GIG Juli 2016
Stadtmagazin für Münster/Osnabrück/Lingen und die Region
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F I L M<br />
FILM DES MONATS<br />
DER CLOWN IN MIR<br />
Toni Erdmann<br />
Die Weltpresse feiert den neuen Film von Maren<br />
Ade („Alle anderen“), doch die Jury in Cannes<br />
ließ „Toni Erdmann“ demonstrativ links liegen.<br />
Klare Fehlentscheidung, denn dies ist der ungewöhnlichste<br />
deutsche Film seit Schippers<br />
„Victoria“.<br />
Winfried (unglaublich präsent: Peter Simonischek)<br />
ist 65 und ein Musiklehrer, der sich gern<br />
verkleidet und im Clownskostüm die Toleranz<br />
seiner Mitmenschen auf die Probe stellt. Der<br />
DADDY ISSUES<br />
Väter und Töchter -<br />
Ein ganzes Leben<br />
Wird mal wieder Zeit für einen guten Film mit<br />
Russell Crowe? - Achtung: Dieser hier ist es nicht.<br />
Gabriele Muccino, der mit „Das Streben nach<br />
Glück“ und „Sieben Leben“ einst Will Smith eine<br />
Leinwand für seine melodramatische Seite bot,<br />
lässt nun auch den Ex-„Gladiator“ auf die Tränendrüse<br />
drücken.<br />
Die kleine Katie und ihr geliebter Dad (Russell Crowe)<br />
Katie (süß: Kylie Rogers) ist erst fünf, als ihre<br />
Mutter bei einem Autounfall stirbt. Am Steuer<br />
saß Vater Jake (Crowe), der die Kleine nun allein<br />
aufziehen muss. Problematisch wird es, als<br />
bei Jake eine psychische Erkrankung festgestellt<br />
wird und er sich monatelang in einer Klinik behandeln<br />
lassen muss. Kein Wunder, dass Katie<br />
als Erwachsene (Amanda Seyfried) so ihre Probleme<br />
mit Bindungen hat. Kann der nette Cameron<br />
(komplett verheizt: Aaron Paul, „Breaking<br />
Bad“) sie retten?<br />
In Rückblenden wird von einer innigen Vater-<br />
Tochter-Beziehung erzählt, wobei Muccino<br />
leider alle wirklich interessanten Konflikte und<br />
Mit Toni Erdmann (Peter Simonischek) muss<br />
sich Tochter Ines (Sandra Hüller) erstmal<br />
arrangieren<br />
Kontakt zu seiner Tochter Ines (sensationell:<br />
Sandra Hüller), einer Karrierefrau im Consultingbusiness,<br />
ist eher lose. Viel zu lose, meint<br />
Winfried und reist nach Bukarest, wo Ines gerade<br />
einen großen Deal abschließen will. Um<br />
sie aus der Reserve zu locken, schlüpft Winfried<br />
mit Kunstgebiss in die Rolle des Toni Erdmann,<br />
der sich mal als Geschäftsmann, mal<br />
als deutscher Botschafter ausgibt und ständig<br />
um Ines herumscharwenzelt. Um die Blamage<br />
möglichst klein zu halten, lässt sich Ines auf<br />
das skurrile Spiel ein.<br />
Keine leichte Komödie im Stile von Schweig(er)-<br />
höfer, sondern Arthouse-Kino der feinsten Sorte.<br />
Maren Ade gibt ihren grandiosen Darstellern<br />
Raum und beweist einen großartigen Sinn<br />
für Situationskomik. Höhepunkt: Eine Nacktparty,<br />
die man sein Leben lang nicht vergessen<br />
wird. Martin Schwarz<br />
D <strong>2016</strong>; Regie: Maren Ade; mit Peter<br />
Simonischek, Sandra Hüller, Michael Wittenborn<br />
u.a.; Bundesstart: 14.07.;<br />
www.tonierdmann-derfilm.de<br />
Entwicklungen ausspart. Dafür gibt es viel Seltsames<br />
aus dem Handbuch der Küchenpsychologie.<br />
Man fragt sich zum Beispiel, worunter<br />
Jake eigentlich genau leidet, wenn Russell Crowe<br />
bei seinen „Psychosen“ in eine Mischung aus<br />
epileptischen Anfällen und Parkinson ausbricht,<br />
und auch Amanda Seyfried als „nymphomane“<br />
Sozialarbeiterin ist wenig glaubwürdig.<br />
Karin Jirsak<br />
USA / I 2015; Regie: Gabriele Muccino; mit Russell<br />
Crowe, Amanda Seyfried, Aaron Paul u.a.; Bundesstart:<br />
30.06.; www.vaeterundtoechter-derfilm.com<br />
MANN MIT KUH<br />
