu sba l. So<br />
zeigt sich einem die Gemeinde<br />
Münsingen, 15 Kilometer südöstlich<br />
von Bern gelegen. Ausgerechnet hier<br />
fügt sich ein weiteres Gebäude in die<br />
nert das Leben hier an einen Fami-<br />
nur aus vergangenen Tagen kennen<br />
– zum Teil noch nie gekannt haben: das Kinderheim eines der ersten in<br />
das Kinderheim Sonnhalde.<br />
nannten Familiensystem konzipiert<br />
derheim noch immer in vielen<br />
liena ltag XL. «1967 eröffnet, war<br />
der Schweiz, das nach dem soge-<br />
«Nicht bei sich zu Hause, aber<br />
Nicht a le Eheschutzverfahren<br />
daheim … », auf der gro sen Tafel<br />
Nachbarschaft, deren Bewohner so<br />
Köpfen aufblitzen. Vielmehr erin-<br />
etwas wie ein intaktes Familienleben<br />
Erziehung & Schule<br />
prangt neben dem Wappen der<br />
Heilsarm e, dem Träger der Ein-<br />
Bei vo ler Belegung sind hier 24<br />
sich, sind altersdurchmischt und<br />
um den E stisch in der Küche. Es<br />
13-jährigen Bruder teilt, seit die einen Basketba lplatz, einen Fu s- gibt ein Wohnzimmer mit einem<br />
richtung, der Leitspruch des Hauses.<br />
Buben und Mädchen im Alter von<br />
wenigen Tagen bis zum Ende ihrer<br />
Ausbildung in drei Wohngru pen<br />
untergebracht. Für Jugendliche ab<br />
16 Jahren stehen fünf Jugendzimmer<br />
im Haupthaus bereit. Dazu gibt es<br />
Familienalltag XL<br />
statt riesige<br />
Schlafsäle, mieses<br />
Essen, Schikane<br />
oder Gewalt.<br />
ba lplatz, einen P ol, einen Garten<br />
– im Kinderheim Sonnhalde entstehen<br />
keine düsteren Bilder vergangener<br />
Tage, die beim Stichwort Kin-<br />
4 NOVEMBER 2015 NOVEMBER 2015 45<br />
worden ist», sagt Institutionsleiter<br />
Pascal Jermann. Demnach war diese<br />
Auch sonst gleicht vieles «normalen»<br />
Familienstrukturen. Die Wohngru<br />
pen, auf drei Wohnungen verteilt,<br />
bleiben im Tagesablauf unter<br />
versammeln sich zu jeder Mahlzeit<br />
Regal und jeder Menge Bre tspielen<br />
und einem Fernseher, der nur zu<br />
bestimmten Zeiten eingeschaltet<br />
wird. Familienregeln eben. Geschlafen<br />
wird in der oberen Etage, in Ein-<br />
oder Zweibe tzimmern. Pascal Jermann:<br />
«Kommen drei Geschwister<br />
zusammen zu uns, kann auch ein<br />
Be t dazugeschoben werden.»<br />
«Ich schlafe oben», sagt Fabio<br />
und zeigt auf das Hochbe t, darunter<br />
steht sein Schreibtisch. Ob es ihm<br />
hier gefa le? Der Bub zuckt mit den<br />
Schultern. Wo wi l er lieber leben?<br />
Da mu s er nicht lange überlegen:<br />
«Bei Mama.» Traurig ist er oft. Und<br />
auch seinem gro sen Bruder geht es<br />
nicht anders. «Reto* kann nachts oft<br />
nicht schlafen, dann kommt er zu<br />
mir ins Be t», sagt Fabio. Zu zweit ist<br />
man weniger a lein. «Aber froh werde<br />
ich erst wieder sein, wenn wir bei<br />
Mama sind.» Wann das sein wird, ist<br />
verliefen in dieser Dimension,<br />
Kinder auf die Realität<br />
vorbereiten<br />
(«Lernen, wann, wo, wie und mit<br />
wem es mir gefällt?», Heft 10/<strong>2016</strong>)<br />
Lernen, wann, wo, wie und<br />
mit wem es mir gefällt?<br />
Das Konzept der erweiterten Lernwelten zeigt<br />
Ideen, wie die Schule Schülerinnen und Schüler<br />
auf die digitale Arbeitswelt vorbereiten kann.<br />
D<br />
schen Homeoffice oder physischer<br />
Präsenz im Unternehmen, die Wahl<br />
zwischen Gro sraumbüro, Einzelbüro<br />
und Rückzugsraum – je nach Lust<br />
und Laune. Man könnte von «lau-<br />
le, die unsere Kinder auf die Arbeitswelt<br />
von morgen vorbereitet? Wie<br />
ich auf das Konzept der «erweiterten<br />
Lernwelten». Dieses pädagogische<br />
virtue les Lernen. Seine Grundid e<br />
geschlo senen Lerna ltag und weitet<br />
räumlich. Ist die Schule der Zukunft<br />
Schüler, die an einem bestimmten<br />
Projekt intere siert sind?<br />
Individue le Lernwege, Lernorte und<br />
Lernzeiten<br />
So könnte Lernen 2<strong>02</strong>5 au sehen: Es<br />
findet in einer Cloud sta t, wo die<br />
Schüler gespeichert sind – Prüfungsergebni<br />
se etwa und e reichte Kom-<br />
betri t, sich mit der Lehrperson<br />
für den Tag, die Woche oder den<br />
Konzept verknüpft analoges und<br />
Schulungsräumen oder in einem<br />
lautet: Lernen mit Unterstützung<br />
tausch in der Gru pe zusammen-<br />
ihn aus – inhaltlich, sozial und<br />
also nur noch ein gelegentlicher<br />
Treffpunkt für Schülerinnen und<br />
den. Das verlangt von Schulen und<br />
Cloud. Der Lehrer erste lt zu einzelnen<br />
Themen Aufgaben und gliedert<br />
sie nach Kompetenzen. Die Schüler<br />
pa st. Vie leicht brauchen sie – ein-<br />
Was bedeutet das nun für die Schudue<br />
le Aufgaben zu.<br />
Ein typischer Tag könnte so aus-<br />
kann «launebasiertes Lernen» sta t-<br />
finden?<br />
Bei der Suche einer Antwor traf<br />
Monat festlegt und sich «auf seinen Eines ist aber sicher: Digitale Gerä-<br />
des Internets öffnet den kla sischen Schülern zu einem intensiven Ausführen,<br />
so da s soziales Lernen weiterhin<br />
ein Bestandteil bleibt.<br />
Sein Weg kann ihn aber auch in<br />
eine Vorlesung, in ein persönliches<br />
schulische und persönliche Entwick-<br />
erarbeiten die Aufgaben selbständig,<br />
und weist den Schülern neue indivi-<br />
sehen, da s der Schüler die Schule<br />
berät, seinen individue len Lernweg<br />
Lernweg» macht. Dieser kann ihn in<br />
Café mit anderen Schülerinnen und<br />
Ge spräch, in ein Lernspiel oder digital<br />
zu Video-Tutorials, Skype-Be-<br />
in eine sti le Arbeit am eigenen<br />
Zimmer zu Haus etwa oder im<br />
Daten über die Schülerinnen und Wohnzimmer der Gro seltern.<br />
sprechungen oder Online-Lernspielen<br />
führen. Der Lernweg kann auch<br />
Arbeitsplatz münden – im eigenen<br />
Unterstützt durch mobile Endgeräte,<br />
ermöglichen, werden neue Orte zu<br />
Lernorten. Das Lernen wird durch<br />
das Konzept der erweiterten Lern-<br />
auch Eltern eine gro se Offenheit,<br />
die übera l Zugang zu Wi sen<br />
petenzen. Wie die Daten in die<br />
Cloud wandern? Einerseits dokumentieren<br />
die Schüler selber ihre<br />
welten zudem weniger zeitgebun-<br />
häufiger die Wahl: die Wahl zwilung,<br />
andererseits arbeiten auch<br />
Lehrpersonen und Eltern in der<br />
denn Schülerinnen und Schüler<br />
können ihren Unte richt weitgemen<br />
und gehen, wann es ihnen<br />
nebasiertem Arbeiten» sprechen. der Lehrer bewertet diese Inhalte<br />
hend selber organisieren. Sie kom-<br />
zeln oder in Gru pen – Unterstützung<br />
und Begleitung. Genau so, wie<br />
es heute in der Arbeitswelt immer<br />
Wohin Schulen steuern, wi sen<br />
wir nicht. Und der Schula ltag verändert<br />
sich auch nicht über Nacht.<br />
te haben längst Einzug in den Schula<br />
