Fall 2: Abschleppen - Lösungsskizze
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Professor Dr. Heinrich de Wall WS 2010/11<br />
Übung im Öffentlichen Recht für Fortgeschrittene<br />
<strong>Fall</strong> 2: <strong>Abschleppen</strong> - <strong>Lösungsskizze</strong><br />
Vgl. BayVBl. 2002, 188<br />
A. Entscheidungskompetenz<br />
I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO<br />
- Keine aufdrängende Sonderzuweisung<br />
- Streit um Normen des PAG => öffentlich-rechtliche Streitigkeit<br />
- Abdrängende Sonderzuweisung des § 23 EGGVG an die ordentlichen<br />
Gerichte? Hier (-), da Polizei präventiv tätig geworden ist<br />
II. Zuständiges Gericht<br />
B. Zulässigkeit<br />
1. Sachlich: Verwaltungsgericht, § 45 VwGO<br />
2. Örtlich: VG München, § 52 Nrn. 3, 5 VwGO,<br />
Art. 1 II Nr. 1 AGVwGO<br />
I. Statthafte Klageart<br />
Klagebegehren:<br />
1. Aufhebung des Bescheids vom 13.09.2010:<br />
→ VA<br />
→ trotz Zahlung noch nicht erledigt, da Rückgängigmachung des<br />
Bescheids als Rechtsgrund der Zahlung noch möglich und sinnvoll<br />
→ Statthaft ist damit die Anfechtungsklage<br />
gem. § 42 I 1. Var. VwGO.<br />
2. Rückerstattung: Folgenbeseitigungsantrag gem. § 113 I 2, 3 VwGO<br />
als Annex zur Anfechtungsklage (nach Kopp/Schenke § 113 Rn. 82,<br />
da hier eine „Überschneidung“ mit dem FBA vorliegt, anders wohl<br />
Maurer: Der Erstattungsanspruch ist ein eigenständiges Institut des<br />
öffentlichen Rechts und muss deshalb stets mit der allg. LK geltend<br />
gemacht werden.)<br />
II. Klagebefugnis, § 42 II VwGO<br />
M ist Adressat eines belastenden VA: daher zumindest Verletzung von<br />
Art. 2 I GG ist möglich<br />
Bei öffentlich-rechtlichem Erstattungsanspruch genügt Art. 2 I GG<br />
nicht, es darf nicht ausgeschlossen sein, dass ein<br />
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Rückerstattungsanspruch gegeben ist, hier: öffentlich-rechtlicher<br />
Erstattungsanspruch<br />
III. Vorverfahren entfällt gem. § 68 I 2 VwGO, Art. 15 II AGVwGO<br />
IV. Klagefrist, § 74 I 2 VwGO<br />
ein Monat nach Bekanntgabe des VA<br />
Fristbeginn:<br />
Bekanntgabefiktion des Art. 41 II 1 BayVwVfG:<br />
3. Tag nach Aufgabe zur Post (= 19.09.2010).<br />
Zwar ist der 19.09.2010 ein Sonntag, aber Art. 31 III BayVwVfG ist<br />
nicht auf Art. 41 II BayVwVfG anwendbar, da dieser eine bloße<br />
Regelung zur Terminsbestimmung, keine „Frist“ i.S.v. Art. 31<br />
BayVwVfG ist (str.).<br />
→ Fristbeginn daher gem. §57 II VwGO, 222 I ZPO, § 187 I BGB am<br />
19.09.2010 (nach a.A. am 20.09.2010):<br />
Fristende:<br />
Gem. §§ 57 II VwGO, 222 I ZPO § 188 II 1. Alt. BGB am 19.10.2010<br />
(nach a. A. am 20.10.2008). Nach beiden Ansichten Klagefrist am<br />
21.10.2010 verstrichen.<br />
Wiedereinsetzung, § 60 VwGO:<br />
1. Formelle Wiedereinsetzungsvoraussetzung:<br />
Rechtzeitiger Antrag oder Entbehrlichkeit des Antrages<br />
gem. § 60 II 4 VwGO<br />
Hier: gem. § 60 II 4 VwGO kann Wiedereinsetzung auch ohne Antrag<br />
gewährt werden, da die Klage gem. § 60 II 3 VwGO innerhalb von 2<br />
Wochen nach dem Wegfall des Hindernisses (am 21.10.2010) erhoben<br />
wurde (vgl. § 60 II 1 VwGO)<br />
2. Materielle Wiedereinsetzungsvoraussetzung:<br />
Schuldlose Versäumung der Widerspruchsfrist?<br />