Unterwegs mit Jacqueline<br />
Es war einmal ein armer algerischer Bauer namens<br />
Fatah (Fatsah Bouyahmed), der machte sich<br />
mit seiner schönen Kuh Jacqueline auf den Weg<br />
nach Paris, um bei der dortigen Landwirtschafts-<br />
©AlamodeFilm<br />
Gutes Team: Fatah (Fatsah Bouyahmed) und<br />
die schöne Jacqueline<br />
© SquareOne/<br />
Universum<br />
ausstellung aufzutreten. Das ganze Dorf legte<br />
zusammen, doch das Geld reichte nur für die Fähre<br />
nach Marseille. Von dort marschierte der gute<br />
Mann samt Huftier zu Fuß in Richtung Eiffelturm.<br />
Unterwegs erlebt der freundliche Wanderer allerlei<br />
Abenteuer und wird nebenbei zum unfreiwilligen<br />
Internetstar.<br />
© Nicolette Krebitz<br />
Klischee trifft auf Komödie bei dieser amüsanten<br />
Tour de France. Mit souveräner Lässigkeit<br />
präsentiert der Held die Macken seiner Kultur -<br />
aber eben auch die Dinge, auf die er stolz ist.<br />
Als eine Art algerischer Forrest Gump erobert<br />
der kleine Mann mit Kuh und Glatze die Herzen<br />
seiner Zufallsbekanntschaften im Sturm -<br />
und auch als Zuschauer kann man diesem liebenswerten<br />
Sympathieträger kaum widerstehen.<br />
Und wenn Fatah mit Hilfe des neuen, adeligen<br />
Freundes seiner erzürnten Gattin den ersten<br />
Liebesbrief seines Lebens schreibt, hat das<br />
sogar fast schon Klassikerqualitäten. Zu den<br />
nicht minder berührenden Momenten gerät auch<br />
ein Karaokeauftritt des chronischen Optimisten:<br />
„I Will Survive“ wird da geschmettert, was sonst!<br />
Dieter Oßwald<br />
F <strong>2016</strong>; Regie: Mohamed Hamidi; mit<br />
Fatsah Bouyahmed, Lambert Wilson, Jamel<br />
Debbouze u.a.; Bundesstart: 14.07.;<br />
www.unterwegsmitjacqueline.de<br />
DRAMA,<br />
BABY!<br />
Tangerine<br />
L.A.<br />
Sin-Dee (Kitana Kiki Rodriguez,<br />
vorne) verwickelt ihre beste Freundin<br />
Alexandra (Mya Taylor) in eine<br />
irre Odyssee<br />
Heiligabend auf<br />
dem Sunset Boulevard:<br />
Sin-Dee (herrlich<br />
überdreht: Kitana<br />
Kiki Rodriguez)<br />
kommt gerade aus<br />
dem Knast, als ihre<br />
B F F A l e x a n d r a<br />
(auch toll: Mya Taylor)<br />
ihr steckt, dass<br />
ihr Zuhälterverlobter<br />
einen neuen<br />
Liebling hat. Die<br />
temperamentvolle<br />
Sin-Dee flippt aus<br />
und rast los durch<br />
die Stadt, um dem<br />
neuen Girl die Hölle<br />
heiß zu machen. Wird sie es rechtzeitig<br />
zu Alexandras großem Gesangsauftritt schaffen?<br />
Drama, baby!, heißt es in der zweiten Regiearbeit<br />
von Sean Baker, der uns mit viel Tempo<br />
durch die zwielichtig schillernde Welt des<br />
kalifornischen Transgenderstrichs führt. In<br />
seiner nur mit iPhones (!) gefilmten Liebeserklärung<br />
an die dreckige Seite L.A.s scheut<br />
er sich nicht davor, auch die eine oder andere<br />
moralische Frage bei den Eiern zu packen.<br />
Rotzig, warmherzig und immer ein bisschen<br />
over the top wie seine Protagonistinnen<br />
kommt dabei der Humor daher: Wenn etwa<br />
Sin-Dee und ihr Pimp-Lover im Donutladen<br />
die Grenzen der Monogamie neu ausloten,<br />
macht das einfach Spaß. Doch unter dem rauen<br />
Firnis aus Zickereien, Drogendeals und käuflicher<br />
Liebe legt Baker zarte Gefühle frei - die<br />
eigentliche Stärke dieser in Sundance gefeierten<br />
Indie-Perle. Und wenn am Ende alle Masken<br />
fallen, kommt nicht nur im hochsommerlichen<br />
Los Angeles wahrhaftige Weihnachtsstimmung<br />
auf. Karin Jirsak<br />
USA 2015; Regie: Sean Baker; mit Kitana Kiki<br />
Rodriguez, Mya Taylor, Mickey O’Hagan u.a.;<br />
Bundesstart: 07.07.; www.tangerine-la.de