lta gehalten. Wie schne l und<br />
stark sie ihn verändern, wird sich<br />
ist Jugendmedienschutz-Beauftragter<br />
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mit digitalen Medien im Familiena ltag.<br />
swi scom.ch/medienstark<br />
70 Dezember 2015 / Januar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Wie weit wollen wir unsere Kinder abhängig machen von Internet,<br />
Natel, Clouds? Es ist ein Element im Unterricht, aber es sollte<br />
nicht überbewertet werden. Nicht alle Kinder sind vom gleichen<br />
Lerntyp, nicht alle sind lernfähig über das Sehen am Bildschirm.<br />
Das Arbeiten auf der Tastatur löst nicht dieselben Reaktionen<br />
im Gehirn aus wie das Schreiben von Hand. Ausserdem werden<br />
wir dauernd beschallt per Handy, und die elektronische Strahlung<br />
wird auch nicht weniger. Es ist noch nicht bewiesen, was das<br />
bewirkt. Als Mutter von vier Kindern zwischen 15 und 28<br />
bin ich täglich online, doch diese Abhängigkeit ist nicht gut<br />
und regt nicht zum Lernen an. Die Sinne anregen und die Neugier<br />
wecken ist viel wichtiger.<br />
Der Beitrag über dieses Kinderheim war sehr erinnerungsweckend.<br />
Ich habe selber fast zehn Jahre in einem Kinder- und<br />
Jugendheim gelebt. Ich möchte hiermit allen Mut machen, die<br />
einer solchen Einrichtung etwas kritisch gegenüberstehen. Es<br />
war und bleibt die schönste Zeit meiner Kindheit. Ich finde es<br />
sehr gut, dass es so etwas gibt, und wünsche, dass auch<br />
andere Kinder so viele schöne Erinnerungen haben dürfen wie<br />
ich.<br />
Yvonne Caluori (per Mail)<br />
26 Jahre alt, 2001 bis 2010 im Heim<br />
Mehr positive<br />
Gedanken, bitte!<br />
(«Willkommen, Chaos!»,<br />
Heft 9/2015)<br />
… denn sie wissen<br />
nicht, was sie tun<br />
Die Pubertät ist wie ein Sturm, der über Familien<br />
hinwegfegt. Eine Tortur für Eltern und Kinder.<br />
Im Unterschied zu Mama und Papa können<br />
die Jugendlichen jedoch meist nicht anders.<br />
Text: Claudia Landolt Bilder: Ruth Erdt<br />
10 NOVEMBER 2015<br />
Dazu kommt, dass es in der Lehrstelle nicht so läuft, dass man<br />
machen kann, wozu man gerade Lust hat. Die Realität im Leben<br />
ist, dass der Lehrmeister Anforderungen stellt. Zum Beispiel am<br />
Anfang der Lehre einen Monat im Lager zu arbeiten, und das im<br />
Untergeschoss. Wir müssen unsere Kinder auf die Realität des<br />
Lebens vorbereiten.<br />
Als Lehrerin muss ich den Kindern Grundlagen vermitteln:<br />
miteinander umgehen lernen, einander helfen, miteinander in<br />
einem guten Lernklima lernen. Den Stoff vernetzen, wiederholen<br />
und abspeichern und nicht immer mehr und Neues dazunehmen.<br />
Die Kinder sollen ihre fünf Sinne zum Lernen nutzen. Dabei spielt<br />
der Computer auch eine Rolle, doch nur eine kleine, da die<br />
Verarbeitung im Gehirn durch alle Sinne läuft und der Computer<br />
nicht das Denken abnehmen soll. Unser Gehirn will Stoff zum<br />
Verarbeiten, sonst werden die Funktionen immer weniger genutzt,<br />
und die Speicherfähigkeit nimmt immer mehr ab. Es kann auch<br />
Krankheiten auslösen, wenn man die eigenen Hirnfunktionen<br />
nicht mehr einsetzt.<br />
NOVEMBER 2015 1<br />
Ich lese euer Magazin sehr gerne. Es ist informativ und unterhaltsam.<br />
Beim Betrachten der Frontseite der November-Ausgabe<br />
ist mir jedoch aufgefallen, dass ihr gleich drei Themen anschneidet,<br />
die mir die Lust und den Spass am Elternsein verderben könnten.<br />
Wie soll ich bloss mit meinen Kindern durch die Schule, durch<br />
die Pubertät und generell durch die Erziehung kommen, wenn<br />
schon ein Elternmagazin diese Themen in den Vordergrund stellt?<br />
Elternsein soll stolz machen. Etwas mehr positive Gedanken,<br />
Verbundenheit und Unterstützung würden wohl nicht nur mir<br />
guttun.<br />
Deshalb bin ich gegen einen übertriebenen Einsatz des Computers<br />
in der Schule. Es ist unser Ziel als Eltern und Lehrer, unsere<br />
Kinder auf das Leben vorzubereiten, auf die Realität nach der<br />
Schule. Das Leben zu bewältigen, es auszuhalten, wenn es mal<br />
schwierig ist, und zur Welt Sorge zu tragen. Das ist Alltag, und das<br />
ist für alle Menschen die Realität.<br />
Hanni Klopfenstein (per Mail)<br />
Martina Eiholzer (per Mail)<br />
60 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
ir war schon<br />
während der<br />
Schwangerschaft<br />
klar, wa sich<br />
nach der Geburt<br />
Zahnkiller Karies<br />
Schweizer Kinder und Jugendliche sind Weltmeister im Zähneputzen: Nirgends wird<br />
täglich ähnlich häufig geputzt. Doch es heisst dranbleiben: Ohne regelmässiges<br />
Putzen droht Karies – mit schuld daran ist unsere Lust auf Süsses. Text: Petra Seeburger<br />
Als Patentante eines Zahnarztkindes wird<br />
man bald einmal vor kariesauslösenden<br />
Geschenken gewarnt. Spätestens wenn<br />
der erste Zahn durchbricht. Und so war<br />
denn das 1-Kilo-Glas Nutella das erste<br />
und das letzte – auch wenn es den Kleinen noch so<br />
beglückte. Denn Zucker schadet den Zähnen.<br />
«Bakterien bilden aus bestimmten Kohlenhydraten<br />
eine Säure, die den Zahnschmelz angreift», sagt Florian<br />
Wegehaupt, Leiter der Kariologie am Zürcher Zentrum<br />
für Zahnmedizin. Kommen die vier Faktoren Zähne,<br />
Zucker, Zeit und Bakterien (vor allem Streptokokken<br />
und Laktobazillen, die zur normalen Mundflora gehören)<br />
zusammen, entsteht Karies, die auch Zahnfäule<br />
genannt wird.<br />
Für den Leiter des schulzahnärztlichen Dienstes der<br />
Stadt Zürich, Hubertus van Waes, sind verschiedene<br />
Altersgruppen kariesgefährdet: An erster Stelle stehen<br />
Kindergärtler und Erstklässler, weil in diesem Alter die<br />
ersten bleibenden Mahlzähne durchbrechen. «Ihre<br />
Form und Position im Gebiss macht es schwer, sie richtig<br />
zu putzen», sagt er. Risiken haben aber auch Kleinkinder<br />
unter vier Jahren, weil zahnprophylaktische<br />
Programme erst mit dem Kindergarten starten. Weitere<br />
Risikogruppen sind Pubertierende, die manchmal die<br />
Körperpflege vernachlässigen, und auch junge Erwachsene,<br />
die nach der Schulentlassung plötzlich für sich<br />
selbst verantwortlich sind und aufgrund von Lehre,<br />
Studium oder ihrem Sozialleben andere Prioritäten<br />
haben.<br />
Die Schweiz gilt als Pionier der Zahnprophylaxe. Hier<br />
wurden in den sechziger Jahren die ersten Vorsorgeprogramme<br />
lanciert. Und sie hatten grossen Erfolg: Fand<br />
man 1964 bei Erhebungen bei Zwölfjährigen in Zürich<br />
durchschnittlich acht kariöse Zähne, war 2009 nur noch<br />
knapp ein Zahn pro Kind betroffen. Laut Giorgio<br />
Menghini, Experte für orale Epidemiologie am Zentrum<br />