(P): keine Überprüfung privater Post trotz absehbar langen<br />
Krankenhausaufenthalts:<br />
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Rspr.: bei nur vorübergehender, nicht allzu langer Abwesenheit von<br />
der eigenen Wohnung (bis zu 6 Wochen), besteht keine Obliegenheit,<br />
besondere Vorkehrungen zu treffen, um von Schreiben Kenntnis zu<br />
erlangen, es sei denn, der Beteiligte musste konkret mit dem baldigen<br />
Zugang einer fristrelevanten Entscheidung rechnen (BVerfGE 41, 332<br />
(336); BVerwGE 77, 157 (161); BVerwG NVwZ-RR 1990, 86.).<br />
Daher hier: M genau 6 Wochen abwesend; Zugang eines<br />
fristrelevanten Schriftstückes war nicht absehbar.<br />
→ schuldlose Versäumung (+) (a.A. vertretbar)<br />
V. Beteiligungs- und Prozessfähigkeit<br />
M ist als natürliche Person beteiligungs- und prozessfähig, § 61 Nr. 1<br />
Alt. 1 VwGO; § 62 I Nr. 1 VwGO<br />
Der Freistaat Bayern ist als juristische Person des öffentlichen Rechts<br />
beteiligungsfähig gem. § 61 Nr. 1Alt. 2 VwGO. Er ist aber<br />
prozessunfähig, wird aber gem. § 62 III VwGO, Art. 16 AGVwGO, §<br />
3 II LABV von der Ausgangsbehörde vertreten.<br />
VI. Form<br />
Die Klageerhebung durch unterschriebenes Telefax genügt den<br />
Anforderungen des § 81 I VwGO, da durch die eigenhändige Unterschrift<br />
auf dem Original die Zwecke der Schriftform gewahrt werden<br />
C. Begründetheit<br />
Die Klage gegen den Kostenbescheid ist gem. § 113 I 1 VwGO begründet,<br />
wenn sie gegen den richtigen Beklagten gerichtet und der Kostenbescheid<br />
rechtswidrig und M in dadurch seinen Rechten verletzt ist. Der<br />
Folgenbeseitigungsantrag nach § 113 I 2 VwGO ist begründet, wenn der<br />
Kläger einen (materiellen) Anspruch auf Rückgängigmachung der<br />
Vollziehung hat.<br />
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I. Begründetheit der Klage gegen den Kostenbescheid<br />
1. Passivlegitimation<br />
§ 78 I Nr.1 VwGO i.V.m. Art. 1 II POG : Freistaat Bayern<br />
2. Rechtsgrundlage für den Kostenbescheid<br />
Art. 9 II PAG?<br />
→ dann (+), wenn unmittelbare Ausführung i. S. d. Art. 9 I PAG<br />
vorliegt:<br />
Abgrenzung zu<br />
a) Ersatzvornahme, Art. 53 I, 54 I Nr. 1, 55 PAG (Kosten:<br />
Art. 55 I 2 PAG)<br />
aa) Verkehrzeichen = VA, Art. 35 S. 2 3. Var. BayVwVfG, der<br />
Wegfahrgebot enthält<br />
bb) Wirksamkeit?<br />
Dagegen: keine Bekanntgabe, Art. 43 I BayVwVfG<br />
Aber: Sondervorschrift der §§ 39 I, 45 IV StVO (S.<br />
BVerwGE 102, 316)<br />
cc) aber: Verkehrszeichen ≠ pol. Anordnung, da durch<br />
Straßenverkehrsbehörde aufgestellt<br />
dd) i.ü.: Abgrenzung Art. 9 � Art. 53 PAG: wenn gegen<br />
Widerstand des Adressaten: Art. 53 PAG, bei Abwesenheit des<br />
Adressaten daher regelmäßig Art. 9 PAG<br />
→ Ersatzvornahme, Art. 53 I, 54 I Nr. 1, 55 PAG daher (-),<br />
b) Sofortvollzug einer Ersatzvornahme: Art. 53 II, 54 I Nr. 1, 55 I<br />
PAG (Kosten: Art. 55 I 2 PAG) (s.o.)<br />
Fiktive Grundverfügung = Wegfahrgebot d. Polizei, zur<br />
Abgrenzung zu Art. 9 PAG s. soeben a) dd) →<br />
Art. 53 II, 54 I Nr. 1, 55 I PAG (-)<br />
c) Sicherstellung, Art. 25 Nr. 1 PAG, Kosten: Art. 28 III PAG.<br />
Hier aber: Polizei begründet keinen eigenen Gewahrsam am<br />
