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Rückblick auf die Kampagne "Demenz und wir – zusammen leben in Bremerhaven" & das Theaterstück "Über Schiffe gehen – Theaterprojekt mit Menschen mit Demenz"

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ver<strong>wir</strong>rten Herrn <strong>in</strong> Richtung Hausverwaltung<br />

geht, macht sich auch <strong>die</strong> alte Frau wieder <strong>auf</strong><br />

ihren Weg. Die beiden Verkäufer<strong>in</strong>nen der<br />

Boutique erwachen aus ihrer Starre <strong>und</strong> wenden<br />

sich wieder ihrem Tun zu. E<strong>in</strong>zelne Grüppchen<br />

bleiben noch stehen. Reden über <strong>Demenz</strong>, <strong>das</strong>s<br />

es doch schlimm sei <strong>und</strong> es nicht se<strong>in</strong> könne,<br />

<strong>das</strong>s so jemand hier e<strong>in</strong>fach frei heruml<strong>auf</strong>e.<br />

Zwei Damen berichten: „Das haben <strong>wir</strong> hier<br />

gestern auch schon erlebt. Das ist ja erschreckend.<br />

Das ist doch nicht normal!“ Anderen sieht man<br />

ihre Betroffenheit an. Und viele s<strong>in</strong>d froh, <strong>das</strong>s<br />

der junge Mann sich so erfolgreich kümmern<br />

konnte.<br />

Unsichtbares Theater<br />

Die Reaktionen der <strong>Menschen</strong> im Bremerhavener<br />

Columbus Center <strong>auf</strong> e<strong>in</strong>e Person <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />

s<strong>in</strong>d vermutlich recht typisch. Genau <strong>die</strong>se<br />

typischen Reaktionen wollte demenz DAS<br />

MAGAZIN erfahren. <strong>Menschen</strong> zu fragen, wie sie<br />

<strong>auf</strong> e<strong>in</strong> durch <strong>Demenz</strong> verändertes Verhalten <strong>in</strong><br />

der Öffentlichkeit reagieren würden, br<strong>in</strong>gt<br />

vermutlich Wunsch- <strong>und</strong> Klischeebilder zutage.<br />

Ebenso verbietet es sich, e<strong>in</strong>en <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />

<strong>Demenz</strong> <strong>in</strong> solch e<strong>in</strong>e Situation zu br<strong>in</strong>gen, um<br />

<strong>das</strong> Verhalten der Umwelt beobachten zu<br />

können. Um echtes, unverstelltes Verhalten zu<br />

erfahren, wählten <strong>wir</strong> <strong>die</strong> Kunstform „unsichtbares<br />

Theater“. Dabei wissen <strong>die</strong> Zuschauer weder,<br />

<strong>das</strong>s sie Zuschauer s<strong>in</strong>d, noch <strong>das</strong>s Theater<br />

gespielt <strong>wir</strong>d. Im öffentlichen Raum werden<br />

Alltagssituationen gespielt <strong>und</strong> <strong>die</strong> Reaktionen<br />

der Umwelt s<strong>in</strong>d Bestandteil des Theaterspiels.<br />

Nach Beendigung der „Vorstellung“ diskutieren<br />

bisher unbeteiligte Schauspieler <strong>mit</strong> den<br />

Anwesenden über <strong>das</strong> Erlebte. Diese werden<br />

dabei nicht darüber <strong>auf</strong>geklärt, <strong>das</strong>s es e<strong>in</strong>e<br />

gespielte Situation war. In der beschriebenen<br />

Szene wurde <strong>die</strong> Person <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> vom<br />

Schauspieler Wolfgang Marten <strong>und</strong> der junge<br />

Mann, der ihn direkt ansprach <strong>und</strong> später<br />

aus der Situation führte, vom Theatermacher,<br />

Schauspieler <strong>und</strong> Autor Erpho Bell gespielt.<br />

Beobachtet <strong>und</strong> diskutiert haben Angela<br />

Geermann, Annegret de Vries <strong>und</strong> Alice Fröhlich,<br />

alle vom Vere<strong>in</strong> Solidar, sowie Jenny Sauerwald<br />

<strong>und</strong> ich.<br />

„Da muss man doch was tun!?“<br />

E<strong>in</strong>e Person steht <strong>auf</strong> Socken <strong>mit</strong>ten <strong>in</strong> der<br />

Passage des Columbus Center. Alle<strong>in</strong> <strong>das</strong><br />

irritiert. Ohne Schuhe unterwegs zu se<strong>in</strong>, ist e<strong>in</strong><br />

ungewohntes Verhalten. Sogleich stellt sich<br />

etwas Fremdes <strong>und</strong> Befremdliches e<strong>in</strong> <strong>und</strong><br />