für Zahnmedizin der Universität Zürich, sind heute<br />
rund 60 Prozent der 12-Jährigen kariesfrei.<br />
Generell kann man sagen: Je höher das Bildungsniveau<br />
der Familien ist, desto weniger haben Kinder<br />
Karies. Das sei weltweit in allen Ländern zu beobachten,<br />
bestätigen Wegehaupt und van Waes, dem alle Zürcher<br />
Schulzahnkliniken unterstellt sind. Während in vielen<br />
Ländern die Präventionsmassnahmen in Sachen Mundhygiene<br />
Wirkung zeigten, seien in der heutigen Zeit<br />
Süssgetränke ein grosses Problem, sagt Wegehaupt.<br />
Häufig erkranken bereits Kleinkinder an Milchzahnkaries,<br />
weil sie mit der Schoppenflasche rund um die<br />
Uhr gesüsste Tees, Fruchtsäfte oder andere Softdrinks<br />
trinken. Im schlimmsten Fall zerstört Karies bereits die<br />
Milchzähne.<br />
Löcher behandeln<br />
In einfachen Kariesfällen wird ein Fluoridlack aufgetragen.<br />
Bei Löchern, die Schmerzen verursachen, bohrt<br />
der Zahnarzt und setzt Füllungen ein. Im schlimmsten<br />
Fall muss ein kariöser Zahn gezogen werden. Bleibt eine<br />
Karies unbehandelt, nehmen die Problemkeime zu, was<br />
die Zahnfäule noch fördert. Deshalb werden auch Milchzähne<br />
behandelt.<br />
Zum Zahnarzt sollten Kinder bereits nach dem<br />
Durchbruch des ersten Zahns, sagt Florian Wegehaupt.<br />
«Die Eltern können die Kleinkinder zu ihrem Zahnarzttermin<br />
einfach einmal mitbringen.» Und auch das Zähneputzen<br />
nach jeder Mahlzeit beginne dann. Wegehaupt<br />
verweist auf die Richtlinien der Schweizer Zahnärztegesellschaft<br />
(SSO) und empfiehlt spezielle Kinderzahn-<br />
62 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Ernährung & Gesundheit<br />
pasta, die dem Alter entsprechend Fluoride enthalte.<br />
Das schütze den Zahnschmelz. Sobald dann der erste<br />
bleibende Zahn draussen sei, könne normale Zahnpasta<br />
verwendet werden. Ab dem 6. Altersjahr wird –<br />
besonders bei Kindern mit erhöhtem Kariesrisiko –<br />
empfohlen, einmal wöchentlich ein Fluoridgelee<br />
anzuwenden oder täglich den Mund mit einer Fluoridlösung<br />
zu spülen. Ratsam ist auch der tägliche Gebrauch<br />
von fluo ridiertem Speisesalz.<br />
Laut Wegehaupt wird in der Kariesbehandlung auf<br />
mehreren Ebenen geforscht: zur Langlebigkeit der Füllungen,<br />
zu einer möglichen Impfung gegen Karies,<br />
Behandlungsansätzen ohne Bohren oder im Bereich der<br />
Zahnschmelzschädigung durch Säuren, die nicht durch<br />
Bakterien produziert werden und in Lebensmitteln vorkommen.<br />
Die neuen Ansätze seien vielversprechend,<br />
steckten aber noch in den Kinderschuhen.<br />
Zähne putzen und schützen<br />
«Das A und O ist und bleibt die Prävention – also Zähneputzen<br />
und Fluoride», sagt Dr. van Waes. «Die Schulzahnkliniken<br />
bieten Präventionsprogramme bereits für<br />
Kleinkinder an, bei denen vor allem die Eltern aufgeklärt<br />
werden.» Ab dem Kindergarten kommen Schulzahnpflegeinstruktorinnen<br />
zum Einsatz, die alle Klassen<br />
mehrmals jährlich besuchen. In den Schweizer Schulzahnkliniken<br />
werden Kinder einmal jährlich untersucht,<br />
wobei auch die richtige Zahnputztechnik nochmals<br />
geübt wird.<br />
«In Zürich arbeiten Schulzahnärzte und Schulärzte<br />
zusammen und haben gemeinsame Empfehlungen für<br />
gesunde Ernährung veröffentlicht», ergänzt van Waes.<br />
Hier gehe es vor allem um die allgegenwärtigen Süssgetränke,<br />
die auch wegen ihres Säuregehaltes für die Zähne<br />
schädlich seien. Zuckerfreie Alternativen seien zwar<br />
für die Zähne besser, aber noch lange nicht gesund.<br />
Zurzeit hätten Schweizer Kinder wenig Karies. Das bleibe<br />
aber nur so, wenn man bei der Prophylaxe nicht<br />
nachlasse, sagt van Waes und warnt: «Karies wird einfach<br />
auch unterschätzt.» Deshalb gilt nach wie vor: putzen,<br />
Fluorid anwenden und zuckerarm essen. Sonst<br />
schlägt der Zahnkiller Karies wieder zu.<br />
Wie entsteht Karies?<br />
Werden Zähne nicht genügend geputzt, bildet sich ein Belag aus<br />
Bakterien, die sich unter anderem von Zucker ernähren. Die Bakterien<br />
vergären die niedermolekularen Kohlenhydrate zu Säuren. Diese<br />
dringen in den Zahnschmelz ein und entkalken ihn. Die Stellen werden<br />
brüchig und kreidig weiss. Bricht nun die Oberfläche ein, spricht man<br />
von einem kariösen «Loch». Karies beginnt an den Kontaktpunkten<br />
zweier Nachbarzähne oder in den Grübchen der Kauflächen.<br />
3 Tipps für kariesfreie Zähne<br />
Zähne nach jeder Mahlzeit putzen, um Zahnbelag zu verhindern<br />
– Gründliche, aber schonende Zahn- und Zahnzwischenraumreinigung,<br />
so dass das Zahnfleisch nicht leidet<br />
– fluoridiertes Speisesalz, altersgerechte Fluoridanwendung<br />
Gesunde Ernährung mit wenig Süssgetränken<br />
– Zähne nicht dauernd Säuren und Zucker aussetzen<br />
Regelmässige Kontrolle beim Zahnarzt<br />
– Karies beginnt meist an nicht sichtbaren Stellen, deshalb<br />
braucht es für die Diagnosestellung oft ein Röntgenbild.<br />
Weiterführende Informationen und Quellen<br />
www.schulzahnpflege.ch<br />
www.sso.ch > Patienten > Prophylaxe<br />
www.generation-kariesfrei.ch – Broschüre «Zahnschäden sind<br />
vermeidbar»<br />
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3000 Therapeutinnen<br />
und Naturheilpraktiker<br />
wissen Bescheid.<br />
Petra Seeburger<br />
ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />
Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />
seit 30 Jahren im Gesundheitswesen.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
www.naturaerzte.ch<br />
Naturärzte Vereinigung Schweiz<br />
Februar <strong>2016</strong>63
«Online war ich ein anderer»<br />
Ein Leben ohne Internet ist heute für die meisten Teenager nicht mehr denkbar. Süchtig sind sie<br />
deshalb noch lange nicht. Was eine Internetsucht ausmacht und wohin sie führen kann, zeigt<br />
das Beispiel von Simon. Text: Bianca Fritz<br />
In seiner schlimmsten Zeit hat<br />
Simon R. den PC niemals<br />
ausgeschaltet. Die Storen in<br />
seinem Zimmer waren Tag<br />
und Nacht unten, und er verliess<br />
seine Höhle nur noch, um<br />
Essen einzukaufen. «Aber nur wenn<br />
es unbedingt sein musste.» Wie oft<br />
das mit dem Essen «sein muss»,<br />
unterschätzte der damals knapp<br />
20-Jährige allerdings gewaltig: Eines<br />
Tages kippte er um und kam schwer<br />
unterernährt in die Klinik.<br />
Was bringt einen Menschen<br />
dazu, sein Leben komplett ins Internet<br />
zu verlegen, alle Offlinekontakte<br />
abzubrechen und sich selbst so zu<br />
vernachlässigen? Psychologen sprechen<br />
von einer neuen Verhaltenssucht,<br />
der Onlinesucht. Im Internet<br />
gibt es vieles, was süchtig machen<br />