Kfz – bloße Versetzung ≠ Sicherstellung<br />
d) Vollzugshilfe, Art. 50 – 52 PAG<br />
aa) Unanfechtbarer/sofort vollziehbarer VA<br />
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bb) Anwendung unmittelbaren Zwangs ggü. Sache (-), da<br />
hier vertretbare Handlung vorliegt, gegen die vonseiten des M<br />
kein Widerstand geleistet wurde<br />
cc) Darüber hinaus: Kein Ersuchen, Art. 50 I, 51 PAG<br />
e) Vollstreckungshilfe, Art. 37 VwZVG (-), da kein unmittelbarer<br />
Zwang (s.o.). Darüber hinaus fehlt es an der Vollstreckung durch<br />
die Straßenverkehrsbehörde selbst, zu der die Polizei beigezogen<br />
werden könnte<br />
d) und e) beziehen sich auf unm. Zwang, für den das PAG<br />
keine Kostenerhebungsvorschrift enthält. Für die Frage nach<br />
der Rechtsgrundlage für die Kostenerhebung daher<br />
Abgrenzung entbehrlich<br />
Damit liegt eine unmittelbare Ausführung i. S. d. Art. 9 I PAG vor, so<br />
dass nur Art. 9 II PAG Rechtsgrundlage des Kostenbescheids sein<br />
kann.<br />
3. Formelle Rechtmäßigkeit<br />
a) Zuständigkeit: Polizeidirektion, Art. 1 I KostG, Art. 76 S. 1 PAG<br />
b) Anhörung, Art. 28 I BayVwVfG (-), keine Entbehrlichkeit nach<br />
Art. 28 II BayVwVfG,<br />
aber: Heilung gem. Art. 45 I Nr. 3, II BayVwVfG noch bis zum<br />
Abschluss der letzten Tatsacheninstanz möglich<br />
4. Materielle Rechtmäßigkeit<br />
a) Voraussetzungen des Art. 9 I PAG<br />
aa) Zuständigkeit Polizei, Art. 2, 3 PAG, 3 POG<br />
bb) Voraussetzungen einer Ermächtigungsgrundlage zum<br />
<strong>Abschleppen</strong>:<br />
(1) Art. 9 I PAG (-), da keine eigenständige<br />
Ermächtigungsgrundlage<br />
(2) Art. 25 Nr. 1 PAG?<br />
(-), da Pkw auf einen öffentlichen Parkplatz versetzt wird, die<br />
Polizei also keinen Gewahrsam an ihm begründet. (s.o.)<br />
(3) Art. 11 II 1 Nrn. 1, 2 PAG<br />
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→ Ordnungswidrigkeit gem. Art. 11 II S. 3 PAG, §§ 49 III Nr.<br />
4, 41 I StVO, § 24 I StVG<br />
dd) Adressat: (P): Art. 7 PAG. M hat den Wagen durch eigenes<br />
Handeln abgestellt und ihn pflichtwidrig nicht wieder entfernt.<br />
jedenfalls Art. 8 PAG (+)<br />
dd) Verhältnismäßigkeit, Art. 4 PAG<br />
ee) Ermessen, Art. 5 PAG<br />
b) Höhe der Kosten<br />
aa) <strong>Abschleppen</strong> (75,00 EUR), Art. 9 II 1, 2 PAG i. V. m. Art. 10 I<br />
Nr. 5 KG<br />
bb) Gebühr (40,00 EUR), Art. 9 II 1, 2, 76 PAG, § 1 Nr. 1 PolKV<br />
c) Absehung von der Kostenerhebung aus Billigkeitsgründen,<br />
Art. 76 S. 4 PAG ist abzulehnen<br />
Erg.: Die Klage gegen den Kostenbescheid ist zulässig und begründet,<br />
sofern der Anhörungsmangel nicht rechtzeitig geheilt wird; bei<br />
rechtzeitiger Heilung des Anhörungsmangels ist die Klage unbegründet.<br />
II. Begründetheit des Folgenbeseitigungsantrags<br />
Verhältnis Folgenbeseitungsanspruch/Erstattungsanspruch<br />
Voraussetzungen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs<br />
(§§ 812ff BGB analog):<br />
1. Unmittelbare Vermögensverschiebung<br />
2. Fehlen oder Wegfall des rechtlichen Grundes (-), da VA rechtmäßig<br />
3. auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts<br />
Erg.: Der Folgenbeseitigungsantrag ist unbegründet, die Klage abzuweisen.<br />
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