18<br />

erzeugt <strong>in</strong> der Umwelt <strong>die</strong> Fragen: Was ist <strong>mit</strong><br />

der Person? Da stimmt doch was nicht. Da muss<br />

man doch was tun. Dieses „Da muss man doch<br />

was tun“ mündet zumeist nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e direkte<br />

Ansprache <strong>und</strong> Unterstützung der sich<br />

befremdlich verhaltenden Person, sondern <strong>in</strong><br />

den Ruf nach der Obrigkeit, <strong>die</strong> es dann richten<br />

soll. E<strong>in</strong>zig e<strong>in</strong>e alte Frau geht zur Person <strong>und</strong><br />

bietet ihre Unterstützung an. Die anderen rufen<br />

nach der Polizei oder der Hausverwaltung. Mit<br />

dem Ruf nach e<strong>in</strong>em Experten befreien sich <strong>die</strong><br />

<strong>Menschen</strong> von ihrer Verantwortung, selbst<br />

handeln zu müssen. Es ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>fachste Form,<br />

Hilfe zu leisten. Annegret de Vries vermutet,<br />

<strong>das</strong>s <strong>die</strong>ses Verhalten auch durch Berichte <strong>in</strong><br />

den Me<strong>die</strong>n hervorgerufen <strong>wir</strong>d. Denn immer<br />

wieder werde dar<strong>auf</strong> h<strong>in</strong>gewiesen, <strong>das</strong>s Helfende<br />

zur Haftung herangezogen würden, wenn der<br />

hilfebedürftigen Person bei bzw. durch <strong>die</strong><br />

Hilfeleistung etwas zustoße. Ebenso <strong>wir</strong>d <strong>das</strong><br />

immer noch verbreitete <strong>Demenz</strong>bild ursächlich<br />

se<strong>in</strong>, weil <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> als<br />

unberechenbar, aggressiv <strong>und</strong> unzugänglich<br />

beschrieben werden. Dieses Bild baut Ängste<br />

vor dem Kontakt <strong>auf</strong>. Vor allem, wenn e<strong>in</strong>e<br />

unbekannte Person <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Situation angetroffen <strong>wir</strong>d, <strong>in</strong> der sie ver<strong>wir</strong>rt<br />

<strong>und</strong> <strong>auf</strong>gelöst ersche<strong>in</strong>t. Die eigene Handlungskompetenz<br />

<strong>wir</strong>d dann als nicht ausreichend<br />

bewertet. Daher <strong>wir</strong>d lieber <strong>die</strong> Obrigkeit gerufen,<br />

obgleich <strong>die</strong>se <strong>mit</strong> der Situation oft gleichermaßen<br />

überfordert ist, was niemand zu denken wagt.<br />

Zeitlich völlig durchprogrammiert<br />

Dabei ist Menschse<strong>in</strong> gefragt. Erpho Bell<br />

beschreibt se<strong>in</strong> Handeln folgendermaßen: „Ich<br />

b<strong>in</strong> als Mensch <strong>auf</strong> den <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Demenz</strong><br />

zugegangen. Ich hatte ke<strong>in</strong>e Strategie. Habe<br />

versucht, e<strong>in</strong>en Kontaktraum herzustellen, durch<br />

den ich <strong>die</strong> Person halten konnte, ohne sie<br />

körperlich festzuhalten. In den Kontakt zur<br />

Person b<strong>in</strong> ich über Worte <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e<br />

Körpersprache gegangen. Habe versucht, sie<br />

zu beruhigen, um <strong>mit</strong> ihr geme<strong>in</strong>sam nach e<strong>in</strong>er<br />

angemessenen Lösung zu suchen. So, wie ich sie<br />

erlebt habe, war klar, <strong>das</strong>s es nicht darum geht,<br />

den Bus zu f<strong>in</strong>den. Wichtig war mir, <strong>das</strong>s ich ihr <strong>in</strong><br />

der konkreten Situation e<strong>in</strong> sie ernst nehmendes<br />

Gegenüber b<strong>in</strong>.“ Erschrocken hat uns, <strong>das</strong>s viele<br />

<strong>Menschen</strong> <strong>das</strong> fremde <strong>und</strong> hilflose Verhalten<br />

e<strong>in</strong>es <strong>Menschen</strong> wahrnehmen, <strong>die</strong> Situation aus<br />

der Distanz beobachten, aber nicht dar<strong>auf</strong><br />

reagieren. Dass <strong>Menschen</strong> kurz h<strong>in</strong>schauen <strong>und</strong><br />

dann weiter- <strong>gehen</strong>, gründet für Jenny Sauerwald<br />

im Zeitgeist. „Wir s<strong>in</strong>d alle zeitlich so durchprogrammiert,<br />

<strong>das</strong>s <strong>wir</strong> uns davor hüten, unseren

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