kann: soziale Netzwerke, Shopping<br />
und Pornografie zum Beispiel. Oder<br />
eben Games. Renanto Poespodihardjo,<br />
Leiter der Ambulanz für<br />
Verhaltenssüchte der Universitären<br />
Psychiatrischen Kliniken Basel,<br />
schätzt, dass gar 99 Prozent aller<br />
Patienten, die wegen einer Online-<br />
Onlinegames nutzen gezielt<br />
Mechanismen, die süchtig<br />
machen. Aber längst nicht alle<br />
User werden süchtig.<br />
sucht zu ihm kommen, Gamer sind,<br />
fast alle männlich. Bei den Teenagern<br />
seien es häufig die Eltern, die<br />
aktiv werden, wenn die Kinder<br />
Schule und Freunde vernachlässigen,<br />
um im Netz zu sein. Die weit<br />
grössere Gruppe seiner Patienten<br />
aber seien junge Erwachsene, die es<br />
nach der Schule nicht schaffen, ein<br />
eigenes Leben aufzubauen, eine<br />
Ausbildung zu finden oder durchzuhalten<br />
und die Miete zu bezahlen.<br />
Erfolgserlebnisse für Erfolglose<br />
«Onlinegames nutzen gezielt Mechanismen,<br />
die auf eine Abhängigkeit<br />
vom Produkt zielen», sagt Poespodihardjo.<br />
Zu Beginn habe man zum<br />
Beispiel schnell Erfolgs erlebnisse.<br />
«Das tut besonders denen gut, die<br />
offline wenig erfolgreich sind: den<br />
Unsportlichen, denen mit der krummen<br />
Nase, den Schüchternen. Ihre<br />
scheinbaren Makel sind in einem<br />
Spiel keine – sie können einfach von<br />
vorne anfangen mit einem selbstgestalteten<br />
Ich», erklärt der Psychologe.<br />
Das reize natürlich viele unsichere<br />
Pubertierende. Daher seien<br />
ex zessive Spielphasen bei Jugendlichen<br />
noch kein Grund zur Beunruhigung<br />
der Eltern. «Anders als bei<br />
Heroin sind Onlinegames etwas, was<br />
viele Menschen nutzen – aber die<br />
wenigsten werden wirklich abhängig.»<br />
Risikofaktoren, die eine Sucht<br />
begünstigen, sind unter anderem<br />
nicht verarbeitete Traumata oder<br />
Verlustsituationen (Wohnortswechsel,<br />
Scheidung), Aussenseiterpositionen,<br />
eine fehlende oder falsche<br />
Medienerziehung (siehe Tipps zur<br />
Vorbeugung auf Seite 66) und körperliche<br />
Einschränkungen. Je nachdem,<br />
welche Studie man betrachtet,<br />
kann man heute davon ausgehen,<br />
dass 4 bis 7 Prozent der Jugendlichen<br />
eine Onlinesucht entwickeln<br />
– schweizweit wird von etwa 70 000<br />
Menschen ausgegangen.<br />
Bei Simon kamen gleich mehrere<br />
Faktoren zusammen: Die Trennung<br />
der Eltern und die Alkoholsucht der<br />
Mutter führten dazu, dass er als<br />
12-Jähriger von zu Hause wegrannte,<br />
die falschen Freunde fand, zuerst<br />
in die rechte Szene einstieg, später<br />
in die Drogenszene abrutschte. Nach<br />
einem Entzug und der Rückkehr zur<br />
Mutter verkroch er sich in seinem<br />
Zimmer und begann zu spielen.<br />
Simon sagt von sich: «Ich bin in diese<br />
Welt geflüchtet, weil ich in der<br />
anderen Welt gar nichts mehr zu<br />
verlieren hatte.»<br />
Gespielt hatte er schon immer<br />
gerne, aber erst das Online-Rollenspiel<br />
Guild Wars fesselte ihn bis hin<br />
zur Sucht. Das Spiel wird von Tausenden<br />
von Menschen gleichzeitig<br />
gespielt. Auf der ganzen Welt und zu<br />
jeder Tages- und Nachtzeit. Simon<br />
wählte die Figur des Heilers und<br />
stieg schnell auf, weil er viel Zeit<br />
investierte. Er wurde zum Chef einer<br />
Guild – «und zwar nicht gerade<br />
einer kleinen», wie er heute noch<br />
64 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Digital & Medial<br />
Wenn der Platz<br />
vor dem PC der<br />
einzige ist, an<br />
dem man sich<br />
wohlfühlt, wird<br />
es kritisch.<br />
Bild: iStockphoto<br />
stolz erwähnt. Als solcher hatte er<br />
Verantwortung für andere Spieler zu<br />
tragen – der Druck, dauerhaft online<br />
zu sein, wurde immer grösser.<br />
Gamen ohne Ende – ohne Schlaf<br />
Zu Beginn traf er die Menschen, die<br />
er online kennenlernte, auch im realen<br />
Leben. Aber dann wurde es<br />
immer wichtiger, den Bildschirm<br />
nicht mehr zu verlassen. Nicht einmal<br />
zum Schlafen: Simon war fast<br />
20 Stunden pro Tag wach. Selbst als<br />
er schliesslich zusammenklappte<br />
und seine Sucht diagnostiziert wurde,<br />
spielte er noch einige Jahre weiter.<br />
Erst als die Wohnung von Simons<br />
Mutter zwangsgeräumt wurde und<br />
Mädchen gelingt es oft besser,<br />
trotz exzessiver Nutzung<br />
noch Freunde zu treffen und<br />
gute Noten zu schreiben.<br />
er an schweren Depressionen litt,<br />
entschied er sich, sich selbst einzuweisen.<br />
Das war vor zwei Jahren.<br />
Seither ist Simon in Behandlung.<br />
Neben dem Gamen können auch<br />
WhatsApp und soziale Netzwerke<br />
zu suchtähnlichem Verhalten führen<br />
– hier sind eher die Mädchen die<br />
exzessiven Nutzer. Poespodihardjo<br />
sagt allerdings, dass diese Sucht selten<br />
einen grossen Einfluss auf die<br />
physische und psychische Gesundheit<br />
hat wie das Gamen. «Ich kann<br />
nur mutmassen, woran es liegt. Vielleicht<br />
daran, dass hier immer noch<br />
eine reale Kommunikation mit<br />
Freunden stattfindet, oder daran,<br />
dass es gerade den Mädchen oft besser<br />
gelingt, nebenbei noch Freundschaften<br />
zu pflegen und in der Schule<br />
am Ball zu bleiben.»<br />
Eine weitere Verhaltensstörung<br />
in Sachen Internetnutzung ist das<br />
krankhafte Suchen und Sammeln<br />
von Daten «in einer Menge, die kein<br />
Mensch mehr überblicken, ge <br />
schweige denn nutzen kann», >>><br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>65
so Poespodihardjo. Der<br />
exzessive Internet-Pornokonsum,<br />
Glücksspiele und uferloses Onlineshopping<br />
werden nicht zu den<br />
Onlinesüchten gezählt, sondern wie<br />
die entsprechenden Verhaltenssüchte<br />
im Offlineleben behandelt.<br />
Ob ein Mensch süchtig ist, lässt<br />
sich schwer an einer Stundenzahl<br />
festmachen, die er im Internet verbringt.<br />
Von einer Sucht spricht man,<br />
wenn Schule, Arbeit, Freundschaften<br />
und Hobbys unter den Tisch<br />
fallen. Auch ein auffällig aggressives<br />
Verhalten, wenn das Internet mal<br />
ausfällt, kann ein Indikator sein.<br />
Ist die Sucht diagnostiziert, ge -<br />
hört neben der Suche nach den<br />
Ursachen auch ein Entzug zur<br />
Behandlung. Da ein Leben ganz<br />
ohne Computer und Internet heute<br />
aber kaum noch denkbar ist, müssen<br />
Süchtige häufig nur auf das verzichten,<br />
was ihre Sucht ausgelöst hat.<br />
Also zum Beispiel ein bestimmtes<br />
Onlinespiel. Es ist auch sinnvoll,<br />
ähnliche Anwendungen zunächst zu<br />
meiden oder zumindest den Konsum<br />
genau zu beobachten.<br />
Simon wurde nach seiner Zeit in<br />
den Universitären Psychiatrischen<br />
Kliniken Basel ins Zentrum Bernhardsberg<br />
gebracht, wo junge Menschen<br />
mit psychischen Problemen<br />
wieder einen geregelten Tagesrhythmus<br />
erlernen, Therapien besuchen<br />
und ins Arbeitsleben integriert werden<br />
sollen. Dort hat der inzwischen<br />
27-Jährige eine Ausbildung zum<br />
Fachmann Betriebsunterhalt begonnen.<br />
Seit Kurzem wohnt er in einer<br />
betreuten WG. Rollenspiele im<br />
Internet sind für ihn noch immer<br />
tabu. An Guild Wars denkt er zwar<br />
immer wieder und ist fasziniert<br />
davon, wie sich das Spiel entwickelt.<br />
Das verfolgt er hin und wieder auf<br />
Youtube. Aber ins Spiel selbst einloggen<br />
wird er sich nicht mehr. «Ich<br />
weiss jetzt einfach, was für mich auf<br />
dem Spiel steht.»<br />
>>><br />
Bianca Fritz<br />
ist schon von Berufs wegen eigentlich immer<br />
online. Seit einigen Monaten aber gönnt sie<br />
sich bewusste Auszeiten – und schaltet das<br />
Smartphone auch einfach mal aus.<br />
Buchtipp<br />
Holger Feindel: Onlinesüchtig?<br />
Ein Ratgeber für Betroffene und<br />
Angehörige. Patmos, 2015.<br />
144 Seiten, Fr. 23.90 (oder<br />
Fr. 12.90 als E-Book). Verständlich<br />
geschrieben, viele eindrückliche<br />
Fallbeispiele, Testbögen<br />
und Arbeitsblätter zur<br />
Selbsteinschätzung im Anhang.<br />
Tipps für Eltern zur Vorbeugung einer Onlinesucht<br />
bei Jugendlichen<br />
Informieren Sie sich, was Ihre Kinder tun.<br />
Gerade Spiele werden von Eltern oft zu Unrecht<br />
als primitiv angesehen. Solange Sie aber die<br />
Faszination nicht verstehen, können Sie auch<br />
nicht mit Regeln zu Ihrem Kind vordringen.<br />
Führen Sie Ihre Kinder langsam an die<br />
Mediennutzung heran. Erklären Sie ihnen,<br />
welche Mechanismen die Medien nutzen.<br />
Setzen Sie Grenzen im Mediengebrauch und<br />
setzen Sie diese auch durch. Dafür müssen Sie<br />
wissen, was Ihr Kind tut und welche Regeln<br />
sinnvoll sind. Zum Beispiel gibt es bei<br />
Onlinespielen Runden mit fester Dauer – da<br />
kann es mitunter schwierig werden, pünktlich<br />
zum Abendessen zu kommen.<br />
Auch wenn Ihr Teenager vielleicht etwas<br />
anderes behauptet: Sie sind ein Vorbild! Also<br />
beobachten Sie Ihr eigenes Konsumverhalten.<br />
Nehmen Sie Ihr Smartphone mit auf die Toilette?<br />
Halten Sie medienfreie Zeiten ein?<br />
66 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Digital & Medial<br />
Smombie<br />
Das ist das Jugendwort des Jahres 2015. Es bezeichnet die vollkommene Verschmelzung eines Menschen mit seinem Smartphone.<br />
Ein Smombie ist ein Smartphone-Zombie: Von seiner Umwelt bekommt er nichts mehr mit.<br />
Bilder: ZVG, iStockphoto<br />
Buchtipp<br />
Mein Opa,<br />
der Teenie<br />
Ellies Goldfisch hatte ein sonderbar<br />
langes Leben. Aber nicht nur deshalb<br />
macht sich die 11-Jährige plötzlich sehr<br />
viele Gedanken über das Altern. Denn<br />
der schlaksige Junge in altbackenen<br />
Klamotten, der plötzlich vor ihrer Tür<br />
steht, behauptet, ihr Grossvater Melvin<br />
zu sein. Er habe ein Mittel für die ewige<br />
Jugend entdeckt. So kommt es, dass<br />
Ellie zur Hilfswissenschaftlerin ihres<br />
Grossvaters wird und in eine spannende<br />
Welt eintaucht, in der Menschen sich<br />
trauen, an das Unmögliche zu glauben,<br />
um Neues möglich zu machen. Ein Buch<br />
voller Liebe, wundersamer Ereignisse<br />
und Humor. Für Neugierige und solche,<br />
die es werden sollen.<br />
Jennifer Holm: Der vierzehnte<br />
Goldfisch. Glaub an das (Un)mögliche.<br />
Roman, ab 11 Jahren. Heyne fliegt,<br />
2015. 176 Seiten, Fr. 18.90<br />
Hörbuch-Tipp<br />
Die Welt retten kann<br />
doch jeder<br />
Eigentlich ist die Geschichte ganz schön tragisch: Die<br />
zehnjährige Jamie-Lee wird mit ihrem kiffenden und<br />
saufenden Bruder allein zu Hause gelassen, weil ihre<br />
Mutter in eine Entzugsklinik kommt und die Grossmutter<br />
lieber ihre neue Flamme in Polen besucht, als sich<br />
um das Mädchen zu kümmern. Aber statt eines Dramas<br />
hat Kirsten Boie eine sehr witzige Geschichte mit Tiefgang<br />
geschrieben, die von der frechen Stimme Katinka<br />
Kultschers sehr kurzweilig vorgelesen wird. Denn Jamie-<br />
Lee macht sich nicht viel aus ihrer Situation. Sie möchte<br />
viel lieber die Welt retten. Wären da nicht ein reiches<br />
Mädchen und ein Jagdleopard, die zuerst ihre Hilfe brauchen.<br />
Bei so viel Action bleibt wenig Zeit, um an der<br />
eigenen Situation zu verzweifeln – stattdessen gibt<br />
es jede Menge Gelegenheit, das Leben selbst in die Hand<br />
zu nehmen. Denn, so die Moral der Geschichte: Keiner<br />
ist zu gering, um Grosses zu vollbringen.<br />
Kirsten Boie: Entführung mit Jagdleopard. Hörbuch, ab 10<br />
Jahren. Jumbo-Verlag, 2015. 360 Minuten auf 4 CDs. Fr. 23.90<br />
Facebook wird<br />
vererbt<br />
Eltern können den Facebook-<br />
Account ihres Kindes erben –<br />
sie haben Anspruch auf den<br />
Zugang, wenn das Kind stirbt.<br />
Das wurde im Januar erstmals<br />
vor einem Gericht in Deutschland<br />
geurteilt. Die Richter des<br />
Landesgerichts Berlin<br />
behandeln den digitalen<br />
Nachlass eines Kindes damit<br />
ähnlich wie dessen Briefe oder<br />
Tagebücher. Geklagt hatte<br />
eine Mutter, die hoffte, über<br />
das Facebook-Konto ihrer<br />
Tochter mehr über ihren noch<br />
ungeklärten Tod zu erfahren<br />
– etwa Hinweise auf einen<br />
möglichen Suizid zu finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>67
«Manche sehen das Glas halb leer. Manche sehen das Glas halb voll.<br />
Als Mutter siehst du das Glas eigentlich immer nur umfallen.»<br />
Tweet von @Rabentweets<br />
«Es muss nicht immer<br />
Google sein»<br />
Über 90 Prozent aller Suchanfragen im Netz<br />
laufen über Google. Wer hier sucht, wird zwar<br />
meistens fündig, bezahlt aber mit Daten und<br />
persönlichen Informationen. Doch es gibt<br />
eine Handvoll alternative Konkurrenten, sagt<br />
Medienpädagoge Philipp Wampfler.<br />
Interview: Claudia Landolt<br />
Herr Wampfler, welche «schnüffelfreien»<br />
Suchmaschinen gibt es?<br />
Die wichtigsten drei Suchmaschinen<br />
sind Qwant aus Frankreich, Ixquick<br />
aus den Niederlanden und Duck-<br />
DuckGo aus den USA. Alle drei vermeiden<br />
es weitgehend, persönliche<br />
Informationen der User zu speichern,<br />
und sind auch bei der Verschlüsselung<br />
und der Datenweitergabe an andere<br />
Seiten fortschrittlich.<br />
Warum macht es Sinn, auch diese zu<br />
benutzen?<br />
Aus idealistischen Gründen: Es ist<br />
gefährlich, sich bei der Suche nach<br />
Informationen von einem Unternehmen<br />
abhängig zu machen. Der Datenschutzaspekt<br />
hat für mich nur eine<br />
psychologische Bedeutung: Viele<br />
Menschen finden es unheimlich,<br />
wenn Google ihre Suchgeschichte zu<br />
präzise auswertet. Laien können gravierende<br />
Datenschutzprobleme aber<br />
nicht auf eigene Faust lösen, dazu<br />
braucht es Gesetze.<br />
Finden diese Suchmaschinen genauso<br />
viel wie Google?<br />
Google ist weiterhin die leistungsfähigste<br />
Suchmaschine. Im Alltag spielt<br />
die Differenz zu Alternativen aber<br />
meist keine Rolle: Die drei oben<br />
genannten liefern für die meisten<br />
Menschen gleichwertige Ergebnisse.<br />
Was halten Sie von Suchmaschinen wie<br />
«Frag Finn» oder «Blinde Kuh», die nur<br />
von Fachleuten freigegebene Inhalte für<br />
Kinder finden?<br />
Nichts. Es handelt sich dabei fast<br />
immer um unbrauchbare Seiten, die<br />
nicht genügend aktualisiert werden<br />
und weder für Eltern noch für Kinder<br />
befriedigend oder ansprechend sind.<br />
Sollen Kinder vor Inhalten geschützt<br />
werden, sollten bei Google und Co.<br />
entsprechende Filter eingerichtet werden.<br />
Das funktioniert besser.<br />
Wofür ich<br />
dankbar bin ...<br />
Wie können Kinder lernen, die positiven Seiten<br />
des Lebens stärker wahrzunehmen? Im letzten<br />
Film der Serie «Was Kinder stark macht» stellen<br />
die Psychologen Fabian Grolimund, Stefanie<br />
Rietzler und Nora Völker zwei einfache Strategien<br />
vor, um das Selbstvertrauen und das Selbstwertgefühl<br />
von Kindern zu stärken und eine optimistische<br />
Grundhaltung zu fördern. Sie lernen dabei<br />
eine einfache Übung aus der positiven Psychologie<br />
kennen, die nicht nur leicht anzuwenden ist<br />
und Spass macht, sondern nachweislich positive<br />
Effekte auf das Wohlbefinden hat. Und natürlich<br />
ist der Biber auch wieder mit von der Partie.<br />
Laden und<br />
starten Sie die<br />
Fritz+Fränzi-App,<br />
scannen Sie diese Seite und<br />
sehen Sie den neuen<br />
Film mit dem<br />
Biber.<br />
Bilder: ZVG<br />
68 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Digital & Medial<br />
Fomo, Yolo, Momo?<br />
Jomo!<br />
Zahlreiche Jugendliche sind scheinbar von Fomo<br />
befallen: der Angst, etwas zu verpassen. Ist<br />
daran das spassige Yolo schuld? Aber keine<br />
Sorge: Mit Jomo, dem bewussten Verpassen,<br />
bekommt man das in den Griff. Text: Michael In Albon<br />
Yolo und Fomo sind<br />
ständige Begleiter unserer<br />
Kinder – es sind<br />
wortgewordene Zeichen<br />
dafür, dass sie ihr<br />
Leben online bunter und interessanter<br />
darstellen können, als es ist. Yolo<br />
ist ein Akronym für «You only live<br />
once», auf Deutsch also: «Du lebst<br />
nur einmal». Online ist Yolo der<br />
amüsante Selbstdarsteller, Fomo<br />
hingegen der zaudernde Streber, der<br />
punkto Freizeit alles richtig machen<br />
will. Denn Fomo steht für «Fear of<br />
missing out», die Angst, etwas zu<br />
verpassen.<br />
Wie können Eltern ihren Kindern<br />
da bloss helfen? Den Umgang<br />
mit Freunden verbieten, die das<br />
coolste Leben zelebrieren, ist sicher<br />
falsch. Denn gar nicht zu wissen,<br />
was passiert, ist noch schlimmer –<br />
dafür gibt’s natürlich auch bereits<br />
eine Abkürzung: Momo, «Mystery<br />
of missing out». Momo ist die Sorge,<br />
etwas zu verpassen, weil die anderen<br />
nichts mehr teilen.<br />
Eine bessere Idee ist es, demonstrativ<br />
der Jomo zu fröhnen, der «Joy<br />
of missing out». Das ist das bewusste<br />
Verpassen. Es einfach mal geniessen,<br />
sich rauszuhalten. Und wenn<br />
man dabei online bleibt, kann man<br />
auch wunderbar posten, wie entspannt<br />
das eigene Leben ist.<br />
Hier folgen sogleich noch ein<br />
paar Tipps, wie man es schafft, sich<br />
herauszuhalten. Diese gelten übrigens<br />
auch für Erwachsene. Denn die<br />
beschriebenen Phänomene befallen<br />
die Eltern mitunter ebenso. Über die<br />
gemachten Erfahrungen kann man<br />
sich dann in der Familie austauschen<br />
– egal ob online oder offline.<br />
1. Meine Zeit schlägt analog<br />
Sie kennen das sicher auch: Eigentlich<br />
wollen Sie nur schnell die Uhrzeit<br />
checken, bleiben aber an den<br />
Nachrichten hängen, die auf dem<br />
Display aufleuchteten. Die Lösung<br />
ist einfach: Tragen Sie eine Armbanduhr!<br />
2. Meine Gedanken sind wertvoll<br />
Hängen Sie in Wartezeiten Ihren<br />
eigenen Gedanken nach, statt sich<br />
von Nachrichten und Erlebnissen<br />
anderer inspirieren zu lassen. Denn<br />
der Blick ins Leere fördert die Kreativität,<br />
fördert Ideen fürs Leben.<br />
3. So wenige Benachrichtigungen<br />
wie möglich<br />
Müssen alle Neuigkeiten sofort auf<br />
Ihrem Sperrbildschirm erscheinen?<br />
Gehen Sie regelmässig Ihre Apps und<br />
Online-Profile durch und überlegen<br />
Sie aufrichtig: Worüber müssen Sie<br />
permanent informiert werden?<br />
4. Mehr als einen Griff entfernt<br />
Tragen Sie Ihr Handy nicht immer<br />
auf sich. Stecken Sie es in eine Handtasche,<br />
einen Rucksack, eine Schublade<br />
oder an einen anderen Ort,<br />
damit Sie nicht beim ersten Summen<br />
oder Aufleuchten danach greifen.<br />
5. Ich entscheide, wann ich<br />
antworte<br />
Managen Sie die Erwartungen der<br />
anderen. Antworten Sie nicht immer<br />
postwendend. Welche Nachricht<br />
muss schon innert Minuten beantwortet<br />
oder kommentiert werden?<br />
Richten Sie sich feste Zeiten ein:<br />
Vier- bis fünfmal am Tag reicht für<br />
alle wichtigen Konversationen aus.<br />
6. Mach mal stumm!<br />
Aus den Ohren, aus dem Sinn. Schalten<br />
Sie Ihr Smartphone doch auf<br />
stumm – kein Klingeln, kein Summen,<br />
nichts. So werden Sie nicht von<br />
jeder noch so unwichtigen Meldung<br />
abgelenkt.<br />
Michael In Albon<br />
ist Jugendmedienschutz-Beauftragter<br />
von Swisscom.<br />
Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />
Lernmodule für den kompetenten Umgang<br />
mit digitalen Medien im Familienalltag.<br />
swisscom.ch/medienstark<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>69
Unser Wochenende …<br />
auf dem Schlitten<br />
Text: Leo Truniger<br />
Genüsslich …<br />
… Gleich mehrfach auf die Rechnung kommt Ihre Familie am<br />
Albulapass. Auf einer Zahnradstrecke führt Sie die Rhätische<br />
Bahn in einer Viertelstunde über Kehrtunnels und Viadukte<br />
mit fantastischen Ausblicken von Bergün auf 1789 m ü. M.<br />
hinauf nach Preda. Dann geht’s los: Die Schlittelbahn auf der<br />
gesicherten Passstrasse ist bespickt mit gemächlichen und<br />
rasanteren Passagen, zahlreichen Kehren und Haarnadelkurven.<br />
Nach 6 Kilometern erreichen Sie Bergün (1367). Lust<br />
auf mehr? Alle 30 Minuten fährt die Bahn hinauf nach Preda.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für Anfänger und Familien<br />
Sehr sicher<br />
www.berguen-filisur.ch > Schlittelwelt<br />
… Eine familien- und kinderfreundliche Schlittelbahn findet<br />
sich im freiburgischen Jaun. Richtig liegen Sie hier, wenn bei<br />
Ihnen der Schneespass im Vordergrund steht und Sie den<br />
Schlitten auch mal ziehen mögen, bis Sie wieder Fahrt aufnehmen<br />
können. Eine Vierersesselbahn bringt Sie zur Bergstation<br />
Gastlosen auf 1580 m ü. M. Nach einem halben Kilometer<br />
Marsch stehen Sie am Schlittelstart. Die 6 Kilometer lange<br />
Abfahrt ins 550 m tiefer gelegene Dorf Jaun hat manche Waldpassagen,<br />
bietet sonst aber eine herrliche Berglandschaft.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für Anfänger und Familien<br />
Sicher<br />
www.alpesfribourg.ch/de/schlitteln<br />
Sportlich …<br />
… Haben Sie und Ihre Kinder den Schlitten schon gut unter<br />
Kontrolle und lassen es gerne auch mal sausen? Dann lassen<br />
Sie sich in Elm von der Gondelbahn zur Bergstation<br />
Ämpächli auf 1480 m ü. M. bringen. Die 4 Kilometer lange<br />
Schlittelfahrt beginnt mit anspruchsvollen Kurven, hat kaum<br />
Flachpassagen, so dass man die 460 m Höhendifferenz bei<br />
ordentlichem Tempo hinter sich bringt. Zweimal muss eine<br />
selten und nur mit Spezialbewilligung zu befahrene Strasse<br />
gequert werden.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für erfahrenere Familien<br />
Sehr sicher<br />
www.sportbahnenelm.ch > Aktivitäten > Schlitteln<br />
… Sportlich genussschlitteln lässt sich auch oberhalb von<br />
Beatenberg auf dem Panoramaschlittelweg vom Niederhorn<br />
auf 1963 m ü. M. nach Vorsass (1581). Die 3 Kilometer lange<br />
Fahrt dauert etwa eine halbe Stunde, bietet Aussicht über den<br />
Thunersee und die Gipfel des Berner Oberlands. Bei optimalen<br />
Verhältnissen lässt sich die Fahrt bis hinunter nach Beatenberg<br />
über eher flaches Gelände verlängern.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für erfahrenere Familien<br />
Sehr sicher<br />
www.niederhorn.ch/de/winter/erleben/aktiv-geniessen<br />
70 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Service<br />
Lang …<br />
… Wem der Ritt über die Schneepiste nicht lange genug gehen<br />
kann, der lässt sich mit der Gondelbahn von Saas-Grund auf<br />
den Kreuzboden (2400 m ü. M.) befördern. Während gut einer<br />
halben Stunde geht’s dann 11 Kilometer und 840 Meter talwärts.<br />
Die Schlittelbahn ist selten steil, auf einigen Abschnitten<br />
muss man den Schlitten sogar ziehen und kann dafür das<br />
eindrückliche 4000er-Panorama geniessen. Im Schlussteil auf<br />
der Skipiste ist dann wieder volle Aufmerksamkeit empfohlen.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für erfahrenere Familien<br />
Sehr sicher<br />
www.hohsaas.info/index.php/aktiv-winter<br />
… Oder die Fiescheralp. Die Luftseilbahn bringt Sie auf<br />
2222 m ü. M., und nach ein paar Minuten Fussmarsch beginnt<br />
die 13 Kilometer lange Schlittelfahrt hinab ins 1200 Meter<br />
tiefer gelegene Lax – nach Belieben auch mit einem typischen<br />
Walliser Ghosky-Schlitten. Rassig, aber ungefährlich geht<br />
es los – danach wird es etwas gemächlicher.<br />
Schlittenmiete vor Ort möglich<br />
Für Anfänger und Familien<br />
Sehr sicher<br />
www.aletscharena.ch > Winter > Sport<br />
Und …<br />
… Etwas für Rundumgeniesser: Nach der Gondelbahnfahrt von<br />
Grindelwald auf den First (2166 m ü. M.) wandern Sie in zweieinhalb<br />
Stunden auf das Faulhorn (2680). Von dort geht es<br />
mit einem eigenen Schlitten abwechslungsreich 15 Schlittelkilometer<br />
hinunter nach Grindelwald (1034). Ab der Bussalp<br />
gilt es jedoch den Postauto-Gegenverkehr zu beachten:<br />
Sobald Sie das Posthorn hören, müssen Sie die Piste sofort<br />
verlassen.<br />
Für erfahrene und sportliche Familien<br />
Relativ sicher<br />
www.grindelwaldbus.ch > Schlitteln<br />
www.bussalp.ch<br />
Sicherheitstipps …<br />
… Nur sitzend schlitteln, nicht bäuchlings.<br />
… Warme Kleidung und gutes Schuhwerk tragen.<br />
… Kinder und Erwachsene schützen sich mit einem Helm.<br />
… Kleinkinder schlitteln nur in Begleitung von Erwachsenen.<br />
… Schlitten nicht zusammenhängen.<br />
… Keine Hunde mitnehmen.<br />
… Nicht hinauflaufen.<br />
… Tempo anpassen.<br />
… Bei einem Unfall: die Unfallstelle absichern, erste Hilfe<br />
leisten, Hilfe anfordern.<br />
Bild: ZVG<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>71
Service<br />
Vielen Dank<br />
Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />
an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />
Dr. iur. Ellen Ringier<br />
Walter Haefner Stiftung<br />
Credit Suisse AG<br />
Rozalia Stiftung<br />
UBS AG<br />
Mirjam und Martin Bisang<br />
UBS AG<br />
Impressum<br />
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16. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />
Herausgeber<br />
Stiftung Elternsein,<br />
Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />
www.elternsein.ch<br />
Präsidentin des Stiftungsrates:<br />
Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />
Tel. 044 400 33 11<br />
(Stiftung Elternsein)<br />
Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />
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Redaktion<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />
n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />
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Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />
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Art Direction/Produktion<br />
Partner & Partner, Winterthur<br />
Bildredaktion<br />
13 Photo AG, Zürich<br />
Korrektorat<br />
Brunner AG, Kriens<br />
Druck<br />
Konradin Heckel, Nürnberg<br />
Auflage<br />
(WEMF/SW-beglaubigt 2013)<br />
total verbreitet 103 381<br />
davon verkauft 17 206<br />
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Postkonto 87-447004-3<br />
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Institut für Familienforschung und -beratung<br />
der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />
und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />
Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation / Forum<br />
Bildung / Elternnotruf / Pro Juventute /<br />
Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />
Zürich / Schweizerisches Institut für Kinderund<br />
Jugendmedien<br />
Stiftungspartner<br />
Schweizerische Vereinigung der Elternorganisationen<br />
/ Marie-Meierhofer-Institut für das Kind /<br />
Schule und Elternhaus Schweiz / Pädagogische<br />
Hochschule Zürich / Schweizerischer Verband<br />
alleinerziehender Mütter und Väter SVAMV /<br />
Pro Familia Schweiz / Kinderlobby Schweiz<br />
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Buchtipps<br />
Bild: Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM / Béatrice Devènes<br />
Für ihr farbenfrohes Tierlexikon wurde<br />
Adrienne Barman mit dem Schweizer Kinderund<br />
Jugendmedienpreis ausgezeichnet – ein Beispiel<br />
für die Vielfalt und Farbigkeit der aktuellen<br />
Schweizer Kinderliteratur.<br />
Ausgezeichnetes<br />
Sammelsurium<br />
Adrienne Barman lässt<br />
sich nicht so leicht in<br />
bestehende Kategorien<br />
fassen. Und darum<br />
krempelt die junge<br />
Genfer Illustratorin mit Tessiner<br />
Wurzeln gleich die ganze biologische<br />
Klassifizierung um und gruppiert<br />
in «Walross, Spatz und Beutelteufel»,<br />
einem «Sammelsu rium der<br />
Tiere», zusammen, was in ihren<br />
Augen zusammengehört: schwarze<br />
Wegameise und Alpen salamander<br />
zu den Pechschwarzen, Okapi,<br />
Ameisenbär und Rubinkehlkolibri<br />
zu den Langzungen und Singschwäne<br />
und Seepferdchen zu den Treuen.<br />
Im dicken Buch, in dem sich<br />
immer wieder Entdeckungen<br />
machen lassen, zeichnet sie die Tiere<br />
in einem unverwechselbaren Stil<br />
Adrienne<br />
Barman an der<br />
Preisverleihung<br />
Ende 2015.<br />
comicartig reduziert, doch klar<br />
erkennbar, farbenfroh und mit starker<br />
Mimik. Ihre neuen Kategorisierungen,<br />
die sich wenig um übliche<br />
biologische Raster kümmern, laden<br />
dazu ein, auch andere gedankliche<br />
Schubladen neu zu ordnen – das<br />
ermöglicht eine frische Sicht auf<br />
Altbekanntes.<br />
Für diese originelle Enzyklopädie,<br />
die ursprünglich beim Genfer<br />
Verlag La Joie de Lire auf Französisch<br />
erschienen ist, erhielt Barman<br />
im November 2015 den mit 10 000<br />
Schweizer Franken dotierten<br />
Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis.<br />
Damit wird alle zwei Jahre<br />
aus einer Shortlist von sechs<br />
Büchern ein Werk eines oder einer<br />
Schweizer Schaffenden ausgezeichnet.<br />
Adrienne Barman:<br />
Walross, Spatz<br />
und Beutelteufel.<br />
Aladin, 2015,<br />
Fr. 38.90,<br />
ab 6 Jahren<br />
Ich ging in<br />
Schuhen aus<br />
Gras<br />
Das von Hannes<br />
Binder eindrücklich<br />
illustrierte<br />
Gedicht<br />
von Heinz Janisch wurde 2013 mit<br />
dem Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis<br />
ausgezeichnet.<br />
Atlantis, 2013, Fr. 24.90,<br />
ab 5 Jahren<br />
2½ Gespenster<br />
Lebensnah und<br />
sprachlich stark<br />
erzählt die in Biel<br />
wohnhafte Autorin<br />
Regina Dürig aus<br />
Sicht des Teenagers<br />
Jonna von<br />
der Verwirrung, die ein plötzlich<br />
auftauchender Unbekannter auslöst.<br />
Beltz & Gelberg, 2015, Fr. 17.90,<br />
ab 14 Jahren<br />
Pass auf mich<br />
auf!<br />
Wenn Herr<br />
Schnippel auf<br />
den Jungen Juri<br />
aufpassen soll,<br />
verschwimmen<br />
in diesem<br />
Bilder buch von Lorenz Pauli und<br />
Miriam Zedelius nicht nur die<br />
Grenzen zwischen Kind und Erwachsenen,<br />
sondern auch jene zwischen<br />
Buch und Betrachter.<br />
Atlantis, 2015, Fr. 24.90,<br />
ab 4 Jahren<br />
Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />
Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />
Instituts für Kinder- und Jugendmedien<br />
SIKJM. Auf www.sikjm.ch<br />
sind weitere Buchempfehlungen zu<br />
finden.<br />
Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />
Februar <strong>2016</strong>73
Eine Frage – drei Meinungen<br />
Ich rauche hin und wieder eine Zigarre, rein zum Genuss. Meine Frau<br />
ist Nichtraucherin. Nun haben wir bemerkt, dass unser Sohn, 15,<br />
heimlich Zigaretten raucht. Wenn ich ihn darauf anspreche, sagt er<br />
bloss: «Du paffst ja selber.» Haben Sie mir einen Rat? Dominik, 46, Bülach ZH<br />
Nicole Althaus<br />
Tja – das Schwierige am<br />
Vorbildsein ist, dass man<br />
auch ein Vorbild ist, wenn<br />
man gerade keins ist. 1:0 für<br />
Sohnemann. Jetzt bleibt<br />
Ihnen nur noch der Elternjoker:<br />
Nicht alles, was die<br />
Grossen dürfen, dürfen auch<br />
die Kleinen. Zigaretten,<br />
Abstimmen und Autofahren sind bis 18 tabu. Danach<br />
kann er tun, was er nicht lassen kann. Aber bis dahin<br />
gilt: Wenn Sie davon Wind kriegen, dass er wieder<br />
geraucht hat, zahlen sie keinen Rappen an den Führerschein.<br />
Bei mir hats gewirkt.<br />
Tonia von Gunten<br />
Auf dem Weg zum Erwachsenwerden<br />
probieren<br />
Jugendliche viel aus. Sie hinterfragen<br />
Werte, die wir<br />
ihnen mit auf den Weg<br />
gegeben haben, das gehört<br />
dazu. Trotzdem – wir Eltern<br />
hinterlassen bei unseren<br />
Kindern einen bleibenden<br />
Eindruck. Sie rauchen selber. Was jedoch nicht heisst,<br />
dass Sie es gut finden müssen, wenn Ihr Sohn mit 15<br />
ebenfalls raucht. Sagen Sie ihm das. Es ist wichtig,<br />
dass er Ihre persönliche Einstellung kennt. Aber spielen<br />
Sie nicht den Polizisten – werden Sie zum Trainingskollegen<br />
Ihres Sohnes. Wer von euch schafft es<br />
eher, mit dem Rauchen aufzuhören?<br />
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Lea Meienberg / 13 Photo, ZVG<br />
Peter Schneider<br />
Sagen Sie ihm, dass Sie<br />
nicht die Miss Schweiz<br />
sind, die ein Vorbild sein<br />
muss, sondern sein Vater,<br />
der es ihm verbietet, weil<br />
es ungesund ist.<br />
Nicole Althaus, 47, ist Kolumnistin, Autorin und<br />
Mitglied der Chefredaktion der NZZ am Sonntag.<br />
Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und<br />
hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.ch» initiiert<br />
und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei<br />
Kindern, 15 und 11.<br />
Tonia von Gunten, 42, ist Elterncoach, Pädagogin<br />
und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />
Programm, das frische Energie in die Familien<br />
bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />
stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />
und Mutter von zwei Kindern, 9 und 6.<br />
Peter Schneider, 58, ist praktizierender<br />
Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />
andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />
für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />
ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />
der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />
erwachsenen Sohnes.<br />
Haben Sie auch eine Frage?<br />
Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />
redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />
74 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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76 Februar <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi