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GriechenlandSpecial2016_de

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Bild: Petros Evangelinos<br />

Mut zu <strong>de</strong>utsch-griechischer<br />

Begegnung<br />

Griechenland-Special 2016


EINLEITUNG<br />

Griechenland-Special 2016<br />

Zwischen <strong>de</strong>n zivilgesellschaftlichen Kräften Griechenlands und Deutschlands gibt es eine Vielzahl<br />

gemeinsamer Interessen und Projekte – dies gilt auch und gera<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n Jugendaustausch.<br />

Im Griechenland-Special 2016 hat IJAB ein Bün<strong>de</strong>l aus praktischen Informationen, Diskussionsbeiträgen<br />

und Best-Practice-Beispielen geschnürt, das Mut machen möchte, eigene <strong>de</strong>utschgriechische<br />

Jugendprojekte zu starten.<br />

Griechenland kommt nicht aus <strong>de</strong>n Schlagzeilen. Es sind die<br />

Bil<strong>de</strong>r verzweifelter Menschen, die sich bis vor Kurzem an <strong>de</strong>n<br />

Grenzzäunen im Nor<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s drängten, es sind die Bil<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r lebensgefährlichen Flucht über die Ägäis, die wir in <strong>de</strong>n Medien<br />

fast täglich zu sehen bekommen. Daneben gibt es an<strong>de</strong>re Bil<strong>de</strong>r,<br />

die uns auch erreichen: die <strong>de</strong>r vielen, unermüdlichen, freiwilligen<br />

Helfer/-innen, die die Geflüchteten mit Kleidung, Lebensmitteln und<br />

medizinischer Hilfe versorgen. Es ist ein beson<strong>de</strong>res humanitäres und<br />

zivilgesellschaftliches Engagement, das hier zum Ausdruck kommt.<br />

Auch aus Deutschland kennt man das: Freiwillige, die an Bahnhöfen<br />

ankommen<strong>de</strong> Geflüchtete mit <strong>de</strong>m Nötigsten versorgten, Menschen,<br />

die ehrenamtlich Deutschkurse geben, Jugendzentren, die<br />

Freizeitangebote für junge Geflüchtete entwickeln. Haben Deutsche<br />

und Griech(inn)en also doch mehr in einem Europa, in <strong>de</strong>m kein Land<br />

Herausfor<strong>de</strong>rungen allein bewältigen kann, miteinan<strong>de</strong>r gemeinsam?<br />

Als IJAB im vergangenen Jahr auf seinen Plattformen ijab.<strong>de</strong> und dija.<br />

<strong>de</strong> ein erstes Griechenland-Special veröffentlichte, klangen in <strong>de</strong>n<br />

Ohren <strong>de</strong>r Autor(inn)en und Interviewpartner/-innen noch die Stimmen<br />

<strong>de</strong>rjenigen wie<strong>de</strong>r, die Griechenland aus <strong>de</strong>m Euroraum werfen<br />

und sich selbst überlassen wollten ebenso wie die <strong>de</strong>rjenigen, die ihre<br />

Wahlkämpfe mit anti-<strong>de</strong>utschen Stereotypen führten. Es ist das Verdienst<br />

<strong>de</strong>r Zivilgesellschaften bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r, einige verzerrte Bil<strong>de</strong>r<br />

gera<strong>de</strong>gerückt zu haben – und es gibt daher gute Grün<strong>de</strong> auch in<br />

diesem Griechenland-Special wie<strong>de</strong>r einen beson<strong>de</strong>ren Blick auf die<br />

Zivilgesellschaften bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r und auf die aus ihnen erwachsen<strong>de</strong>n<br />

gemeinsamen Projekte im Jugendaustausch zu werfen.<br />

Inhalte <strong>de</strong>s Griechenland-Specials 2016<br />

„Wir sind Europa“, so hat Andromachi Papaioannou ihren Artikel über<br />

die Jugend-NGO Generation 2.0 Red überschrieben. Sie schil<strong>de</strong>rt, wie<br />

und warum sie sich gemeinsam mit an<strong>de</strong>ren für Geflüchtete engagiert<br />

und was sie sich vom Jugendaustausch mit Deutschland erhofft.<br />

Diesen Austausch gibt es schon: Trilaterale Jugendbegegnungen zwischen<br />

Griechenland, Frankreich und Deutschland widmen sich <strong>de</strong>m<br />

Thema Flucht und Migration und leisten dabei Pionierarbeit.<br />

Wenn man über Geflüchtete und ihre Zukunft in <strong>de</strong>n jeweiligen Aufnahmelän<strong>de</strong>rn<br />

spricht, dann ist häufig von Integration die Re<strong>de</strong>. In<br />

an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn – und auch in <strong>de</strong>r Terminologie <strong>de</strong>r EU – ist hingegen<br />

von Inklusion die Re<strong>de</strong>. Der Begriff versteht sich in Abgrenzung<br />

zu einseitigen Anpassungsleistungen. Was Inklusion für junge Menschen<br />

mit Behin<strong>de</strong>rungen in Bezug auf die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit<br />

im Bereich <strong>de</strong>r non-formalen Bildung be<strong>de</strong>uten kann,<br />

haben wir anhand von zwei Best-Practice-Projekten untersucht.<br />

Neben <strong>de</strong>n klassischen För<strong>de</strong>rinstrumenten – <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>r- und<br />

Jugendplan <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s und seinem Son<strong>de</strong>rprogramm für <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Austausch sowie <strong>de</strong>m europäischen Programm<br />

Erasmus+ JUGEND in Aktion – gibt es immer mehr Engagement von<br />

Stiftungen für <strong>de</strong>n Austausch und die Begegnung junger Menschen<br />

aus bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn. Wir haben mit Mitarbeitern <strong>de</strong>r Robert Bosch<br />

Stiftung und <strong>de</strong>r Kreuzberger Kin<strong>de</strong>rstiftung gesprochen.<br />

Das Erinnern an die von Deutschen während <strong>de</strong>r Besatzung im<br />

2. Weltkrieg an Zivilisten begangenen Verbrechen und ihre Aufarbeitung<br />

in <strong>de</strong>r Jugendarbeit ist ein Kernthema im <strong>de</strong>utsch-griechischen,<br />

zivilgesellschaftlichen Engagement – so wie Erinnern und Versöhnen<br />

grundlegen<strong>de</strong> Motive für Internationale Jugendarbeit sind. Dieses<br />

Thema ist nicht erst virulent seit es im Zuge <strong>de</strong>r Schul<strong>de</strong>nkrise mit<br />

einer Verzögerung von Jahrzehnten auch ein <strong>de</strong>utsches Publikum erreicht<br />

hat. Brigitte Spuller hat bereits in <strong>de</strong>n 80er-Jahren Jugendaustausche<br />

zwischen Nürnberg und Distomo organisiert. Wir haben mit<br />

ihr über ihre langjährigen Erfahrungen gesprochen. Allen, die sich in<br />

gemeinsamen Jugendprojekten mit <strong>de</strong>m Thema erinnern auseinan<strong>de</strong>rsetzen<br />

möchten, stellen wir die Workshop-Protokolle <strong>de</strong>s Fachtags<br />

Erinnerungsarbeit zur Verfügung, <strong>de</strong>r vom Bun<strong>de</strong>sministerium für Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend, <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück<br />

und IJAB veranstaltet wur<strong>de</strong>. Best-Practice-Beispiele run<strong>de</strong>n diesen<br />

Themenbereich ab.<br />

Beiträge aus Griechenland zum lokalen Engagement griechischer Jugend-NGOs,<br />

zur Rolle politischer Bildung bei <strong>de</strong>r Präventionsarbeit<br />

gegen Radikalisierung sowie grundlegen<strong>de</strong> Informationen zu jugendpolitischen<br />

Strukturen, Akteuren im Jugendaustausch in bei<strong>de</strong>n<br />

Län<strong>de</strong>rn und För<strong>de</strong>rinformationen geben all <strong>de</strong>njenigen vali<strong>de</strong> Informationen<br />

an die Hand, die selber <strong>de</strong>utsch-griechische Jugend- und<br />

Fachkräfteaustausche initiieren möchten. Ein Essay von Anja Hack<br />

gibt darüber hinaus Hinweise zum griechischen Seelenleben – nicht<br />

ohne ein Augenzwinkern, um Tupperware geht es – und gibt damit<br />

Hilfestellung bei <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Verständigung. Darüber<br />

hinaus bietet IJAB auch weiterhin individuelle Beratung an.<br />

Die Zukunft ist noch nicht geschrieben<br />

Ob <strong>de</strong>r Jugend- und Fachkräfteaustausch künftig durch eine gemeinsame<br />

Kooperations- und För<strong>de</strong>rstruktur unterstützt wer<strong>de</strong>n<br />

wird, ist noch offen. Am 19. Mai hat die stellvertreten<strong>de</strong> griechische<br />

Ministerin für Bildung, Forschung und Religiöse Angelegenheiten,<br />

Athanasia Anagnostopoulou, das zuständige Fachreferat ihres Ministeriums<br />

damit beauftragt, feste Ansprechpartner für die <strong>de</strong>utsche<br />

Seite zu benennen, weitere Gespräche vorzubereiten und ein zweites<br />

02


EINLEITUNG<br />

Deutsch-Griechisches Jugendforum – diesmal in Griechenland – in<br />

Angriff zu nehmen. Die griechische Seite möchte in die kommen<strong>de</strong>n<br />

Gespräche eigene Vorstellungen einbringen. Damit wird die bilaterale<br />

Diskussion um das im Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD festgeschriebene<br />

Deutsch-Griechische Jugendwerk nicht mehr asymmetrisch,<br />

einseitig von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Seite her forciert. Wozu künftige<br />

Gespräche auch immer führen mögen: In <strong>de</strong>n letzten Monaten sind so<br />

viele persönliche und institutionelle Kontakte entstan<strong>de</strong>n, dass man<br />

zuversichtlich in die Zukunft blicken kann.<br />

Wir wünschen inspirieren<strong>de</strong> Lektüre!<br />

Die Redaktion dankt allen Autorinnen und Autoren sowie Interviewpartner(inne)n<br />

für ihr Engagement und wünscht allen Leserinnen<br />

und Lesern eine inspirieren<strong>de</strong> Lektüre – inspirierend für mehr und<br />

tieferen Jugendaustausch zwischen Griechenland und Deutschland.<br />

Ihr Redaktionsteam<br />

Natali Petala-Weber, Christiane Reinholz-Asolli,<br />

Katrin Schauer, Christian Herrmann<br />

03


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Inhalt<br />

Einleitung...........................................................................................................................................02<br />

FÖRDERUNG<br />

Kreuzberger Kin<strong>de</strong>rstiftung: Wir unterstützen Projekte,<br />

in <strong>de</strong>nen Jugendliche Verantwortung übernehmen (Felix Lorenzen)................................06<br />

INKLUSION<br />

Erfahrungen mit <strong>de</strong>utsch-griechischen Inklusions-Camps<br />

in Griechenland (Herbert Swoboda)...........................................................................................08<br />

Sport und Beteiligung für Alle – Deutsch-Griechisches Inklusionscamp<br />

(Anja Hack)........................................................................................................................................10<br />

FLUCHT UND MIGRATION<br />

Trilaterale Jugendbegegnungen zwischen Griechenland,<br />

Frankreich und Deutschland widmen sich <strong>de</strong>m Thema Flucht und<br />

Migration (Christopher Langen, Claudius Lehmann).............................................................12<br />

Wir sind Europa (Andromachi Papaioannou)...........................................................................15<br />

KULTURELLE BILDUNG<br />

Neue Perspektiven durch Kulturmanager:<br />

START – Create Cultural Change (Christian Strob).................................................................19<br />

SPORT<br />

JUMP - Grenzen überwin<strong>de</strong>n und Brücken bauen (Melissa Bünger)................................21<br />

ZIVILGESELLSCHAFT UND JUGENDARBEIT<br />

Best Practice-Beispiele griechischer Jugend-NGOs<br />

für lokale Entwicklungspläne (Babis Papaioannou)...............................................................24<br />

POLITISCHE BILDUNG<br />

Politische Bildung und Partizipation: Instrumente zur Absicherung<br />

<strong>de</strong>r Demokratie und zur Vorbeugung <strong>de</strong>r gewaltsamen Radikalisierung<br />

von Jugendlichen (Dora Giannaki)..............................................................................................26<br />

ERINNERUNGSARBEIT<br />

Erinnerungsarbeit in <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnungen –<br />

Herausfor<strong>de</strong>rungen, Chancen und Perspektiven (Rita Loumites).......................................31<br />

Begegnung, Freundschaft und Versöhnung ermöglichen –<br />

Interview (Brigitte Spuller)............................................................................................................33<br />

Studienfahrt <strong>de</strong>s Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.<br />

nach Kreta (Sebastian Fehnl, Anne Schiefer<strong>de</strong>cker, Gunnar Zamzow).............................39<br />

Wenn Versöhnung gelingt –<br />

das Forum Erinnerung & Bildung (Natali Petala-Weber).....................................................41<br />

04


INHALTSVERZEICHNIS<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Bilaterale Begegnungschancen<br />

für Fachkräfte-Qualifikationen in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Erinnerungsarbeit<br />

(Matteo Schürenberg).....................................................................................................................43<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Konfliktpotential und Dynamik in<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnungen (Carolin Wenzel)............................................45<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Chancen multilateraler Jugendbegegnungen<br />

zur Erinnerungsarbeit (Matthias Heyl).......................................................................................47<br />

Fachtag: Erinnerungsarbeit: Ge<strong>de</strong>nkstättenkultur in Deutschland<br />

und Griechenland – Perspektiven für <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen<br />

(Gunnar Zamzow)............................................................................................................................49<br />

ESSAY<br />

Geheimnis im Deckel – o<strong>de</strong>r was Tupperware mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Jugendaustausch zu tun hat (Anja Hack).................................................................................52<br />

05


FAKTEN, FÖRDERUNG, KONTAKTE<br />

Bild: Christian Schwier - Fotolia.com<br />

Kreuzberger Kin<strong>de</strong>rstiftung: Wir unterstützen Projekte,<br />

in <strong>de</strong>nen Jugendliche Verantwortung übernehmen<br />

Die Lebensbedingungen von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen haben sich in Griechenland als Folge <strong>de</strong>r<br />

Krise verschlechtert. Daran setzt die Kreuzberger Kin<strong>de</strong>rstiftung an und för<strong>de</strong>rt Projekte von und<br />

für Kin<strong>de</strong>r in Griechenland. Davon könnten auch <strong>de</strong>utsch-griechische Projekte im Bereich <strong>de</strong>r<br />

beruflichen Bildung profitieren.<br />

Felix Lorenzen<br />

Die Kreuzberger Kin<strong>de</strong>rstiftung för<strong>de</strong>rt seit 2015<br />

Projekte von und für Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche in<br />

Griechenland. Warum?<br />

Felix Lorenzen: Im Sommer 2015 beunruhigte uns, insbeson<strong>de</strong>re unseren<br />

Stifter Peter Ackermann, die immer hoffnungsloser wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Situation von jungen Menschen in Griechenland zunehmend. Eigentlich<br />

haben wir keinen beson<strong>de</strong>ren Griechenland-Bezug, aber wir sind<br />

überzeugte Europäerinnen und Europäer.<br />

Als mittelgroße Stiftung kann man aber natürlich nicht überall han<strong>de</strong>ln<br />

und an je<strong>de</strong>m Missstand auf diesem Kontinent ansetzen. Die<br />

Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent, die zunehmen<strong>de</strong> Bildungsungerechtigkeit,<br />

die Situation <strong>de</strong>r vielen unbegleiteten min<strong>de</strong>rjährigen<br />

Geflüchteten und an<strong>de</strong>re Beobachtungen führten im Fall von<br />

Griechenland dann aber doch zu <strong>de</strong>r Frage: Können wir etwas tun? Als<br />

Stiftung, die seit Jahren jugendliches Engagement und <strong>de</strong>n Einsatz<br />

für Bildungsgerechtigkeit unterstützt, haben wir dann entschie<strong>de</strong>n:<br />

Wir können und wollen dies auch in Griechenland tun. Damit soll ein<br />

Beitrag dazu geleistet wer<strong>de</strong>n, die Auswirkungen <strong>de</strong>r wirtschaftlichen<br />

und sozialen Krisen auf die junge Bevölkerung abzumil<strong>de</strong>rn.<br />

Was ist ausschlaggebend für die Auswahl eines Projekts?<br />

Felix Lorenzen: Uns ist es wichtig, dass Jugendliche nicht nur als Zielgruppe<br />

eines Projektes angesehen wer<strong>de</strong>n. Wir unterstützen beson<strong>de</strong>rs<br />

gerne Projekte, in <strong>de</strong>nen Jugendliche Verantwortung übernehmen.<br />

Außer<strong>de</strong>m ist uns wichtig, dass die Situation von Jugendlichen<br />

relativ direkt vor Ort positiv beeinflusst wird. För<strong>de</strong>rfähig sind daher<br />

Projekte aus <strong>de</strong>n Bereichen Bildung, Ausbildung, Jugendpartizipation<br />

und interkultureller Dialog. Für die Finanzierung von Konferenzen und<br />

Studien sind wir daher nicht die Richtigen.<br />

Wer<strong>de</strong>n auch <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen<br />

und Jugendaustausche geför<strong>de</strong>rt?<br />

Felix Lorenzen: Wir wollen in erster Linie eine Verbesserung <strong>de</strong>r Lebenssituation<br />

von jungen Menschen vor Ort erreichen. Wenn junge<br />

Menschen in Griechenland z.B. in Bezug auf ihre Berufsausbildung<br />

von Jugendbegegnungen profitieren, prüfen wir eine För<strong>de</strong>rung. Aber<br />

unser Schwerpunkt liegt nicht auf darauf – obwohl interkulturelle Lernerfahrungen<br />

in an<strong>de</strong>ren Programmen unserer Stiftung zentral sind.<br />

Eine Ausnahme sind die Reisestipendien, die wir vergeben: Mit unserer<br />

Unterstützung reisen in <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Monaten acht Jugend-<br />

06


FAKTEN, FÖRDERUNG, KONTAKTE<br />

liche aus Deutschland für selbstorganisierte Recherchen nach Griechenland.<br />

Die Jugendlichen sehen wir aber nicht nur als Geför<strong>de</strong>rte<br />

an, son<strong>de</strong>rn auch als Träger/-innen unseres För<strong>de</strong>rprogramms: Denn<br />

sie wer<strong>de</strong>n uns berichten, was ihre Gleichaltrigen in Griechenland gegen<br />

die Krisen tun. Und sie wer<strong>de</strong>n uns hoffentlich auf überzeugen<strong>de</strong><br />

Projekte hinweisen, die wir dann eventuell einla<strong>de</strong>n, sich bei uns zu<br />

bewerben.<br />

Sie haben selbst eine Studienreise nach Griechenland<br />

durchgeführt. Was haben Sie mitgenommen aus <strong>de</strong>r<br />

Landschaft <strong>de</strong>r Jugendlichen und <strong>de</strong>r Jugendorganisationen?<br />

Felix Lorenzen: Ich habe Organisationen kennengelernt, die am Ran<strong>de</strong><br />

ihrer Leistungsfähigkeit arbeiten. Insbeson<strong>de</strong>re diejenigen, die mit<br />

jungen Geflüchteten arbeiten, waren und sind natürlich doppelt herausgefor<strong>de</strong>rt.<br />

Eine wirkliche Studienreise war mein Kurzbesuch in<br />

Athen allerdings nicht – im Gegensatz zu <strong>de</strong>n anstehen<strong>de</strong>n Reisen<br />

unserer Stipendiat(inn)en.<br />

Was steht nun an?<br />

Felix Lorenzen: Die sieben von uns ausgewählten Projekte haben mit<br />

ihrer Arbeit begonnen. Nun geht es für uns darum, diese Projekte zu<br />

beobachten und in einem partnerschaftlichen Dialog mit <strong>de</strong>n Trägern<br />

zu diskutieren, was erfolgreich läuft – und was nicht. Anschließend<br />

wer<strong>de</strong>n wir diskutieren, wie unsere För<strong>de</strong>rung fortgesetzt wird. Dabei<br />

wer<strong>de</strong>n auch die Berichte unserer Reisestipendiat(inn)en zentral sein.<br />

Gemeinsam mit <strong>de</strong>r Schwarzkopf-Stiftung wer<strong>de</strong>n wir übrigens im<br />

Herbst neue Reisestipendien ausschreiben.<br />

Außer<strong>de</strong>m suchen wir in einen Dialog mit an<strong>de</strong>ren Akteur/-innen, die<br />

sich ebenfalls für Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche in Griechenland engagieren<br />

wollen o<strong>de</strong>r dies bereits tun.<br />

Welche Ergebnisse in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Zusammenarbeit<br />

wür<strong>de</strong>n Sie gerne am En<strong>de</strong> festhalten können?<br />

Felix Lorenzen: Wir wollen konkrete Verbesserungen vor Ort erreichen.<br />

Daher ist es uns in erster Linie wichtig, dass wir am En<strong>de</strong> unseres För<strong>de</strong>rprogramms<br />

auf viele wirkungsvolle Projekte zurückblicken können.<br />

Ein paar Beispiele aus unseren Projekten: Wir wollen ermöglichen,<br />

dass Jugendliche aus Lesbos sich dort für min<strong>de</strong>rjährige Flüchtlinge<br />

engagieren, sie kennenlernen und ihnen durch selbstorganisierte Freizeitangebote<br />

das Kindsein erlauben. Wir wollen, dass junge Menschen<br />

in Regionen, in <strong>de</strong>nen es keine Strukturen für Jugendliche – und noch<br />

weniger Perspektiven – gibt, sich in Jugendräten engagieren können.<br />

Wir wollen junge Menschen in Griechenland dabei unterstützen, sich<br />

für Europa zu engagieren. Wir wollen, dass Kin<strong>de</strong>r von Migrant(inn)<br />

en dank <strong>de</strong>r Hilfe von jungen Freiwilligen eine Chance in <strong>de</strong>r Schule<br />

erhalten.<br />

Unser Beitrag besteht dabei vor allem durch die in <strong>de</strong>r Bereitstellung<br />

von Finanzen. Ohne das Engagement von jungen Menschen in Griechenland<br />

gäbe es die Projekte nicht.<br />

www.kreuzberger-kin<strong>de</strong>rstiftung.<strong>de</strong><br />

Felix Lorenzen, Bild: privat<br />

Felix Lorenzen koordiniert bei <strong>de</strong>r Kreuzberger<br />

Kin<strong>de</strong>rstiftung gAG die För<strong>de</strong>rung von Projekten für<br />

Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche in Griechenland. Auch in<br />

an<strong>de</strong>ren Programmbereichen setzt sich die Stiftung für<br />

Bildungsgerechtigkeit und jugendliches Engagement ein.<br />

07


INKLUSION<br />

Die Wil<strong>de</strong> Rose bei <strong>de</strong>r Para<strong>de</strong> zum 21. Mai<br />

Bild: Herbert Swoboda<br />

Erfahrungen mit <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Inklusions-Camps in Griechenland<br />

Die „Wil<strong>de</strong> Rose“, das interkulturelle Jugendnetzwerk <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s Deutscher Pfadfin<strong>de</strong>r_innen<br />

(BDP) organisiert auf <strong>de</strong>r griechischen Insel Korfu inklusive Jugendcamps. Herbert Swoboda<br />

hat die Camps maßgeblich mitaufgebaut und berichtet von <strong>de</strong>n Erfolgen.<br />

Prof. em. Herbert Swoboda<br />

Eigentlich war K. wegen ihrer griechischen Kochkunst in einem<br />

Freizeitcamp <strong>de</strong>r Wil<strong>de</strong>n Rose engagiert wor<strong>de</strong>n. In einem Gespräch<br />

stellte sich heraus, dass ihr ältester Sohn schwer körperbehin<strong>de</strong>rt<br />

ist. Wir überlegten, ob wir nicht eine Freizeit unter Einbeziehung<br />

mehrerer behin<strong>de</strong>rter Jugendlicher organisieren sollten, <strong>de</strong>nn<br />

<strong>de</strong>r Bedarf sei groß.<br />

Da es zu <strong>de</strong>n Zielen <strong>de</strong>r Wil<strong>de</strong>n Rose gehört, innovative I<strong>de</strong>en realisieren<br />

zu helfen, planten wir ein erstes Herbstcamp in <strong>de</strong>n bayerischen<br />

Sommerferien in Geretsried. Die För<strong>de</strong>rmöglichkeiten von<br />

„Kultur macht stark - Jugendgruppe erleben“ kamen uns dabei sehr<br />

gelegen. Unter <strong>de</strong>r Elternschaft von Kin<strong>de</strong>rn mit beson<strong>de</strong>ren Fähigkeiten<br />

sprach sich unser einwöchiges Camp schnell herum und in <strong>de</strong>r<br />

griechischen Community in München ebenso. Also planten wir unser<br />

nächstes größeres Camp auf Korfu, eine Insel zu <strong>de</strong>r es bei <strong>de</strong>n<br />

Griechinnen und Griechen aus München viele Verbindungen gab. Also<br />

ging es in <strong>de</strong>n bayerischen Pfingstferien mit einem großen Bus über<br />

Triest, dann quer durch die Adria nach Igoumenitsa und von dort wie<strong>de</strong>r<br />

mit einer Fähre nach Korfu in ein Hotel in Ropa Valley.<br />

Kontakte zur Öffentlichkeit<br />

Von Anfang an hatten wir Wert auf Öffentlichkeitsarbeit gelegt.<br />

Schließlich geht es nicht nur darum, individuell Teilnahmemöglichkeiten<br />

für alle zu erschließen, son<strong>de</strong>rn auch um eine Sensibilisierung<br />

<strong>de</strong>r Öffentlichkeit für die Belange Behin<strong>de</strong>rter. Zwar gibt es in Griechenland<br />

offiziell schon viele konkrete Hilfestellungen bezüglich Barrierefreiheit,<br />

aber wenn dann die Holzrampen, die zum Strand führen,<br />

von wem auch immer, quer verlegt wer<strong>de</strong>n, um vom Parkplatz aus<br />

bequemer ein Strandcafé zu erreichen, so zeigt das eine gewisse Ignoranz<br />

(die in Deutschland genauso vorfindbar ist). Bei je<strong>de</strong>m unserer<br />

Camps hatten wir die Presse eingela<strong>de</strong>n, die auch berichtete. Je<strong>de</strong>s<br />

Mal konnten wir unser Projekt auch im regionalen Fernsehen vorstellen.<br />

Während <strong>de</strong>r Bayerischen Pfingstferien 2013 durften wir an <strong>de</strong>r Para<strong>de</strong><br />

zum 21. Mai teilnehmen, <strong>de</strong>m traditionellen Feiertag, an <strong>de</strong>m sich<br />

Korfu <strong>de</strong>n Ionischen Inseln angeschlossen hatte und damit griechisch<br />

wur<strong>de</strong>. Nach <strong>de</strong>r Vorlage von L., unserem begna<strong>de</strong>ten T-Shirt-Künstler,<br />

waren weiße T-Shirts mit <strong>de</strong>m Emblem <strong>de</strong>r „Wil<strong>de</strong>n Rose“ bemalt<br />

wor<strong>de</strong>n und wir hatten ein großes Transparent mit <strong>de</strong>r Aufschrift<br />

„Wil<strong>de</strong> Rose e.V. Interkulturelles Jugendnetzwerk im BDP“. Bei dieser<br />

Para<strong>de</strong> ist ganz Korfu auf <strong>de</strong>n Beinen und marschiert in Blöcken:<br />

die Schulen, die Vereine etc. Wir sollten im Pfadfin<strong>de</strong>rblock mitmarschieren.<br />

Diese Zuordnung zu <strong>de</strong>n extrem konservativen bis rechten<br />

Pfadfin<strong>de</strong>rn wollten wir nicht (Während <strong>de</strong>r JUNTA-Zeit waren die<br />

Pfadfin<strong>de</strong>r als eine <strong>de</strong>r wenigen Jugendorganisationen nicht verboten).<br />

Unseren Platz fan<strong>de</strong>n wir schließlich bei einer an<strong>de</strong>ren inklusiven<br />

Gruppe aus Korfu. Trotz <strong>de</strong>s gespannten Verhältnisses zwischen<br />

08


INKLUSION<br />

Griechenland und Deutschland, wur<strong>de</strong> unsere Gruppe mit großem<br />

Beifall begrüßt, weil uns viele schon aus Zeitung und <strong>de</strong>m TV kannten.<br />

Als wir Ostern 2014 eine weitere Inklusionsfahrt nach Korfu planten,<br />

waren die 52 Plätze schnell vergeben. Allerdings han<strong>de</strong>lte es<br />

sich nicht ausschließlich um ein Jugendcamp, son<strong>de</strong>rn es gab auch<br />

eine Elterngruppe, die mitreiste, sowie eine JULEICA-Schulung. Vor<br />

Ort gab es ein diversifiziertes Programm, aber <strong>de</strong>r Synergieeffekt <strong>de</strong>r<br />

gemeinsamen Reise (diesmal mit <strong>de</strong>r Fähre von Ancona aus nach<br />

Griechenland) und <strong>de</strong>r gemeinsamen Unterbringung färbte auch auf<br />

das Zusammenleben ab. Es war zunehmend von gegenseitiger Rücksichtnahme<br />

und <strong>de</strong>m Eingehen auf die beson<strong>de</strong>ren Bedürfnisse unserer<br />

Leute mit Behin<strong>de</strong>rung geprägt, die an allen Events teilnahmen.<br />

So besuchten wir auch die traditionelle Para<strong>de</strong> beim griechischen<br />

Osterfest, das in diesem Jahr mit <strong>de</strong>m katholischen zusammenfiel.<br />

Nach korfiotischer Sitte wer<strong>de</strong>n dabei rote Amphoren aus <strong>de</strong>n oberen<br />

Stockwerken auf das Straßenpflaster gestürzt. Unsere Kids hatten<br />

auch eine Riesenamphore mit „Wil<strong>de</strong> Rose Korfu 2014“ bemalt und<br />

wir durften sie vom Dach eines Hotels auf die Straße werfen. Neben<br />

uns stan<strong>de</strong>n die Vertreter <strong>de</strong>s griechischen Paralympicsteams. Natürlich<br />

wur<strong>de</strong> unsere Amphora im regionalen TV gezeigt.<br />

Kontakte zu korfiotischen Vereinen und Politikern<br />

Ebenfalls wichtig waren uns von Anfang an die Kontakte zu Organisationen,<br />

die auch mit Behin<strong>de</strong>rten arbeiten sowie zu <strong>de</strong>n politisch<br />

Verantwortlichen. Der Verein MELISSA betreibt mit Behin<strong>de</strong>rten eine<br />

eigene Bäckerei und produziert Kekse. Darüber hinaus fährt er Kin<strong>de</strong>r<br />

mit Behin<strong>de</strong>rung in die Schule und holt sie mit Spezialbussen wie<strong>de</strong>r<br />

ab. Bei unserem ersten Camp auf Korfu 2013 unterstützten uns die<br />

Busfahrer mit ihren speziellen Bussen, wenn die Schulfahrten zu En<strong>de</strong><br />

waren. Außer<strong>de</strong>m gab es gemeinsame Pflanz-und Strandsäuberungsaktionen.<br />

KOISPE, unser zweiter wichtiger Partner auf Korfu arbeitet eng mit<br />

<strong>de</strong>r Universität zusammen und beschäftigt über 40 psychisch Behin<strong>de</strong>rte<br />

in seinen zwei Cafés und in Gärtnerei- und Cateringprojekten.<br />

Mittlerweile ist <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechische Kulturverein auf Korfu auch<br />

unser Partner gewor<strong>de</strong>n. Als wir uns beim stellvertreten<strong>de</strong>n Verantwortlichen<br />

<strong>de</strong>r Präfektur, Michalas Alexandros, vorstellten, lud er uns<br />

spontan zu einer Fachtagung <strong>de</strong>r ionischen Inseln über „Armut und<br />

Ausgrenzung“ ein. Dort hatten wir Gelegenheit, unsere Arbeit vor allen<br />

Sozialvereinen vorzustellen.<br />

Zum stellvertreten<strong>de</strong>n Bürgermeister, Andreas Skoupouras, für Soziales<br />

zuständig, halten wir eine enge Verbindung. Er hat uns unter an<strong>de</strong>rem<br />

geholfen, eine behin<strong>de</strong>rtengerechte Rampe an „unserem“ Strand verlegen<br />

zu lassen und besucht uns <strong>de</strong>mnächst in Deutschland.<br />

Eine I<strong>de</strong>e wird Realität<br />

Nach unseren bei<strong>de</strong>n je 14-tägigen Camps in einem Hotel in Ropa<br />

Valley, unseren guten Kontakten zu unseren Partnervereinen sowie<br />

<strong>de</strong>r positiven Aufnahme in <strong>de</strong>r korfiotischen Öffentlichkeit, beschlossen<br />

wir ein eigenes Zentrum mit Hotel und Taverne in Korfu zu suchen<br />

und behin<strong>de</strong>rten-gerecht einzurichten. Christos Amvrossiadis von <strong>de</strong>r<br />

Wil<strong>de</strong>n Rose begutachtete 46 Objekte und wir entschie<strong>de</strong>n uns dann<br />

für die langjährige Pacht eines Hauses in Dasia mit 90 Betten in drei<br />

Häusern, nur 8 Fußminuten vom Strand entfernt.<br />

Anfang Juni 2015 konnten wir nach vielen Instandsetzungsarbeiten<br />

<strong>de</strong>m Bau einer großen Rampe sowie Einrichtung einer barrierefreien<br />

Nasszelle und an<strong>de</strong>ren behin<strong>de</strong>rtengerechten Umbauten das „Wil<strong>de</strong><br />

Rose“ Hotel zur Benutzung für inklusive Feriencamps freigeben.<br />

Selbstverständlich steht es neben unseren eigenen Ferienfreizeiten,<br />

Seminaren zur Politischen Bildung und <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustauschmaßnahmen<br />

auch an<strong>de</strong>ren zur Verfügung.<br />

Neben vielen selbst organisierten Aktionen war das Konzert mit <strong>de</strong>r<br />

griechischen Kultband „Locomondo“ ein beson<strong>de</strong>rer Höhepunkt. Die<br />

Bandmitglie<strong>de</strong>r übernachteten im Hotel und es gab viele Gespräche<br />

und spontane Jamsessions. Langfristig soll das Jugendhotel<br />

nebst Taverne zu einem internationalen Zentrum für Inklusion und<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch ausgebaut wer<strong>de</strong>n.<br />

Schon jetzt können wir für Schulklassen aus Deutschland, Italien und<br />

Slowenien Module zur Geschichte Korfus, zur <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg sowie zur Geflüchtetenpolitik<br />

anbieten. Beliebt sind auch Wan<strong>de</strong>rungen auf <strong>de</strong>m Korfutrail sowie<br />

Tagesausflüge ins nahe Albanien.<br />

Perspektivisch wollen wir ein Jugendbegegnungszentrum für die Adriaanrainer<br />

sein.<br />

Bis dahin ist es noch weit, aber als unverdrossene Pfadfin<strong>de</strong>r/-innen<br />

haben wir uns schon mal auf <strong>de</strong>n Weg gemacht.<br />

Prof. em. Herbert Swoboda hat jahrelang Sozialarbeiter/-innen an <strong>de</strong>r Fachhochschule<br />

Frankfurt/M. ausgebil<strong>de</strong>t. Heute engagiert er sich im Vorstand <strong>de</strong>r WILDEN ROSE, <strong>de</strong>m<br />

interkulturellen Jugendnetzwerk <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s Deutscher Pfadfin<strong>de</strong>r_innen (BDP), beson<strong>de</strong>rs<br />

im <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch. Aktueller Schwerpunkt ist <strong>de</strong>r Aufbau<br />

eines internationalen Jugendbegegnungszentrums mit <strong>de</strong>m Schwerpunkt Inklusionsarbeit<br />

und Politische Bildung in Dasia auf Korfu.<br />

09


INKLUSION<br />

Bild: Natassa Vafeiadou<br />

Sport und Beteiligung für Alle –<br />

Deutsch-Griechisches Inklusionscamp<br />

Der inklusive <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustausch entwickelt sich fort. En<strong>de</strong> Mai/Anfang Juni<br />

2016 kamen <strong>de</strong>utsche und griechische Jugendliche erstmalig auf <strong>de</strong>r Insel Thasos zusammen, um<br />

die Themen Inklusionspädagogik und autonome Lebensgestaltung gemeinsam zu bearbeiten.<br />

Anja Hack<br />

Für die meisten Menschen sind sportliche Betätigungen selbstverständlich<br />

– für je<strong>de</strong> Vorliebe gibt es die passen<strong>de</strong> Sportart.<br />

Doch wie sieht das bei Menschen mit körperlichen Behin<strong>de</strong>rungen<br />

aus? Auch sie müssen nicht auf Sport verzichten. Wie man richtig<br />

auf die Bedürfnisse von gehandicapten Menschen eingeht, hat das<br />

Deutsch-Griechische Inklusionscamp vermittelt. Vom 27. Mai bis zum<br />

03. Juni 2016 fand zum ersten Mal ein Inklusionscamp mit sport- und<br />

inklusionspädagogischem Schwerpunkt unter <strong>de</strong>utscher Beteiligung<br />

in Griechenland statt. Deutsche Physiotherapie-Schüler/-innen mit<br />

Begleitern trafen sich mit Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s griechischen Vereins PER-<br />

PATO. Sechs Tage lang waren die Teilnehmer/-innen zusammen auf<br />

Thasos und in Komotini unterwegs. Und sie lernten voneinan<strong>de</strong>r vor<br />

allem eines: Barrieren in unseren Köpfen frei zu machen.<br />

Konkrete Ziele verfolgen, Vorhaben umsetzen, im eigenen Land etwas<br />

bewegen: Diese Motivation führt jährlich griechische Jugendliche mit<br />

und ohne Behin<strong>de</strong>rung auf <strong>de</strong>m Inklusionscamp auf <strong>de</strong>r Insel Thasos<br />

zusammen, 2016 zum vierten Mal. Soziale Toleranz, das Recht von Jugendlichen<br />

mit Behin<strong>de</strong>rung auf Teilnahme an Freizeitbeschäftigungen,<br />

sporttherapeutische Anregungen für interessierte Stu<strong>de</strong>ntinnen<br />

und Stu<strong>de</strong>nten sowie Schüler/-innen <strong>de</strong>r Fachrichtung Sozialarbeit,<br />

Sport, Physiotherapie und Medizin und eine allgemeine Inklusion in<br />

die Gesellschaft sind Eckpunkte <strong>de</strong>s Seminars.<br />

Es war die erste Begegnung <strong>de</strong>utscher und griechischer Jugendlicher<br />

zum Thema Inklusionspädagogik und autonome Lebensgestaltung.<br />

23 Schüler/-innen <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Physiotherapie, St. Elisabeth<br />

Gruppe, Katholische Kliniken Rhein-Ruhr waren zu Gast im Inklusionscamp<br />

und betrieben einen aktiven und praktischen Austausch.<br />

„Das Camp richtete sich an junge Menschen, die in <strong>de</strong>r Ausbildung<br />

o<strong>de</strong>r im Studium mit körperlich eingeschränkten Menschen zu tun<br />

haben“, so Beate Stock-Wagner, Leiterin <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Physiotherapie.<br />

Eine ganze Klasse <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Physiotherapie nahm<br />

an <strong>de</strong>m Austausch teil und arbeitete vor Ort mit Menschen mit Handicap.<br />

Für sie bot sich durch die Teilnahme eine i<strong>de</strong>ale Plattform, Gemeinsamkeiten<br />

zu erkennen und Horizonte zu erweitern.<br />

Neben Vorträgen von einschlägigen Experten (u.a. Rückenmarksverletzungen<br />

und Neurourologie, Dekubitus und Autonome Dysreflexie, Verwendung<br />

von Rollstühlen: Struktur, Betrieb und Pflege, Amputation und<br />

Stand <strong>de</strong>r Entwicklung Prothesentechnik, Spiele & Sport: Einrichtungen<br />

für Kin<strong>de</strong>r mit Behin<strong>de</strong>rungen) wur<strong>de</strong> im Rahmen von Praxisworkshops<br />

<strong>de</strong>r Gebrauch von Mobilitätsausrüstung und Rollstühlen im Alltag vermittelt.<br />

Des Weiteren nahmen die Jugendlichen an diversen Sport- und<br />

Physioangeboten teil. Rollstuhltanz, Kunsttherapie, Einsatz von Diensthun<strong>de</strong>n,<br />

Therapeutisches Reiten, Tauchen für körperlich eingeschränkte<br />

Mitmenschen und Begleiter, Hydrotherapie, Boccia, Rollbasket und an<strong>de</strong>re<br />

inklusive Freizeitbeschäftigungen run<strong>de</strong>ten das Programm ab.<br />

010


INKLUSION<br />

Viele kommunikative Ansätze zu autonomem und selbstbestimmtem<br />

Leben wur<strong>de</strong>n in informellen Gesprächen während <strong>de</strong>r Pausen und am<br />

Abend mit Referentinnen und Referenten und Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmern fortgesetzt. Rehabilitation, pädagogische und medizinische<br />

Betreuung, Coaching und Wie<strong>de</strong>reinglie<strong>de</strong>rung, Sexualität, all<br />

diese Punkte konnten offen und ohne Barrieren mit <strong>de</strong>n behin<strong>de</strong>rten<br />

Referenten und Teilnehmern diskutiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Sich von Barrieren frei machen<br />

In Komotini lernten die <strong>de</strong>utschen Jugendlichen die Stadt und ihre<br />

Kultur kennen und organisierten mit <strong>de</strong>n griechischen Teilnehmen<strong>de</strong>n<br />

einen physio- und hydrotherapeutischen Workshop. Der fachliche Inhalt<br />

wur<strong>de</strong> durch ein kulturelles und erlebnispädagogisches Rahmenprogramm<br />

ergänzt. Das inklusive Outdoorprogramm mit Kanufahren,<br />

Flying Fox und barrierefreies Ba<strong>de</strong>n beseitigte auch die letzte Zurückhaltung.<br />

Junge Menschen mit und ohne Behin<strong>de</strong>rung erfuhren nicht<br />

nur gemeinsam neue Wege und Perspektiven <strong>de</strong>r Inklusionsentwicklung,<br />

son<strong>de</strong>rn erlebten zusammen ganz neue und praktische Lösungen.<br />

„Die Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n und Stu<strong>de</strong>nten haben während <strong>de</strong>s Camps<br />

gelernt, Menschen mit Behin<strong>de</strong>rungen zu mehr Selbstständigkeit zu<br />

verhelfen und so ihre Lebensqualität zu verbessern“, fasst Sokratis<br />

Tsitselis, Physiotherapeut im Zentrum für Prävention, Therapie, Rehabilitation<br />

und sportmedizinische Diagnostik <strong>de</strong>r St. Elisabeth Gruppe<br />

und Begleiter <strong>de</strong>s Camps, das Programm zusammen.<br />

Träger <strong>de</strong>r inklusiven Jugendbegegnung waren auf griechischer Seite<br />

die Vereine PERPATO, <strong>de</strong>r Inklusionsverein IRODIKOS und das behin<strong>de</strong>rtentherapeutische<br />

Ausbildungszentrum Autonomes Leben KEADA.<br />

Die <strong>de</strong>utsch-griechische Kooperation ist durch <strong>de</strong>n PERPATO-Initiator<br />

Alexan<strong>de</strong>r Taxildaris entstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Kontakte in das Zentrum für Orthopädie<br />

und Unfallchirurgie <strong>de</strong>r St. Elisabeth Gruppe pflegt. Taxildaris<br />

ist selbst querschnittsgelähmt, nahm regelmäßig an <strong>de</strong>n paralympischen<br />

Spielen teil und konnte sich paralympische Medaillen sichern.<br />

Das Inklusionscamp stand unter <strong>de</strong>r Schirmherrschaft <strong>de</strong>r Hellenischen<br />

Paraolympischen Kommission, <strong>de</strong>s griechischen Behin<strong>de</strong>rtensportverban<strong>de</strong>s<br />

und <strong>de</strong>r Sporthochschulen Komotini und Serres. Der<br />

seit 2002 bestehen<strong>de</strong> Verein PERPATO und die angeglie<strong>de</strong>rten Vereine<br />

KEADA und IRODIKOS arbeiten mit vielen staatlichen Stellen und<br />

Vereinen lan<strong>de</strong>sweit sehr gut zusammen. Ihnen ist es gelungen, die<br />

Stadt Komotini zu einem Good Practice Beispiel hinsichtlich sozialer<br />

Inklusion und räumlicher Barrierefreiheit zu etablieren. Der Besuch in<br />

Komotini gab <strong>de</strong>n Fachkräften einen guten Überblick über die Infrastruktur<br />

<strong>de</strong>r griechischen Vereine und die barrierefreien Örtlichkeiten<br />

gleichgestellten Gesellschaft für junge Menschen mit Behin<strong>de</strong>rung<br />

und jungen Familien in bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn weiterzuentwickeln. Inhaltlich<br />

haben sich die Fachkräfte zu grundsätzlichen Fragestellungen <strong>de</strong>r<br />

Jugendprojektarbeit auseinan<strong>de</strong>rgesetzt mit <strong>de</strong>r zentralen Aufgabe,<br />

wie man die Partizipation von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen unter <strong>de</strong>n<br />

Aspekten <strong>de</strong>r Inklusion und Migration för<strong>de</strong>rn kann.<br />

Der <strong>de</strong>utsch-griechische Austausch wur<strong>de</strong> vom Bun<strong>de</strong>sministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über das Son<strong>de</strong>rprogramm<br />

für För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustauschs im Kin<strong>de</strong>r-<br />

und Jugendplan <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s geför<strong>de</strong>rt. Damit die För<strong>de</strong>rgel<strong>de</strong>r<br />

entgegengenommen wer<strong>de</strong>n konnten, hat sich <strong>de</strong>r Verein PEV - Progressiver<br />

Eltern- und Erzieherverband e.V. Gelsenkirchen – über Klaus<br />

Amoneit bereit erklärt, als gemeinnütziger Verein diesen Austausch<br />

mit <strong>de</strong>r Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Physiotherapie verwirklichen zu können. Weil<br />

das Camp so gut angekommen ist, soll sich nun ein regelmäßiger<br />

Austausch zwischen <strong>de</strong>n Kooperationspartnern entwickeln. Auch<br />

die Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Ergotherapie <strong>de</strong>r St. Elisabeth Gruppe wird dann<br />

Teil <strong>de</strong>s Austausches sein. Geplant ist, dass Physio- und Ergotherapieschüler<br />

/innen sowie Sportstu<strong>de</strong>ntinnen und -stu<strong>de</strong>nten aus Griechenland<br />

nach Deutschland kommen, um auch hier an Workshops<br />

und inklusiven Begegnungen teilzunehmen.<br />

Programmverantwortliche:<br />

Dieter Heinrich, PEV e.V / Mixalis Ragousis und Anja Hack, PERPATO<br />

Weiterführen<strong>de</strong> Links:<br />

PERPATO - Verein für körperlich eigenschränkte Mitmenschen<br />

und Freun<strong>de</strong><br />

PEV - Progressiver Eltern- und Erzieherverband e.V. Gelsenkirchen<br />

Aka<strong>de</strong>mie <strong>de</strong>r Physiotherapie, St. Elisabeth Gruppe<br />

Fotos: (Natassa Bafeiadou und Dj-Lagos Gamos Vaftisi), Impressionen<br />

zum Inklusionscamp und Informationen über die Referenten:<br />

www.facebook.com/2oCamp/?pnref=story<br />

Vi<strong>de</strong>o: Nestos river Kano Riverwalk 2016, Vistonis Outdoor<br />

Activities:<br />

www.facebook.com/140129099384013/<br />

vi<strong>de</strong>os/1151926988204214/<br />

Parallel zum Jugendaustausch fand ein Arbeitstreffen von Fachkräften<br />

statt, die sich mit <strong>de</strong>m Thema Inklusionspädagogik und Inklusionskultur<br />

für zukünftige <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen<br />

im Bereich Sport und Kultur austauschten. Hierbei wur<strong>de</strong> sowohl<br />

methodisches Vorgehen als auch soziologisches Hintergrundwissen<br />

vorgestellt. Das Ziel <strong>de</strong>r Maßnahme war ein nachhaltiger Wissensund<br />

Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland und Griechenland,<br />

um psychosoziale Rehabilitation und eigenständiges Leben in einer<br />

Anja Hack, Bild: privat<br />

Als freiberufliche Wirtschaftsjuristin organisiert Anja Hack<br />

Know-how-Transfer und nachhaltigen Austausch zwischen<br />

Griechenland und Deutschland auf vielfältiger Ebene.<br />

Nebenberuflich und ehrenamtlich vermittelt sie durch erlebnispädagogische<br />

Outdoor-Aktivitäten einzigartige Erlebnisse<br />

an <strong>de</strong>utsche und griechische Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche.<br />

11


FLUCHT UND MIGRATION<br />

Bild: Tim Lü<strong>de</strong>mann<br />

Trilaterale Jugendbegegnungen zwischen Griechenland,<br />

Frankreich und Deutschland widmen sich <strong>de</strong>m Thema<br />

Flucht und Migration<br />

Das Lan<strong>de</strong>sjugendwerk <strong>de</strong>r AWO Berlin wird gemeinsam mit <strong>de</strong>n Partnerorganisationen in<br />

Griechenland (United Societies of the Balkans) und in Frankreich (La Ligue <strong>de</strong> l´enseignement)<br />

internationale Jugendbegegnung mit jungen Geflüchteten und Teilnehmen<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n drei<br />

Län<strong>de</strong>rn veranstalten. Ziel ist es <strong>de</strong>n jungen Menschen zu zeigen, „dass sie weit mehr haben, was<br />

sie verbin<strong>de</strong>t als was sie von einan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t.“ Christopher Langen und Claudius Lehmann<br />

berichten von <strong>de</strong>n Impulsen zur Entstehung <strong>de</strong>r Projekti<strong>de</strong>e, davon, wie die tragischen Ereignisse an<br />

<strong>de</strong>r griechisch-mazedonischen Grenzen das Vorbereitungstreffen überschattet haben und wie das<br />

Projekt von <strong>de</strong>n jungen Geflüchteten aufgenommen wur<strong>de</strong>.<br />

Interview mit Christopher Langen und Claudius Lehmann von Katrin Schauer<br />

Wie entstand die I<strong>de</strong>e für das Projekt?<br />

Griechenland ist seit 2008 gleichzeitig von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Krisen betroffen. Und obwohl es sich hierbei um system-immanente<br />

Krisen han<strong>de</strong>lte, die ihren Ursprung nicht auf nationaler<br />

Ebene haben können, wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r öffentlich-medialen Diskussion<br />

Griechenland häufig alleinig verantwortlich gemacht. Es wur<strong>de</strong> versucht<br />

Krisensymptome mittels absur<strong>de</strong>r Klischees und Stereotype zu<br />

erklären, statt diese als Folgen von jahrzehntelang bekannten Umverteilungsprozessen<br />

von unten nach oben zu entlarven. Als Kur wur<strong>de</strong><br />

eine weitere Verschärfung <strong>de</strong>s Sozialabbaus verordnet, welche unter<br />

Fe<strong>de</strong>rführung <strong>de</strong>r Troika das Land faktisch ausbluten lassen hat<br />

und nahezu alle Infrastrukturbereiche und Sozialdienstleistungen<br />

betroffen hat. Für die zu diesem Zeitpunkt bereits in Griechenland<br />

leben<strong>de</strong>n Menschen aus sozial schwächeren Schichten war das Leben<br />

bereits massiv erschwert. Ein Kollaps <strong>de</strong>r restlichen Infrastruktur auf<br />

Grund <strong>de</strong>r rasant steigen<strong>de</strong>n Zahlen von Geflüchteten mit <strong>de</strong>m Ziel<br />

Balkanroute war somit vorprogrammiert. Jedoch wur<strong>de</strong> auch diese<br />

Entwicklung auf die ‚griechische Inkompetenz‘ statt auf die ungleiche<br />

Lastenverteilung <strong>de</strong>s Dublin-II-Abkommens geschoben. Als die Menschen<br />

in Griechenland sich dann mit legitimen Mitteln gegen diese<br />

Entwicklung zu Wehr setzten, wur<strong>de</strong> ihnen von Seiten <strong>de</strong>r einflussreichen<br />

EU-Regierungen mit vollständiger Entsolidarisierung bis hin zur<br />

‚Grexit‘-For<strong>de</strong>rung begegnet.<br />

Trotz, o<strong>de</strong>r vielleicht auch gera<strong>de</strong> wegen dieser bereits länger bestehen<strong>de</strong>n<br />

Entwicklungen, existiert in Griechenland eine Tradition <strong>de</strong>r<br />

gegenseitigen Hilfe, mit <strong>de</strong>r versucht wird, Versäumnisse in Aufgabenfel<strong>de</strong>rn,<br />

die Menschen bspw. in Deutschland als klassische staatliche<br />

Aufgaben interpretieren wür<strong>de</strong>n, eigenständig zu lösen. Jugendarbeit<br />

und Geflüchtetenarbeit sind nur zwei dieser Fel<strong>de</strong>r, jedoch die<br />

Fel<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>nen das Lan<strong>de</strong>sjugendwerk <strong>de</strong>r AWO Berlin selbst aktiv<br />

ist. Und ebenso wie viele Menschen in Griechenland for<strong>de</strong>rn wir statt<br />

einer technokratischen Bevormundung das Recht auf Selbstbestim-<br />

12


FLUCHT UND MIGRATION<br />

mung, Freiheit und ein würdiges Leben ohne Beschränkungen durch<br />

nationale, religiöse o<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>elle Barrieren. Mit <strong>de</strong>m Anspruch, dass<br />

Solidarität praktisch wer<strong>de</strong>n muss, hatten wir uns das Ziel gesetzt,<br />

mit Jugendorganisationen vor Ort in <strong>de</strong>n Kontakt zu treten und <strong>de</strong>r<br />

Jugend bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r zu zeigen, dass sie weit mehr haben, was sie<br />

verbin<strong>de</strong>t als was sie von einan<strong>de</strong>r unterschei<strong>de</strong>t.<br />

Wie sind Sie gera<strong>de</strong> auf diese Län<strong>de</strong>rkombination<br />

(Deutschland-Griechenland-Frankreich) gekommen?<br />

Der erste Impuls für diese Entscheidung hatte eine pragmatische Komponente,<br />

welche sich jedoch umgehend auch als inhaltlich wertvolle<br />

Dimension weiterentwickeln ließ. Obgleich es aktuell einen Son<strong>de</strong>rantragstopf<br />

für die internationale Jugendarbeit mit Griechenland gibt,<br />

bieten die <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung zugrun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Bedingungen <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>rund<br />

Jugendhilfeplans keine soli<strong>de</strong> Grundlage, um für die angepeilten<br />

Zielgruppen eine Jugendbegegnung zu ermöglichen. Mit einer Jugendarbeitslosigkeit<br />

von nahezu 50% in Griechenland und <strong>de</strong>m Anspruch,<br />

<strong>de</strong>n beteiligten Jugendlichen nicht nur eine kurze einmalige, son<strong>de</strong>rn<br />

eine nachhaltige Begegnung mit mehreren Treffen zu ermöglichen,<br />

kann <strong>de</strong>n Teilnehmen<strong>de</strong>n keine Eigenbeteiligung abverlangt wer<strong>de</strong>n,<br />

welche sich im Bereich eines Monatseinkommens bewegt. In <strong>de</strong>r Beratung<br />

mit Frau Lübbert, <strong>de</strong>r Referentin für Europa und internationalen<br />

Jugendaustausch <strong>de</strong>s AWO Bun<strong>de</strong>sverbands e.V., eröffnete sich<br />

dann die Möglichkeit über die Schwerpunktsetzung ‚Mittelmeer und<br />

Südost-Europa‘ und <strong>de</strong>ren För<strong>de</strong>rung für Jugendliche mit beson<strong>de</strong>rem<br />

Bedarf das Projekt durch eine För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Deutsch-Französischen<br />

Jugendwerkes umzusetzen, sofern sich ein französischer Partner fin<strong>de</strong>n<br />

wür<strong>de</strong>. Im September 2015 war das Thema Geflüchtete in allen<br />

Län<strong>de</strong>rn so präsent, dass sich das Lan<strong>de</strong>sjugendwerk <strong>de</strong>r AWO Berlin<br />

entschied, dies zum Kernanliegen <strong>de</strong>r Jugendbegegnung zu machen.<br />

Bei <strong>de</strong>r Sondierung möglicher Partner in Frankreich zeigte sich das<br />

Departement Nord-Pas-Calais von La Ligue <strong>de</strong> L’Enseignement sehr<br />

interessiert. Da sich mit Beteiligungen aus Thessaloniki, Berlin und<br />

Calais auch gleichzeitig die aktuelle Fluchtroute quer durch Europa<br />

abbil<strong>de</strong>t, fiel die Entscheidung inhaltlich sehr leicht.<br />

Wie verlief das Vorbereitungstreffen in Griechenland?<br />

Im Dezember 2015 haben sich die beteiligten Organisationen für ein<br />

institutionelles Vorbereitungstreffen in Thessaloniki getroffen, an<br />

<strong>de</strong>m sowohl die verantwortlichen Koordinator(inn)en als auch Teile<br />

<strong>de</strong>r Jugendgruppenleitung <strong>de</strong>s Projekts teilgenommen haben. Der erste<br />

Tag war primär auf <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>r institutionellen Gegebenheiten<br />

und <strong>de</strong>r aktuellen län<strong>de</strong>rspezifischen Situation <strong>de</strong>r Jugendarbeit<br />

von und mit jungen Geflüchteten ausgerichtet. Am zweiten Tag sollte<br />

<strong>de</strong>r Grenzübergang Idomeni sowie das dortige Camp besucht wer<strong>de</strong>n,<br />

um die Situation an <strong>de</strong>r griechisch-mazedonischen Grenzen als Ort<br />

<strong>de</strong>s inter-staatlichen Scheiterns im Umgang mit <strong>de</strong>n Geflüchteten<br />

begreifen zu können. Auf Grund <strong>de</strong>r Eskalationen nach <strong>de</strong>m Tod eines<br />

jungen Marokkaners an <strong>de</strong>r Grenze mussten wir davon Abstand nehmen.<br />

Dieser tragische Moment überschattete die weiteren Gespräche<br />

und machte uns alle tief betroffen. Allerdings zeigte dieser Tod auch,<br />

wie aktuell, relevant und unausweichlich eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>m Themenbereich Flucht und Migration ist. Die Beteiligten vor<br />

Ort waren sich einig, dass es sich hierbei nicht um einen isolierten<br />

Einzelfall, son<strong>de</strong>rn um eine durch systematische Verschärfung <strong>de</strong>r<br />

Migrationsgesetzgebung hervorgerufene Eskalation han<strong>de</strong>lt, welche<br />

<strong>de</strong>n Tod nicht nur an EU-Außengrenzen son<strong>de</strong>rn auch im Binnenraum<br />

in Kauf nimmt. Die Solidarität vor Ort hat uns das Treffen <strong>de</strong>nnoch<br />

mit einem positiven Ausblick auf <strong>de</strong>n Jugendaustausch abschließen<br />

lassen.<br />

Was ist während <strong>de</strong>r drei Jugendbegegnungen geplant?<br />

Die Begegnungen beginnen mit einem auf Grundlagenwissen und<br />

Organizing-Fähigkeiten ausgelegten Austausch im Sommer 2016 in<br />

Berlin. In verschie<strong>de</strong>nen Workshops, Arbeitsphasen und Hospitationen<br />

wer<strong>de</strong>n sich die Jugendlichen einen Einblick in die Ursachen,<br />

Beweggrün<strong>de</strong> und Hin<strong>de</strong>rnisse von Flucht und Migration erarbeiten.<br />

Im direkten Austausch mit einer Unterkunft für Geflüchtete soll es<br />

eine gemeinsame Veranstaltung geben, bspw. ein Hoffest. Im April<br />

2017 fin<strong>de</strong>t die zweite Run<strong>de</strong> in Calais statt, bei <strong>de</strong>r das Anwen<strong>de</strong>n<br />

und Vertiefen <strong>de</strong>r in Berlin erworbenen Fähigkeiten im Vor<strong>de</strong>rgrund<br />

stehen soll. Gemeinsam wollen wir <strong>de</strong>n Partner vor Ort in <strong>de</strong>r Durchführung<br />

seiner Hilfeleistungen für Geflüchtete vor Ort unterstützen.<br />

Ein Austausch zu <strong>de</strong>n bis dahin nicht absehbaren Entwicklungen in<br />

diesem Bereich wird ebenso seinen Raum fin<strong>de</strong>n, wie eine Reflektion<br />

über die persönliche Dimension <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit diesen<br />

Themen. Im September 2017 fin<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Austauschrahmen seinen Abschluss<br />

in Griechenland, welcher noch <strong>de</strong>utlicher anwendungsorientiert<br />

sein wird.<br />

Gab es bereits Kontakt zu jungen Geflüchteten? Wenn ja,<br />

wie wird Ihr Projekt von <strong>de</strong>n jungen Geflüchteten angenommen?<br />

Abgesehen davon, dass junge Geflüchtete ohne das ‚Privileg‘ eines<br />

sicheren Aufenthaltsstatus aus rechtlichen Grün<strong>de</strong>n pauschal an <strong>de</strong>r<br />

Teilnahme gehin<strong>de</strong>rt sein wer<strong>de</strong>n, haben wir hierzu sehr verhaltene<br />

Resonanz bekommen. Häufig sind die z. T. traumatischen Fluchterfahrungen<br />

noch viel zu frisch, als das sich die Jugendlichen vorstellen<br />

können, erneut mit <strong>de</strong>n Krisenpunkten <strong>de</strong>r innereuropäischen Fluchtroute<br />

konfrontiert zu wer<strong>de</strong>n. Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />

– vor allem in <strong>de</strong>r zweiten Generation – haben diese I<strong>de</strong>e bisher mit<br />

großem Interesse aufgenommen und können sich auch vorstellen, an<br />

einem solchen Austausch mitzuwirken. Hier freuen wir uns auf die<br />

Teilnahme, da <strong>de</strong>ren interkulturelle und sprachliche Kompetenzen sowohl<br />

innerhalb <strong>de</strong>r Begegnungsgruppe als auch bei <strong>de</strong>r Arbeit vor Ort<br />

eine große Bereicherung sein wird.<br />

Welche Ergebnisse erhoffen Sie sich von <strong>de</strong>m Projekt?<br />

Die pädagogische Zielsetzung <strong>de</strong>r trilateralen Begegnung differenziert<br />

sich in eine unmittelbare und eine mittelbare bzw. langfristige<br />

Absicht. Die unmittelbare und damit im Prozess erfahrbare Komponente<br />

stellt die Auslotung und das anschließen<strong>de</strong> Füllen eines<br />

„common grounds“ sowie die Vermittlung von organisatorischen und<br />

13


FLUCHT UND MIGRATION<br />

konzeptionellen Fähigkeiten dar. Hierbei sollen durch die Erfahrung<br />

von transnationalen Berührungspunkten gemeinsame Handlungsfel<strong>de</strong>r<br />

erschlossen wer<strong>de</strong>n und sich dann Kenntnisse und Fähigkeiten<br />

angeeignet wer<strong>de</strong>n, um in <strong>de</strong>m unübersichtlichen Feld „Flucht und<br />

Migration“ Initiative ergreifen zu können. Die mittelbare Komponente<br />

ist die (De)Konstruktion von I<strong>de</strong>ntitäten, nicht ausschließlich aber<br />

auch <strong>de</strong>r eigenen.<br />

Was heißt es, einer bestimmten Religion anzugehören o<strong>de</strong>r einen bestimmten<br />

Pass zu besitzen? Wie assoziiere ich mich mit <strong>de</strong>n Eigenbzw.<br />

Fremdzuschreibungen, die es zu meinen „imagined communities“<br />

gibt? Mittels <strong>de</strong>r täglichen Reflexionsphasen und <strong>de</strong>r teambil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n<br />

Maßnahmen wird versucht, eine Atmosphäre zu schaffen, in <strong>de</strong>r die<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit dieser Dekonstruktion in einem geschützten<br />

Rahmen möglich ist.<br />

Christopher Langen, Bild: AWO<br />

Christopher Langen (31) leitet seit 2015 die Geschäftsstelle<br />

<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sjugendwerkes <strong>de</strong>r AWO Berlin. I<strong>de</strong>e und Konzept<br />

<strong>de</strong>r trilateralen Jugendbegegnung zum Thema „Flucht und<br />

Migration“ sind Impulse, die er in <strong>de</strong>n Verband getragen<br />

hat. Als ehrenamtliches Vorstandsmitglied <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>sjugendrings<br />

Berlin e.V. ist er Ansprechpartner für Berliner<br />

Selbstorganisationen junger Migrant(inne)n.<br />

Claudius Lehmann, Bild: privat<br />

Claudius Lehmann (27) ist seit 2009 Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s<br />

Lan<strong>de</strong>sjugendwerkes <strong>de</strong>r AWO Berlin. Neben <strong>de</strong>r Mitarbeit<br />

in Gremien sowie <strong>de</strong>r Gestaltung <strong>de</strong>r Presse- und<br />

Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt er sich inhaltlich<br />

schwerpunktmäßig mit <strong>de</strong>n Themen „Flucht und Migration“<br />

sowie „Rechtsextremismus und -populismus“.<br />

14


FLUCHT UND MIGRATION<br />

Bild: Andromachi Papaioannou<br />

Wir sind Europa<br />

Die Herausfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Flüchtlingsströme nach Europa belasten das bereits wirtschaftlich<br />

geschwächte Griechenland enorm. Die Jugendorganisation Generation 2.0 Red hat sich als<br />

Nichtregierungsorganisation diesen Herausfor<strong>de</strong>rungen gewidmet und beschreibt ihren Beitrag<br />

und ihre Vorgehensweise bei <strong>de</strong>r Bewältigung dieser gesamteuropäischen Herausfor<strong>de</strong>rung.<br />

Andromachi Papaioannou<br />

Wir alle sind Europa, du und ich, Bürger <strong>de</strong>r Mitgliedsstaaten,<br />

und wenn nicht alle, zumin<strong>de</strong>st die meisten von uns.<br />

Bis heute waren das Bin<strong>de</strong>glied Europas, die Beziehungen<br />

zwischen <strong>de</strong>n Staaten, die jedoch oftmals erschüttert wer<strong>de</strong>n. Ein<br />

solches Beispiel ist die aktuelle Wirtschaftskrise in Griechenland und<br />

gleichzeitig die dramatische Zunahme <strong>de</strong>r Anzahl an Flüchtlingen,<br />

insbeson<strong>de</strong>re aus Syrien, <strong>de</strong>m Irak, Afghanistan und Eritrea. Als Voraussetzung<br />

<strong>de</strong>s politischen Überlebens Europas wird die Schaffung<br />

einer aktiven europäischen Zivilgesellschaft angesehen. Eine europäische<br />

Zivilgesellschaft, die nicht nur zu nationalen Themen Stellung<br />

nimmt und ihre Meinung äußert und die auch nicht nur innerhalb<br />

<strong>de</strong>r Grenzen <strong>de</strong>s eigenen Lan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>nkt, son<strong>de</strong>rn sich um das gesamte<br />

Europa sorgt. Eine europäische Zivilgesellschaft, die Prinzipien wie die<br />

Menschenrechte, die Gleichberechtigung, die Solidarität und das Allgemeinwohl<br />

aller Län<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund stellt. Voraussetzung zur<br />

Erreichung dieses Ziels ist, einan<strong>de</strong>r kennen zu lernen, über die Grenzen<br />

<strong>de</strong>s eigenen Lan<strong>de</strong>s zu schauen, sich außerhalb <strong>de</strong>s „vertrauten“<br />

und „sicheren“ Umfelds zu bewegen und uns als Europäer/-innen, und<br />

nicht nur als Griechen o<strong>de</strong>r Deutsche, zu betrachten.<br />

Aktive Bürgerbeteiligung beginnt zunächst im eigenen Land. Der<br />

erste Schritt zur Festigung <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Kohäsion und zur<br />

För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r aktiven Solidarität ist getan, wenn je<strong>de</strong>r/je<strong>de</strong> einzelne<br />

beginnt, ein persönliches bzw. kollektives Gemeininteresse zu entwickeln<br />

und Lösungsansätze zu Themen vorzuschlagen, die sowohl<br />

ihn persönlich als auch die Gesellschaft betreffen. In Griechenland<br />

wer<strong>de</strong>n die klaffen<strong>de</strong>n Defizite <strong>de</strong>s staatlichen Apparats durch eine<br />

nie zuvor dagewesene aktive Solidarität ausgeglichen. Die Nichtregierungsorganisationen<br />

(NROs) und die zivilgesellschaftlichen Initiativen<br />

spielen in <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>r sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen<br />

hierbei die größte Rolle.<br />

Junge Griechinnen und Griechen mit und ohne<br />

Migrationshintergrund – Generation 2.0 RED<br />

Generation 2.0 RED ist eine solche NRO. Sie besteht aus jungen Menschen<br />

griechischer Herkunft und jungen Menschen mit Migrationshintergrund,<br />

also aus Menschen, die in Griechenland geboren o<strong>de</strong>r<br />

aufgewachsen sind, in Griechenland leben und arbeiten und ihren<br />

Beitrag zur Schaffung einer offenen Gesellschaft leisten möchten, in<br />

<strong>de</strong>r die Verschie<strong>de</strong>nheit und die Menschenrechte respektiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Zu <strong>de</strong>n Tätigkeiten dieser NRO gehören Kampagnen zur Aufklärung,<br />

wie eine <strong>de</strong>r be<strong>de</strong>utendsten mit <strong>de</strong>m Titel „Gleichberechtigte Bürger/<br />

Equal Citizens”, bei <strong>de</strong>r es um das Recht auf Staatsbürgerschaft geht<br />

für Kin<strong>de</strong>r die in Griechenland geboren bzw. dort aufgewachsen sind<br />

und Eltern mit Migrationshintergrund haben. Gleichzeitig verfolgte<br />

diese Kampagne das Ziel, die griechische Gesellschaft zu informieren<br />

über und zu sensibilisieren nicht nur für die Schwierigkeiten, die diese<br />

Kin<strong>de</strong>r zu bewältigen haben, son<strong>de</strong>rn und vor allem aufzuzeigen, wer<br />

diese Kin<strong>de</strong>r und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind. Das<br />

Gesetz, das das Recht auf Erwerb <strong>de</strong>r Staatsbürgerschaft für Kin<strong>de</strong>r<br />

15


FLUCHT UND MIGRATION<br />

mit Migrationshintergrund verleiht, ist im Juli 2015 vom griechischen<br />

Parlament verabschie<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n.<br />

Zu<strong>de</strong>m führt Generation 2.0 RED zahlreiche Sport- und Kunstprojekte zur<br />

För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Akzeptanz, <strong>de</strong>r Integration und <strong>de</strong>r Interaktion zwischen<br />

<strong>de</strong>n Jugendlichen griechischer Herkunft und <strong>de</strong>n Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />

durch. Darüber hinaus bietet sie Beratungs-dienstleistungen<br />

bei Fragen an, die die Beantragung bzw. Verlängerung von<br />

Aufenthalts-genehmigungen betreffen, organisiert Ausbildungsprojekte<br />

für Kin<strong>de</strong>r und Jugendliche zum Thema Diversität und beteiligt sich gemeinsam<br />

mit Universitäten und Trägern an Forschungsprojekten. Wesentliches<br />

Ziel aller Tätigkeiten <strong>de</strong>r Organisation ist die Stärkung <strong>de</strong>r<br />

Zielgruppe und die För<strong>de</strong>rung einer Gesellschaft, die die Menschenrechte<br />

und Diversität respektiert, die Gleichberechtigung för<strong>de</strong>rt und Rassismus,<br />

Frem<strong>de</strong>nfeindlichkeit und Diskriminierung bekämpft.<br />

Obwohl die Haupttätigkeiten <strong>de</strong>r Organisation die Stärkung und die<br />

Integration von Menschen mit Migrationshintergrund und ihrer Kin<strong>de</strong>r<br />

in die griechische Gesellschaft betreffen, fühlt sie sich verpflichtet,<br />

sich auch in <strong>de</strong>r Flüchtlingsfrage zu engagieren. Seit <strong>de</strong>m Sommer<br />

2015 stellt Generation 2.0 RED mit einigen an<strong>de</strong>ren NROs, die sich in<br />

Athen mit <strong>de</strong>r Integrations- und Flüchtlingsthematik beschäftigen,<br />

und in Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>r Asylbehör<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Asylbewerbern und<br />

Asylbewerberinnen, die zuhause keinen Internetzugang haben, ihre<br />

Räume und Einrichtungen zur Verfügung, damit sie mit <strong>de</strong>r Asylbehör<strong>de</strong><br />

in Kontakt treten können, um einen Termin zu vereinbaren und<br />

ihren Asylantrag zu stellen. Die Terminvereinbarung über Skype wur<strong>de</strong><br />

zur Entlastung <strong>de</strong>r Asylbehör<strong>de</strong> ermöglicht und um auch jenen die<br />

Möglichkeit zur Kontaktaufnahme zu bieten, die außerhalb Athens<br />

leben. In <strong>de</strong>r Praxis allerdings sah die Realität ganz an<strong>de</strong>rs aus. Dutzen<strong>de</strong><br />

versammelten sich wartend vor <strong>de</strong>n NROs, um einen Termin<br />

zu vereinbaren. Das Programm <strong>de</strong>s Services zur Terminvereinbarung<br />

durch Skype stellte ungefähr zwei Stun<strong>de</strong>n pro Woche für die jeweilige<br />

Sprache zur Verfügung, was ein sehr knapp bemessenes zeitliches<br />

Fenster in Anbetracht <strong>de</strong>r steigen<strong>de</strong>n Zahlen <strong>de</strong>r Interessenten. Es<br />

gab Menschen, die je<strong>de</strong> Woche über einen Monat lang immer wie<strong>de</strong>r<br />

kamen, um einen Termin vereinbaren zu können. In <strong>de</strong>r Zwischenzeit<br />

liefen ihre Aufenthaltsgenehmigungen aus, sodass sie stets Gefahr<br />

liefen, verhaftet und inhaftiert zu wer<strong>de</strong>n.<br />

Freiwilliges Engagement in <strong>de</strong>r ersten offenen<br />

Flüchtlingsunterkunft Griechenlands<br />

Gleichzeitig rief Generation 2.0 RED im September 2015 ein Team ins<br />

Leben, das je<strong>de</strong> Woche Kin<strong>de</strong>r im Flüchtlingszentrum „Elaionas“ beschäftigte.<br />

Diese Aktion dauerte an bis März 2016. „Elaionas“ ist das<br />

erste offene Flüchtlingszentrum in Griechenland. Es befin<strong>de</strong>t sich in<br />

Athen und ist von <strong>de</strong>r Stadt errichten wor<strong>de</strong>n, die auch die Abfallversorgung<br />

übernommen hat inzwischen über eine Aufnahmekapazität von<br />

1500 Menschen in Containern für jeweils acht Personen mit eigener<br />

Toilette und Klimaanlage verfügt. Die Bedarfe an Kleidung, Schuhen,<br />

persönlichen Hygieneartikeln und Lebensmitteln, medizinische Betreuung<br />

rund um die Uhr, Dolmetsch- und Übersetzungsdienste, psychologische<br />

Betreuung und die Beschäftigung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n durch die<br />

NROs, durch Freiwillige und eigenständige Bürgerinitiativen ge<strong>de</strong>ckt.<br />

Zu <strong>de</strong>n Aktivitäten, die Generation 2.0 RED in „Elaionas“ durchführte<br />

gehörten unter an<strong>de</strong>rem Malerei, Akrobatik, Yoga sowie alles an<strong>de</strong>re,<br />

das die beteiligten Freiwilligen sich je<strong>de</strong>s Mal aussuchten. Das Angebot<br />

ist abhängig von <strong>de</strong>r Anzahl und <strong>de</strong>m Alter <strong>de</strong>r aufgenommenen<br />

Kin<strong>de</strong>r. Das Team von Generation 2.0 RED in „Elaionas“ bestand aus<br />

jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft (Griechenland, Großbritannien,<br />

Nigeria, Israel, Italien) und spiegelt sehr unmittelbar <strong>de</strong>n<br />

Charme <strong>de</strong>r Diversität und die Kraft einer vorurteilsfreien Zusammenarbeit<br />

wi<strong>de</strong>r. Niemand aus <strong>de</strong>r Gruppe sprach Farsi (die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Geflüchteten in „Elaionas“ stammte in <strong>de</strong>r Zeit aus Afghanistan) und<br />

die Kommunikation mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn fand in gebrochenem Englischs<br />

statt, mit Körpersprache, mit Pantomime, mit <strong>de</strong>m klein bisschen<br />

Farsi, das wir gelernt hatten, o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m wenigen Griechisch, das die<br />

Kin<strong>de</strong>r lernten – und mit vielen Lächeln. Je<strong>de</strong> Woche begegneten wir<br />

vielen neuen Gesichtern und weniger von <strong>de</strong>n Gesichtern, die wir <strong>de</strong>r<br />

Woche vorher begegnet waren. Griechenland war für die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Geflüchteten eine Zwischenstation und nur wenige wollten sich tatsächlich<br />

hier nie<strong>de</strong>rlassen. Endstation für die überwältigen<strong>de</strong> Mehrheit<br />

waren Schwe<strong>de</strong>n und Deutschland. Mit <strong>de</strong>r kurzzeitigen Aufhebung<br />

<strong>de</strong>r Dublin-II-Verordnung für Griechenland aufgrund <strong>de</strong>r hohen<br />

Flüchtlingsströme gestaltete sich auch <strong>de</strong>r Aufenthalt in Athen kurz,<br />

<strong>de</strong>nn das Ziel war es, die Grenzen zu überqueren und die Reise nach<br />

Nor<strong>de</strong>uropa fortzusetzen, bevor die Wetterlage sich verschlechtert<br />

bzw. bevor Deutschland o<strong>de</strong>r Schwe<strong>de</strong>n ihre Lan<strong>de</strong>sgrenzen schließen.<br />

Inzwischen ist die Situation eine ganz an<strong>de</strong>re, insbeson<strong>de</strong>re nach<br />

<strong>de</strong>r Unterzeichnung <strong>de</strong>s Abkommens mit <strong>de</strong>r Türkei, das am 20. März<br />

2016 in Kraft getreten ist. Die Grenzen sind geschlossen für alle, die<br />

Aufenthaltsdauer in Griechenland unbekannt und die Aufnahmezentren<br />

sind überfüllt, nicht nur in Attika, son<strong>de</strong>rn in ganz Griechenland.<br />

Die „Flüchtlingskrise“, wie viele die Massenzustrom von Geflüchteten in<br />

<strong>de</strong>n letzten Monaten in Europa bezeichnen, ist nichts Neues. Neu sind<br />

nur <strong>de</strong>r Umfang <strong>de</strong>r Zuströme sowie ihre beson<strong>de</strong>ren Merkmale, das<br />

heißt dass sie in großen Teilen aus schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppen<br />

wie Säuglingen, Kin<strong>de</strong>rn, Frauen, unbegleiteten Min<strong>de</strong>rjährigen, älteren<br />

und behin<strong>de</strong>rten Menschen bestehen. Diese spezifischen Merkmale<br />

führen dazu, dass wir uns alle <strong>de</strong>s Ernstes <strong>de</strong>r aktuellen Situation bewusst<br />

wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn so wie sehr treffend die Dichterin Warsan Shire äußerte:<br />

“No one leaves home unless<br />

home is the mouth of a shark.<br />

You only run for the bor<strong>de</strong>r<br />

when you see the whole city<br />

running as well /<br />

no one puts their children in a boat /<br />

unless the water is safer than the land”<br />

(Niemand verlässt sein Zuhause, es sei <strong>de</strong>nn, zuhause ist ein Haifisch-Rachen.<br />

Du rennst zur Grenze nur dann, wenn du auch die ganze<br />

Stadt dorthin rennen siehst. Niemand setzt seine Kin<strong>de</strong>r in ein Boot, es<br />

sei <strong>de</strong>nn, das Meer ist sicherer als das Festland).<br />

2015 betrug die Anzahl <strong>de</strong>r Flüchtlinge, die auf <strong>de</strong>n griechischen<br />

Inseln – insbeson<strong>de</strong>re bei guter Wetterlage – ankamen, insgesamt<br />

16


FLUCHT UND MIGRATION<br />

8.000-10.000 pro Tag. Unvorstellbare Zahlen, Menschen in beson<strong>de</strong>rer<br />

Not und ein griechischer Staat, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r nicht in <strong>de</strong>r Lage ist,<br />

die Situation zu bewältigen. Zu diesem Zeitpunkt hängen ungefähr<br />

53.000 Menschen in Griechenland fest. Die Flüchtlinge kommen nicht<br />

über die Türkei nach Griechenland, sie kommen über die Türkei nach<br />

Europa – und das sollten wir alle verstehen. Diese Situation sollte als<br />

Herausfor<strong>de</strong>rungen angegangen wer<strong>de</strong>n, die alle europäischen Staaten<br />

betrifft. Griechenland ist zwar die Außengrenze Europas, aber es<br />

ist nicht nachzuvollziehen, dass es allein die Last <strong>de</strong>r Erstaufnahme<br />

trägt. Denn ganz einfach: Das kann Griechenland nicht stemmen.<br />

Denn wir sprechen über Menschen und nicht über Zahlen.<br />

Deutschland und Griechenland in <strong>de</strong>r Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

Das was gera<strong>de</strong> in Griechenland, in Deutschland o<strong>de</strong>r in Schwe<strong>de</strong>n in<br />

Bezug auf die Flüchtlinge passiert, erfahren die meisten von uns über<br />

die Medien, das Internet und die sozialen Netzwerke. Allerdings können<br />

wir nicht beurteilen, wie objektiv bzw. realitätsnah die Darstellung<br />

<strong>de</strong>r aktuellen Situation ist. Was wir jedoch mit Sicherheit beurteilen<br />

können, ist die Arbeit, die die Organisationen und die Freiwilligen,<br />

die sich mit <strong>de</strong>n Migranten und mit <strong>de</strong>n Flüchtlingen beschäftigen,<br />

leisten. Griechenland ist auf <strong>de</strong>iner einen Seite aufgrund seiner geographischen<br />

Lage das Land <strong>de</strong>r Erstaufnahme <strong>de</strong>r Flüchtlingsströme,<br />

es ist aber gleichzeitig ein Land, das eine Wirtschaftskrise durchlebt.<br />

Mit mangelhaften Strukturen, <strong>de</strong>fizitären Ressourcen, einer riesigen<br />

Küstenlinie und ohne eine einheitliche europäische Politik und wesentlichen<br />

Eingriffsmöglichkeiten an <strong>de</strong>n Ankunftsorten kann man<br />

auf <strong>de</strong>n ägäischen Inseln nur machtlos die zahlreichen Toten bergen,<br />

Hun<strong>de</strong>rte von unbegleitete Min<strong>de</strong>rjährige und Tausen<strong>de</strong> verzweifelte<br />

Menschen registrieren, die <strong>de</strong>m Krieg zu entkommen versuchen. Der<br />

Mangel an Infrastruktur und Humanressourcen erschwert die Registrierung<br />

<strong>de</strong>r Flüchtlinge und folglich auch ihre Beför<strong>de</strong>rung nach Athen<br />

und von dort aus in an<strong>de</strong>re europäische Län<strong>de</strong>r. Auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite<br />

ist Deutschland für die überwältigen<strong>de</strong> Mehrheit <strong>de</strong>r Flüchtlinge das<br />

Zielland. Es ist ein Land, das über eine Migrations- und Integrationspolitik<br />

verfügt, über Infrastruktur sowie die notwendige Erfahrung mit<br />

Menschen mit Migration und Flüchtlingen, da Deutschland in <strong>de</strong>n 60er<br />

Jahren das Einwan<strong>de</strong>rungsland für viele war, darunter viele Griechen.<br />

Das be<strong>de</strong>utet aber nicht, dass Deutschland alle Flüchtlinge aufnehmen<br />

kann, die EU-Bo<strong>de</strong>n betreten.<br />

Deutsch-griechischer Jugendaustausch<br />

in <strong>de</strong>r Flüchtlingsfrage<br />

Nur wenige wissen, was tatsächlich in Griechenland bzw. in Deutschland<br />

vor sich geht. Meist gibt es zahlreiche Klischees in bei<strong>de</strong>n Gesellschaften<br />

und somit kann man sich nur schwer ein klares Bild<br />

machen. Aus diesem Grund könnte <strong>de</strong>r Austausch von Jugendlichen<br />

und Besten Praktiken, <strong>de</strong>n Abbau von Klischees för<strong>de</strong>rn und eine wesentliche<br />

Zusammenarbeit zwischen europäischen Län<strong>de</strong>rn aufbauen.<br />

Der Jugendaustausch zwischen Griechenland und Deutschland<br />

könnte für bei<strong>de</strong> Län<strong>de</strong>r von Nutzen sein. Der Austausch zwischen<br />

<strong>de</strong>n Jugendlichen dieser bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>r wür<strong>de</strong> komplexe Themen wie<br />

die Flüchtlingskrise verständlicher machen. Der Erfahrungs- und I<strong>de</strong>enaustausch,<br />

die Kommunikation und <strong>de</strong>r Kontakt zu Personen, die<br />

in diesem Bereich tätig sind, sowie letztendlich ein offener Dialog<br />

wür<strong>de</strong>n zum besseren Verständnis <strong>de</strong>s Problems und zu innovativen<br />

Lösungsansätzen führen. Einerseits könnte <strong>de</strong>r Aufenthalt <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Jugendlichen in Griechenland ihnen die Möglichkeit geben,<br />

Erfahrungen zu sammeln, die Situation in Griechenland zu verstehen<br />

und Begriffe, wie z.B. „Rechtslücke“, kennen zu lernen. Gleichzeitig<br />

wür<strong>de</strong>n die jungen Menschen das Improvisationsvermögen „aus <strong>de</strong>r<br />

Not heraus“ erfahren und die daraus entstehen<strong>de</strong> spontane Solidarität<br />

<strong>de</strong>r zivilgesellschaftlichen Initiativen und NROs, die die fehlen<strong>de</strong><br />

Infrastruktur und die fehlen<strong>de</strong>n Regierungsstrategien ersetzen<br />

müssen. An<strong>de</strong>rerseits wür<strong>de</strong>n die Jugendlichen aus Griechenland die<br />

Umsetzung von Integrationsstrategien und Prozessen und ihre Ergebnisse<br />

kennenlernen und erleben und sie wür<strong>de</strong>n erleben, wie die<br />

Gesellschaft und <strong>de</strong>r Staat auf solche Herausfor<strong>de</strong>rungen reagieren<br />

bzw. sich anpassen und vor allem, was davon auch in Griechenland<br />

Anwendung fin<strong>de</strong>n könnte. Griechenland kann hinsichtlich <strong>de</strong>r Organisation<br />

und <strong>de</strong>s Aufbaus von Infrastruktur Vieles von Deutschland<br />

lernen und zu<strong>de</strong>m Integrationspraktiken und -maßnahmen auf nationaler<br />

und internationaler Ebene übernehmen.<br />

Ein Europa als soziale Einheit<br />

Der Jugendaustausch als Praxis ermutigt die aktive Zivilgesellschaft<br />

und die jungen Bürger/innen und för<strong>de</strong>rt zugleich das Verständnis<br />

<strong>de</strong>s Begriffs „Europa“ nicht nur als politisch-wirtschaftliche, son<strong>de</strong>rn<br />

auch als soziale Einheit. Europa steht nicht nur für die gemeinsame<br />

Währung bzw. <strong>de</strong>n freien Warenhan<strong>de</strong>l. Es ist auch nicht nur da für<br />

ungehin<strong>de</strong>rte Reisemöglichkeiten seiner Bürger/innen zum Zwecke<br />

<strong>de</strong>r Erholung. Das Europa <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft hat die Pflicht eine<br />

aktive Gemeinschaft zu sein, die, obwohl sie sich aus vielen ganz unterschiedlichen,<br />

kleineren Gesellschaften zusammensetzt, <strong>de</strong>nnoch<br />

durch gemeinsame I<strong>de</strong>ale geprägt ist. Durch die globalisierte Gesellschaft,<br />

in <strong>de</strong>r wir leben, wer<strong>de</strong>n wir von <strong>de</strong>n Entwicklungen in <strong>de</strong>n<br />

benachbarten Län<strong>de</strong>rn wenn nicht unmittelbar, dann doch unmittelbar<br />

beeinflusst.<br />

Viele junge Menschen aus Deutschland – wie auch aus Griechenland<br />

– stammen oftmals aus an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r EU bzw. aus Drittlän<strong>de</strong>rn.<br />

Die Integration und substantielle Akzeptanz dieser jungen Menschen<br />

in die europäische Gesellschaft, nicht allein in die griechische<br />

bzw. <strong>de</strong>utsche, wer<strong>de</strong>n durch Maßnahmen gestärkt, die <strong>de</strong>n Kontakt<br />

mit <strong>de</strong>m „An<strong>de</strong>ren“ för<strong>de</strong>rn. Gleichzeitig tragen diese Metho<strong>de</strong>n zur<br />

Sensibilisierung <strong>de</strong>r Europäer/innen gegenüber gesamteuropäischen<br />

Problemen bei und för<strong>de</strong>rn I<strong>de</strong>ale, wie Respekt, Verschie<strong>de</strong>nheit, kulturelle<br />

Vielfalt, Toleranz, Zusammenarbeit und harmonisches Zusammenleben.<br />

Lernt man <strong>de</strong>n „An<strong>de</strong>ren“ kennen, ist er keine Bedrohung<br />

mehr, son<strong>de</strong>rn wird als „Wir“ verstan<strong>de</strong>n. Auf diese Weise wer<strong>de</strong>n wir<br />

alle nicht nur zu Griechen o<strong>de</strong>r Deutschen, son<strong>de</strong>rn zu Europäern und<br />

Europäerinnen.<br />

Unsere Großeltern kamen 1922 nach Griechenland. Sie waren Flüchtlinge<br />

aus Ostthrazien und Pontos. Nichts wur<strong>de</strong> ihnen leichtgemacht,<br />

aber sie haben ihr Leben wie<strong>de</strong>raufbauen können, konnten wie<strong>de</strong>r<br />

lachen und träumen. Ich wuchs auf mit <strong>de</strong>n Geschichten <strong>de</strong>rjenigen,<br />

die auf <strong>de</strong>m Weg verloren gingen und <strong>de</strong>rjenigen, die es geschafft<br />

haben. Mit Geschichten über jene, die halfen und jene, die sie jagten.<br />

17


FLUCHT UND MIGRATION<br />

Jene, die zurückblieben, aber nie vergessen wur<strong>de</strong>n. Heute, 90 Jahre<br />

später, stehe ich auf <strong>de</strong>r gegenüberliegen<strong>de</strong>n Seite und gehöre zu<br />

jenen, die Hilfe anbieten können. Ich tue es mit Freu<strong>de</strong> und wer<strong>de</strong><br />

täglich für einige Menschen, zu einem Jener, die einst meiner Familie<br />

geholfen haben.<br />

Andromachi Papaioannou, Bild: privat<br />

Andromachi Papaioannou wur<strong>de</strong> 1983 in Athen geboren<br />

und lebte in Thessaloniki, Rom, London und Bologna. Sie<br />

ist Absolventin <strong>de</strong>r Abteilung für Politikwissenschaften<br />

<strong>de</strong>r Aristoteles Universität in Thessaloniki und besitzt<br />

ein Masterdiplom in Sozialanthropologie <strong>de</strong>r LSE. Sie ist<br />

Promotionsstu<strong>de</strong>ntin <strong>de</strong>r Sozialanthropologie <strong>de</strong>r Universität<br />

Bologna mit einem Schwerpunkt in Migration.<br />

18


KULTURELLE BILDUNG<br />

Vivian Doumpa<br />

Bild: Eva Karagkiozidou<br />

Neue Perspektiven durch Kulturmanager:<br />

START – Create Cultural Change<br />

Die Robert Bosch Stiftung bot 30 griechischen Stipendiaten die Möglichkeit soziokulturelle Zentren<br />

und ihre Arbeit in Deutschland kennen zu lernen. 12 daraus entstan<strong>de</strong>ne Projekti<strong>de</strong>en wur<strong>de</strong>n in<br />

Griechenland in <strong>de</strong>r zweiten Projektphase umgesetzt – für viele ist bereits eine Fortsetzung geplant.<br />

Wir haben mit Christian Strob über das Programm „START – Create Cultural Change“<br />

gesprochen.<br />

Natali Petala-Weber<br />

Herr Strob, warum engagiert sich die<br />

Robert Bosch Stiftung in Griechenland?<br />

Christian Strob: Die Wirtschaftskrise hat in vielen Län<strong>de</strong>rn Europas zu<br />

einer hohen Jugendarbeitslosigkeit geführt. Beson<strong>de</strong>rs schwer betroffen<br />

sind davon die sü<strong>de</strong>uropäischen Län<strong>de</strong>r, in <strong>de</strong>nen man auch <strong>de</strong>utliche<br />

Auswirkungen auf das kulturelle Gefüge spürt. Viele etablierte<br />

Kultureinrichtungen sind nicht in <strong>de</strong>r Lage, junge kreative Köpfe zu<br />

bin<strong>de</strong>n und ihnen eine berufliche Perspektive zu bieten. Das gilt vor<br />

allem für Griechenland, wo die staatliche Kulturför<strong>de</strong>rung in <strong>de</strong>n vergangenen<br />

Jahren auf ein Minimum reduziert wor<strong>de</strong>n ist. Hier setzen<br />

wir mit <strong>de</strong>m Fortbildungs- und Stipendienprogramm „START – Create<br />

Cultural Change“ an. Engagierte Kulturmanager können mit unserer<br />

Unterstützung eigene Initiativen etablieren, die <strong>de</strong>n sozialen Zusammenhalt<br />

vor Ort stärken. Das Programm soll <strong>de</strong>n Teilnehmern neue<br />

Perspektiven bieten und auf diese Weise <strong>de</strong>r Arbeitslosigkeit und <strong>de</strong>m<br />

Brain Drain <strong>de</strong>r jungen Kreativen in Griechenland entgegenwirken.<br />

Darüber hinaus möchten wir gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern,<br />

<strong>de</strong>m Goethe-Institut Thessaloniki und <strong>de</strong>r Bun<strong>de</strong>svereinigung<br />

Soziokultureller Zentren e.V., die <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen<br />

stärken und zu gegenseitiger Verständigung beitragen.<br />

Die ersten Hospitationen in Deutschland sind bereits<br />

abgeschlossen. Gibt es hierzu erste Feedbacks seitens<br />

<strong>de</strong>r Stipendiat(inn)en?<br />

Christian Strob: Für die 30 Stipendiaten hat <strong>de</strong>r Aufenthalt an <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>utschen Kultureinrichtungen eine wichtige Schlüsselrolle gespielt.<br />

Während <strong>de</strong>r einmonatigen Hospitation lernten sie neue Arbeitsweisen<br />

kennen, erprobten ihre I<strong>de</strong>en und Management-Fähigkeiten in kleinen<br />

Projekten und erhielten praktische Beratung bei <strong>de</strong>r Konzeptentwicklung<br />

für ihre Kulturinitiativen in Griechenland. Das ist ein zentrales<br />

Anliegen <strong>de</strong>s Programms. Mit START wollen wir die methodischen und<br />

praktischen Fähigkeiten <strong>de</strong>r Stipendiaten stärken und sie dabei unterstützen,<br />

aus ihrer I<strong>de</strong>enskizze ein tragfähiges Projekt<strong>de</strong>sign für ihre<br />

Kulturinitiative zu entwickeln. Vivian Doumpa hospitierte beispielsweise<br />

im Kulturzentrum Lagerhaus Bremen e.V. Dort lernte sie das Thema<br />

Stadtentwicklung und insbeson<strong>de</strong>re die Rolle <strong>de</strong>r Jugend darin durch<br />

eine neue, soziokulturelle Brille zu sehen. Das heißt, offener gegenüber<br />

Vielfalt zu sein, mehr Partner und Stakehol<strong>de</strong>r einzubin<strong>de</strong>n und die Entscheidungshoheit<br />

über die Umsetzung <strong>de</strong>r einzelnen I<strong>de</strong>en in die Hand<br />

<strong>de</strong>r Akteure zu geben, während sie selbst als Mo<strong>de</strong>rator und Manager<br />

<strong>de</strong>n Prozess unterstützt. All das konnte sie erfolgreich in ihrem partizipativen<br />

Stadtviertelprojekt „Topio“ in Thessaloniki umsetzen.<br />

19


KULTURELLE BILDUNG<br />

Was war ausschlaggebend für die letzte Auswahl <strong>de</strong>r<br />

zu realisieren<strong>de</strong>n Kulturprojekte in <strong>de</strong>r 2. Phase?<br />

Christian Strob: Die Qualität <strong>de</strong>r Bewerbungen, die wir im Anschluss<br />

an die Hospitationen in Deutschland für die sechsmonatige Projektphase<br />

in Griechenland erhalten haben, war sehr hoch. Alle 12 ausgewählten<br />

Projekte sind inzwischen erfolgreich umgesetzt wor<strong>de</strong>n,<br />

für viele ist eine Fortsetzung geplant. In ihrem Urteil hat sich die<br />

Fachjury von drei zentralen Kriterien leiten lassen: Ist das Gesamtkonzept<br />

realisierbar? Wer<strong>de</strong>n zusätzliche Potenziale im kulturellen<br />

Umfeld <strong>de</strong>s Projekts aktiviert? Und gelingt es <strong>de</strong>n Akteuren lokale,<br />

insbeson<strong>de</strong>re junge Zielgruppen nachhaltig einzubin<strong>de</strong>n? Einen beson<strong>de</strong>rs<br />

innovativen Ansatz verfolgte etwa Thalia Rizou mit ihrem<br />

Projekt „Youthnest“. Das kulturelle Beratungsprojekt bringt junge<br />

Menschen mit Experten aus Museen, Stiftungen und NGOs zusammen.<br />

In gemeinsamen Workshops beschäftigen sie sich mit Themen<br />

wie Markenbildung für Kultureinrichtungen o<strong>de</strong>r entwickeln Kommunikationsstrategien<br />

in <strong>de</strong>n sozialen Medien. Ziel ist es, die kollektive<br />

Intelligenz zu nutzen und die Perspektive <strong>de</strong>r jungen Engagierten auf<br />

aktuelle Herausfor<strong>de</strong>rungen in die Entscheidungsprozesse etablierter<br />

Institutionen einzubin<strong>de</strong>n.<br />

Welche Erfahrungen sind in die<br />

zweite Ausschreibung eingeflossen?<br />

Christian Strob: Das außergewöhnliche Engagement aller Teilnehmer<br />

und das positive Feedback auf die 12 START Projekte haben die zentrale<br />

Be<strong>de</strong>utung unterstrichen, die <strong>de</strong>m Kultursektor in Griechenland<br />

zukommt. Er leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt in Zeiten <strong>de</strong>r Krise, son<strong>de</strong>rn hat auch<br />

eine wichtige wirtschaftliche Dimension für die beteiligten Akteure.<br />

Diese Einschätzung bestätigte uns auch ein hochrangig besetzter<br />

Beraterkreis zum Thema „Jugendarbeitslosigkeit in Sü<strong>de</strong>uropa“, <strong>de</strong>r<br />

auf Einladung <strong>de</strong>r Robert Bosch Stiftung im Januar 2016 zusammentrat.<br />

Den Empfehlungen <strong>de</strong>r unabhängigen Experten folgend, wer<strong>de</strong>n<br />

wir START mit <strong>de</strong>m nächsten Jahrgang weiter ausbauen. So wird die<br />

Hospitationsphase in Deutschland auf 1,5 Monate verlängert und die<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Stipendien für die Projektphase in Griechenland auf 15<br />

erhöht.<br />

Darüber hinaus wer<strong>de</strong>n wir zukünftig im Anschluss an die Projektphase<br />

in Griechenland bis zu drei Preise in Höhe von 5.000 Euro an<br />

herausragen<strong>de</strong> START Projekte verleihen, die sich durch ihre positive<br />

soziale Wirkung auszeichnen und das Potential haben, sich dauerhaft<br />

zu etablieren. Die mit 225 Einreichungen sehr hohe Bewerberzahl für<br />

<strong>de</strong>n zweiten Jahrgang zeigt, dass wir mit <strong>de</strong>m Programm ein attraktives<br />

Angebot für eine steigen<strong>de</strong> Zahl neuer Kulturakteure schaffen,<br />

die jenseits <strong>de</strong>r ausgetretenen Pfa<strong>de</strong> staatlicher För<strong>de</strong>rung alternative<br />

Wege <strong>de</strong>r Kulturarbeit suchen. Wir freuen uns auf viele neue kreative<br />

Kulturunternehmungen und die öffentliche Auftaktveranstaltung <strong>de</strong>r<br />

zweiten Projektrun<strong>de</strong> am 29. September 2016 in Berlin.<br />

Was kann <strong>de</strong>r Jugendaustausch im Bereich<br />

Kulturtransfer leisten?<br />

Christian Strob: Im Pilotjahrgang hat sich gezeigt, dass <strong>de</strong>r Austausch<br />

während <strong>de</strong>r Hospitation nicht nur für die Stipendiaten aus Griechenland,<br />

son<strong>de</strong>rn auch für die <strong>de</strong>utschen Kultureinrichtungen sehr bereichernd<br />

ist. Für einige von ihnen war es das erste Austauschprogramm<br />

auf europäischer Ebene, für an<strong>de</strong>re eine gute Gelegenheit, um an frühere<br />

Aktivitäten anzuknüpfen. So haben etwa Marc Wohlrabe von <strong>de</strong>r<br />

„Clubcommission“ und <strong>de</strong>r Stipendiat Alexandros Marantelos, <strong>de</strong>r das<br />

„Street Art Festival Thessaloniki“ initiiert hat, die Kulturbeziehungen<br />

zwischen Berlin und Thessaloniki wie<strong>de</strong>rbelebt. Gemeinsam planen<br />

sie einen langfristigen Austausch zu etablieren. Das Beispiel zeigt,<br />

dass persönliche Erfahrungen und Netzwerke entschei<strong>de</strong>nd dazu beitragen<br />

können, ein Zeichen gelebter Solidarität in Europa zu setzen<br />

und neue Initiativen zu starten, die jungen Menschen eine aktive Teilhabe<br />

am kulturellen Leben ermöglichen. In <strong>de</strong>n Projekten, die unsere<br />

Kulturmanager initiieren, können griechische Jugendliche wie<strong>de</strong>r aktiv<br />

wer<strong>de</strong>n, etwas Neues ausprobieren und ihre Persönlichkeit entwickeln.<br />

Die Robert Bosch Stiftung möchte mit START dazu beitragen,<br />

dass sie zu Motoren <strong>de</strong>r Transformation <strong>de</strong>r griechischen Gesellschaft<br />

wer<strong>de</strong>n – gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Krise.<br />

Weitere Informationen<br />

Eine Übersicht über das Programm und alle START Projekte<br />

fin<strong>de</strong>n Sie online unter:<br />

www.bosch-stiftung.<strong>de</strong>/start<br />

Christian Strob, Bild: privat<br />

Christian Strob ist Projektleiter für das Thema<br />

„internationaler Kulturaustausch im Bereich<br />

Völkerverständigung Europa und seine Nachbarn“<br />

<strong>de</strong>r Robert Bosch Stiftung.<br />

20


SPORT<br />

Bild: Till Thaler<br />

JUMP - Grenzen überwin<strong>de</strong>n und Brücken bauen<br />

Ob 3,5 Millionen Einwohner o<strong>de</strong>r 3500: Jugendaustausch funktioniert auch zwischen Jugendlichen,<br />

die in einer europäischen Metropole wohnen, und Jugendlichen, die aus einem kleinen griechischen<br />

Dorf in Nordgriechenland stammen. Im Projekt JUMP haben sich die Jugendlichen sicherlich viel<br />

zu erzählen und einiges zu erleben. Die Fachkräftebegegnung junger Basketball-Teamer/-innen in<br />

Servia bil<strong>de</strong>te <strong>de</strong>n Anfang einer langjährigen Freundschaft.<br />

Melissa Bünger<br />

Im Jahr 2016 startet das Projekt JUMP. Es ist ein Jugendaustausch<br />

<strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Basketballvereins “Berlin Tiger – Basketball in Kreuzberg<br />

2009 e.V.” und seinem griechischen Partner “Anagennisi Servion”(dt.<br />

Wie<strong>de</strong>rgeburt von Servia). Der Austausch wird im Sommer<br />

2016 erstmals in Griechenland und anschließend im Sommer 2017 in<br />

Deutschland stattfin<strong>de</strong>n. Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Völkerverständigung durch einen<br />

Kulturaustausch war <strong>de</strong>r Auslöser für dieses Projekt, in <strong>de</strong>m Vereinsmitglie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r 3500-Einwohner-Stadt Servia und Basketballer/<br />

innen aus <strong>de</strong>r 3,5-Millionen-Metropole Berlin sich begegnen wer<strong>de</strong>n.<br />

Es soll eine Verbindung geschaffen wer<strong>de</strong>n, die es allen Teilnehmer/<br />

innen ermöglicht, bei<strong>de</strong> Orte besser kennen und verstehen zu lernen.<br />

Wir möchten ein Verständnis für an<strong>de</strong>re Lebensumstän<strong>de</strong> entwickeln.<br />

Entstan<strong>de</strong>n ist das Vorhaben in einem Gespräch zwischen Babis Karpouchtsis<br />

und Sokratis Brousiovas. Die I<strong>de</strong>e einen internationalen<br />

Jugendaustausch mit einem <strong>de</strong>utschen Basketballverein zu organisieren<br />

war geboren. Babis C. Karpouchtsis ist Politikwissenschaftler<br />

und engagiert sichfür die <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen. Sokratis<br />

Brousiovas ist Präsi<strong>de</strong>nt <strong>de</strong>s Vereins Anagennisi Servion und<br />

Verantwortlicher <strong>de</strong>s Projektes. Während eines <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Projekts lernte Babis Till Thaler kennen, <strong>de</strong>r im Vorstand eines Basketballvereins<br />

aus Berlin-Kreuzberg aktiv ist. Die Verknüpfung bei<strong>de</strong>r<br />

Vereine war schnell hergestellt. Mit <strong>de</strong>r wertvollen Erfahrung im<br />

Bereich Jugendaustausch von Anja Hack und <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>r<br />

Deutschen Sportjugend ist das Projekt JUMP entstan<strong>de</strong>n, das erfreulicherweise<br />

durch das KJP-Son<strong>de</strong>rprogramm <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>sministeriums<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geför<strong>de</strong>rt wird.<br />

Das Projekt ist primär ein Jugendaustausch im Sinne einer Begegnung.<br />

Des Weiteren dient ein solcher Austausch <strong>de</strong>r Weiterentwicklung<br />

individueller Realitäten anhand <strong>de</strong>r Möglichkeit neue Realitäten<br />

kennenzulernen. Hierzu wird <strong>de</strong>r gegenseitige Besuch als wichtigster<br />

Gegenstand betrachtet. Gera<strong>de</strong> Jugendlichen sollten Chancen geboten<br />

und Perspektiven ermöglicht wer<strong>de</strong>n, etwas Neues zu erfahren.<br />

Diesbezüglich sollen ein Gespräch mit einer Zeitzeugin <strong>de</strong>s Zweiten<br />

Weltkriegs, ein Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft, Besichtigungen<br />

von historischen und aktuellen Orten <strong>de</strong>s Lebens und gemeinsame<br />

Gruppenprojekte stattfin<strong>de</strong>n. Der sportliche Aspekt darf dabei nicht<br />

fehlen, <strong>de</strong>swegen sind neben kulturellen Aktivitäten, Begegnungen im<br />

gemeinsamen Erfahrungsraum Sporthalle vorgesehen.<br />

Erste Begegnung in Servia<br />

Die erste Begegnung <strong>de</strong>r Vereine fand bei einer Fachkräftemaßnahme<br />

im April statt. Dafür sind im Zeitraum vom 22.04. bis zum 25.04.2016<br />

vier Mitglie<strong>de</strong>r bzw. ehemalige Mitglie<strong>de</strong>r von Berlin Tiger nach Servia<br />

geflogen, um vor Ort <strong>de</strong>n ersten Kontakt herzustellen und das Pilotprojekt<br />

JUMP zu organisieren. Darunter Till Thaler, stellvertreten<strong>de</strong>r<br />

21


SPORT<br />

Vorsitzen<strong>de</strong>r von Berlin Tiger und hauptverantwortlicher Organisator<br />

<strong>de</strong>s Projektes, Kay Möpert, Zuständiger für soziale Interaktionen und<br />

außersportliche Aktivitäten, Moritz Haase, Beauftragter für die visuelle<br />

Dokumentation <strong>de</strong>s Austauschs und Melissa Bünger, Verantwortliche<br />

für die schriftliche Dokumentation.<br />

In Griechenland konnten wir zahlreiche Erfahrungen sammeln und<br />

viele aufgeschlossene, verbindliche und herzliche Menschen kennenlernen.<br />

Als wir in Servia ankamen, gab es das erste Treffen zum Kennenlernen<br />

<strong>de</strong>s griechischen Vereins Anagennisi in <strong>de</strong>n Büroräumen<br />

<strong>de</strong>r Sporthalle. Die Kommunikation verlief vollständig in englischer<br />

Sprache. Wir konnten einiges über <strong>de</strong>n Verein erfahren. Der bereits<br />

in <strong>de</strong>n 1980er-Jahren bestehen<strong>de</strong> Verein war einige Jahre inaktiv, bis<br />

zwölf Freun<strong>de</strong> sich dazu entschlossen, <strong>de</strong>n Verein wie<strong>de</strong>r ins Leben zu<br />

rufen. Mehrere Nächte pro Woche trainierten sie in ihrer Freizeit mit<br />

Kin<strong>de</strong>rn in verschie<strong>de</strong>nen Sporthallen <strong>de</strong>r Umgebung bzw. unter freiem<br />

Himmel. Unter ihnen auch Sokratis, einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Vereins.<br />

Der Verein besteht aktuell aus ca. 200 Mitglie<strong>de</strong>rn, die größtenteils<br />

Bewohner Servias sind. Das sportliche Angebot fängt bereits bei einer<br />

Spielgruppe für Kin<strong>de</strong>r unter fünf Jahren an. Die Teams sind aufgeteilt<br />

in <strong>de</strong>n Altersklassen unter zehn Jahre, unter zwölf Jahre und unter<br />

16 Jahre. Für die Jungen gibt es anschließend das Herrenteam. Die<br />

Philosophie <strong>de</strong>s Vereins ist es, in alle Lagen <strong>de</strong>s Lebens füreinan<strong>de</strong>r da<br />

zu sein. Anagennisi ist eine Familie, die in ihrer Sporthalle einen Ort<br />

<strong>de</strong>r Zusammenkunft für die Bewohner Servias gewor<strong>de</strong>n ist. Um dies<br />

erreichen zu können, bewegten sie die Stadt zum Weiterbau <strong>de</strong>r lange<br />

im Rohbau stagnierten Sporthalle, die nun zwar noch nicht fertig,<br />

zumin<strong>de</strong>st jedoch nutzbar ist.<br />

In <strong>de</strong>r Besprechung stellten sich uns mehrere Grün<strong>de</strong>r und Mitglie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Vereins vor. Petros, <strong>de</strong>r Kassenwart, <strong>de</strong>r uns zuvor auch vom<br />

Flughafen abgeholt hatte, seine Ehefrau Rita, Zuständige für die Verwaltung<br />

und für Umarmungen, Nikos, Trainer <strong>de</strong>r Basketballteams im<br />

Verein, Ria, eine <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong>rinnen <strong>de</strong>s Vereins, und Sokratis. Zu einem<br />

späteren Zeitpunkt lernten wir auch Elias kennen, <strong>de</strong>n Ehrenpräsi<strong>de</strong>nten<br />

<strong>de</strong>s Vereins.<br />

Wir haben ein Basketballspiel <strong>de</strong>r jugendlichen Vereinsmitglie<strong>de</strong>r in<br />

gemischt-geschlechtlichen Teams gesehen und haben so einen ersten<br />

Eindruck erlangt über <strong>de</strong>n respektvollen und familiären Umgang<br />

innerhalb <strong>de</strong>s Vereins. Zum Abschluss <strong>de</strong>s ersten Tages wur<strong>de</strong>n wir zu<br />

einem gemütlichen und köstlichen Aben<strong>de</strong>ssen eingela<strong>de</strong>n und haben<br />

die weitere Vorgehensweise besprochen.<br />

In <strong>de</strong>n zweiten Tag mit griechischem Kaffee<br />

Der zweite Tag begann mit einem gemeinsamen Frühstück und anschließen<strong>de</strong>m<br />

Treffen begleitet von Stamatia, Sokratis Verlobte. Sie<br />

erzählte uns bei einem griechischen Kaffee etwas über das Leben in<br />

<strong>de</strong>r Kleinstadt Servia. Wir haben erfahren, dass <strong>de</strong>r Großteil <strong>de</strong>r Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

in <strong>de</strong>r Region in <strong>de</strong>r Landwirtschaft und<br />

im Zusammenhang mit <strong>de</strong>n nicht weit entfernten Kohlekraftwerken<br />

liegt. Um die Mittagszeit herum ist in <strong>de</strong>r Stadt nicht viel los, also haben<br />

wir uns ein Spiel <strong>de</strong>r u16-Mädchen angesehen. In <strong>de</strong>r Zeit wur<strong>de</strong><br />

Till von einem lokalen Journalisten interviewt.<br />

Im Rathaus wur<strong>de</strong>n wir von Xrisanthi, <strong>de</strong>r Leiterin <strong>de</strong>s Kulturvereins<br />

von Servia, empfangen. Sie konnte uns interessante Fakten zur Geschichte<br />

Servias geben. Nach historischen Vi<strong>de</strong>os von Zeitzeugen und<br />

Ehefrauen <strong>de</strong>r griechischen Soldaten hörten wir einen Vortrag von<br />

<strong>de</strong>r Zeitzeugin Sofia über ihre Erfahrungen aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Zweiten<br />

Weltkriegs. Es waren bewegen<strong>de</strong> Worte einer beeindrucken<strong>de</strong>n Frau.<br />

Zum Nachmittag hin sind wir auf <strong>de</strong>n an Servia grenzen<strong>de</strong>n Berg<br />

„Neraida“ gefahren. Von dort hat man einen wun<strong>de</strong>rschönen Blick<br />

über <strong>de</strong>n Stausee Polifitou auf Servia und die benachbarten Dörfer.<br />

Wir aßen anschließend ein Mittagessen und gingen danach nebenan<br />

einen Kaffee trinken. Für <strong>de</strong>n Abend fuhren wir nach Velvento, eines<br />

<strong>de</strong>r zuvor aus <strong>de</strong>r Ferne erblickten Nachbardörfer, und besuchten das<br />

Heimspiel <strong>de</strong>s Basketballteams von Velvento, das gegen Kozani das<br />

Hinspiel um <strong>de</strong>n Aufstieg spielte. Die Popularität <strong>de</strong>s griechischen<br />

Nationalsports ist in diesem Dorf sehr <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n. Die Halle<br />

war so überfüllt, dass eine Menge von Zuschauern stehen mussten<br />

o<strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>m Hallenbo<strong>de</strong>n saßen. Ein Erlebnis, das nur mit einem<br />

Sieg <strong>de</strong>s Heimteams noch beeindrucken<strong>de</strong>r hätte sein können. Zum<br />

Abschluss <strong>de</strong>s Tages nahm Sokratis uns mit in eine Bar im Zentrum, in<br />

<strong>de</strong>m zu später Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich mehr los war als noch zur Mittagszeit.<br />

Der dritte Tag<br />

Wir sind mit einem Frühstück am Rathausplatz in <strong>de</strong>n dritten Tag<br />

gestartet. Die „Plateia“ ist ein großer Platz, <strong>de</strong>r für Veranstaltungen<br />

aber auch als Treffpunkt nach <strong>de</strong>m Kirchenbesuch am Sonntag dient.<br />

Parallel zum Frühstück konnten wir vorösterliche Feierlichkeiten miterleben,<br />

die dort zelebriert wur<strong>de</strong>n. Es gab neben Verkaufsstän<strong>de</strong>n, einen<br />

Stand mit Zeichnungen für Kin<strong>de</strong>r und einen Schminkstand – alle<br />

von Freiwilligen betreut. Zu<strong>de</strong>m haben wir <strong>de</strong>n Lazarines zugesehen,<br />

die einen traditionellen Volkstanz vorführten. Im Anschluss sind wir<br />

auf <strong>de</strong>n Titarion Berg zum Schloss „Castle of Oria“ gelaufen. Auf <strong>de</strong>m<br />

Berg war die ursprüngliche Stadt Servia als eine Festung mit mehreren<br />

Festungsmauern angelegt. Die Ruinen <strong>de</strong>r Stadt stehen <strong>de</strong>rzeit<br />

verborgen im Wald. An manchen Stellen fin<strong>de</strong>t eine Ausgrabung statt,<br />

an<strong>de</strong>re Teile wur<strong>de</strong>n rekonstruiert und sind begehbar. Man erhält eine<br />

I<strong>de</strong>e davon, wie dort das Leben im Mittelalter aussah. Danach trafen<br />

wir unsere neuen Freun<strong>de</strong> von Anagennise in einem fantastischen Restaurant<br />

wie<strong>de</strong>r. Es gab Essen von einer international ausgebil<strong>de</strong>ten<br />

Chefköchin. Wohlgenährt gingen wir gemeinsam in die Vereinsräume<br />

in <strong>de</strong>r Sporthalle, wo <strong>de</strong>r offizielle Termin zur Organisation <strong>de</strong>s Austauschs<br />

stattfand. Nach<strong>de</strong>m wir uns zwei Tage kennengelernt hatten,<br />

fiel es uns <strong>de</strong>utlich leichter, über die nun gemeinsame I<strong>de</strong>e zu sprechen<br />

und darüber zu beraten, wie wir diese I<strong>de</strong>e in ein konkretes Projekt<br />

umwan<strong>de</strong>ln können. Alle Beteiligten waren sich einig, dass dieses<br />

Projekt das Potenzial hat, <strong>de</strong>n Teilnehmer/innen eine wertvolle Erfahrung<br />

zu sein. Anschließend gingen wir in die Sporthalle und spielten<br />

gemeinsam mit einigen Jugendlichen in <strong>de</strong>r Sporthalle Basketball.<br />

Am Tag <strong>de</strong>r Abreise haben wir <strong>de</strong>n Wochenmarkt besucht, wo wir<br />

einige <strong>de</strong>r Vereinsmitglie<strong>de</strong>r wie<strong>de</strong>r getroffen haben. In einem letzten<br />

Gespräch unter <strong>de</strong>n Vereinsverantwortlichen wur<strong>de</strong> die gegenseitige<br />

Unterstützung bekräftigt und das Interesse an <strong>de</strong>m Jugendaustausch<br />

besiegelt. Danach wur<strong>de</strong>n wir – wie<strong>de</strong>r von Pedros – zum Flughafen<br />

22


SPORT<br />

gefahren. Zurück in Deutschland sind wir uns alle einig: Wir freuen<br />

uns sehr auf <strong>de</strong>n Austausch <strong>de</strong>r Jugendlichen im Sommer und sind<br />

zuversichtlich, dass es für alle Beteiligten eine erlebnisreiche Erfahrung<br />

wird.<br />

Melissa Bünger, Bild: privat<br />

Melissa spielt seit 2011 bei Berlin Tiger Basketball.<br />

Schon vor ihrer - bald abgeschlossenen - Ausbildung zur<br />

Bankkauffrau hat sie ihre Lei<strong>de</strong>nschaft zum Schreiben<br />

ent<strong>de</strong>ckt. Wann immer sie kann, nutzt sie die Gelegenheit<br />

dazu, diese Lei<strong>de</strong>nschaft auszuleben.<br />

23


ZIVILGESELLSCHAFT UND JUGENDARBEIT<br />

Freiwillige <strong>de</strong>r griechischen Jugend-NGO Elix<br />

Bild: Dubravka Franz<br />

Best Practice-Beispiele griechischer Jugend-NGOs<br />

für lokale Entwicklungspläne<br />

Dieser Artikel untersucht drei Parameter <strong>de</strong>r Auswirkungen, die griechische Jugend-NGOs auf lokaler<br />

Ebene haben: die Jugendpartizipation, die Schaffung von Synergien mit kommunalen Strukturen,<br />

die Än<strong>de</strong>rung eines Klimas <strong>de</strong>r Abschottung. Diese Parameter umschreiben einen Prozess, <strong>de</strong>r lokale<br />

Entwicklung mit einer Ausrichtung auf die Jugend för<strong>de</strong>rt – die Bevölkerungsgruppe, die am dynamischsten<br />

ist, gleichzeitig aber auch die am unmittelbarsten von <strong>de</strong>n Folgen <strong>de</strong>r Krise betroffen ist.<br />

Babis Papaioannou<br />

Nach <strong>de</strong>r Aufnahme von Griechenland in die Europäische Union<br />

(ehemals EWG) im Jahr 1981 und <strong>de</strong>r schrittweisen Vertiefung<br />

<strong>de</strong>r europäischen Jugendpolitiken entstand ein neues, dynamisches<br />

Netzwerk sozialer Intervention – das <strong>de</strong>r Jugend-NGOs. Diese<br />

Organisationen weisen drei Hauptmerkmale auf, insbeson<strong>de</strong>re in ihrer<br />

Anfangsphase:<br />

• eine rein ehrenamtliche Basis und eine För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Ehrenamts<br />

• Möglichkeiten <strong>de</strong>r Einflussnahme auf lokaler Ebene sowie –<br />

in wenigen Fällen – auf regionaler und nationaler Ebene<br />

• Verwendung von Instrumenten <strong>de</strong>r non-formalen Bildung<br />

Diese Strukturen wur<strong>de</strong>n schrittweise durch <strong>de</strong>n Staat und die kommunale<br />

Selbstverwaltung geför<strong>de</strong>rt. Die Erfahrung <strong>de</strong>r Zusammenarbeit<br />

war jedoch nicht immer positiv. In vielen Fällen be<strong>de</strong>utete die<br />

Kooperation mit öffentlichen Einrichtungen das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Jugendinitiative.<br />

Das Ergebnis war jedoch immer eine Verän<strong>de</strong>rung sowie die<br />

Schaffung neuer Rahmenbedingungen in <strong>de</strong>r lokalen Gemeinschaft.<br />

Gleichzeitig bot die Zusammenarbeit in internationalen Formaten die<br />

Möglichkeit, Best Practice-Beispiele aus an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn, in <strong>de</strong>nen<br />

Jugendpolitiken bereits seit Jahrzehnten umgesetzt wer<strong>de</strong>n, zu übernehmen.<br />

Youthnet griechenlandweit<br />

Eines <strong>de</strong>r erfolgreichsten Beispiele von Jugendbeteiligung auf lokaler<br />

Ebene ist das Netzwerk <strong>de</strong>r lokalen Jugendräte, das sich nach<br />

2004 zur Jugend-NGO Youthnet Hellas (www.youthnet.gr) mit Sitz<br />

in Heraklion, Kreta, weiterentwickelt hat. Das Jugendnetzwerk führte<br />

in Griechenland erstmalig ein Konzept <strong>de</strong>r Mitbestimmung und <strong>de</strong>s<br />

offenen Dialogs für die Umsetzung von Jugendpolitiken auf lokaler<br />

Ebene ein. Über 200 Jugendkommunalräte im ganzen Land formierten<br />

sich und Hun<strong>de</strong>rte von jungen Menschen beteiligten sich aktiv<br />

an <strong>de</strong>n Belangen <strong>de</strong>r lokalen Gesellschaft. Während dieses Zeitraums<br />

(1994-2006) entstan<strong>de</strong>n dutzen<strong>de</strong> lokale Entwicklungsinitiativen<br />

mit <strong>de</strong>r Unterstützung bzw. in Kooperation <strong>de</strong>r/mit <strong>de</strong>n Kommunen.<br />

Das Wichtigste aber war die Einbeziehung von Jugendlichen in die<br />

alltäglichen Arbeitsprozesse <strong>de</strong>r Kommunen, dass sie einen Einblick<br />

gewinnen konnten über die Art und Weise, wie <strong>de</strong>r Stadtrat funktioniert<br />

und entschei<strong>de</strong>t, und dass sie auf diesem Weg lernten, wie sich<br />

mündige Bürger an <strong>de</strong>mokratischen Prozessen beteiligen. Seit dieser<br />

Zeit gibt es bis heute junge Menschen, die sich letzten En<strong>de</strong>s aktiv<br />

am lokalen politischen Leben beteiligen und als Stadträte bzw. Bürgermeister<br />

kandidierten, während <strong>de</strong>r Europarat die Jugendkommunalräte<br />

zu <strong>de</strong>n vorbildlichen Beispielen implementierter Jugendpolitik<br />

in Europa rechnet.<br />

24


ZIVILGESELLSCHAFT UND JUGENDARBEIT<br />

K.A.N.E. in Kalamata<br />

Ein zweites positives Beispiel ist die Jugend-NGO „Κοινωνική<br />

Ανάπτυξη Νέων“ (dt. Soziale Entwicklung von Jugendlichen, Abk.<br />

Κ.Α.ΝΕ.) in Kalamata, die 2008 gegrün<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, um Jugendstrukturen<br />

zu etablieren sowie Beratung zur individuellen Entfaltung und<br />

zur beruflichen Entwicklung anzubieten (www.ngokane.org). Aus <strong>de</strong>r<br />

NGO entstammt das Jugendzentrum Kalamata, das aus eigenen Mitteln<br />

finanziert wird und ausschließlich auf freiwilliges Engagement<br />

basiert. Das Jugendzentrum bietet Sprach-und Tanzunterricht an,<br />

Kunst- und Musikstun<strong>de</strong>n, Sport und an<strong>de</strong>re Aktivitäten und arbeitet<br />

inzwischen unabhängig von Κ.Α.ΝΕ. unter <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s Rates<br />

<strong>de</strong>r freiwillig Engagierten als ein Versuch für direktes <strong>de</strong>mokratisches<br />

Vorgehen. Hier wur<strong>de</strong>n über 4000 junge Menschen aus Kalamata ausgebil<strong>de</strong>t<br />

und es wur<strong>de</strong>n mehr als 300 kulturelle und soziale Veranstaltungen<br />

durchgeführt. Die Organisation ist die zentrale Anlaufstelle<br />

für die Jugend vor Ort und sie hat zur einer beson<strong>de</strong>rs positiven Mobilisierung<br />

im Bereich Jugend innerhalb <strong>de</strong>r Kommune geführt.<br />

Elix im Freiwilligendienst vor Ort<br />

Die Nichtregierungsorganisation ELIX - Freiwilligenprogramme (www.<br />

elix.org.gr) mit Sitz in Athen kultiviert seit 1987 ehrenamtliches Bewusstsein<br />

und för<strong>de</strong>rt das freiwillige Engagement. Ihr Hauptziel ist<br />

die För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r individuellen Persönlichkeitsentwicklung und die<br />

Entwicklung <strong>de</strong>s Bürgers hin zum Weltbürger durch die aktive Beteiligung<br />

an <strong>de</strong>n Belangen <strong>de</strong>r Gemeinschaft und <strong>de</strong>n Gemeindienst.<br />

ΕLΙX führt internationale Freiwilligenprojekte durch, die sich mit<br />

Umweltschutz und <strong>de</strong>r Erhaltung <strong>de</strong>s Kulturerbes beschäftigen und<br />

das kulturelle und soziale Engagement för<strong>de</strong>rn. Fast alle ihre Aktivitäten<br />

wer<strong>de</strong>n in Zusammenarbeit mit Kommunen im gesamten Land<br />

durchgeführt und es han<strong>de</strong>lt sich hierbei um eines <strong>de</strong>r besten Beispiele<br />

von Organisationen, die intensiv zum Wachstum zur lokalen Entwicklung<br />

beitragen, da sie mit Freiwilligen <strong>de</strong>n Aufbau <strong>de</strong>r sozialen<br />

Infrastruktur för<strong>de</strong>rn.<br />

PRAXIS für Aktion<br />

Die Jugend-Freiwilligenorganisation PRAXIS ist seit 1995 in <strong>de</strong>r Stadt<br />

Serres aktiv und unterstützt alle Bereiche, die Jugendthemen tangieren,<br />

mit <strong>de</strong>m Ziel allen Jugendlichen Chancen zu eröffnen, in<strong>de</strong>m sie<br />

sie dazu auffor<strong>de</strong>rt, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten einzusetzen bei<br />

<strong>de</strong>r Umsetzung von Partizipationsmaßnahmen, Kooperationen und<br />

Aktionen (www.praxisgreece.com). Die Maßnahmen von PRAXIS beinhalten<br />

Rundfunkkampagnen, Konzerte, Ausstellungen, e-Zeitungen<br />

und Blogs sowie Aufklärungsaktionen für Bürger. Die Organisation<br />

besitzt einen lokalen Rundfunksen<strong>de</strong>r als Kommunikationsinstrument,<br />

durch <strong>de</strong>n sie lokal Einfluss auf kulturelle Belange nimmt, und<br />

sie eröffnet Jugendlichen Möglichkeiten zur lokalen Entwicklung und<br />

zur Innovation.<br />

Thessaloniki – Europäische Jugendhauptstadt<br />

Abschließend ein gegensätzliches Beispiel, bei <strong>de</strong>m es sich nicht um<br />

eine Jugend-NGO han<strong>de</strong>lt, die Initiativen ergreift und Projekte umsetzt,<br />

um lokalen Strukturen zu stärken. Statt<strong>de</strong>ssen han<strong>de</strong>lt es sich<br />

hier um das Beispiel einer Kommune, die ihrerseits Initiativen anstößt<br />

und die örtlichen Jugend-Freiwilligenorganisationen ebenfalls<br />

in diese Richtung hin unterstützt: 2014 wur<strong>de</strong> Thessaloniki zur „Europäischen<br />

Jugendhauptstadt“ gekürt. Die Stadtverwaltung von Thessaloniki<br />

entschied sich hierbei, <strong>de</strong>n lokalen Jugend-NGOs <strong>de</strong>r Stadt<br />

die Mehrzahl <strong>de</strong>r Projekte und <strong>de</strong>r Veranstaltungen anzuvertrauen.<br />

Auf diese Weise finanzierte die Stadt im Rahmen einer öffentlichen<br />

Ausschreibung über 100 kleinere Projekte mit bis zu 5.000 Euro. Mit<br />

dieser Strategie wur<strong>de</strong> eine strukturierte und positive Mobilisierung<br />

im Bereich Jugend geschaffen, Akteure, Freiwillige und vorhan<strong>de</strong>ne<br />

Strukturen <strong>de</strong>r Stadt wur<strong>de</strong>n effektiv aktiviert und am wichtigsten:<br />

dank <strong>de</strong>r entstan<strong>de</strong>nen Synergien und <strong>de</strong>r wachsen<strong>de</strong>n Mobilität etablierte<br />

sich die Stadt als eines <strong>de</strong>r zentralen Zielorte für Jugendliche<br />

in Europa. Heute, zwei Jahre später, wer<strong>de</strong>n weiterhin Projekte umgesetzt,<br />

die im Rahmen <strong>de</strong>s Programms „Europäische Jugendhauptstadt“<br />

begannen, es gibt weiterhin ausgebil<strong>de</strong>te Fachleute, die wissen,<br />

wie man mit kommunalen Strukturen zusammenarbeitet und vor<br />

allem hat die Stadt ihre weltoffene und jugendfreundliche I<strong>de</strong>ntität<br />

gefun<strong>de</strong>n.<br />

Man könnte an dieser Stelle Dutzen<strong>de</strong> von weiteren Beispielen anführen<br />

und könnte dabei <strong>de</strong>nnoch nicht alle engagierten Organisationen<br />

erwähnen, die auf kommunaler Ebene eine exzellente Arbeit leisten.<br />

Die Schlussfolgerungen sind in je<strong>de</strong>m Fall sehr hoffnungsvoll. Die<br />

Mobilisierung <strong>de</strong>r Jugend-NGOs auf kommunaler Ebene hat die lokale<br />

Entwicklung geför<strong>de</strong>rt und gesellschaftliche Synergien geschaffen,<br />

die die Jugendlichen för<strong>de</strong>rn. Der Beitrag <strong>de</strong>r Kommune selbst<br />

ist notwendig und dort, wo die Zusammenarbeit <strong>de</strong>r Kommune mit<br />

<strong>de</strong>n Jugend-NGOs positiv ist, sind auch die Ergebnisse für die Jugend<br />

vor Ort positiv. Die klare europäische und internationale Ausrichtung<br />

<strong>de</strong>r meisten dieser Projekte, die Lerninstrumente und die positiven<br />

Auswirkungen für die lokale Gemeinschaft bauen automatisch einen<br />

sozialen und kulturellen Wall gegen Hassre<strong>de</strong>, Frem<strong>de</strong>nhass und sozialer<br />

Ausgrenzung. Jugendliche, die sich an lokalen, nationalen und<br />

europäischen Aktionen beteiligen, überwin<strong>de</strong>n unmittelbar Hemmnisse<br />

und nationale Stereotypen und erfassen die europäische Dimension<br />

ihrer nationalen I<strong>de</strong>ntität. Dies ist <strong>de</strong>r große Gewinn und eine<br />

Investition in die Zukunft.<br />

Babis Papaioannou, Bild: Christos Pashoudis<br />

Babis Papaioannou war Koordinator <strong>de</strong>r Organisation<br />

«Thessaloniki – Europäische Jugendhauptstadt 2014»<br />

und ist Mitglied <strong>de</strong>s vorläufigen Managements <strong>de</strong>r<br />

Hellenic Youth Workers Association.<br />

25


POLITISCHE BILDUNG<br />

Bild: babour Lizenz: BY-NC<br />

Politische Bildung und Partizipation: Instrumente zur<br />

Absicherung <strong>de</strong>r Demokratie und zur Vorbeugung <strong>de</strong>r<br />

gewaltsamen Radikalisierung von Jugendlichen<br />

Die politischen Entwicklungen europaweit drängen die Rolle <strong>de</strong>r politischen Jugendbildung<br />

immer stärker in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund <strong>de</strong>r öffentlichen Debatte. Dora Giannaki beschreibt <strong>de</strong>n<br />

Rahmen und die Hintergrün<strong>de</strong> <strong>de</strong>r politischen Jugendbildung in Griechenland.<br />

Dora Giannaki<br />

Der Rahmen<br />

Im letzten Jahrzehnt beobachten wir ein verstärktes Interesse <strong>de</strong>r<br />

Wissenschaftswelt hinsichtlich <strong>de</strong>r Erforschung <strong>de</strong>r Radikalisierung<br />

von Jugendlichen mit einem Schwerpunkt vor allem auf <strong>de</strong>n religiösen<br />

und rechtsextremen Aspekten dieses Phänomens. Insbeson<strong>de</strong>re<br />

seit 2011 mit <strong>de</strong>r aufkommen<strong>de</strong>n Terrorgefahr durch <strong>de</strong>n Islamischen<br />

Staat sowie <strong>de</strong>n aktuellen Terroranschlägen in Europa steht die Radikalisierung<br />

von Jugendlichen nun endgültig auch für die europäischen<br />

Regierungen im Mittelpunkt, dadurch dass diese Thema nicht mehr nur<br />

die Experten beschäftigt, son<strong>de</strong>rn auch einen Großteil <strong>de</strong>r öffentlichen<br />

Meinung, einschließlich aller Akteure im Bereich Bildung und Jugend.<br />

Anhand <strong>de</strong>r verfügbaren Daten wird <strong>de</strong>utlich, dass obwohl je<strong>de</strong> Altersgruppe<br />

von Radikalisierung betroffen ist, Jugendliche mit Abstand<br />

<strong>de</strong>n ersten Platz im Maß <strong>de</strong>s Radikalisierungspotenzials belegen.<br />

1 Trotz <strong>de</strong>r Tatsache, dass die Radikalisierung ein komplexes und<br />

vielseitiges Phänomen ist, das nicht nur anhand eines Faktors o<strong>de</strong>r<br />

einer Ursache analysiert wer<strong>de</strong>n kann, kann man feststellen, dass das<br />

Alter, und konkret die Pubertät und die Jugend, eine Rolle im Radikalisierungsprozess<br />

spielen, da während dieses beson<strong>de</strong>rs sensiblen<br />

Lebensabschnitts die Jugendlichen noch in ihrer Persönlichkeits- und<br />

I<strong>de</strong>ntitätsfindung sind. Daher sind sie beson<strong>de</strong>rs anfällig für radikale<br />

I<strong>de</strong>en, aber auch extremistische Organisationen, die sie auszunutzen<br />

suchen (Euer u.a., 2014: 30). 2<br />

Auf europäischer Ebene geht man davon aus, dass Bildung – formell<br />

und informell – eine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle bei <strong>de</strong>r Bekämpfung und<br />

insbeson<strong>de</strong>re bei <strong>de</strong>r Vorbeugung von Radikalisierung. Das Argument,<br />

das hier verwen<strong>de</strong>t wird, ist, dass die Kultivierung einer <strong>de</strong>mokratischen<br />

Einstellung, d.h. die Erziehung zum <strong>de</strong>mokratischen Bürger, <strong>de</strong>n<br />

Jugendlichen erfor<strong>de</strong>rliche Instrumente bieten kann, um ihre Vulnerabilität<br />

zu verringern und ihre Wi<strong>de</strong>rstandsfähigkeit gegen extreme<br />

und anti<strong>de</strong>mokratische I<strong>de</strong>ologien zu stärken. Auf diese Weise könnte<br />

das Radikalisierungspotential <strong>de</strong>r Jugendlichen in Richtung eines gewaltsamen<br />

Extremismus und Terrorismus vermin<strong>de</strong>rt wer<strong>de</strong>n.<br />

In diesem Rahmen haben sich die Bildungsminister <strong>de</strong>r EU verpflichtet,<br />

ihr Engagement zur Absicherung <strong>de</strong>r durch Bildung erworbenen<br />

sozialen, politischen und kulturellen Fertigkeiten zu intensivieren,<br />

um das kritische Denken von jungen Menschen zu för<strong>de</strong>rn (European<br />

Commission, 2015: online). Die Generaldirektorin für Demokratie <strong>de</strong>s<br />

Europarates, Snežana Samardžić-Marković, äußerte im Mai 2015, dass<br />

die Erziehung eine Schlüsselrolle zur Vorbeugung von Radikalisierung<br />

spielt, und dass „die Bildungs[…]systeme sicherstellen sollten, dass<br />

26


POLITISCHE BILDUNG<br />

die Jugendlichen verantwortungsbewusste Bürger wer<strong>de</strong>n, die Teil<br />

einer multikulturellen und <strong>de</strong>mokratischen Gesellschaft sein wollen<br />

und können…[und]...imstan<strong>de</strong> sind, ihre Rechte auszuüben, die Rechte<br />

an<strong>de</strong>rer zu respektieren und Verschie<strong>de</strong>nheit zu schätzen“ (Samardžić-Marković,<br />

2015: online).<br />

Politische Bildung: Aufgabe und Zielsetzung<br />

Es steht außer Zweifel, dass politische Bildung 3 in unmittelbarem Zusammenhang<br />

zu <strong>de</strong>m jeweiligen sozial-i<strong>de</strong>ologischen und politischen Rahmen<br />

einer Gesellschaft steht – insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>r Definition, die eine<br />

Gesellschaft <strong>de</strong>m Bürger-Begriff zuweist. Folglich gestaltet sich <strong>de</strong>r Inhalt<br />

von politischer Bildung von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Zeit<br />

zu Zeit unterschiedlich. In <strong>de</strong>n heutigen liberalen Demokratien scheint<br />

Aufgabe <strong>de</strong>r politischen Bildung zu sein, verantwortungs-bewusste, aktive<br />

<strong>de</strong>mokratische Bürger hervorzubringen, die zum Fortschritt und zum<br />

Wohlstand ihrer Gesellschaft beitragen (EURYDICE, 2012: 17).<br />

Politische Bildung verfolgt vier Hauptziele:<br />

• Eines dieser Ziele ist es, das soziale und moralische Verantwortungs-bewusstsein<br />

<strong>de</strong>r Jugendlichen zu kultivieren, um ihr Interesse<br />

für die Politik zu wecken und ihnen die Möglichkeit zu geben,<br />

sich selbst als aktive Bürger zu betrachten (Crick, 1998: 7).<br />

• Als Zweites beabsichtigt politische Bildung Jugendlichen Eigenantrieb,<br />

Fähigkeiten und Grundlagen zu vermitteln, um sie<br />

zur gesellschaftlichen Partizipation zu befähigen. 4 Zu diesen<br />

Grundlagen gehört auch die politische Grundlagenbildung (political<br />

literacy), die aus <strong>de</strong>m Erwerb von Kenntnissen und <strong>de</strong>m<br />

Verständnis von Grundbegriffen und Ereignissen hinsichtlich <strong>de</strong>r<br />

sozialen, politischen und staatlichen Strukturen, <strong>de</strong>r Rechte und<br />

Pflichten <strong>de</strong>r Bürger, <strong>de</strong>r Menschenrechte usw. besteht (Crick,<br />

1998: 7; EURYDICE, 2012: 27).<br />

• Drittens ist ein Ziel, bei <strong>de</strong>n Jugendlichen kritisches Denken zu<br />

forcieren, um die verfügbaren Informationen im sozialen und<br />

politischen Bereich analysieren und bewerten zu können, bevor<br />

sie praktisch und sprachlich aktiv wer<strong>de</strong>n (Crick, 1998: 7; EURY-<br />

DICE, 2012: 27).<br />

• Viertes Ziel ist, <strong>de</strong>n Jugendlichen ein System von Prinzipien,<br />

Werten, Einstellungen und Verhaltensformen zu vermitteln, das<br />

mit <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>n Merkmalen <strong>de</strong>r Demokratie konform ist,<br />

wie z.B. Akzeptanz von Verschie<strong>de</strong>nheit, interkulturelles Verständnis,<br />

Bewahrung <strong>de</strong>r Menschen-rechte, Vertrauen in die<br />

Chancengleichheit und Gleichbehandlung, <strong>de</strong>r gesellschaftliche<br />

Zusammenhalt usw. (EURYDICE, 2012: 28).<br />

Die oben genannten Ziele wer<strong>de</strong>n schrittweise von <strong>de</strong>r Kindheit an<br />

bis zur Volljährigkeit erreicht und zwar nicht nur in <strong>de</strong>r formellen Bildung<br />

(Schule), son<strong>de</strong>rn auch durch informelle und nicht-formelle Bildungsformate<br />

(außerschulische Lernerlebnisse). Erlebnispädagogisch<br />

ausgerichtete politische Bildung wird als beson<strong>de</strong>rs wichtig erachtet,<br />

insbeson<strong>de</strong>re wenn dies im Rahmen <strong>de</strong>r Beteiligung von Jugendlichen<br />

an partizipativen Strukturen in <strong>de</strong>r Schule geschieht, z.B. Schülervertretungen,<br />

o<strong>de</strong>r durch außerschulische Aktivitäten im Bereich <strong>de</strong>s<br />

lokalen Engagements. Es wird davon ausgegangen, dass Jugendliche<br />

durch Partizipation ein Selbstverständnis als politisch aktiv beteiligte<br />

Bürger entwickeln (Τsilikidis, 2016: 83), ihre in <strong>de</strong>r formellen Bildung<br />

erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten anwen<strong>de</strong>n und sich besser<br />

auf ihre aktive Präsenz am gesellschaftlich-politischen Leben als<br />

künftige Erwachsene vorbereiten (EURYDICE, 2012: 28).<br />

Die politische Bildung in Griechenland<br />

Was die politische Bildung im Rahmen <strong>de</strong>r formellen Bildung betrifft,<br />

hat die europaweit angelegte Forschung <strong>de</strong>s Netzwerkes EURYDICE<br />

gezeigt, dass die politische Bildung Teil <strong>de</strong>s Lehrplans in allen Mitgliedsstaaten<br />

<strong>de</strong>r Europäischen Union ist. Ihre Einbindung in <strong>de</strong>n<br />

Lehrplan erfolgt auf dreierlei Weise: als eigeständiges Unterrichtfach,<br />

als Teil eines erweiterten Fach- bzw. Studiengebiets o<strong>de</strong>r als übergreifen<strong>de</strong>s<br />

Thema im gesamten Lehrplan (EURYDICE, 2012: 13).<br />

In Griechenland wird politische Bildung sowohl in <strong>de</strong>r Verfassung<br />

verankert, als auch in <strong>de</strong>r Gesetzgebung zu Bildungsinhalte 5 festgeschrieben,<br />

und ist seit Beginn <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts Bestandteil <strong>de</strong>s<br />

Curriculums an griechischen Schulen. 6 Bis vor kurzem war die wissenschaftliche<br />

Diskussion rundum die Didaktik <strong>de</strong>r Bürgerkun<strong>de</strong> beschränkt,<br />

was sich auch in <strong>de</strong>r spärlichen Fachliteratur wi<strong>de</strong>rspiegelt.<br />

Nichts<strong>de</strong>stotrotz stieg das Interesse an politischer Bildung nach 2012<br />

enorm aufgrund <strong>de</strong>r Zunahme <strong>de</strong>r Anhänger <strong>de</strong>r nationalsozialistischen<br />

Partei Gol<strong>de</strong>ne Morgenröte und <strong>de</strong>s Anstiegs an rassistischen<br />

und homophobischen Attacken in großen Ballungsgebieten. Unruhe<br />

erzeugte auch <strong>de</strong>r Einfluss <strong>de</strong>r nationalsozialistischen Formation auf<br />

einen Teil <strong>de</strong>r Wählerschaft insbeson<strong>de</strong>re auf junge Männer, 7 ebenso<br />

wie die intensive Präsenz von Neonazis in <strong>de</strong>n griechischen Schulen<br />

zwecks Anwerbung neuer Anhänger. 8<br />

Politische Bildung wird heute sowohl in <strong>de</strong>r Primarstufe als auch in <strong>de</strong>r<br />

Sekundarstufe als ein eigenständiges Unterrichtsfach umgesetzt (mit<br />

<strong>de</strong>m Titel „Gesellschaftliche und Politische Bildung“ bzw. „Politische<br />

Bildung“), wobei Elemente auch indirekt im gesamten Lehrplan und<br />

insbeson<strong>de</strong>re bestimmte Unterrichtsfächer wie Literatur, Geschichte,<br />

Umwelt- und Gesundheitserziehung usw. 9 zu fin<strong>de</strong>n sind. Während <strong>de</strong>r<br />

zehnjährigen Pflichtschulzeit, die als <strong>de</strong>r fruchtbarste Zeitraum zur Ausreifung<br />

eines politischen Subjekts gilt, wird das Unterrichtsfach Soziale<br />

und Politische Erziehung in folgen<strong>de</strong>n drei Jahrgängen unterrichtet: im<br />

5. und 6. Jahrgang <strong>de</strong>r Grundschule und in <strong>de</strong>r 9. in <strong>de</strong>r Sekundarstufe<br />

auf wöchentlicher Basis während <strong>de</strong>s gesamten Schuljahres (das griechische<br />

Schulsystem besteht aus <strong>de</strong>r Grundschule 1.-6. Jahrgang, Gymnasium<br />

7.-9. Jahrgang, Lyzeum 10.-12. Jahrgang, Anm. d. Red.).<br />

Trotz <strong>de</strong>s aktuell verstärkt aufkommen<strong>de</strong>n Interesses für die Be<strong>de</strong>utung<br />

<strong>de</strong>r politischen Bildung nimmt dieses Unterrichtsfach eher eine<br />

zweitrangige Position im Lehrplan ein, zumal es als Nebenfach bezeichnet<br />

wird und es darüber hinaus „…weiterhin in <strong>de</strong>r Grundschule nur<br />

eine Unterrichtsstun<strong>de</strong> und in <strong>de</strong>r weiterführen<strong>de</strong>n Schule zwei Unterrichtsstun<strong>de</strong>n<br />

unterrichtet [wird], meist in <strong>de</strong>n letzten Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Schultags, wenn die Schüler bereits ermü<strong>de</strong>t sind, und in <strong>de</strong>n ersten<br />

bei<strong>de</strong>n Schulklassen <strong>de</strong>r weiterführen<strong>de</strong>n Schule gar nicht unterrichtet<br />

wird.“ (Τsilikidis, 2016: 24). 10 Diese schwache Präsenz <strong>de</strong>s Unterrichtfachs<br />

Gesellschaftliche und Politische Bildung im Lehrplan verhin<strong>de</strong>rt in<br />

<strong>de</strong>r Praxis die Planung und Umsetzung von erlebnispädagogischen und<br />

27


POLITISCHE BILDUNG<br />

partizipativen Aktivitäten <strong>de</strong>r Schüler/-innen, da diese zeitaufwendig<br />

sind und nur schwer in die wenigen vorgesehenen Unterrichtsstun<strong>de</strong>n<br />

dieses Schulfachs während <strong>de</strong>s Schuljahres integriert wer<strong>de</strong>n können. 11<br />

Darüber hinaus sind die bestehen<strong>de</strong>n Strukturen nur bedingt aktiv an<br />

<strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Beteiligung von Kin<strong>de</strong>rn und Jugendlichen an außerschulischen<br />

Programmen und Projekten wie das Jugendparlament<br />

und die lokalen Jugendräte und somit ist zweifelhaft, inwiefern diese<br />

tatsächlich von <strong>de</strong>n Schülern positiv gesehen wer<strong>de</strong>n und zu ihrer<br />

politischen Emanzipation effektiv beitragen können. Schließlich wird<br />

eine allgemeine Kritik geäußert, die sich darauf bezieht, dass Schüler/<br />

innen an <strong>de</strong>r Planung und Umsetzung <strong>de</strong>s Faches Politische Bildung an<br />

keiner Stelle einbezogen wer<strong>de</strong>n. Dies zeigt, dass sie eher als passive<br />

Empfänger von Wissen betrachtet wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn als aktive Mitgestalter<br />

von Begriffen, von Wissen o<strong>de</strong>r als Schöpfer ihrer eigenen Bildung<br />

(Ausschuss zum Nationalen Dialog zur Bildung, 2016: 4).<br />

Auf <strong>de</strong>m Weg zu einer selbstbestimmten Bürgerschaft<br />

Wie oben dargestellt wur<strong>de</strong>, spielt in <strong>de</strong>r Erziehung zum <strong>de</strong>mokratischen<br />

Bürger die Beteiligung <strong>de</strong>r Schüler/innen an Entscheidungsprozessen,<br />

die das Schulleben betreffen, eine be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Rolle, sowie<br />

auch die Beteiligung an außerschulischen Aktivitäten für die lokale<br />

Gemeinschaft, in <strong>de</strong>r sie leben. Nichts<strong>de</strong>stotrotz sollte an dieser Stelle<br />

<strong>de</strong>utlich gemacht wer<strong>de</strong>n, dass – obwohl Partizipation ein (Bildungs-)<br />

Instrument darstellt, um die Eigenverantwortung junger Menschen<br />

zu stärken, und Ziel <strong>de</strong>r politischen Bildung ist (im Sinne <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung<br />

<strong>de</strong>s aktiven Bürgerdaseins) –nicht alle Arten <strong>de</strong>r Partizipation<br />

mit <strong>de</strong>mokratischen Prinzipien konform sind. Hoskins u.a. heben<br />

hervor, dass in Demokratien die Grenzen <strong>de</strong>r aktiven Bürgerschaft<br />

durch ethische Kriterien bestimmt wer<strong>de</strong>n: „Menschliche Handlungen<br />

sollten die Gemein<strong>de</strong> unterstützen und sich nicht <strong>de</strong>n Prinzipien<br />

<strong>de</strong>r Menschenrechte und <strong>de</strong>m Rechtsstaat wi<strong>de</strong>rsetzen» (Hoskins<br />

u.a., 2006: 11). Unter diesem Gesichtspunkt kann die Beteiligung an<br />

extremistischen Organisationen, die Intoleranz und Gewalt hervorbringen,<br />

nicht als aktives Bürgerdasein betrachtet wer<strong>de</strong>n (ebd.). Um<br />

dies aus einer an<strong>de</strong>ren Richtung mit Hilfe eines konkreteren Beispiels<br />

aus <strong>de</strong>r griechischen Realität zu beleuchten, kann die Integration<br />

eines griechischen Jugendlichen in die Reihen <strong>de</strong>r neonazistischen<br />

Gruppierung Gol<strong>de</strong>ne Morgenröte und seine Teilnahme an sozialen<br />

Aktionen mit <strong>de</strong>m Motto „nur für Griechen“, wie z.B. die Verteilung<br />

von Mahlzeiten bzw. Lebensmitteln und das Blutspen<strong>de</strong>n, nicht als<br />

aktives Bürgerengagement betrachtet wer<strong>de</strong>n, da die Aktionen von<br />

rassistischen Motiven geleitet wer<strong>de</strong>n. 12 Westheimer und Kahne führen<br />

auf, dass Patriotismus und Engagement in <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> häufig<br />

als selbstverständliche „Demokratiebeispiele“ dargestellt wer<strong>de</strong>n<br />

(Westheimer und Kahne, 2013: 10). 13 Tatsächlich aber können diese<br />

bei<strong>de</strong>n Elemente auch für anti<strong>de</strong>mokratische Zwecke genutzt wer<strong>de</strong>n<br />

(ebd.: 12). Dies ist auch <strong>de</strong>r Grund, weshalb man diese bei<strong>de</strong>n Aspekt<br />

in <strong>de</strong>n Lehrplänen nicht nur <strong>de</strong>mokratischer Län<strong>de</strong>r, son<strong>de</strong>rn auch in<br />

autoritären Regimes vorfin<strong>de</strong>t.<br />

Demzufolge muss die Philosophie <strong>de</strong>r politischen Bildung noch etwas an<strong>de</strong>res<br />

aufweisen, um ihre <strong>de</strong>mokratische Ausrichtung gewährleisten zu<br />

können. Dieser Zusatz könnte möglicherweise das Wesen eines „agonistischen<br />

Pluralismus“ (agonistic pluralism) sein, so wie dieser von Chantal<br />

Mouffe beschrieben wur<strong>de</strong>: „Ziel <strong>de</strong>mokratischer Politik ist es, <strong>de</strong>n Antagonismus<br />

[antagonism] in einen Agonismus umzuwan<strong>de</strong>ln [agonism]<br />

[...] für <strong>de</strong>n agonistischen Pluralismus ist eine <strong>de</strong>r Hauptaufgaben einer<br />

<strong>de</strong>mokratischen Politik nicht die, Lei<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>m öffentlichen Leben<br />

zu verbannen, um eine rationale Übereineinkunft zu erlangen, son<strong>de</strong>rn<br />

die Mobilisierung dieser, um <strong>de</strong>mokratische Ziele erreichen zu können“<br />

(Mouffe, 2004: 188). Aus diesem Blickwinkel heraus wird Konfrontation<br />

anerkannt und gerechtfertigt, während gleichzeitig <strong>de</strong>r politische Gegner<br />

nicht länger als Feind (enemy) gesehen wird, son<strong>de</strong>rn als Gegenspieler<br />

(adversary) (Mouffe, 2004: 188-189). Ein solcher Ansatz birgt nicht<br />

nur keine Gefahren für die Demokratie, son<strong>de</strong>rn bil<strong>de</strong>t sogar tatsächlich<br />

die Voraussetzung für ihre Existenz, <strong>de</strong>nn wie Mouffe bemerkt, „[das]<br />

übertriebene Drängen auf Konsens und die Verweigerung <strong>de</strong>r Konfrontation<br />

führen zu Apathie und Enttäuschung an <strong>de</strong>r Beteiligung an <strong>de</strong>r<br />

Politik“ (Mouffe, 2004: 190). Aus diesem Grund muss die Didaktik <strong>de</strong>r<br />

politischen Bildung so konzipiert wer<strong>de</strong>n, dass sie sich nicht nur auf<br />

die „Logik einer strukturell-funktionalen Auffassung und reproduktiven<br />

Zielsetzung“ (Τsilikidis, 2016: 23) beschränkt, 14 die die Jugendlichen in<br />

vor<strong>de</strong>finierte und somit kontrollierbare soziale und politische Rollen<br />

treibt, son<strong>de</strong>rn die Möglichkeit <strong>de</strong>s gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>ls aufzeigt<br />

und das Recht <strong>de</strong>r Jugendlichen unterstreicht, zu urteilen, zu <strong>de</strong>monstrieren<br />

und schlechte Gesetze und ungerechte Politiken anzuzweifeln<br />

(Pechtelidis und Giannaki, 2014: 473), in<strong>de</strong>m sei gleichzeitig auffor<strong>de</strong>rt<br />

wer<strong>de</strong>n, die konstante Notwendigkeit zu verstehen, rohen Wettbewerb<br />

in eine agonistische <strong>de</strong>mokratische Koexistenz zu transformieren.<br />

Schlussfolgerung: Partizipation als<br />

dauerhafte Zielsetzung<br />

Wenn wir davon ausgehen, dass Jugendliche im Rahmen <strong>de</strong>r formellen<br />

und informellen Bildung alles Notwendige zur politischen Bildung<br />

mit <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Kenntnissen und Fertigkeiten, die aktive Bürgerschaft<br />

erfor<strong>de</strong>rt – von <strong>de</strong>r politischen Grundbildung bis hin zur<br />

politischen Ausgereiftheit (political sophistication) – erreicht haben,<br />

bleibt doch alles nur in <strong>de</strong>r Theorie, sofern man ihnen nicht die Möglichkeiten<br />

bieten kann, sich auch im Erwachsenenalter am politischen<br />

Leben zu beteiligen. Partizipation besitzt die Kraft ein soziales Kapital<br />

zu erschaffen, <strong>de</strong>nn die Zusammenarbeit zur Erreichung gemeinsamer<br />

Ziele weckt in <strong>de</strong>n Menschen das Gefühl <strong>de</strong>r Gegenseitigkeit, die die<br />

Schaffung sozialer Netzwerke mit gemeinsamen Werten för<strong>de</strong>rt (Hoskins<br />

κ.α. 2006: 9). Zu <strong>de</strong>m Grad, in <strong>de</strong>m die Jugendlichen die Chance<br />

haben, sich für ihre Gemein<strong>de</strong> zu engagieren, entwickeln sie nicht<br />

nur positive soziale Bindungen (positive bonding) mit ihrem Umfeld,<br />

son<strong>de</strong>rn sie erleben auch ein Gefühl <strong>de</strong>r Zugehörigkeit in <strong>de</strong>r politischen<br />

Gemeinschaft. Es ist offensichtlich, wenn man im Rahmen <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>mokratischen Gesellschaften, die Möglichkeit geboten bekommt,<br />

solche Gefühle zu entwickeln, dass kein Grund besteht diese in alternativer,<br />

anti<strong>de</strong>mokratischer politischer Rhetorik und in extremen<br />

politischen Gemeinschaften zu suchen. In <strong>de</strong>r Praxis also kann man<br />

mit <strong>de</strong>r Schaffung von positiven sozialen Bindungen, die durch Partizipation<br />

erreicht wer<strong>de</strong>n, die Wahrscheinlichkeit <strong>de</strong>s Auftritts von<br />

unsozialen, sträflichen und anti<strong>de</strong>mokratischen Verhaltensformen<br />

min<strong>de</strong>rn (Hoskins κ.α. 2006: 9; Dunne κ.α, 2014: 140-141). Solange<br />

jedoch nicht befriedigen<strong>de</strong> Möglichkeiten <strong>de</strong>r Partizipation geboten<br />

wer<strong>de</strong>n und sich ein Großteil <strong>de</strong>r Jugend in Europa weiterhin sozial<br />

28


POLITISCHE BILDUNG<br />

ausgegrenzt fühlt (aus <strong>de</strong>m Arbeitsmarkt, <strong>de</strong>r Ausbildung, <strong>de</strong>m politischen<br />

Leben usw.), erscheint die Akzeptanz von anti<strong>de</strong>mokratischen,<br />

antipluralistischen und autoritären I<strong>de</strong>ologien und Praktiken als ein<br />

effizienter und attraktiver – vielleicht sogar, als <strong>de</strong>r einzige – Ausweg<br />

zur Bewältigung <strong>de</strong>r Probleme.<br />

10 In <strong>de</strong>r Sekundarstufe (Allgemeinbil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s Lyzeum, Technisches Lyzeum)<br />

lautet <strong>de</strong>r vollständige Titel <strong>de</strong>s Fachs „Politische Bildung (Wirtschaft, politische<br />

Strukturen & Prinzipien <strong>de</strong>s Rechtstaates, Soziologie)“ und die Unterrichtsdauer<br />

beträgt (je nach Schultyp und Jahrgang) zwischen zwei und<br />

drei Unterrichtsstun<strong>de</strong>n wöchentlich.<br />

1 Laut Christmann [besteht]„ [d]ie Mehrheit <strong>de</strong>r radikalisierten Menschen im<br />

Westen […] aus Jugendlichen und Männern“. Ihr Alter bewegt sich zwischen<br />

Mitte <strong>de</strong>r Pubertät bis zur Mitte <strong>de</strong>s dritten Lebensjahrzehnts (Christmann,<br />

2012: 23).<br />

2 Zu <strong>de</strong>n Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Radikalisierung von Jugendlichen wer<strong>de</strong>n aufgeführt:<br />

finanzielle Probleme, politische Unterdrückung, verschie<strong>de</strong>ne Formen von<br />

Frustration, die Politik <strong>de</strong>r westlichen Demokratien ob im Inland o<strong>de</strong>r Ausland,<br />

Diskriminierungs- und Stigmatisierungsphänomene usw.<br />

3 An dieser Stelle gibt die Autorin Hinweise auf die unterschiedlichen Bezeichnungen<br />

<strong>de</strong>s griechischen Pendants <strong>de</strong>s Begriffs „politische Bildung“, die sie<br />

selbst in ihrem griechischen Originalbeitrag „η εκπαίδευση για την ιδιότητα<br />

που πολίτη“ (dt. die Erziehung zum <strong>de</strong>mokratischen Bürger) bezeichnet.<br />

Weitere Begriffe aus <strong>de</strong>r Literatur, die sie aufführt, sind: „πολιτειακή παιδεία/<br />

εκπαίδευση“ (engl. citizenship education) „πολιτική παιδεία/εκπαίδευση (engl.<br />

political education) (Hinweis <strong>de</strong>r Redaktion).<br />

4 In diesem Fall beschränkt sich <strong>de</strong>r Begriff „Partizipation“ nicht auf die traditionelle<br />

politische Definition, son<strong>de</strong>rn schließt auch weitere Be<strong>de</strong>utungen ein,<br />

z.B. das Engagement in Organisationen <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft, wie beispielsweise<br />

religiöse, sportliche, umweltbezogene, kulturelle Organisationen usw.<br />

(Hoskins et al, 2006: 10-11).<br />

11 In <strong>de</strong>r Grundschule wer<strong>de</strong>n nur 28 bis 35 Stun<strong>de</strong>n jährlich für <strong>de</strong>n Unterricht<br />

mit <strong>de</strong>m Schulbuch für „Soziale und Politische Bildung“ eingeplant ohne Berücksichtigung<br />

<strong>de</strong>r Feiertage, Ausflüge etc., (Τsilikidis, 2016: 21).<br />

12 Die Gol<strong>de</strong>ne Morgenröte verteilte über einen längeren Zeitraum Lebensmittel<br />

bzw. Mahlzeiten und rief zu Blutspen<strong>de</strong>n auf, mit <strong>de</strong>m Motto „nur<br />

für Griechen“. Seit Dezember 2015 mit <strong>de</strong>r Einführung <strong>de</strong>s Gesetzes<br />

4356/2015 und <strong>de</strong>r damit einhergehen<strong>de</strong>n neuen Verordnung <strong>de</strong>s Strafrechts<br />

wer<strong>de</strong>n rassistisch motivierte Ausgrenzungen von <strong>de</strong>r Gewährung<br />

bzw. <strong>de</strong>m Angebot von Leistungen bzw. Waren als Verbrechen angesehen<br />

und als ziviles Vergehen bestraft. Für weitere Informationen s. Artikel 29<br />

Ges. Ν.4356/2015.<br />

13 Patriotismus ist auch ein Bestandteil <strong>de</strong>s Inhalts politischen Erziehung in<br />

Griechenland. Wie Tsilikidis bemerkt: „die Stärkung <strong>de</strong>r nationalen I<strong>de</strong>ntität,<br />

die verbun<strong>de</strong>n ist mit <strong>de</strong>m traditionellen Erbe und <strong>de</strong>m religiösen Bewusstsein,<br />

stellt weiterhin die be<strong>de</strong>utendste i<strong>de</strong>ologische Ausrichtung dar...<br />

[obgleich]...sie nunmehr koexistiert mit <strong>de</strong>r Zielsetzung <strong>de</strong>r Kultivierung <strong>de</strong>r<br />

europäischen I<strong>de</strong>ntität“ (Τsilikidis, 2016: 22).<br />

14 Die politische Bildung in Griechenland scheint eine <strong>de</strong>rartige Logik zu för<strong>de</strong>rn.<br />

Siehe auch: Pechtelidis und Giannaki, 2014; Τsilikidis, 2016; Pechtelidis,<br />

2016; Makrinioti, 2012.<br />

5 In <strong>de</strong>r griechischen Verfassung gibt es <strong>de</strong>n entsprechen<strong>de</strong>n Bezug in Artikel<br />

16, wo u.a. erwähnt wird: „2. Bildung ist eine <strong>de</strong>r Hauptaufgaben <strong>de</strong>s Staates<br />

und hat als Ziel die moralische, geistige, berufliche und sportliche Erziehung<br />

<strong>de</strong>r Griechen, die Entwicklung eines nationalen und religiösen Bewusstseins<br />

und die Reifung zu freien und verantwortungsbewussten Bürgern“.<br />

6 Als Unterrichtsfach zum ersten Mal unterrichtet im Jahr 1929, in <strong>de</strong>r 6. Gymnasialklasse<br />

(Jahrgangsstufe 12, Anm. d. Red.) mit Titel „Elemente <strong>de</strong>r Bürgerkun<strong>de</strong>“<br />

(Τsilikidis, 2016: 11).<br />

7 Siehe entsprechend Georgiadou, 2009; Public Issue, 2012; Stavropoulos,<br />

2014.<br />

8 In Bezug auf dieses Phänomen s. auch Papadopoulos, 2012.<br />

9 Dennoch, wie Tsilikidis anmerkt, ist das Fach Gesellschaftliche und Politische<br />

Bildung „…auf <strong>de</strong>r Grundlage seines Titels und [seines] Zwecks ... das einzige<br />

Schulfach ..., das politische Bildung umfasst, im Sinne einer strukturierten<br />

Maßnahme mit <strong>de</strong>m Ziel konkrete Lernergebnisse zu erzielen„ (Τsilikidis,<br />

2016: 19).<br />

Dora Giannaki<br />

Dora Giannaki ist Politikwissenschaftlerin. Sie studierte<br />

Politikwissenschaften und Geschichte an <strong>de</strong>r Pantion-Universität<br />

in Athen und absolvierte einen Master in Politische<br />

Theorie an <strong>de</strong>r Universität von Essex sowie in Themen<br />

<strong>de</strong>r Sicherheit und Gerechtigkeit an <strong>de</strong>r Universität von<br />

Leeds. Sie fungierte als wissenschaftliche Mitarbeiterin am<br />

Generalsekretariat für Jugend im griechischen Bildungsministerium<br />

und am griechischen Nationalen Akkreditierungszentrum<br />

für Weiterbildung (Ε.ΚΕ.PΙS.) sowie als Expertin<br />

und nationale Vertreterin im Europäischen Wissenszentrum<br />

für Jugendpolitik (EKCYP) <strong>de</strong>r Europäischen Kommission und<br />

<strong>de</strong>s Europarats (Youth Partnership). Seit März 2015 ist sie<br />

Mitglied <strong>de</strong>s Vorstands <strong>de</strong>s Zentrums für Sicherheitsfragen<br />

(KEMEA), eines Trägers, <strong>de</strong>r das Ziel verfolgt, Studien zur<br />

Sicherheitspolitik durchzuführen.<br />

29


POLITISCHE BILDUNG<br />

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Westheimer, J./Kahne, J. (2013). ‘Reconnecting<br />

Education to Democracy’,<br />

in Phi Delta Kappan, H. 85 (1): 9-14.<br />

30


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Deutsche Jugendliche begrüßen ihre griechischen Gäste am Hamburger Flughafen<br />

Bild: Xenia Fastnacht<br />

Erinnerungsarbeit in <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Jugendbegegnungen – Herausfor<strong>de</strong>rungen,<br />

Chancen und Perspektiven<br />

Der Zweite Weltkrieg und die in ihm begangenen Verbrechen sind für die meisten Jugendliche<br />

weit zurückliegen<strong>de</strong> Ereignisse, die mit ihrer Lebenswirklichkeit nichts mehr zu tun haben.<br />

Die Folgen <strong>de</strong>r Vergangenheit bestehen jedoch fort: In <strong>de</strong>n griechischen Gemein<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>nen<br />

von Deutschen während <strong>de</strong>r Besatzung Zivilisten ermor<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, ist die Vergangenheit<br />

präsent. Rita Loumites hat <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustauschprojekte mit historischpolitischer<br />

Bildungsarbeit durchgeführt und reflektiert sie.<br />

Rita Loumites<br />

„Meinen Scha<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n ich vom Zweiten Weltkrieg trage,<br />

kann man schwer reparieren, aber man kann versuchen,<br />

meinen Enkel davor zu bewahren.“ 1<br />

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben keine unmittelbaren<br />

Auswirkungen mehr auf die Generation <strong>de</strong>r Jugendlichen<br />

von heute. Die noch ausstehen<strong>de</strong>n Wie<strong>de</strong>rgutmachungen von<br />

Kriegsverbrechen und Versöhnungsarbeit zwischen zwei Staaten sind<br />

von historisch-politischer Bildungsarbeit mit Jugendlichen, die sich<br />

mit <strong>de</strong>m Erinnern und <strong>de</strong>r Aufklärung befasst, zu trennen. Die Tatsache,<br />

dass sich griechische und <strong>de</strong>utsche Jugendliche im Rahmen<br />

eines Austauschprojekts an diesen grausamen Teil ihrer gemeinsamen<br />

Geschichte erinnern wollen, ist ein Beweis für die Distanz, die zwischen<br />

<strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg und heute liegt. Ihre Bereitschaft und<br />

ihre Herangehensweise an die Thematik sind <strong>de</strong>r Garant <strong>de</strong>r positiven<br />

Entwicklung <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen, die in eine jahrzehntelang<br />

anhalten<strong>de</strong> Freundschaft mün<strong>de</strong>te.<br />

Zwei <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustauschprojekte mit historisch-politischer<br />

Bildungsarbeit wur<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n letzten zwei Jahren<br />

durchgeführt. Finanziert wur<strong>de</strong>n bei<strong>de</strong> Projekte von <strong>de</strong>r Stiftung EVZ<br />

– Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Rahmen <strong>de</strong>s För<strong>de</strong>rprogramms<br />

Europeans for Peace. Träger <strong>de</strong>s ersten Projekts mit <strong>de</strong>m<br />

Titel Aktiv für Frie<strong>de</strong>n und Toleranz – Verstehpartnerschaft waren die<br />

Evangelische Frie<strong>de</strong>nsgemein<strong>de</strong> Charlottenburg in Berlin und <strong>de</strong>r Kulturverein<br />

<strong>de</strong>s Bergdorfs Lechovo in Nordgriechenland. Im Juli 2014<br />

reisten dreizehn <strong>de</strong>utsche Jugendliche für eine Woche nach Lechovo,<br />

einen Monat später fand <strong>de</strong>r Gegenbesuch <strong>de</strong>r dreizehn Lechoviten<br />

in Berlin statt. Projektthema war die Erforschung und Aufklärung <strong>de</strong>r<br />

Geschichte griechischer Opferdörfer und <strong>de</strong>r Folgen <strong>de</strong>s Nationalsozialismus,<br />

wobei die Jugendlichen ihre Erkenntnisse auf aktuelle Phänomene,<br />

wie Intoleranz und Diskriminierung bezogen. Die Projektarbeit<br />

bestand aus Zeitzeugeninterviews in bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn, Museums- und<br />

Ge<strong>de</strong>nkstättenbesuchen (Ge<strong>de</strong>nkstätte Plötzensee, Holocaust<strong>de</strong>nkmal,<br />

Topographie <strong>de</strong>s Terrors, Zentrum Judaicum), wobei am Nachmittag<br />

größtenteils das Zusammenfassen <strong>de</strong>r Ergebnisse in Gruppendiskussionen<br />

und Gesprächen auf <strong>de</strong>m Programm stand. Dabei wur<strong>de</strong><br />

31


ERINNERUNGSARBEIT<br />

insbeson<strong>de</strong>re die gegenseitige Geschichtserklärung angestrebt, wodurch<br />

eventuelle Wi<strong>de</strong>rsprüche <strong>de</strong>r Geschichtskenntnis- und wahrnehmungen<br />

offen dargelegt wer<strong>de</strong>n sollten. Durch die Erforschung<br />

<strong>de</strong>r Erinnerungskulturen bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r hatten die Jugendlichen somit<br />

die Chance, gemeinsam die Geschichte neu wahrzunehmen. Abendliche<br />

Freizeitveranstaltungen und Sightseeing stellten einen festen<br />

Bestandteil <strong>de</strong>s täglichen Programms dar.<br />

Das zweite Projekt im Sommer 2015 mit <strong>de</strong>m Titel Leben und leben<br />

lassen – Ausgrenzung gestern und heute wur<strong>de</strong> erneut mit <strong>de</strong>m Kulturverein<br />

Lechovo und einer Schülergruppe <strong>de</strong>r Gelehrtenschule <strong>de</strong>s<br />

Johanneums in Hamburg durchgeführt. Auch an diesem insgesamt<br />

zweiwöchigen Austausch nahmen insgesamt 26 Jugendliche teil –<br />

dreizehn auf je<strong>de</strong>r Seite. Projektthema hierbei war die Erkennung von<br />

Diskriminierungsstrukturen und Ausgrenzungsmechanismen sowie<br />

die kritische Reflexion <strong>de</strong>s eigenen Han<strong>de</strong>lns. Entgegnungsstrategien<br />

wur<strong>de</strong>n entwickelt. Auf <strong>de</strong>m Programm stand unter an<strong>de</strong>rem <strong>de</strong>r<br />

Besuch <strong>de</strong>s Auswan<strong>de</strong>rungsmuseums Ballinstadt in Hamburg, <strong>de</strong>r<br />

Besuch von sozialen Einrichtungen, die sich um eine bessere Integration<br />

von ausländischen Jugendlichen kümmern sowie die Durchführung<br />

von Interviews mit Migranten in Berlin und Lechovo. Nebenbei<br />

wur<strong>de</strong>n viele Freizeitaktivitäten in <strong>de</strong>r multikulturellen Hafenstadt<br />

Hamburg wahrgenommen und durch die Teilnahme am dreitägigen<br />

Dorffest in Lechovo die griechische Kultur mit viel Musik und Tanz<br />

miterlebt.<br />

Ziel eines Jugendaustauschprojekts mit historisch-politischer Bildungsarbeit<br />

ist vor allem, dass sich die Jugendlichen untereinan<strong>de</strong>r<br />

und die gegenseitigen Lebenswelten kennenlernen. Eine Gruppendynamik,<br />

die auf ein freundschaftliches Verhältnis aufbaut, stellt einen<br />

geeigneten Rahmen für die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r gemeinsamen<br />

Geschichte dar. Auf dieser positiven Grundlage können die Erinnerungskulturen<br />

bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r in Bezug auf die NS-Zeit untersucht<br />

wer<strong>de</strong>n und parallel ein Bogen in die Gegenwart gespannt wer<strong>de</strong>n,<br />

um so aus Fehlern <strong>de</strong>r Vergangenheit lernen zu können.<br />

Durch die Unterkunft in <strong>de</strong>n Familien verlassen die Jugendlichen für<br />

eine Woche komplett ihre Komfortzone und tauchen in eine an<strong>de</strong>re<br />

Lebenswelt ein. Die Teilnahme am Familienleben ermöglicht ihnen<br />

eine frem<strong>de</strong> Kultur von innen heraus kennenzulernen und für kurze<br />

Zeit selbst Teil dieser Familie zu wer<strong>de</strong>n. Es ist daher sehr wichtig,<br />

dass Englischkenntnisse auf bei<strong>de</strong>n Seiten sichergestellt wer<strong>de</strong>n.<br />

Den Begriff „Jugendarbeit“ in seiner genauen Be<strong>de</strong>utung ins Griechische<br />

zu übersetzen, ist beinahe unmöglich. Dies ist unter an<strong>de</strong>rem auf<br />

das unterschiedliche Bildungs- und Lernsystem zurückzuführen. Bei<br />

gemeinsamer Projektarbeit muss man sich da zunächst pädagogisch<br />

herantasten und herausfin<strong>de</strong>n, wie man diese Unterschie<strong>de</strong> nutzen<br />

kann, um voneinan<strong>de</strong>r zu lernen. Hinzu kommt die unterschiedliche<br />

Geschichtsvermittlung in <strong>de</strong>n jeweiligen Schulen, welche es gilt, offen<br />

darzulegen. So können Geschichtslücken gefüllt und Authentizität<br />

geschaffen wer<strong>de</strong>n. Durch Aufklärung wird gegenseitiges Vertrauen<br />

aufgebaut, wobei ein Bewusstsein dafür entsteht, dass sie auf eine<br />

gemeinsame Geschichte zurückblicken, die nicht in Vergessenheit<br />

geraten darf. Wer seine Geschichte kennt, kann die Zukunft gestalten.<br />

Reisen bil<strong>de</strong>t, es entwöhnt von Vorurteilen. Jugendliche, die reisen,<br />

kommen aus ihrer gewohnten Umgebung heraus und sehen mehr als<br />

das, was sie kennen. Wer das Frem<strong>de</strong> nicht kennt, scheut sich meist<br />

davor und lehnt es ab. Er hält somit das ihm Vertraute, also seine<br />

Heimat schnell für notwendig und einzig, worin die Gefahr einer Zurück-<br />

und Abweisung <strong>de</strong>s An<strong>de</strong>ren lauert. Jungen Menschen durch<br />

ein Austauschprojekt eine frem<strong>de</strong> Kultur und Geschichte zu zeigen,<br />

ermöglicht ihnen, sich durch eine eigenständige Meinungsbildung ihrer<br />

Vorurteile zu entledigen. Sie haben eine frem<strong>de</strong> Lebenswelt gesehen<br />

und zwangsläufig eingesehen, dass das, was sie zuhause kennen,<br />

nicht das Einzige ist. Sie reflektieren kritischer und gewinnen Mut,<br />

eigenständig zu <strong>de</strong>nken.<br />

Denn, welch Macht hätt ein einzig (übel gesinnter) Mensch auf eine<br />

Masse eigenständig <strong>de</strong>nken<strong>de</strong>r Charaktere?<br />

Erinnerungsarbeit in <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnungen ist<br />

für alle Beteiligten eine Herausfor<strong>de</strong>rung. Es birgt somit aber auch<br />

große Chancen, wodurch sich neue Perspektiven eröffnen. Die Präsenz<br />

eines zweisprachigen Kulturmittlers, welcher in bei<strong>de</strong>n Kulturen<br />

zuhause ist, ist notwendig, um Probleme, die aufgrund von Mentalitätsunterschie<strong>de</strong>n<br />

auftreten können, entwe<strong>de</strong>r vorab aus <strong>de</strong>m Weg<br />

zu räumen, o<strong>de</strong>r bei Eintritt entsprechend zu han<strong>de</strong>ln. Ein Kind, das<br />

während <strong>de</strong>r Durchführung von Zeitzeugeninterviews in Lechovo<br />

plötzlich anfängt zu schreien, führte zum Beispiel auf <strong>de</strong>utscher Seite<br />

zu Verstimmung, die griechische Seite konnte wie<strong>de</strong>rum die <strong>de</strong>utsche<br />

Verstimmung nicht nachvollziehen. Wenn ein Kind schreit, dann<br />

schreit es.<br />

1 Zitat von Nondas Papadopoulos, Zeitzeuge <strong>de</strong>s Zweiten Weltkriegs aus Lechovo.<br />

Originalzitat: «Τη δική μου ζημιά από το Πόλεμο δεν μπορεί να τη διορθώσει<br />

κανείς…είναι πολύ δύσκολο. Το μόνο που μπορεί είναι να προσπαθήσει να<br />

προστατέψει τα εγγόνια μου.»<br />

Rita Loumites, Bild: Xenia Fastnacht<br />

Rita Loumites ist Halbgriechin und verfügt über einen<br />

Doppelbachelor in European Studies an <strong>de</strong>r Otto-von-<br />

Guericke Universität Mag<strong>de</strong>burg und <strong>de</strong>r Babe-Bolyai-<br />

Universität Cluj, Rumänien. Sie ist Masterstu<strong>de</strong>ntin <strong>de</strong>r<br />

Neogräzistik an <strong>de</strong>r Universität Hamburg, zur Zeit mit<br />

einem Forschungsstipendium in Athen. Sie organisiert<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustauschprojekte bei<br />

„Youth for Peace“ und führt sie durch.<br />

32


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Brigitte Spuller<br />

Bild: Christian Herrmann Lizenz: BY-NC-ND<br />

Begegnung, Freundschaft und Versöhnung ermöglichen<br />

Bereits 1989 brachte Brigitte Spuller einen ersten Jugendaustausch zwischen <strong>de</strong>r Evangelischen<br />

Jugend Nürnberg und <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong> Distomo, in <strong>de</strong>r während <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Besatzung im<br />

2. Weltkrieg von <strong>de</strong>r SS Zivilisten ermor<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n, auf <strong>de</strong>n Weg. Zwei Jahrzehnte hielt diese<br />

Pionierarbeit im Jugendaustausch mit beeindrucken<strong>de</strong>r Kontinuität an. Daraus ist ein reicher<br />

Fundus an Erfahrungen für die <strong>de</strong>utsch-griechische Erinnerungsarbeit entstan<strong>de</strong>n.<br />

Christian Herrmann<br />

Frau Spuller, die Evangelische Jugend Nürnberg hat<br />

sehr frühzeitig einen Jugendaustausch mit Distomo<br />

begonnen – einer Gemein<strong>de</strong> in Zentralgriechenland,<br />

in <strong>de</strong>r während <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Besatzung 218 Menschen,<br />

hauptsächlich Frauen, Kin<strong>de</strong>r und alte Leute von <strong>de</strong>r SS<br />

ermor<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n. Sie waren maßgeblich am Zustan<strong>de</strong>kommen<br />

<strong>de</strong>s Austauschs beteiligt. Wie ist es dazu gekommen<br />

und was war ihr Antrieb?<br />

Brigitte Spuller: 1980 kam ich zum ersten Mal nach Distomo. Ich war<br />

engagiert in einem Aktionsbündnis gegen die damals jährlich in Markthei<strong>de</strong>nfeld<br />

(einer Kleinstadt in Unterfranken, zwischen Würzburg und<br />

Frankfurt) stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n sogenannten „Traditionstreffen“ <strong>de</strong>r 4. SS –<br />

Polizei-Panzergrenadier-Division. Diese SS-Einheit hatte neben an<strong>de</strong>ren<br />

Verbrechen in ganz Europa auch Massaker in Griechenland, und<br />

zwar in Distomo (in Böotien) und in Klissoura (in Nordgriechenland)<br />

begangen. Wir wollten uns damals in einem <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Orte direkt über<br />

die Verbrechen dieser SS-Einheit ein Bild machen, um die Bevölkerung<br />

in Markthei<strong>de</strong>nfeld noch besser über geschichtliche Hintergrün<strong>de</strong> und<br />

die heutige Haltung <strong>de</strong>r Bevölkerung informieren zu können.<br />

Mit vielen Befürchtungen, wie wir als Deutsche dort wohl empfangen<br />

wür<strong>de</strong>n, fuhren wir nach Distomo – und wur<strong>de</strong>n noch am gleichen<br />

Abend von <strong>de</strong>n damaligen Mitglie<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Kulturvereins mit offenen<br />

Armen aufgenommen. Hilfreich waren dabei sicher auch meine – damals<br />

noch recht beschei<strong>de</strong>nen – Griechisch-Kenntnisse. Wir lernten<br />

<strong>de</strong>n damaligen Bürgermeister, Georgios Sfountouris, kennen und wur<strong>de</strong>n<br />

von ihm gleich für <strong>de</strong>n nächsten Sommer zu <strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen<br />

im Juni eingela<strong>de</strong>n.<br />

Seit Juni 1981 nahm ich dann regelmäßig, teilweise mit Freundinnen<br />

und Freun<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r antifaschistischen Bewegung, an <strong>de</strong>n jährlich<br />

um <strong>de</strong>n 10. Juni stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen teil. Von <strong>de</strong>r<br />

Bevölkerung wur<strong>de</strong>n wir dadurch wahrgenommen, dass wir jährlich<br />

einen Kranz für die Opfer nie<strong>de</strong>rlegten und eine Grußbotschaft aus<br />

Deutschland überbrachten. Dies fand zu einer Zeit statt, in <strong>de</strong>r es<br />

noch nicht üblich war, dass sich Deutsche im Ort aufhielten o<strong>de</strong>r gar<br />

an <strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen teilnahmen.<br />

1984 gelang es dann, in Markthei<strong>de</strong>nfeld eine große Protestveranstaltung<br />

zu organisieren, zu <strong>de</strong>r wir auch ein Schreiben <strong>de</strong>s damaligen<br />

Bürgermeisters, Georgios Sfountouris überbringen konnten. Dieser Brief<br />

wur<strong>de</strong> bei <strong>de</strong>r Veranstaltung verlesen, <strong>de</strong>n örtlichen Behör<strong>de</strong>n übergeben<br />

und fand auch in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit Beachtung. Nach 1984 war übrigens<br />

von <strong>de</strong>n „Traditionstreffen“ in Markthei<strong>de</strong>nfeld nichts mehr zu hören.<br />

Nach<strong>de</strong>m ich 1986 mit meiner Stelle als Sozialpädagogin zur Evangelischen<br />

Jugend Nürnberg (= EJN) wechselte, wur<strong>de</strong> ich dort auf<br />

33


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Beinhaus im Mausoleum mit <strong>de</strong>n Gebeinen <strong>de</strong>r<br />

beim Massaker vom 10.6.1944 Ermor<strong>de</strong>ten<br />

Bild: Brigitte Spuller<br />

Beim Massaker von Distomo, einer Ortschaft in Mittelgriechenland,<br />

am Fuße <strong>de</strong>s Parnass-Gebirges, töteten am 10. Juni 1944 Angehörige<br />

eines Regimentes <strong>de</strong>r 4. SS-Polizei- Panzergrenadier-Division<br />

im Zuge einer „Vergeltungsaktion“ 218 <strong>de</strong>r – an Partisanenkämpfen<br />

unbeteiligten – ca. 1800 Dorfbewohner <strong>de</strong>r Ortschaft Distomo und<br />

brannten das Dorf nie<strong>de</strong>r. Opfer waren vor allem alte Menschen<br />

und Frauen sowie 34 Kin<strong>de</strong>r und vier Säuglinge.<br />

Quelle: Wikipedia<br />

meine bis dahin privaten, politischen Kontakte nach Distomo angesprochen.<br />

Die EJN hatte, entsprechend <strong>de</strong>r Zielsetzung im ökumenischen<br />

konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frie<strong>de</strong>n und Bewahrung<br />

<strong>de</strong>r Schöpfung, damals eine beachtliche Partnerschafts- und Jugendbegegnungsarbeit<br />

mit etlichen Orten in Europa (zum Beispiel mit<br />

Krakau in Polen), aber auch mit Israel und mit Nicaragua (San Carlos)<br />

aufgebaut.<br />

Von Leitungsteam <strong>de</strong>r EJN wur<strong>de</strong> die I<strong>de</strong>e an mich herangetragen, auch<br />

mit Distomo einen Jugendaustausch aufzubauen. Ich hatte bereits<br />

ab Mitte <strong>de</strong>r 80er-Jahre immer wie<strong>de</strong>r Verantwortliche von Gruppen<br />

(Schulklassen, Kirchengemein<strong>de</strong>n, Jugendgruppen, Studienreisen) aus<br />

Nürnberg, die Griechenland bereisten, motivieren können, ihren Reiseteilnehmer/-innen<br />

durch einen Besuch in Distomo einen Einblick in<br />

die neuere <strong>de</strong>utsch-griechische Geschichte zu ermöglichen. Teilweise<br />

hatte ich diese Gruppen auch vor Ort selbst begleitet und informiert.<br />

Danach war <strong>de</strong>r Einstieg in die Jugendbegegnungsarbeit <strong>de</strong>r nächste,<br />

folgerichtige und fast schon selbstverständliche Schritt.<br />

Eines unserer Ziele war es, <strong>de</strong>utschen Jugendlichen und jungen Erwachsenen<br />

neben touristischen Besuchen und Strandvergnügen auch<br />

die jüngere <strong>de</strong>utsch-griechische Geschichte nahezubringen: nämlich<br />

eine Geschichte <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Besatzung von 1941 bis 1944, die<br />

im Geschichtsunterricht kaum zur Sprache kam. Es han<strong>de</strong>lt sich um<br />

eine Geschichte von zahlreichen Massakern und Verbrechen an <strong>de</strong>r<br />

Zivilbevölkerung, es ist die Geschichte <strong>de</strong>s Hungerwinters 1941/42<br />

als Folge <strong>de</strong>r massiven Ausbeutung <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s durch <strong>de</strong>utsche Besatzungstruppen<br />

mit zahlreichen zivilen Opfern, und es ist auch die<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Deportation und Vernichtung fast <strong>de</strong>r gesamten jüdischen<br />

Bevölkerung Griechenlands (unter an<strong>de</strong>rem in <strong>de</strong>n großen<br />

Gemein<strong>de</strong>n in Thessaloniki, in Rhodos, in Ioannina …).<br />

Es sollten an bei<strong>de</strong>n Orten Kontakte zwischen <strong>de</strong>utschen und griechischen<br />

jungen Menschen entstehen, die einen Austausch über die<br />

oben genannten Themen ermöglichen. Die Geschichte sollte am Beispiel<br />

von Distomo, seiner Bevölkerung und <strong>de</strong>s Massakers vom 10.<br />

Juni 1944 für die Jugendlichen, aber auch für <strong>de</strong>ren Familien und ihr<br />

soziales Umfeld erfahrbar wer<strong>de</strong>n.<br />

1989 konnten wir dann in einer sehr konstruktiven, partnerschaftlichen<br />

Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>m damaligen Bürgermeister von Distomo,<br />

Jannis Kailis, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Jugendaustausch vom ersten Tag an<br />

großartig unterstützte, zur ersten Jugendbegegnung nach Nürnberg<br />

einla<strong>de</strong>n. Die Gegenbegegnung fand 1990 in Distomo statt. Weitere<br />

Begegnungen folgten. Die letzte, von mir, gemeinsam mit Christine<br />

Biemann-Hubert geleitete Maßnahme, fand im Sommer 2005 statt.<br />

2009 und 2010 folgten noch zwei weitere Begegnungen, die von jüngeren<br />

Kolleginnen geleitet wur<strong>de</strong>n.<br />

Was können <strong>de</strong>utsche und griechische Jugendliche in einem<br />

solchen Austausch wie zwischen Nürnberg und Distomo<br />

voneinan<strong>de</strong>r und miteinan<strong>de</strong>r lernen und was sind<br />

geeignete Metho<strong>de</strong>n und Projekte dafür? Erzählen sie uns<br />

von Ihren Erfahrungen!<br />

Brigitte Spuller: In <strong>de</strong>n Jahren, in <strong>de</strong>nen wir mit <strong>de</strong>n Jugendlichen<br />

an <strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen in Distomo teilnahmen, gehörte zum<br />

Programm <strong>de</strong>r Begegnungen die gemeinsame Teilnahme an <strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen<br />

mit Trauerzug, Kranznie<strong>de</strong>rlegung und einigen<br />

Kulturveranstaltungen o<strong>de</strong>r in an<strong>de</strong>ren Jahren alternativ <strong>de</strong>r Besuch<br />

<strong>de</strong>s Mausoleums, Gespräche mit Hinterbliebenen und ein Besuch im<br />

Museum von Distomo. Ein weiterer Bestandteil <strong>de</strong>s Programms war<br />

das Kennenlernen griechischer Lebenswirklichkeit, zum Beispiel mit<br />

Besuchen im Bauxitabbau, in <strong>de</strong>r Aluminiumfabrik o<strong>de</strong>r mit einer<br />

Gruppe freiwilliger sozialer Helfer/-innen auch ein Besuch im Altenund<br />

Pflegeheim <strong>de</strong>r Griechisch-orthodoxen Metropolie in Livadia.<br />

Hinzu kam <strong>de</strong>r Besuch von Sehenswürdigkeiten und antiken Stätten,<br />

wie Delphi, <strong>de</strong>m Kloster Ossios Loukas o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Akropolis. Zahlreiche<br />

Kontakte mit <strong>de</strong>n Jugendlichen aus Distomo entstan<strong>de</strong>n beim<br />

gemeinsamen Essen, Tanzen, Singen, beim Ba<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>n Besuchen<br />

von Veranstaltungen und Festen.<br />

Zum Programm in Nürnberg gehörten neben Stadtbesichtigungen<br />

und einem Empfang im Rathaus auch Fahrten zur KZ-Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Dachau o<strong>de</strong>r in das Außenlager Hersbruck <strong>de</strong>s ehemaligen KZ Flossenbürg,<br />

Besuche <strong>de</strong>s ehemaligen Reichsparteitagsgelän<strong>de</strong>s und <strong>de</strong>s<br />

dortigen Dokumentationszentrums und Gespräche mit Vertretern ver-<br />

34


ERINNERUNGSARBEIT<br />

schie<strong>de</strong>ner Institutionen und Initiativen. Wir besichtigten das fränkische<br />

Freilandmuseum in Bad Windsheim und veranstalteten Grillaben<strong>de</strong><br />

in Kirchengemein<strong>de</strong>n und jeweils ein Fest zur Begrüßung und<br />

zum Abschied.<br />

(...) Für viele <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Jugendlichen war es überraschend und<br />

bewegend, mit welcher Gastfreundschaft und Herzlichkeit wir in Distomo<br />

aufgenommen wur<strong>de</strong>n, nach<strong>de</strong>m die Bewohner/-innen so viel<br />

Grausamkeit durch Deutsche erlebt hatten. Auch die Teilnahme an<br />

<strong>de</strong>n Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen war für die <strong>de</strong>utschen Gruppenmitglie<strong>de</strong>r<br />

ein sehr eindrucksvolles Erlebnis. Vor allem das Verlesen <strong>de</strong>r Liste<br />

mit <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>r Opfer machte die Dimension dieses Verbrechens<br />

<strong>de</strong>utlich.“<br />

Trauermarsch mit <strong>de</strong>m früheren Bürgermeister Jannis Kailis aus <strong>de</strong>r<br />

Anfangszeit <strong>de</strong>r Aktivität von Brigitte Spuller<br />

Unsere pädagogischen Ziele für die Begegnungen in Nürnberg waren<br />

die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r faschistischen Vergangenheit,<br />

unter an<strong>de</strong>rem mit <strong>de</strong>n Gräueltaten <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Besatzungstruppen<br />

in Griechenland und das Kennenlernen und Annehmen <strong>de</strong>ssen,<br />

was in <strong>de</strong>r Vergangenheit durch <strong>de</strong>utsche NS-Besatzungstruppen im<br />

Ausland geschehen ist. Daneben sollten die Jugendlichen einen Ausschnitt<br />

<strong>de</strong>r heutigen Lebensrealität in Deutschland kennenlernen und<br />

auch Deutschland als zweite Heimat von Arbeitsmigrant/-innen und<br />

als Einwan<strong>de</strong>rungsland erleben. Die Jugendlichen sollten einer an<strong>de</strong>ren<br />

Kultur und Mentalität begegnen, diese kennenlernen und sich darüber<br />

ein realistisches Bild machen. Sie sollten Vorurteile überprüfen<br />

und wenn möglich, überwin<strong>de</strong>n lernen, Feindbil<strong>de</strong>r abbauen und sich<br />

letztlich für eine gemeinsame friedliche Zukunft in Europa einsetzen.<br />

Wir wollten aber auch <strong>de</strong>r Partnergruppe aus Griechenland ermöglichen,<br />

zu sehen, dass es damals auch in Deutschland neben all <strong>de</strong>n<br />

Verbrechen, einen antifaschistischen Wi<strong>de</strong>rstand gegeben hatte und<br />

Opfer in vielen gesellschaftlichen Gruppen. Für die Begegnungen in<br />

Distomo galten entsprechen<strong>de</strong> Ziele, wobei hier die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>r Geschichte <strong>de</strong>s SS-Massakers im Vor<strong>de</strong>rgrund stand.<br />

Unsere Erfahrungen mit <strong>de</strong>n Gruppen und <strong>de</strong>n Teilnehmen<strong>de</strong>n, also<br />

Ergebnisse und Wirkungen <strong>de</strong>r Begegnungen sollen durch einige Zitate<br />

aus früheren Berichten skizziert wer<strong>de</strong>n:<br />

„Durch interessante Besuche und persönliche Gespräche konnten die<br />

jeweiligen Gastgruppen vieles vom Gastland und seiner Mentalität<br />

kennenlernen. Es entstan<strong>de</strong>n persönliche Kontakte und Freundschaften<br />

mit <strong>de</strong>m Ergebnis, dass Frie<strong>de</strong>ns- und Versöhnungsarbeit (…) auf<br />

<strong>de</strong>r Basis persönlicher, konkreter Begegnungen stattfin<strong>de</strong>n konnte.<br />

„Die <strong>de</strong>utschen Teilnehmer/-innen konnten Geschichte hautnah<br />

miterleben und ein Griechenland hinter <strong>de</strong>n touristischen Kulissen<br />

kennenlernen. Die griechischen Teilnehmen<strong>de</strong>n konnten an<strong>de</strong>re (vielleicht<br />

neue?) Erfahrungen mit Deutschland und mit uns, „<strong>de</strong>n Deutschen“,<br />

machen. Damit trägt die Jugendbegegnungsarbeit zur Horizonterweiterung<br />

und zum Abbau von Vorurteilen bei und ist letztlich<br />

auch ein Beitrag gegen Nationalismus und Rassismus. Das Kennenlernen<br />

<strong>de</strong>s Ortes Distomo, das Kennenlernen <strong>de</strong>r Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />

Massakers und die Begegnung mit Jugendlichen aus <strong>de</strong>n Familien <strong>de</strong>r<br />

Opfer för<strong>de</strong>rte die persönliche Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Massaker<br />

und mit Fragen von Verantwortung und Schuld für uns als Deutsche,<br />

die natürlich im Rahmen <strong>de</strong>r Begegnungsarbeit pädagogisch begleitet<br />

und aufgearbeitet wur<strong>de</strong>n. Geschichte wird hier vermittelt – nicht<br />

durch Geschichtsstun<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn durch persönliche Begegnungen<br />

und Erfahrungen. Die Jugendlichen, die in Distomo waren, sind auch<br />

Multiplikator/innen, die ihre Erfahrungen und Informationen weitergeben<br />

und damit dazu beitragen, dass ein oft unterschlagenes Kapitel<br />

<strong>de</strong>utscher Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.“<br />

Aus <strong>de</strong>n Begegnungen sind oft jahrelange, teilweise auch jahrzehntelange<br />

Kontakte und Freundschaften entstan<strong>de</strong>n. In einem Fall lernte<br />

sich ein griechisch-<strong>de</strong>utsches Paar bei <strong>de</strong>r Begegnung kennen und<br />

lebt heute als junge Familie mit Kind im Raum Nürnberg.<br />

Für künftige neue Projekte kann ich mir eine große Vielfalt an Möglichkeiten<br />

vorstellen, die im <strong>de</strong>utsch-griechischen Austausch verwirklicht<br />

wer<strong>de</strong>n könnten: Neben bilateralen Jugendbegegnungen wären<br />

auch Schüleraustausch, Schulpartnerschaften und Projekte beruflicher<br />

Orientierung mit o<strong>de</strong>r ohne Berufspraktika <strong>de</strong>nkbar, ebenso wie<br />

Programme mit Freiwilligen.<br />

Gruppen aus Griechenland und aus Deutschland mit gleichen thematischen<br />

und inhaltlichen Interessen könnten sich begegnen, beispielsweise<br />

im sportlichen o<strong>de</strong>r im kulturellen Bereich, wie Sportgruppen,<br />

Theaterprojekte, Tanzprojekte, Chöre. Denkbar sind auch ökumenische<br />

Begegnungen.<br />

Es könnten Programme für Multiplikator/-nnen in <strong>de</strong>r Jugend-, Bildungs-<br />

und Erinnerungsarbeit stattfin<strong>de</strong>n. Als Inhalte bieten sich<br />

Themen an, wie Erinnerungsarbeit, erfahrungsbezogene Bildungsarbeit,<br />

kreative Gruppenmetho<strong>de</strong>n, themenzentrierte interaktive Arbeit,<br />

mediative Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Konfliktbearbeitung und vieles mehr.<br />

Natürlich wäre dann noch zu prüfen, ob diese Projekti<strong>de</strong>en mit <strong>de</strong>n<br />

För<strong>de</strong>rrichtlinien <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendwerks in Einklang<br />

zu bringen sind.<br />

35


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Seit 2010 hat keine Jugendbegegnung zwischen Nürnberg<br />

und Distomo mehr stattgefun<strong>de</strong>n. Was sind die<br />

Grün<strong>de</strong> dafür?<br />

Brigitte Spuller: Wenn Sie darauf eine offizielle Antwort möchten,<br />

sollten Sie die Evangelische Jugend Nürnberg und die Stadt Distomo<br />

danach fragen. Ich kann darüber lediglich Vermutungen anstellen...<br />

Aber zunächst zu <strong>de</strong>n Rahmenbedingungen: Meine Arbeitsstelle wur<strong>de</strong><br />

seit En<strong>de</strong> 2005 mit neuen Aufgaben im Bereich <strong>de</strong>r Migrationserstberatung<br />

betraut. Seit Anfang 2012 befin<strong>de</strong> ich mich im Ruhestand.<br />

Wie bereits erwähnt, fan<strong>de</strong>n 2009 und 2010 die letzten Begegnungen<br />

zwischen <strong>de</strong>r EJN und Distomo statt.<br />

In Distomo haben seit<strong>de</strong>m mehrfach die Bürgermeister und die Stadträte<br />

gewechselt. Auch <strong>de</strong>r zypriotisch-stämmige Ortsgeistliche, Pater<br />

Charalampos, mit <strong>de</strong>m wir eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />

aufgebaut hatten, ist inzwischen wie<strong>de</strong>r in seine Heimat Zypern zurückgekehrt.<br />

Die Stadt Distomo hat unter ihrem jetzigen Bürgermeister<br />

entschie<strong>de</strong>n, dass sie sich (als einer <strong>de</strong>r wenigen Opferorte) nicht<br />

am Deutsch-Griechischen Zukunftsfond beteiligen wird. Vermutlich<br />

bezieht sich diese Haltung auch auf mögliche Finanzierungen aus<br />

einem künftigen Deutsch-Griechischen Jugendwerk. Damit wür<strong>de</strong>n<br />

Finanzierungs- und Zuschussmöglichkeiten entfallen. Im Übrigen ist<br />

nach meiner Wahrnehmung in Distomo in <strong>de</strong>n letzten Jahren „die<br />

For<strong>de</strong>rungen nach Entschädigung“ das vorherrschen<strong>de</strong> Thema in <strong>de</strong>r<br />

öffentlichen Diskussion. Das Thema „Jugendbegegnung und Austausch“<br />

spielt damit eher eine nachrangige Rolle, obwohl es auch<br />

Kontakte zwischen <strong>de</strong>m Lyzeum in Distomo und <strong>de</strong>r Deutschen Schule<br />

Athen gibt. Im September 2016 wird auch eine Schülergruppe <strong>de</strong>r<br />

Bertolt-Brecht-Gesamtschule Nürnberg mit Schülerinnen und Schülern<br />

<strong>de</strong>s Lyzeums in Distomo zusammentreffen und ein gemeinsames<br />

Nachmittagsprogramm vor Ort absolvieren.<br />

Die Evangelische Jugend Nürnberg lässt durch die zuständige Mitarbeiterin<br />

verlautbaren, dass sie die Partnerschaft mit Distomo nie ganz<br />

aus <strong>de</strong>n Augen und <strong>de</strong>m Herzen gelassen hat, auch wenn sie <strong>de</strong>rzeit<br />

bei <strong>de</strong>r Jugendbildung eher an<strong>de</strong>re Schwerpunkte hat.<br />

Ich meine, dass es ein ziemlicher Glücksfall o<strong>de</strong>r auch eine große<br />

Gna<strong>de</strong> war, dass wir diese Zusammenarbeit – sicher auch mit einigen<br />

Durchhängern zwischendrin – gemeinsam mit <strong>de</strong>n Partnern und<br />

Partnerinnen in Distomo – so lange am Laufen halten konnten. Die<br />

jahrzehntelange Kooperation hat sich im Prozess entwickelt. Dieser<br />

glückliche Ausnahmefall darf jedoch nicht zum Maßstab für künftige<br />

neu beginnen<strong>de</strong> Jugendbegegnungen gemacht wer<strong>de</strong>n, da diese sonst<br />

zu Beginn mit völlig überhöhten Erwartungen belastet und überfor<strong>de</strong>rt<br />

wür<strong>de</strong>n.<br />

Auch wenn <strong>de</strong>rzeit <strong>de</strong>r Jugendaustausch mit Distomo stagniert, ist<br />

es aus meiner Sicht wichtig, dass die Begegnungsarbeit mit an<strong>de</strong>ren<br />

Opferorten aufgebaut, fortgesetzt und intensiviert wird.<br />

Die Verbrechen von Wehrmacht, Polizei und SS während <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

Besatzung sind in Griechenland weiterhin ein Politikum – vor<br />

allem wegen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Haltung, die Entschädigungen immer<br />

noch strikt ablehnt. Die beabsichtigte Gründung eines <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Jugendwerks wird von manchen als Alibi <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Seite<br />

interpretiert, um keine Entschädigungen zahlen zu müssen. Welche<br />

politischen Rahmenbedingungen braucht es von <strong>de</strong>utscher und griechischer<br />

Seite, damit ein Jugendwerk glaubwürdig ist?<br />

Brigitte Spuller: Dies ist eine schwierige Frage, zu <strong>de</strong>r ich aus meiner<br />

Perspektive als Praktikerin in <strong>de</strong>r Jugendbegegnungsarbeit sicher nur<br />

ein paar kleinere Aspekte beisteuern kann. Den Rest müssten dann<br />

an<strong>de</strong>re Fachleute in die Diskussion mit einbringen…<br />

Das Deutsch-Griechische Jugendwerk könnte, wenn es <strong>de</strong>nn tatsächlich<br />

in Zukunft auf <strong>de</strong>n Weg kommen sollte, eine wichtige Rolle für<br />

die Zukunft <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausches, für die<br />

Begegnung und Versöhnung und für eine gemeinsame Zukunft in Europa<br />

spielen und hätte damit einen eigenen Wert. Dabei könnte es<br />

sich an <strong>de</strong>n positiven Erfahrungen im <strong>de</strong>utsch-französischen und im<br />

<strong>de</strong>utsch-polnischen Jugendaustausch orientieren.<br />

Unabhängig von meiner Person zeigt sich immer wie<strong>de</strong>r, auch im Hinblick<br />

auf an<strong>de</strong>re Partnerschaften, dass es zu einer kontinuierlichen, über<br />

Jahrzehnte andauern<strong>de</strong>n Kooperation mit Partnerorten und Partnerorganisationen<br />

engagierter Personen und Organisationen bedarf, die diese<br />

Arbeit mit hoher Motivation am Laufen halten wollen und mit hohem<br />

persönlichen Einsatz auch am Laufen halten. Kenntnisse <strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>ssprache,<br />

<strong>de</strong>r Lan<strong>de</strong>skun<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r örtlichen Mentalität, aber auch örtliche<br />

Kontakte sind dabei von erheblichem Vorteil. Eine verantwortlich<br />

geleitete Jugendbegegnung ist in <strong>de</strong>r Zeit während <strong>de</strong>r Maßnahme, aber<br />

auch davor und danach pädagogische und organisatorische Schwerarbeit.<br />

Um solche Partnerschaften über Jahre aufrecht zu erhalten, sind<br />

eine sehr hohe persönliche Motivation, ein klarer politischer Wille, aber<br />

auch finanzielle und organisatorische Ressourcen erfor<strong>de</strong>rlich.<br />

Griechische und <strong>de</strong>utsche Jugendliche beim Besuch<br />

<strong>de</strong>r Deutschen Botschaft in Athen<br />

36


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Ich persönlich halte es für schwierig, wenn das Thema <strong>de</strong>s Jugendwerkes<br />

mit <strong>de</strong>r, sicherlich berechtigten Frage <strong>de</strong>r Entschädigungen<br />

verknüpft und damit instrumentalisiert wird. Dieser Konflikt muss<br />

aus meiner Sicht ausgetragen wer<strong>de</strong>n, aber an an<strong>de</strong>rer Stelle und vor<br />

allem nicht auf Kosten <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustauschs<br />

und damit letztlich <strong>de</strong>r Jugendlichen. Ein Jugendwerk kann und darf<br />

kein Ersatz für Entschädigungen sein und sollte von keiner Seite damit<br />

verwechselt wer<strong>de</strong>n. Um bei<strong>de</strong>n Themen wirklich gerecht zu wer<strong>de</strong>n,<br />

sollten bei<strong>de</strong> getrennt diskutiert und behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n.<br />

Die Jugendlichen in Griechenland leben mit einer Arbeitslosigkeit von<br />

um die 60 % (in <strong>de</strong>r Provinz teilweise noch höher) mit sehr geringen<br />

Chancen auf berufliche Integration und gesellschaftliche Teilhabe.<br />

Viele Jugendliche verlassen das Land und versuchen es woan<strong>de</strong>rs in<br />

Europa. Alle Maßnahmen, die dazu beitragen, die Isolation und Hoffnungslosigkeit<br />

<strong>de</strong>r Jugendlichen in Griechenland zu min<strong>de</strong>rn, sind es<br />

aus meiner Sicht wert, unterstützt zu wer<strong>de</strong>n. Klar ist natürlich, dass<br />

die Lösung <strong>de</strong>r politischen und wirtschaftlichen Krise in Griechenland<br />

auf an<strong>de</strong>ren Ebenen stattfin<strong>de</strong>n muss.<br />

Durch das Jugendwerk geför<strong>de</strong>rte Maßnahmen könnten aber helfen,<br />

die griechischen Jugendlichen in Kontakt mit an<strong>de</strong>ren Menschen, mit<br />

an<strong>de</strong>ren Kulturen und mit an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn zu bringen. Sie können<br />

neue I<strong>de</strong>en sammeln, Freundschaften über Grenzen hinweg entwickeln<br />

und neue Perspektiven entwickeln. Für <strong>de</strong>utsche Jugendliche<br />

könnten Begegnungen mit griechischen Jugendlichen dazu beitragen,<br />

Verständnis und Empathie für die Situation <strong>de</strong>r Menschen in Griechenland<br />

in Zeiten <strong>de</strong>r Krise zu wecken und solidarisches Han<strong>de</strong>ln zu<br />

för<strong>de</strong>rn. Ich meine also: Gera<strong>de</strong> jetzt könnte ein <strong>de</strong>utsch-griechisches<br />

Jugendwerk einen wertvollen Beitrag leisten.<br />

Wenn Sie nach <strong>de</strong>n politischen Rahmenbedingungen für ein glaubwürdiges<br />

<strong>de</strong>utsch-griechisches Jugendwerk fragen: Das geplante<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Jugendwerk müsste zunächst mal von bei<strong>de</strong>n<br />

Seiten politisch gewollt sein. Dann muss es professionell ausgestattet,<br />

i<strong>de</strong>ell unterstützt und finanziell so ausgestattet wer<strong>de</strong>n, dass<br />

es wirklich substantiell gute Arbeit leisten kann und nicht nur eine<br />

Alibifunktion hat. Außer<strong>de</strong>m muss es vom bürokratischen und organisatorischen<br />

Aufwand her die Verwirklichung von Jugendaustausch<br />

ermöglichen und nicht verhin<strong>de</strong>rn. Damit wird es glaubwürdig. Es<br />

muss ein gemeinsames Aufarbeiten <strong>de</strong>r Geschichte ermöglichen, es<br />

soll Begegnungen und Einblicke in die an<strong>de</strong>re Kultur för<strong>de</strong>rn, Verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s<br />

schaffen und Trennen<strong>de</strong>s überwin<strong>de</strong>n helfen und Wege aus<br />

<strong>de</strong>r Isolation hin zur Begegnung, zum Austausch und zur Versöhnung<br />

möglich machen.<br />

Warum <strong>de</strong>r schon seit Jahren diskutierte Vertrag dafür immer noch<br />

nicht unterzeichnet wird, erschließt sich mir nicht. Aber es wird wohl<br />

Grün<strong>de</strong> dafür geben…<br />

Das Interesse <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und griechischen Zivilgesellschaft<br />

am Zustan<strong>de</strong>kommen eines Jugendwerks ist<br />

überraschend groß. Wie erklären Sie sich das und wie<br />

steht das in Verbindung mit <strong>de</strong>r unaufgearbeiteten<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Geschichte?<br />

Brigitte Spuller: Aus meiner Sicht ist die unaufgearbeitete<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Geschichte langsam, Schritt für Schritt dabei,<br />

aufgearbeitet zu wer<strong>de</strong>n, auch wenn dieser Prozess noch ziemlich am<br />

Anfang steht und noch vieles getan wer<strong>de</strong>n kann und muss. Hier nur<br />

einige Beispiele:<br />

Bereits im Oktober 1984, im Jahr <strong>de</strong>s Höhepunkts <strong>de</strong>r jahrelangen<br />

Proteste gegen die „Traditionstreffen“ <strong>de</strong>r ehemaligen SS-Einheit in<br />

Markthei<strong>de</strong>nfeld lief in <strong>de</strong>r WDR-Sendung Monitor ein bewegen<strong>de</strong>r<br />

Beitrag von Eberhard Rondholz über das Massaker von Distomo und<br />

die jährlichen Zusammenkünfte in <strong>de</strong>m unterfränkischen Ort, exzellent<br />

mo<strong>de</strong>riert von Klaus Bednarz.<br />

In <strong>de</strong>n Jahren <strong>de</strong>r von mir mitverantworteten Jugendbegegnungsarbeit<br />

1989 bis 2005 gelang es uns, durch persönliche Begegnungen,<br />

durch Pressearbeit, durch Veranstaltungen und Berichte, zumin<strong>de</strong>st<br />

die interessierte Stadtgesellschaft in Nürnberg über Distomo als Beispiel<br />

für die NS-Verbrechen in Griechenland aufzuklären. Ebenso wirkte<br />

die Arbeit in die Evangelischen Jugend Bayern und in die Arbeitsgemeinschaft<br />

für Evangelische Jugendarbeit (AEJ) auf Bun<strong>de</strong>sebene<br />

hinein. Die öffentliche Diskussion um die Entschädigungsfor<strong>de</strong>rungen<br />

und die damit verbun<strong>de</strong>nen Klagen <strong>de</strong>r Opfer (die Sammelklage <strong>de</strong>r<br />

Opfer von Distomo über Rechtsanwalt Stamoulis in Griechenland und<br />

die Klage <strong>de</strong>r Geschwister Sfountouris vor <strong>de</strong>utschen, später europäischen<br />

Gerichten) fan<strong>de</strong>n ein breites Echo in <strong>de</strong>n Medien. Zu <strong>de</strong>n jährlichen<br />

Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen in Distomo kommen von Jahr zu Jahr<br />

zunehmend mehr politisch interessierte und motivierte Deutsche.<br />

Auch von Vertretern <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Politik wur<strong>de</strong>n die Opfer verschie<strong>de</strong>ner<br />

Orte bereits in <strong>de</strong>n vergangenen Jahren öffentlich gewürdigt.<br />

Das nicht unerhebliche Echo in <strong>de</strong>n Medien hat sicher auch dazu beigetragen,<br />

auf die <strong>de</strong>utschen NS-Verbrechen und <strong>de</strong>ren Opfer in <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Ein erster Schritt<br />

war die Re<strong>de</strong> <strong>de</strong>s damaligen Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nten Johannes Rau vor <strong>de</strong>n<br />

Opfern von Kalavryta im Juni 2000. Es folgte die Entschuldigung von<br />

Botschafter Dr. Albert Spiegel im Jahr 2004 vor <strong>de</strong>n Bewohner/-innen<br />

von Distomo. Im März 2014 legte Bun<strong>de</strong>spräsi<strong>de</strong>nt Joachim Gauck am<br />

Mahnmal <strong>de</strong>r Opfer von Lyngia<strong>de</strong>s (bei Ioannina) einen Kranz nie<strong>de</strong>r<br />

und entschuldigte sich im Namen Deutschlands bei <strong>de</strong>n Hinterbliebenen.<br />

Derzeit gibt es nach meinen Informationen auch ein aktuelles<br />

historisches Forschungsprojekt <strong>de</strong>s renommierten Historikers Dr. Hagen<br />

Fleischer in Kooperation mit <strong>de</strong>r FU Berlin zur Aufarbeitung <strong>de</strong>r<br />

neueren <strong>de</strong>utsch-griechischen Geschichte. Schließlich trug auch die<br />

Tagung in Lechovo (in Nordgriechenland bei Florina) im Mai 2016<br />

mit Vorträgen (durch Referenten wie Prof. Dr. Norman Paech), durch<br />

Informationsaustausch und Diskussion weiter zur Information über<br />

die <strong>de</strong>utschen NS-Verbrechen in Griechenland bei.<br />

37


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Ich könnte mir vorstellen, dass das langsam, aber stetig zunehmen<strong>de</strong><br />

Wissen über die NS-Verbrechen in Griechenland auch dazu beitragen<br />

könnte, das Interesse an einem <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch<br />

wachsen zu lassen. Es wäre dann nur noch zu hoffen, dass das<br />

Jugendwerk bald an <strong>de</strong>n Start gehen kann.<br />

Das von IJAB geleitete Fachprogramm für Fachkräfte aus <strong>de</strong>n Opferorten<br />

im Dezember 2014 in Berlin und weitere Fachtagungen <strong>de</strong>s IJAB<br />

haben sicher dazu beigetragen, das Interesse am Jugendaustausch<br />

mit Griechenland innerhalb einer Fachöffentlichkeit in Deutschland<br />

zu wecken und zu för<strong>de</strong>rn. Trotz<strong>de</strong>m könnten aus meiner Sicht das<br />

Interesse und die Unterstützung für das Jugendwerk in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />

bei<strong>de</strong>r Län<strong>de</strong>r durchaus noch größer sein.<br />

Wir hatten früher jahrelang zu kämpfen, um die notwendigen Finanzierungen<br />

für unsere Begegnungsarbeit zusammenzutragen. Je<strong>de</strong><br />

neue Begegnung war immer auch ein finanzielles Wagnis. Ein Jugendwerk<br />

könnte künftige Begegnungsmaßnahmen auf eine sichere<br />

und zukunftsorientierte Grundlage stellen und damit nachhaltig Begegnungsarbeit<br />

zwischen Deutschen und Griechen ermöglichen.<br />

Ich meine, je besser es gelingen wird, das Thema „Deutsch-Griechisches<br />

Jugendwerk“ aus <strong>de</strong>m politischen Konflikt um die Entschädigungsfor<strong>de</strong>rungen<br />

herauszuhalten, <strong>de</strong>sto leichter und schneller wird<br />

es möglich sein, dieses Jugendwerk auf <strong>de</strong>n Weg zu bringen und damit<br />

Voraussetzungen für Begegnungsmöglichkeiten auf vielfältigen<br />

Ebenen zu schaffen. Ich persönlich wünsche je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>m künftigen<br />

Deutsch-Griechischen Jugendwerk viel Erfolg und das Ermöglichen<br />

von Begegnung, von Austausch, von Freundschaft und Versöhnung.<br />

Das Bildmaterial für diesen Artikel wur<strong>de</strong> freundlicherweise von<br />

Brigitte Spuller zur Verfügung gestellt<br />

Brigitte Spuller, Diplom-Sozialpädagogin (FH), war fast 33 Jahre lang in <strong>de</strong>r Interkulturellen<br />

Arbeit und in <strong>de</strong>r Berufsorientierung tätig. Seit 1990 ist sie Ehrenbürgerin <strong>de</strong>r Stadt<br />

Distomo, 2006 wur<strong>de</strong> ihr für die Versöhnungsarbeit mit Distomo das Bun<strong>de</strong>sverdienstkreuz<br />

verliehen. Sie ist Dekanatsfrauenbeauftragte im Evang.-luth. Pro<strong>de</strong>kanat Nürnberg-Ost<br />

und erwarb Zusatzqualifikationen in Themenzentrierter Interaktion nach Ruth Cohn, in<br />

Interkultureller Mediation und als Leiterin für therapeutischen Tanz (DGT). Seit 2012 ist<br />

Brigitte Spuller im Ruhestand.<br />

38


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Besuch <strong>de</strong>s Alliierten Soldatenfriedhofs in <strong>de</strong>r Souda-Bucht<br />

Bild: Gunnar Zamzow<br />

Studienfahrt <strong>de</strong>s Volksbund Deutsche<br />

Kriegsgräberfürsorge e. V. nach Kreta<br />

Erstmalig fand im September 2015 eine Studienfahrt <strong>de</strong>s Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge<br />

e. V. nach Kreta statt. Die jungen Teilnehmer/-innen besuchten die Städte Chania und<br />

Heraklion, ent<strong>de</strong>ckten in zehn intensiven Projekttagen die vielseitige Insel und lernten eine<br />

Reihe von Personen und Projekten kennen.<br />

Sebastian Fehnl, Anne Schiefer<strong>de</strong>cker, Gunnar Zamzow<br />

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. widmet sich<br />

heute 832 Kriegsgräberstätten in 45 Staaten <strong>de</strong>r Welt mit etwa<br />

2,7 Millionen Kriegstoten. Auch in Griechenland wur<strong>de</strong>n nach<br />

einem Abkommen mit <strong>de</strong>m griechischen Staat zwei solcher Sammelfriedhöfe<br />

errichtet. In Dionyssos-Rapendoza (in <strong>de</strong>r Nähe von Athen)<br />

und Maleme auf Kreta sind fast 15.000 <strong>de</strong>utsche Soldaten <strong>de</strong>s Zweiten<br />

Weltkriegs begraben. Nun ist die Kriegsgräberfürsorge durch <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Staat nicht nur mit <strong>de</strong>m Erhalt und <strong>de</strong>r Pflege dieser Ruhestätten<br />

beauftragt, son<strong>de</strong>rn verbin<strong>de</strong>t dieses Aufgabe seit Mitte <strong>de</strong>r 1950er<br />

Jahre mit <strong>de</strong>r Organisation von Workcamps, Jugendbegegnungen und<br />

an<strong>de</strong>ren Bildungsprojekten in ganz Europa. Die Kriegsgräberstätten als<br />

Orte <strong>de</strong>r Erinnerung an Krieg, Verbrechen und massenhaftes Sterben<br />

sollen so auch zum Ausgangspunkt von Bildungs- und Lernprozessen<br />

wer<strong>de</strong>n. Solche Zusammenkünfte junger Menschen aus Europa und<br />

<strong>de</strong>r ganzen Welt führten jedoch bislang kaum nach Griechenland – ein<br />

weißer Fleck auf <strong>de</strong>r Landkarte könnte man meinen.<br />

Das Ziel <strong>de</strong>s Projektes war es, <strong>de</strong>n 16 jungen Menschen aus Polen,<br />

Griechenland, Belarus und Deutschland einen Einblick in die Geschichte<br />

und Kultur Griechenlands zu ermöglichen und so für Kooperation<br />

und Interesse zu werben, statt Konfrontation zu beför<strong>de</strong>rn.<br />

Der Plan stand. Aber wo anfangen mit Unterkunft, Verpflegung, Gesprächspartner(inne)n<br />

usw.? Also mit allem, was man benötigt, für<br />

eine erfolgreiche Studienfahrt, wenn man eigentlich auf keine Erfahrungen<br />

zurückgreifen kann? Durch einen persönlichen Kontakt<br />

entstand die Kooperation mit <strong>de</strong>m Verein Young Citizens of the World<br />

aus Chania im Westen Kretas. Ein großes Glück, wie sich zeigte, <strong>de</strong>nn<br />

nun konnten die Organisatoren auf einen schier unerschöpflichen<br />

Schatz an Kontakten, Ortskenntnissen und persönlichem Engagement<br />

<strong>de</strong>r Mitglie<strong>de</strong>r zurückgreifen, ohne <strong>de</strong>n das Projekt kaum möglich gewesen<br />

wäre.<br />

Gemeinsam mit <strong>de</strong>n Young Citizens machte sich die Reisegruppe auf<br />

eine Spurensuche. Im Fokus stan<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>ne Erinnerungs- und<br />

Ge<strong>de</strong>nkorte, die allesamt mit <strong>de</strong>r blutigen Besetzung Kretas durch die<br />

nationalsozialistische Wehrmacht im Mai 1941 zusammen hängen.<br />

Sie dokumentieren die bis heute aktuellen Nachwirkungen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen<br />

Angriffskrieges eindrucksvoll. Eine Seite dieser Kriegsrealitäten<br />

zeigt <strong>de</strong>r Alliierte Soldatenfriedhof in <strong>de</strong>r Souda-Bucht. Auch die<br />

<strong>de</strong>utsche Kriegsgräberstätte Maleme wur<strong>de</strong> während <strong>de</strong>s Programms<br />

besucht. Hier sind neben „gewöhnlichen“ Soldaten – ob es diese allerdings<br />

überhaupt gab, war ein immer wie<strong>de</strong>r neuer Anlass zur Diskussion<br />

in <strong>de</strong>r Gruppe – auch offenkundige Kriegsverbrecher begraben.<br />

Die kretische Perspektive auf <strong>de</strong>n Zweiten Weltkrieg wur<strong>de</strong> mit<br />

<strong>de</strong>m Besuch zweier sogenannter Märtyrerorte <strong>de</strong>utlich. Verschie<strong>de</strong>ne<br />

Ge<strong>de</strong>nksteine und Mahnmale erinnern an <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r kreti-<br />

39


ERINNERUNGSARBEIT<br />

schen Bevölkerung und sollen heute zum Frie<strong>de</strong>n mahnen. Kondomari<br />

und Kandanos sind nur einige dieser Orte, in welchen die Wehrmacht<br />

Kriegsverbrechen und Massaker an <strong>de</strong>r Zivilbevölkerung begangen<br />

hat und die von <strong>de</strong>n Teilnehmerinnen besucht wur<strong>de</strong>n.<br />

Spätestens die unmittelbare Konfrontation mit diesen in Deutschland<br />

wenig beachteten Verbrechen provozierte bei <strong>de</strong>n Teilnehmen<strong>de</strong>n eine<br />

intensive und vorerst nicht abzuschließen<strong>de</strong> Debatte über Schuld und<br />

Mitschuld, Täter und Opfer, staatliche Reparationen und persönliche<br />

Wie<strong>de</strong>rgutmachungen und die große „Grauzone“ dazwischen. Und<br />

nicht zuletzt darüber, wie sich junge Menschen heute angemessen<br />

mit Themen solcher Emotionalität und Fallhöhe auseinan<strong>de</strong>rsetzen<br />

können. Verschie<strong>de</strong>ne Zeitzeugen schil<strong>de</strong>rten <strong>de</strong>n Teilnehmer(inne)n<br />

ihre Erlebnisse <strong>de</strong>r Jahre 1941-1945. Dadurch war es möglich die kretische<br />

Sicht auf die sog. „Operation Merkur“ (<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Angriff<br />

auf Kreta 1941) besser kennen zu lernen.<br />

Eine nicht zu unterschätzen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung für die Gruppe und<br />

das Organisationsteam war die mitunter emotionale Verquickung <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Geschichte einerseits und <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Gegenwart an<strong>de</strong>rerseits. Dabei fiel auf, dass <strong>de</strong>r Begriff „Entschädigungen“<br />

gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n aktuellen Diskussionen um die „Schul<strong>de</strong>nkrise“<br />

so oft wie kein an<strong>de</strong>rer Begriff erwähnt wur<strong>de</strong>, und dies ein<br />

ums an<strong>de</strong>re Mal zu Missverständnissen führte. Bei aller Gastfreundschaft<br />

schwebt also die Frage nach möglichen Entschädigungszahlungen<br />

Deutschlands gegenüber Griechenland immer mit, wenn man<br />

sich mit <strong>de</strong>r Vergangenheit, speziell mit <strong>de</strong>m Zweiten Weltkrieg, beschäftigt.<br />

Selten konnte man in vergleichbaren Projekten aber so <strong>de</strong>utlich erleben,<br />

wie die Folgen <strong>de</strong>s Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart<br />

reichen und die Beziehungen zwischen Menschen und Län<strong>de</strong>rn beeinflussen.<br />

In <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Jahren plant <strong>de</strong>r Volksbund <strong>de</strong>shalb weitere<br />

Projekte. Die I<strong>de</strong>en reichen dabei von Bildungsfahrten bis hin<br />

zu Schüleraustauschprojekten und Jugendbegegnungen, die alle <strong>de</strong>m<br />

übergeordneten Ziel folgen: Erinnern für die Zukunft!<br />

Sebastian Fehnl (32), Diplom-Pädagoge, Anne Schiefer<strong>de</strong>cker M.A. (32), Erziehungswissenschaftlerin,<br />

und Gunnar Zamzow M.A. (35), Politikwissenschaftler, sind als Referent/innen<br />

im Bereich <strong>de</strong>r Jugend- und Bildungsarbeit <strong>de</strong>s Volksbun<strong>de</strong>s Deutsche Kriegsgräberfürsorge<br />

e. V. tätig. Gunnar Zamzow ist in <strong>de</strong>r Programmkoordination För<strong>de</strong>rmittel u.a. zuständig<br />

für die Entwicklung <strong>de</strong>r Programme im Kontext <strong>de</strong>utsch-griechischer Begegnungsarbeit.<br />

40


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Bild: Eleni Chontolidou<br />

Wenn Versöhnung gelingt –<br />

das Forum Erinnerung & Bildung<br />

350 Gäste aus Deutschland und Griechenland kamen im Mai 2016 im kleinen Dorf Lechovo<br />

im westmakedonischen Griechenland zusammen, um sich darüber auszutauschen,<br />

wie die gemeinsame Erinnerungsarbeit in Zukunft aussehen kann.<br />

Natali Petala-Weber<br />

Sie liebten sich bei<strong>de</strong>, doch keiner<br />

Wollt es <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn gestehn;<br />

Sie sahen sich an so feindlich,<br />

Und wollten vor Liebe vergehn.<br />

Sie trennten sich endlich und sahn sich<br />

Nur noch zuweilen im Traum;<br />

Sie waren längst gestorben,<br />

Und wußten es selber kaum.<br />

Heinrich Heine 1<br />

Vom 19. bis zum 23.05.2016 fand in einem kleinen<br />

nordgriechischen Dorf in Westmakedonien eine<br />

Begegnung statt, die es in dieser Form vorher noch<br />

nicht gegeben hat:<br />

Der Kulturverein Προφήτης Ηλίας (dt. Prophet Elias) lud mit Unterstützung<br />

<strong>de</strong>r in Berlin ansässigen Organisation polisis, geleitet von<br />

Babis Karpouchtsis, Vertreter/innen <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft und Experten<br />

aus Griechenland und Deutschland zum 4-tägigen Forum Erinnerung &<br />

Bildung nach Lechovo ein. Ziel <strong>de</strong>r Veranstaltung war es, unterschiedliche<br />

Akteure aus <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und griechischen Zivilgesellschaft und<br />

<strong>de</strong>r Wissenschaft zusammenzubringen, um <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r Aufarbeitung<br />

<strong>de</strong>r Nazibesatzungszeit in Griechenland zukünftig gemeinsam zu beschreiten.<br />

65 offiziell gela<strong>de</strong>ne Akteure aus Deutschland und Griechenland<br />

und insgesamt 350 Gäste nahmen am Programm <strong>de</strong>s über <strong>de</strong>n<br />

Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds finanzierten Forums teil – darunter<br />

zahlreiche Vertreter/innen <strong>de</strong>s Netzwerks <strong>de</strong>r Märtyrerdörfer und<br />

-städte Griechenlands – ein Zeichen dafür, wie groß das Interesse auf<br />

bei<strong>de</strong>n Seiten ist, einan<strong>de</strong>r zu begegnen.<br />

Das zentrale Thema <strong>de</strong>r Erinnerung wur<strong>de</strong> im Forum anhand von unterschiedlichen<br />

Formaten sowohl auf Griechisch, als auch auf Deutsch<br />

behan<strong>de</strong>lt: Unter an<strong>de</strong>rem stellte Dr. Lutz, zuständig für das Ge<strong>de</strong>nkstättenreferat<br />

<strong>de</strong>r Stiftung Topographie <strong>de</strong>s Terrors, in seiner Präsentation<br />

Formen und Prozesse <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstättenarbeit aus <strong>de</strong>utscher<br />

Perspektive vor, um anschließend eine Diskussion über Möglichkeiten<br />

<strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstättenarbeit für Bildung und Tourismus in Griechenland zu<br />

eröffnen. Zahlreiche Vertreter/innen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen und griechischen<br />

Wissenschaftslandschaft beleuchteten das Thema <strong>de</strong>r Erinnerungsarbeit<br />

aus diversen Perspektiven, so sprachen Dr. Leon Nar und Dr. Maria<br />

Kavala über die Erinnerungsarbeit <strong>de</strong>r Jüdischen Gemein<strong>de</strong> von Thessaloniki<br />

seit 1945, während Dr. Norman Paech die Frage <strong>de</strong>r Reparationsanfor<strong>de</strong>rungen<br />

aus völkerrechtlicher Perspektive beleuchtete.<br />

Gelingen<strong>de</strong> Versöhnungsprozesse im<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Kontext<br />

Beson<strong>de</strong>rs innovativ für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsch-griechischen Kontext zeigte<br />

sich <strong>de</strong>r Zugang von Dr. Martin Leiner, Professor für Systematische<br />

Theologie und Ethik an <strong>de</strong>r Schiller Universität in Jena und Grün-<br />

41


ERINNERUNGSARBEIT<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s interdisziplinären Zentrums für Versöhnungsforschung dort:<br />

Der Jenaer Forschungsansatz basiert auf einem Zitat aus Höl<strong>de</strong>rlins<br />

Roman Hyperion, das lautet „Versöhnung ist mitten im Streit und alles<br />

Getrennte fin<strong>de</strong>t sich wie<strong>de</strong>r“. Dr. Leiner sowie weitere internationale<br />

Wissenschaftler/innen am Zentrum für Versöhnungsforschung<br />

untersuchen auf dieser Grundlage Versöhnungsprozesse und Konstanten<br />

<strong>de</strong>r gelingen<strong>de</strong>n Versöhnung weltweit. Für Dr. Leiner sind die<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen von beson<strong>de</strong>rem Interesse, <strong>de</strong>nn<br />

„auch gesellschaftliche und ökonomische Krisen wie aktuell in Sü<strong>de</strong>uropa<br />

verlangen nach Lösungen, in <strong>de</strong>r gegnerische Parteien und<br />

ihre Positionen versöhnt wer<strong>de</strong>n“. 2<br />

Am letzten Tag <strong>de</strong>r Veranstaltung in Lechovo zeichnete Dr. Leiner ein<br />

positives Bild <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen: Im Forum Erinnerung<br />

& Bildung habe er beobachten können, dass Versöhnung auf<br />

<strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Menschen gelingt. Dass man sich begegnet, dass man<br />

die Wahrheit wissen will, dass man sich <strong>de</strong>r Vergangenheit offen zuwen<strong>de</strong>t,<br />

aber auch <strong>de</strong>r Zukunft, dass man Jugendaustausche macht –<br />

das alles sind Zeichen für gelingen<strong>de</strong> Versöhnung. Denn „Versöhnung<br />

muss ansetzen bei Einzelnen, die sich begegnen. Das ist oft das Tiefgehendste,<br />

dass Menschen sich begegnen und über die Vergangenheit<br />

hinwegkommen. Dass sie sagen, was sie erlebt haben, was ihnen Leid<br />

tut, wie sie die Zukunft gemeinsam gestalten können.“ 3<br />

Der Beitrag <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausches<br />

Der Veranstalter <strong>de</strong>s Forums Erinnerung & Bildung hat alles richtig<br />

gemacht. Griechen und Deutsche, Griechen<strong>de</strong>utsche und Deutschgriechen<br />

zusammenzubringen war das Ziel. Aus diesem Grund war<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustausch ein zentrales Thema <strong>de</strong>r<br />

Veranstaltung. Das Län<strong>de</strong>rprogramm Griechenland im IJAB – zuständig<br />

für die Intensivierung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausches<br />

– wur<strong>de</strong> eingela<strong>de</strong>n, um im Rahmen einer Podiumsdiskussion<br />

die Aktivitäten zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugend-austausches<br />

vorzustellen. Gemeinsam mit Dr. Triarchi-Herrmann, Referentin<br />

im Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in<br />

München und Vorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Stiftung Palladion zur För<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r<br />

griechischen Sprache, Kunst und Kultur, mit Panos Poulos, Jugendsozialarbeiter<br />

und seit über 30 Jahren im Jugendaustausch und im<br />

Europäischen Freiwilligendienst aktiv, sowie mit Rolf Stöckel, <strong>de</strong>m<br />

Beauftragten zur Anbahnung eines Deutsch-Griechischen Jugendwerks,<br />

wur<strong>de</strong>n die aktuellen Chancen und Herausfor<strong>de</strong>rungen im<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch diskutiert.<br />

Die Podiumsdiskussion sowie die Workshops zu Best Practice-Projekten<br />

zeigten, dass <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendaustausch nachhaltig<br />

wirkt. Lechovo hat bereits vor Beginn <strong>de</strong>r Gespräche über<br />

ein Deutsch-Griechisches Jugendwerk und vor <strong>de</strong>r Einrichtung <strong>de</strong>s<br />

Deutsch-Griechischen Zukunftsfonds Jugendaustausche mit Berlin<br />

organisiert. Am Projekt Youth for Peace, das auch am Fachtag „Erinnerungsarbeit<br />

im <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch“ präsentiert<br />

wur<strong>de</strong>, nahmen viele junge Lechovitinnen und Lechoviten teil,<br />

die heute selbst Jugendaustausche mit Partnern in Deutschland konzipieren<br />

und durchführen. Auch Brigitte Spuller, die bereits in <strong>de</strong>n<br />

80ern die ersten Jugendaustausche zwischen Distomo und Nürnberg<br />

anleierte, hob im Forum Erinnerung & Bildung die Wirkung von Jugendaustausch<br />

für die Völkerverständigung hervor. Panajotis Zisis aus<br />

Distomo machte im Forum <strong>de</strong>utlich, welcher Mut und welches Engagement<br />

einer <strong>de</strong>utschen Frau habe abverlangt wer<strong>de</strong>n müssen, um<br />

vor 30 Jahren ein solches Projekt mit einem Dorf durchzuführen, das<br />

von <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Nazis vernichtet wor<strong>de</strong>n war. Panajotis, <strong>de</strong>r damals<br />

selbst Jugendlicher war, und auch Vertreter/innen an<strong>de</strong>rer Dörfer<br />

und Städte <strong>de</strong>r Region haben die Wirkungen <strong>de</strong>r Jugendaustausche<br />

in ihrer Gemein<strong>de</strong> beobachten können. Sie nutzten die zahlreichen<br />

Möglichkeiten rund um das Kernprogramm <strong>de</strong>s Forums – die gemeinsamen<br />

Mittag- und Aben<strong>de</strong>ssen, die Führungen etc. – um Projekti<strong>de</strong>en<br />

untereinan<strong>de</strong>r und mit <strong>de</strong>utschen Partnern zu besprechen. Fragen<br />

in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Deutschland betrafen nicht<br />

nur Möglichkeiten <strong>de</strong>r Finanzierung und <strong>de</strong>r Partnerfindung, son<strong>de</strong>rn<br />

auch inhaltliche und konzeptionelle Themen, wie beispielsweise Methodik<br />

<strong>de</strong>r non-formalen und informellen Bildung, die Sprachverständigung<br />

und die Ausgestaltung gemeinsamer Aktivitäten.<br />

73 Jahre vor <strong>de</strong>m Forum Erinnerung & Bildung, zwischen <strong>de</strong>m 23. und<br />

<strong>de</strong>m 26. Juli 1943, brannten Truppen <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Wehrmacht das<br />

Dorf Lechovo nie<strong>de</strong>r. Somit gehört das kleine Dorf mit seinen knapp<br />

1000 Einwohnern zu <strong>de</strong>n über hun<strong>de</strong>rt sog. griechischen Opferdörfern.<br />

11 lechovitische Frauen besangen im Forum mit herzzerreißen<strong>de</strong>n<br />

Klagelie<strong>de</strong>rn diese Vernichtung und diesen unerträglichen Verlust.<br />

Anschließend bereiteten sie als Ehrenamtler/innen das Aben<strong>de</strong>ssen<br />

für die <strong>de</strong>utschen und griechischen Gäste. Eine solche Offenheit von<br />

bei<strong>de</strong>n Seiten – <strong>de</strong>m, was war, in die Augen zu schauen, um im nächsten<br />

Moment die weiteren Schritte für die Zukunft gemeinsam zu begehen<br />

– zeigt in <strong>de</strong>r Praxis, dass auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft<br />

Versöhnung bereits gelingt. Es ist nun an <strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r Medienlandschaft<br />

in Deutschland und in Griechenland, diese Entwicklungen an<br />

die breite Öffentlichkeit zu bringen.<br />

Das Forum Erinnerung & Bildung mün<strong>de</strong>te unter an<strong>de</strong>rem in <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis, dass <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechische Dialog und das zivilgesellschaftliche<br />

Netzwerk Raum braucht in Zukunft weiterhin gestärkt<br />

und ausgebaut zu wer<strong>de</strong>n. Vertreter/innen <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n vor Ort<br />

verfassten gemeinsam ein Papier mit Vorschlägen zur Stärkung <strong>de</strong>s<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Austausches.<br />

1 Der Bürgermeister <strong>de</strong>r Stadt Kalavryta und Vorsitzen<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Netzwerkes <strong>de</strong>r Märtyrerdörfer-<br />

und -städte in Griechenland, Georgios Lazouras, zitierte in seiner Begrüßungsre<strong>de</strong><br />

beim Auftakt zum Forum Erinnerung & Bildung Heinrich Heine als Impuls zur Reflektion<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen.<br />

2 S. Mitteilungen <strong>de</strong>s Zentrums für Versöhnungsforschung (letzter Zugriff: 17.06.2016).<br />

3 Komplette Re<strong>de</strong> von Prof. Dr. Martin Leiner (letzter Zugriff: 17.06.2016).<br />

Natali Petala-Weber unterstützt als Referentin bei IJAB die<br />

jugendpolitische Zusammenarbeit mit Griechenland.<br />

42


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Matteo Schürenberg<br />

Bild: Christian Herrmann<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Bilaterale Begegnungschancen<br />

für Fachkräfte-Qualifikationen in <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Erinnerungsarbeit<br />

Je intensiver die Aktivitäten für die Zusammenarbeit in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsch-griechischen Beziehungen,<br />

<strong>de</strong>sto mehr stellt sich die Frage, wer diese Programme in bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn konzipiert, organisiert und<br />

vernetzt. Denn so verständlich das erste Augenmerk auf die eigentlichen Ziele, Themen, Begegnungen<br />

eines Projekts auch ist – und so beachtlich sich die „wildwüchsige“ I<strong>de</strong>en- und Schaffenskraft<br />

zivilgesellschaftlicher Engagierter ausnimmt, die oftmals notgedrungen einfach loslegen und dabei<br />

sehr viel bewegen: Sollen diese Impulse dauerhaft wie breitenwirksam sein, braucht es neben aller<br />

ehrenamtlichen Initiative immer auch Qualifikation und Professionalisierung.<br />

Matteo Schürenberg<br />

Gera<strong>de</strong> Ehrenamtliche for<strong>de</strong>rn Professionalisierung<br />

Das zeigte sich in <strong>de</strong>r zivilgesellschaftlichen Flüchtlingshilfe<br />

ebenso wie bei bilateralen Austauschvorhaben – und wird<br />

immer wie<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> von jenen Pionieren erfolgreicher Projekte eingefor<strong>de</strong>rt,<br />

die oftmals als Autodidakten aus <strong>de</strong>m Stand heraus begannen,<br />

nun aber an ihre Grenzen von Ehrenamt und Improvisation<br />

stoßen, wo erfolgreiche Erstlingsarbeit verstetigt, vertieft o<strong>de</strong>r ausgeweitet<br />

wer<strong>de</strong>n soll.<br />

Daher diskutierten Praktiker und Multiplikatoren, Ehren- und<br />

Hauptamtliche aus ganz unterschiedlichen Fel<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Bildungs- und<br />

Begegnungsarbeit, welche Inhalte und Formen Fachkräftequalifikationen<br />

für Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit allgemein, insbeson<strong>de</strong>re<br />

aber im <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch haben (sollten).<br />

Ausgehend von <strong>de</strong>n eigenen Erfahrungen sammelten die Teilnehmer<br />

zunächst <strong>de</strong>n bestehen<strong>de</strong>n Qualifizierungsbedarf, um dann entsprechen<strong>de</strong><br />

Ansatz- und Schwerpunkte für konkrete Qualifizierungsmaßnahmen<br />

zu umreißen.<br />

Starkes Engagement trotz wenig Professionalisierung<br />

Panos Poulos, <strong>de</strong>r mit seiner NGO Filoxenia im Bildungsbereich Pionierarbeit<br />

leistet – auch mit einem Fachkräfteseminar für <strong>de</strong>n Jugendaustausch<br />

in <strong>de</strong>r Erinnerungsarbeit – berichtete mit Nachdruck<br />

von seinen konkreten Erfahrungen in Griechenland: Demnach besteht<br />

im Bildungs- und Sozialbereich ein strukturelles Defizit an Aus- und<br />

Fortbildung sowie allgemein professionellen Standards, das zusätzlich<br />

durch ein vielfach eher antagonistisches Verhältnis zwischen<br />

Staat und Zivilgesellschaft erschwert wird. Weil bereits im überaka<strong>de</strong>misierten<br />

Universitätssystem praxisnahe Studiengänge wie Soziale<br />

Arbeit fehlen, mangelt es an anerkannten Abschlüssen und entsprechen<strong>de</strong>n<br />

professionell ausgebil<strong>de</strong>ten Fachkräften. Zu<strong>de</strong>m gibt es universitär<br />

kaum Forschungs- und Beratungskapazitäten. Im Gegensatz<br />

zu <strong>de</strong>n öffentlich-rechtlichen Institutionen Deutschlands existieren<br />

auch im intermediären Bereich keine vergleichbaren Aka<strong>de</strong>mien,<br />

Kammern o<strong>de</strong>r Servicestellen, so dass Ehrenamtliche oftmals von <strong>de</strong>r<br />

Pike auf ihre Projekte „von unten“ vor Ort aufziehen müssen.<br />

43


ERINNERUNGSARBEIT<br />

So kommt es auch kaum zu horizontaler Vernetzung, z.B. an <strong>de</strong>r für<br />

die Erinnerungsarbeit wichtigen Schnittstelle von Bildungsarbeit, historischer<br />

Forschung, Opferverbän<strong>de</strong>n und Politik. Panos Poulos fand<br />

dafür ein konkretes Beispiel: „Dass eine solche Konferenz eines Ministeriums<br />

mit so unterschiedlichen Akteuren just in einer Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

mit ihrem Bildungs- und Gästehaus stattfin<strong>de</strong>n konnte, sei für griechische<br />

Partner wohl etwas ganz Neues.<br />

Dabei gibt es in <strong>de</strong>r traditionell lebendigen Vereinskultur lokaler Kultur-<br />

und Folkloreassoziationen durchaus ein Potenzial an Engagement<br />

und Kontakten. Zu erfolgreicher Projektarbeit kommt es zumeist dort,<br />

wo auf kommunaler Ebene eine Kooperation zwischen örtlicher Zivilgesellschaft<br />

und aufgeschlossenen Kommunalverwaltung gelingt, wie<br />

auch die langjährig in Distomo engagierte Sozialarbeiterin Brigitte<br />

Spuller bestätigte. Dann organisieren Tanzverein und Heimatkun<strong>de</strong>museum<br />

zusammen mit <strong>de</strong>m Bürgermeister ein Geschichtsprojekt zu<br />

einem NS-Massaker im eigenen Dorf. Aber auch innergesellschaftlich<br />

breit, zugleich international verankerte Organisationen wie die<br />

Pfadfin<strong>de</strong>r-Bewegung eignen sich als etablierte Träger für Austauschvorhaben,<br />

was Magdalena Stefanska (Wil<strong>de</strong> Rose e.V.) anhand einer<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Begegnungsstätte auf Kreta veranschaulichen<br />

konnte.<br />

Bürgerschaftliche Eigeninitiative, persönliche Verbindungen und<br />

Ortskenntnis machen fehlen<strong>de</strong> Mittel wett, ja ermöglichen in <strong>de</strong>n<br />

historisch vielfach konfliktbelasteten Märtyrergemein<strong>de</strong>n mitunter<br />

überhaupt erst die Anfänge eines Aussöhnungsprozesses: Vertrauen<br />

in einen aufrichtigen Versuch <strong>de</strong>r Aufarbeitung zu gewinnen, so dass<br />

es dann auch zu Begegnung und Zusammenarbeit kommen kann.<br />

Doch so beachtlich diese ehrenamtliche Pionierarbeit im Einzelnen<br />

auch ist – um dieses Engagement zu verstetigen braucht es eher früher<br />

als später eine Professionalisierung. Zwar können EU-För<strong>de</strong>rtöpfe,<br />

-Bildungsprogramme und -Zertifikate immerhin zum Teil fehlen<strong>de</strong><br />

Strukturen im Land wettmachen. Allerdings sind diese EU-Angebote<br />

meist nur komplementär zu <strong>de</strong>n nationalen Institutionen angelegt.<br />

Letztlich bedarf es in Griechenland mittelfristig entsprechen<strong>de</strong>r<br />

Strukturreformen und erheblich größerer Mittel.<br />

Von Geschichtswerkstätten zu Institutionenlandschaft<br />

Umgekehrt berichteten Dr. Denis Riffel (Gegen Vergessen/Für Demokratie),<br />

Ingolf Sei<strong>de</strong>l (Agentur für Bildung) und Angelika Meyer (Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

Ravensbrück) vom vergleichsweise ausdifferenzierten Bildungssektor<br />

in Deutschland mit zahlreichen Möglichkeiten zur Aus- und<br />

Fortbildung, Beratung und Vernetzung. Gera<strong>de</strong> auch im Erinnerungsfeld<br />

hat in <strong>de</strong>n letzten Jahrzehnten eine enorme Professionalisierung<br />

stattgefun<strong>de</strong>n. Aus <strong>de</strong>n Anfängen lokaler Geschichtswerkstätten und<br />

Erinnerungsinitiativen <strong>de</strong>r 1980er Jahre, die oft gegen erhebliche<br />

Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong> anzukämpfen hatten, etablierte sich eine vielfältige Erinnerungslandschaft<br />

mit staatlichen o<strong>de</strong>r zumin<strong>de</strong>st stark öffentlich<br />

mitfinanzierten Ge<strong>de</strong>nk- und Dokumentationsstätten, Stiftungen und<br />

Vereinen, Forschungs- und Fortbildungsstellen. Eine Teilnehmerin pointierte<br />

ironisch, es sei fast schon ein Zuviel und Nebeneinan<strong>de</strong>r an ausdifferenzierter<br />

Professionalisierung und För<strong>de</strong>rung.<br />

Komplementäre Chancen zwischen<br />

Professionalisierung und do it yourself<br />

Zugespitzt lassen sich Bedarf, Voraussetzungen und Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

an <strong>de</strong>utsch-griechische Fachkräfte-Qualifikationen zwischen<br />

Do-it-yourself und Professionalisierung, Unterfinanzierung und<br />

För<strong>de</strong>r-Dschungel, zivilgesellschaftlicher Unabhängigkeit und Etatisierung<br />

verorten. So unterschiedlich also die Ausgangslage in bei<strong>de</strong>n<br />

Län<strong>de</strong>rn ist – umgekehrt erwächst just aus dieser strukturellen<br />

Asymmetrie ein komplementäres Potential für <strong>de</strong>n bilateralen Austausch;<br />

gera<strong>de</strong> auch in gemeinsamen Qualifikationsprogrammen für<br />

entsprechen<strong>de</strong> Fachkräfte. So gelang im <strong>de</strong>utsch-französischen o<strong>de</strong>r<br />

auch –polnischen und -türkischen Verhältnis die bilaterale Zusammenarbeit<br />

nicht zuletzt in einem durchaus verbin<strong>de</strong>nd-dynamischen<br />

Spannungsverhältnis <strong>de</strong>r gemeinsamen Geschichte von Zweitem<br />

Weltkrieg, NS-Besatzung aber auch wirtschaftlicher Verflechtung,<br />

Migration und Europäischer Einigung. Bilateralen Jugendwerke und<br />

Austauschprogramme wie <strong>de</strong>r DAAD können als Best-Practice-Beispiele<br />

für <strong>de</strong>utsch-griechische Projekte dienen, gera<strong>de</strong> auch mit Blick<br />

auf erfolgreich überbrückten Unterschie<strong>de</strong> dieser in vielerlei Hinsicht<br />

ungleichen Län<strong>de</strong>rpaare, betonte Christiane Reinholz-Asolli (IJAB).<br />

Bilaterale Voraussetzungen und Anfor<strong>de</strong>rungen<br />

Freilich müssen solche Programme dieser Vielfältigkeit gerecht wer<strong>de</strong>n.<br />

Für Träger und Trainer von Fortbildungen gilt es, interkulturell sensibel<br />

mit historischen Konfliktlagen aber auch sozio-professionellen Unterschie<strong>de</strong>n<br />

umzugehen. Aufgrund <strong>de</strong>s stark variieren<strong>de</strong>n Entwicklungsstan<strong>de</strong>s<br />

müssen die Programme thematisch möglichst breit und niedrigschwellig<br />

angelegt wer<strong>de</strong>n – fachliche, methodische Fragen wie auch<br />

Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit ab<strong>de</strong>cken. Eine möglichst flexible<br />

Modularisierung und lebendig-aktivieren<strong>de</strong> Formen <strong>de</strong>s informellen<br />

und mo<strong>de</strong>llhaften Lernens bieten sich hierfür an. Neben Programmphasen<br />

<strong>de</strong>s bilateralen Austauschs braucht es auch getrennte Einheiten, in<br />

<strong>de</strong>nen die Län<strong>de</strong>rgruppen in <strong>de</strong>r Muttersprache eigene Erfahrung und<br />

neue Begegnung offen reflektieren und für sich annehmen können.<br />

Damit Qualifikationsmaßnahmen von Teilnehmern tatsächlich angenommen<br />

und nachhaltig wirksam wer<strong>de</strong>n, sollte möglichst praxisnah<br />

fortgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, in<strong>de</strong>m man konkrete Projekte und sozioökonomische<br />

Kontexte einbezieht: Interdisziplinär offen für Ehrenamtliche,<br />

Seiten- und Quereinsteiger, bedarfsorientiert für kleine Ge<strong>de</strong>nkinitiativen<br />

aber auch <strong>de</strong>n Sport- o<strong>de</strong>r Folkloreverein. Möglichst direkte<br />

Partnerkooperationen z.B. zwischen Universitäten, Betrieben, Kirchen<br />

o<strong>de</strong>r Kommunalverwaltungen. Sozioökonomisch sinnvoll durch professionelle<br />

Schlüsselqualifikationen und zertifizierte Abschlüsse für<br />

die Teilnehmen<strong>de</strong>n bzw. einem konkreten Nutzen <strong>de</strong>r angeschobenen<br />

Projekte vor Ort, z.B. durch die Verbindung von Erinnerungsarbeit und<br />

Tourismus o<strong>de</strong>r Sozial- und Bildungsprojekten.<br />

Matteo Schürenberg ist Mitglied im Vorstand von Aktion Sühnezeichen Frie<strong>de</strong>nsdienste. Er<br />

studierte Politikwissenschaften mit einem Schwerpunkt auf erinnerungspolitische Fragen<br />

in Freiburg und Berlin. Heute arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter für einen Bun<strong>de</strong>stagsabgeordneten<br />

und lebt pen<strong>de</strong>lnd in Berlin und Schleswig-Holstein.<br />

44


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Carolin Wenzel<br />

Bild: Christian Herrmann<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Chancen multilateraler<br />

Jugendbegegnungen zur Erinnerungsarbeit<br />

Die Teilnehmer/innen <strong>de</strong>s Workshops „Chancen multilateraler Jugendbegegnungen zur Erinnerungsarbeit“<br />

setzten sich mit <strong>de</strong>n vielfältigen Aspekten multilateraler Jugendbegegnungen im<br />

Allgemeinen und im Speziellen zur Erinnerungsarbeit auseinan<strong>de</strong>r. Dabei wur<strong>de</strong> insbeson<strong>de</strong>re auf<br />

<strong>de</strong>n Ansatz <strong>de</strong>r Verflechtungsgeschichte („Histoire croisée“) als Perspektive für die non-formale<br />

Bildungsarbeit mit Jugendlichen eingegangen und Metho<strong>de</strong>n, die diesen Ansatz berücksichtigen,<br />

vorgestellt. Darüber hinaus wur<strong>de</strong>n Fragen über <strong>de</strong>n Mehrwert multilateraler Jugendbegegnungen<br />

zur Aufarbeitung <strong>de</strong>r gemeinsamen Geschichte im Vergleich zu bilateralen Begegnungen, <strong>de</strong>ren<br />

Dynamiken und was bei <strong>de</strong>r Planung und Durchführung zu beachten ist, thematisiert.<br />

Carolin Wenzel<br />

Mehr als nur eine Perspektive<br />

Zunächst fand eine Klärung <strong>de</strong>s Begriffs „Multilateralität“<br />

statt, <strong>de</strong>r „Vielseitigkeit“ be<strong>de</strong>utet und im Kontext internationaler<br />

Jugendbegegnungen die Teilnahme von mehr als drei Gruppen<br />

aus unterschiedlichen Län<strong>de</strong>rn voraussetzt.<br />

Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Ansatz <strong>de</strong>r Verflechtungsgeschichte<br />

und Metho<strong>de</strong>n, die diesen Ansatz berücksichtigen, können dabei<br />

helfen Verständigung und Toleranz von Jugendbegegnungen zur Erinnerungsarbeit,<br />

die ein Zusammentreffen vieler verschie<strong>de</strong>ner Perspektiven<br />

darstellen, zu för<strong>de</strong>rn und einen größtmöglichen Mehrwert aus<br />

solchen Begegnungen zu ziehen. Darüber hinaus bietet <strong>de</strong>r Ansatz<br />

<strong>de</strong>r Verflechtungsgeschichte die Möglichkeit auf die Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />

immer komplexer wer<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Gesellschaften zu reagieren. Globalgeschichte,<br />

Verflechtungsgeschichte, Transnationalität und Migration<br />

stehen dabei im Fokus, genauso wie die Frage, wie Geschichte in einem<br />

interkulturellen und/o<strong>de</strong>r -religiösen Kontext in einer Weise vermittelt<br />

wer<strong>de</strong>n kann, die unterschiedliche Narrative und Perspektiven<br />

berücksichtigt.<br />

Verflechtungsgeschichte<br />

Verflechtungsgeschichte („Histoire croisée“) ist ein geschichtswissenschaftlicher<br />

Ansatz für eine multiperspektivische Geschichtsschreibung<br />

transnationaler Geschichte. Mitte <strong>de</strong>r 1990er Jahre wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Ansatz<br />

von <strong>de</strong>n französischen Sozialwissenschaflter/-innen Bénédicte Zimmermann<br />

und Michael Werner als Antwort auf vergleichs- und transferwissenschaftliche<br />

Ansätze verfasst und etabliert. Ziel dieses Ansatzes<br />

ist die Überwindung <strong>de</strong>s Eurozentrismus und einer Begrenzung durch<br />

nationalstaatlich geprägte Perspektiven. Die Verflechtungsgeschichte<br />

for<strong>de</strong>rt bei <strong>de</strong>r Analyse eines historischen Ereignisses die Berücksichtigung<br />

möglichst vieler Perspektiven (nationale, individuelle, wissenschaftliche,<br />

historische, zeitgenössische etc.) und ständige Reflexion<br />

<strong>de</strong>s eigenen Standpunktes. Darüber hinaus soll die Wechselwirkung mit<br />

an<strong>de</strong>ren historischen Ereignissen nicht außer Acht gelassen wer<strong>de</strong>n.<br />

Dieser Ansatz beför<strong>de</strong>rt sowohl eine miteinan<strong>de</strong>r verflochtene, über<br />

nationalstaatliche Grenzen hinausgehen<strong>de</strong> Geschichtsschreibung als<br />

auch eine größtmögliche Neutralität und Empathie durch die Berücksichtigung<br />

möglichst zahlreicher Perspektiven 1 .<br />

45


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Verflechtungsgeschichte als Perspektive für multilaterale<br />

Jugendbegegnungen in <strong>de</strong>r non-formalen Bildung<br />

Sich mit Geschichte in internationalen Jugendbegegnungen zu beschäftigen<br />

heißt schon lange nicht mehr jungen Menschen aus unterschiedlichen<br />

Län<strong>de</strong>rn ausschließlich Faktenwissen zu präsentieren.<br />

Von größtmöglicher Be<strong>de</strong>utung ist dabei, Geschichte die Abstraktheit<br />

und das Theoretische zu nehmen. Die Herausfor<strong>de</strong>rung besteht darin,<br />

eine Verbindung zwischen <strong>de</strong>r „großen Geschichtserzählung“, <strong>de</strong>n dominanten<br />

Narrativen und <strong>de</strong>n individuellen Geschichten <strong>de</strong>r Teilnehmer/-innen<br />

herzustellen. Eine Möglichkeit kann dabei die Metho<strong>de</strong><br />

„Same event, different stories“ darstellen, bei <strong>de</strong>r sich Teilnehmer/innen<br />

aus verschie<strong>de</strong>nen Län<strong>de</strong>rn im Rahmen eines Workshops mit <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlichen (zumeist nationalen) Narrativen eines historischen<br />

Ereignisses auseinan<strong>de</strong>rsetzen, sich diese gegenseitig erzählen und<br />

vergleichen. Zum einen wählen die Teilnehmer/innen dabei Ereignisse<br />

aus, die für sie persönlich, die Geschichte ihrer Familien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Städte, in <strong>de</strong>nen sie leben, von Be<strong>de</strong>utung sind und betrachten diese<br />

zum an<strong>de</strong>ren durch die unterschiedlichen Perspektiven <strong>de</strong>r Teilnehmer/innen<br />

aus <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Partnergruppen 2 .<br />

Bei <strong>de</strong>r Umsetzung von Metho<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>n Ansatz <strong>de</strong>r Verflechtungsgeschichte<br />

berücksichtigen, bezieht sich die Pluralität <strong>de</strong>r Beobachtungspunkte<br />

keineswegs nur auf die Nationalität <strong>de</strong>r Teilnehmer/<br />

innen, son<strong>de</strong>rn auch auf Religion, Geschlecht, Kultur und/o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

sozialen Hintergrund. Die Ziele, die dabei erreicht wer<strong>de</strong>n sollen, sind<br />

Empathiefähigkeit, Selbstreflexion, Verständigung und Toleranz.<br />

Chancen und Herausfor<strong>de</strong>rungen multilateraler Jugendbegegnungen<br />

Multilaterale wie bilaterale Jugendbegegnungen bedürfen einer<br />

gründlichen Vorbereitung <strong>de</strong>s Leitungsteams sowie <strong>de</strong>r Teilnehmer/-innen,<br />

wohingegen bei multilateralen Jugendbegegnungen<br />

auf vielfältigere kulturelle Eigenheiten geachtet wer<strong>de</strong>n muss. Dies<br />

beginnt schon bei <strong>de</strong>r Verwendung von bestimmten Begrifflichkeiten,<br />

wie beispielsweise „Holocaust“ und „Shoa“, die in verschie<strong>de</strong>nen<br />

kulturellen Kontexten unterschiedlich konnotiert sind. Daher bietet<br />

es sich an, ein multilaterales Leitungsteam zu bil<strong>de</strong>n, das die Unterschiedlichkeiten<br />

<strong>de</strong>r Gruppen abbil<strong>de</strong>t und bei <strong>de</strong>r interkulturellen<br />

Verständigung hilft. Auch können so Sprachbarrieren, die in <strong>de</strong>r Gruppe<br />

existieren, leichter überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Kreative Metho<strong>de</strong>n wie<br />

Kunst, Musik o<strong>de</strong>r Tanz können ebenfalls helfen Hemmungen bei <strong>de</strong>r<br />

Kommunikation abzubauen.<br />

Wie die Beschreibung <strong>de</strong>s Ansatzes <strong>de</strong>r Verflechtungsgeschichte ver<strong>de</strong>utlicht,<br />

kann die Pluralität von Perspektiven zu mehr Verständigung<br />

<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Partnergruppen untereinan<strong>de</strong>r führen. Mit<br />

<strong>de</strong>r richtigen Methodik trägt diese Pluralität zur Entspannung bei<br />

Diskussionen bei. Bei einer bilateralen Jugendbegegnung kann die<br />

Beschäftigung mit <strong>de</strong>r Erinnerung hingegen schnell zu einer Polarität<br />

bei<strong>de</strong>r Gruppen führen, die nur schwer zu entspannen ist. Dennoch<br />

sollte bei multilateralen Begegnungen darauf geachtet wer<strong>de</strong>n, dass<br />

unterschiedliche Perspektiven gleichberechtigt zu Wort kommen und<br />

nicht ein o<strong>de</strong>r zwei Gruppen mit ihren Themen dominieren. Deshalb<br />

spielt die Auswahl <strong>de</strong>r jeweiligen Gruppen in Bezug auf das zu behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong><br />

Thema eine große Rolle. Wenn das Thema Holocaust behan<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n soll und Jugendliche aus Deutschland, Griechenland,<br />

Israel und Polen eingela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, kann es leicht passieren, dass <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utsch-israelische Diskurs die Begegnung dominieren wird und die<br />

an<strong>de</strong>ren Gruppen weniger zu Wort zu kommen. Genauso können aktuelle<br />

politische Ereignisse dazu führen, dass die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

zweier Gruppen zum vorherrschen<strong>de</strong>n Thema <strong>de</strong>r Begegnung wird<br />

(wie beispielsweise die Finanzkrise in Griechenland). In solch einem<br />

Fall ist es bei <strong>de</strong>r Planung wichtig darauf zu achten, dass Metho<strong>de</strong>n<br />

gewählt wer<strong>de</strong>n, die alle Perspektiven zu Wort kommen lassen und<br />

als gleich be<strong>de</strong>utsam von allen wahrgenommen wer<strong>de</strong>n können. Auch<br />

wenn hier <strong>de</strong>r Einfachheit halber Beispiele von nationalen Gruppen<br />

gewählt wur<strong>de</strong>n, muss selbstverständlich stets berücksichtig wer<strong>de</strong>n,<br />

dass je<strong>de</strong> Gruppe an sich Teilnehmer/innen mit diversen sozialen, religiösen,<br />

kulturellen etc. Hintergrün<strong>de</strong>n mitbringen, die ebenfalls ihre<br />

eigenen Konflikte beinhalten.<br />

Genauso be<strong>de</strong>utsam wie die Auswahl <strong>de</strong>r Methodik zur Bearbeitung<br />

von Inhalten sind kleinere Zwischenauswertungen während <strong>de</strong>r Begegnung<br />

sowie eine gründliche Nachbereitung. Die Zwischenauswertungen<br />

dienen dazu, Stimmungen in <strong>de</strong>r Gruppe zu erkun<strong>de</strong>n, um bei<br />

Spannungen die Möglichkeit zu haben rechtzeitig darauf einwirken<br />

zu können. Ansonsten kann es sehr leicht passieren, dass sich einzelne<br />

Gruppen zurückgesetzt fühlen und gegenüber <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren verschließen.<br />

Eine ausführliche Nachbereitung dient <strong>de</strong>r vertieften Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit <strong>de</strong>m neu Erlernten und Erlebten. Darüber hinaus ist<br />

Flexibilität ein Schlüsselwort, <strong>de</strong>nn, wo viele verschie<strong>de</strong>ne Menschen<br />

zusammen kommen, kann immer etwas Unvorhersehbares passieren.<br />

Wer dies jedoch eher als Chance <strong>de</strong>nn als Herausfor<strong>de</strong>rung betrachtet,<br />

gewinnt viel bei <strong>de</strong>r Umsetzung einer multilateralen Jugendbegegnung.<br />

1 Vgl.: Werner, Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz <strong>de</strong>r Histoire croisée<br />

und die Herausfor<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft. 28.<br />

Jahrgang 2002.<br />

2 Eine ausführliche Beschreibung dieser und weiterer Metho<strong>de</strong>n sind in <strong>de</strong>m Metho<strong>de</strong>nhandbuch<br />

„Histoire Croisée as a perspective for non-formal education, a methodological<br />

handbook“ zu fin<strong>de</strong>n. Download: http://www.once-upon-today.org/wordpress/wp-content/uploads/2014/09/160511_KI_Histoire_Croisee_Handbuch_INTERNET.pdf<br />

(zuletzt<br />

geprüft am 27.5.2016)<br />

Carolin Wenzel, Bild: privat<br />

Carolin Wenzel ist Projektkoordinatorin im Bereich<br />

Zeitgeschichte und Menschenrechte bei <strong>de</strong>r Kreisau-<br />

Initiative e.V. in Berlin.<br />

46


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Matthias Heyl<br />

Bild: Christian Herrmann<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Konfliktpotential und<br />

Dynamik in <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnungen<br />

In <strong>de</strong>m Workshop ging es ganz wesentlich darum, Konfliktpotentiale in <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Jugendbegegnungen zu markieren und <strong>de</strong>n Umgang mit ihnen zu diskutieren. Dabei scheint<br />

die zuweilen wahrgenommene Asymmetrie verfügbarer öffentlicher Ressourcen und<br />

bürgerschaftlicher Strukturen im Bereich <strong>de</strong>r schulischen und außerschulischen Jugendarbeit<br />

zwischen Deutschland und Griechenland nicht unproblematisch zu sein. Interkulturelle<br />

Begegnungen wissen aber mit <strong>de</strong>rlei Unterschie<strong>de</strong>n umzugehen, o<strong>de</strong>r sie lernen es besser.<br />

Matthias Heyl<br />

Wir haben über die Risiken gesprochen, die darin liegen,<br />

Differenzen einseitig als Defizite zu <strong>de</strong>uten, da dies einer<br />

partnerschaftlichen Begegnung auf Augenhöhe gera<strong>de</strong>zu<br />

wi<strong>de</strong>rspräche. Strukturelle Unterschie<strong>de</strong> etwa zwischen <strong>de</strong>utschem<br />

Fö<strong>de</strong>ralismus und griechischen Zentralismus haben zwar ihre Folgen<br />

für schulische und außerschulische Bildung, stehen aber einer Zusammenarbeit<br />

nicht notwendigerweise und unüberbrückbar im Wege.<br />

Aus bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn gibt es Stimmen, die eine Entwicklung beschreiben,<br />

in <strong>de</strong>r außerschulische Aktivitäten immer schwieriger zu realisieren<br />

sind, und sowohl in Deutschland, als auch in Griechenland, dürfte<br />

das Wissen über die historischen Ereignisse während <strong>de</strong>s Zweiten<br />

Weltkriegs unter <strong>de</strong>n Erwachsenen, also auch unter <strong>de</strong>n Lehrerinnen<br />

und Lehrern, eher begrenzt sein. Im <strong>de</strong>utschen Erinnerungsdiskurs<br />

dominante Begriffe wie »historisch-politische Bildung« o<strong>de</strong>r »Erinnerungskultur«<br />

haben im Griechischen keine einfachen Entsprechungen.<br />

Gelegentlich wird <strong>de</strong>r Eindruck formuliert, dass Jugendbegegnungen<br />

mit Erwartungen überfrachtet wer<strong>de</strong>n. Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />

Geschichte gilt darin oft als wesentlicher Schlüssel für die Formulierung<br />

einer eigenen I<strong>de</strong>ntität, die die Übernahme eigener und kollektiver<br />

historischer Verantwortung aushält. Erwartete Sinnstiftungen<br />

und selbstkritische Reflexion stehen einan<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Aufarbeitung <strong>de</strong>r<br />

Geschichte zuweilen feindlich gegenüber.<br />

In <strong>de</strong>r Diskussion wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass Jugendbegegnungen Vorurteile<br />

und Stereotypen fokussieren müssen, um ihnen nicht nur zu begegnen,<br />

son<strong>de</strong>rn auch etwas entgegenzusetzen. Jugendbegegnungen<br />

fin<strong>de</strong>n nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt, son<strong>de</strong>rn immer auch<br />

im Kontext gesellschaftlicher Konflikte und Verhandlungsprozesse. Es<br />

nimmt also kaum wun<strong>de</strong>r, dass wie<strong>de</strong>rholt darauf verwiesen wur<strong>de</strong>,<br />

wie wichtig es ist, gera<strong>de</strong> unter erschwerten Rahmenbedingungen<br />

<strong>de</strong>n Dialog zu suchen und Verschränkungen in Fremd- und Eigenbil<strong>de</strong>rn<br />

im gegenseitigen Respekt in <strong>de</strong>n Blick zu nehmen.<br />

Gesellschaftliche Konflikte, die in Jugendbegegnungen zur Sprache kommen,<br />

stellen eine Herausfor<strong>de</strong>rung dar; sie dann auch zu besprechen, erschien<br />

in <strong>de</strong>m Workshop als echte Chance, ihnen die Spitze zu nehmen.<br />

Als Mo<strong>de</strong>rator ist mir selber im Gespräch un<strong>de</strong>utlich geblieben, wo<br />

genau die spezifischen historischen Konfliktpotentiale gera<strong>de</strong> für<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen liegen. Es wur<strong>de</strong> von verschie<strong>de</strong>nen<br />

Praktiker/innen aus <strong>de</strong>m Feld <strong>de</strong>r Jugendbegegnungsar-<br />

47


ERINNERUNGSARBEIT<br />

beit immer wie<strong>de</strong>r wahrgenommen und vorgetragen, dass die gemeinsame<br />

Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit konfliktreicher Geschichte überall<br />

dort gut gelingt, wo die dabei eingangs gewählte Haltung gegenseitigen<br />

Respekt dokumentiert und Begegnung in Augenhöhe ermöglicht.<br />

Für <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen haben wir darüber<br />

diskutiert, welche Rolle die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen<br />

Verbrechen im besetzten Griechenland einnehmen kann und soll. Jugendbegegnungen<br />

sind sicherlich ein überaus geeignetes Feld, sich<br />

gemeinsam mit – im doppelten Wortsinne – geteilter Erinnerung auseinan<strong>de</strong>rzusetzen.<br />

Jugendbegegnungen sind dann nicht nur Ergebnis<br />

etablierter Erinnerungskulturen, son<strong>de</strong>rn auch ihr Ausdruck und – im<br />

besten Falle – wer<strong>de</strong>n die daran Beteiligten zu Akteuren einer gesellschaftlichen<br />

Entwicklung, die historische Konflikte in <strong>de</strong>n Blick nimmt<br />

und zu verstehen und zu entschärfen hilft.<br />

Ausgesprochen wichtig erschien mir am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Arbeitstages, dass<br />

sich jetzt nicht Erwachsene Begegnungsprogramme für <strong>de</strong>utsche und<br />

griechische Jugendliche aus<strong>de</strong>nken, son<strong>de</strong>rn mit ihnen. Paternalistisch,<br />

nicht partnerschaftlich organisierte Begegnungen haben es von<br />

Anfang an »vergeigt«.<br />

Eine beson<strong>de</strong>re Erfahrung in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsch-griechischen Gesprächen<br />

war, dass es doch eine ganze Reihe von Akteuren gibt, die ganz selbstverständlich<br />

in »bei<strong>de</strong>n Welten« zuhause sind. Sie können vielleicht in<br />

beson<strong>de</strong>rer Weise als »Brückenbauer/-innen« dienen. Von ihnen kamen<br />

auch Hinweise auf »positive Stereotypen« die im Selbstbild von<br />

griechischen und <strong>de</strong>utschen Jugendlichen existieren.<br />

Aus schon länger bestehen<strong>de</strong>n bi-nationalen Jugendwerken kam <strong>de</strong>r<br />

Hinweis, dass historische begrün<strong>de</strong>te Konfliktpotentiale in Jugendbegegnungen<br />

nicht die Ausnahme, son<strong>de</strong>rn die Regel seien; schließlich<br />

seien das Deutsch-Französische- und das Deutsch-Polnische Jugendwerk<br />

ja gera<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>r und als Antwort auf die einstigen<br />

historischen Konflikte gegrün<strong>de</strong>t wor<strong>de</strong>n und haben – so wie<br />

auch »Tan<strong>de</strong>m«, das Koordinierungszentrum für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utsch-tschechischen<br />

Jugendaustausch – Formen geeigneter Fachkräftequalifikation<br />

entwickelt.<br />

Schließlich zeigen Jugendbegegnungen immer wie<strong>de</strong>r die Heterogenität<br />

<strong>de</strong>r daran beteiligten Individuen. In <strong>de</strong>r Regel sind die daran<br />

beteiligten Gruppen eben selber nicht nur homogen – in unserem<br />

Beispiel <strong>de</strong>utsch o<strong>de</strong>r griechisch… Bei<strong>de</strong> Gruppen zerfallen bei näherer<br />

Betrachtung in die Heterogenität ihrer Mitglie<strong>de</strong>r, die es möglich<br />

macht, dass wir uns entgegen aller nationalen Zuschreibungen<br />

manchmal da und dort ähnlicher o<strong>de</strong>r unähnlicher sind, als wir dachten.<br />

Das festzustellen und damit <strong>de</strong>n Horizont zu weiten, helfen professionell<br />

begleitete Jugendbegegnungen.<br />

Dass die Arbeitsgruppe ihrer Präsentation <strong>de</strong>n Titel »Konflikt als<br />

Chance« gab, stimmt auch für <strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen<br />

hoffnungsfroh. Ein Kreis war in vier Segmente geteilt, die <strong>de</strong>n<br />

Hauptthemen <strong>de</strong>r Diskussion im Rahmen <strong>de</strong>s Workshops entsprachen:<br />

• gesellschaftliche Rahmenbedingungen <strong>de</strong>utsch-griechischer<br />

Jugendbegegnungen,<br />

• organisatorische Rahmenbedingungen <strong>de</strong>utsch-griechischer<br />

Jugendbegegnungen,<br />

• Vorurteile & Stereotype in <strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnungen,<br />

• Formen <strong>de</strong>r Erinnerungskultur.<br />

Matthias Heyl, Bild: Marieke Anne Heyl<br />

Der Historiker und Erziehungswissenschaftler<br />

Matthias Heyl ist seit 2002 Leiter <strong>de</strong>r Pädagogischen<br />

Dienste <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück.<br />

48


ERINNERUNGSARBEIT<br />

Gunnar Zamzow spricht beim Fachtag Erinnerungsarbeit<br />

Bild: Christian Herrmann Lizenz: BY<br />

Fachtag Erinnerungsarbeit: Ge<strong>de</strong>nkstättenkultur in<br />

Deutschland und Griechenland – Perspektiven für<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Jugendbegegnungen<br />

Mit <strong>de</strong>r schwierigen Bestandsaufnahme zur pädagogischen Arbeit in Ge<strong>de</strong>nkstätten an die<br />

Verbrechen <strong>de</strong>s Nationalsozialismus in Deutschland und Griechenland beschäftigte sich ein<br />

Workshop während <strong>de</strong>s Fachtags „Erinnerungsarbeit“ in <strong>de</strong>r Mahn- und Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück.<br />

Im engagierten Gespräch setzten sich die anwesen<strong>de</strong>n Fachkräfte, Ehrenamtlichen und<br />

Interessierten mit <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Fragen auseinan<strong>de</strong>r: Was zeichnet eine Ge<strong>de</strong>nkstätte aus?<br />

Welche Unterschie<strong>de</strong> gibt es im Bereich <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstättenarbeit zwischen Deutschland und<br />

Griechenland? Und was be<strong>de</strong>utet all dies für die Durchführung von Jugendbegegnungen zu<br />

historischen Themen mit <strong>de</strong>utsch-griechischen Gruppen?<br />

Gunnar Zamzow<br />

Schnell stellte sich heraus, dass die Fallhöhe historischer Themen<br />

– und hier insbeson<strong>de</strong>re <strong>de</strong>r inhaltliche Bezug auf <strong>de</strong>n Nationalsozialismus<br />

– für Jugendbegegnungen nicht unterschätzt<br />

wer<strong>de</strong>n sollte. Solche Veranstaltungen und Seminare bestehen in <strong>de</strong>r<br />

Regel nicht allein aus <strong>de</strong>r inhaltlichen und wissensbasierten Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

mit längst Vergangenem, son<strong>de</strong>rn för<strong>de</strong>rn die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung<br />

junger Menschen mit <strong>de</strong>n eigenen Werten und <strong>de</strong>n<br />

Erwartungen an sich und an<strong>de</strong>re. Bei <strong>de</strong>r Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit<br />

<strong>de</strong>n Verbrechen <strong>de</strong>s Nationalsozialismus passiert dies zu<strong>de</strong>m in einem<br />

Feld, das moralisch und politisch überformt ist. Einfache Antworten<br />

o<strong>de</strong>r sogar inhaltlich festgelegte „Gebrauchsanweisungen“ seien hier<br />

– so waren sich alle Beteiligten einig – fehl am Platze.<br />

Möglichkeiten und Ziele <strong>de</strong>r pädagogischen Arbeit<br />

in Ge<strong>de</strong>nkstätten – nur auf <strong>de</strong>n ersten Blick<br />

ein<strong>de</strong>utig und klar<br />

Der Workshop war von einem dynamischen Wechsel zwischen inhaltlichen<br />

Inputs <strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>rators und daran anschließen<strong>de</strong>n Diskussionen<br />

<strong>de</strong>r Teilnehmen<strong>de</strong>n geprägt. Verschie<strong>de</strong>ne <strong>de</strong>utsch-griechische<br />

Grenzgänger*innen sorgten dafür, dass eine einseitig <strong>de</strong>utsche Sichtweise<br />

vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n konnte. Mit bemerkenswerter Vehemenz<br />

und inhaltlicher Klarheit versuchten alle Redner*innen einen interkulturellen<br />

Blick in ihre Beiträge einfließen zu lassen und <strong>de</strong>n eigenen<br />

Stadtpunkt zu reflektieren.<br />

In <strong>de</strong>r einleiten<strong>de</strong>n Phase <strong>de</strong>s Workshops wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, dass die Anwesen<strong>de</strong>n<br />

eine recht einheitliche und klare Vorstellung von Ge<strong>de</strong>nkstätten<br />

und <strong>de</strong>ren pädagogischem Auftrag hatten – sie i<strong>de</strong>ntifizierten<br />

vor allem KZ-Ge<strong>de</strong>nkstätten und an<strong>de</strong>re Orte, an <strong>de</strong>nen Bildungs- und<br />

Erinnerungsarbeit an die Opfer und Verbrechen <strong>de</strong>s Nationalsozia-<br />

49


ERINNERUNGSARBEIT<br />

lismus betrieben wird. Als „griechische“ Beispiele wur<strong>de</strong>n die sog.<br />

Märtyrerdörfer – Orte also, an <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>utsche Truppen während <strong>de</strong>s<br />

Zweiten Weltkriegs Massaker an <strong>de</strong>r Zivilbevölkerung verübt hatten<br />

– genannt, bspw. Distomo o<strong>de</strong>r Kalavryta. Hier wäre es möglich,<br />

Geschichte erfahrbar und begreifbar zu machen, <strong>de</strong>n Blick auf das<br />

individuelle Schicksal in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund zu stellen und einen persönlichen<br />

Zugang zum Thema zu fin<strong>de</strong>n. Die Beteiligten berichteten<br />

von sehr lehrreichen und inhaltlich wertvollen Programmen, die sie<br />

persönlich o<strong>de</strong>r Gruppen mit <strong>de</strong>nen sie in Kontakt stän<strong>de</strong>n an solchen<br />

Orten erlebt hätten. Beson<strong>de</strong>rs hervorgehoben wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r enge Kontakt<br />

zwischen einem ortskundigen Ge<strong>de</strong>nkstättenpädagogen/einer<br />

Ge<strong>de</strong>nkstättenpädagogin und <strong>de</strong>r Gruppe. Auch die Vorbereitung <strong>de</strong>r<br />

Gruppe im Vorhinein wur<strong>de</strong> erwähnt. Hier ging es neben Vorbesprechungen<br />

mit <strong>de</strong>r jeweiligen Kontaktperson in <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstätte auch<br />

um die gezielte Einbettung eines Besuchs in die schulische Aufarbeitung<br />

<strong>de</strong>s Nationalsozialismus, bspw. im Geschichts- o<strong>de</strong>r Politikunterricht.<br />

Diese ganz unterschiedlichen Erwartungen und Standards<br />

waren in <strong>de</strong>r Gruppe auch als Maßstäbe einer qualifizierten Jugendund<br />

Bildungsarbeit unumstritten. Ergänzend – und auch <strong>de</strong>swegen<br />

fand dieser Fachtag ja in <strong>de</strong>r Mahn- und Ge<strong>de</strong>nkstätte Ravensbrück<br />

statt – wür<strong>de</strong>n sich vor Ort regelmäßig Möglichkeiten bieten, um<br />

bspw. die Herkunft o<strong>de</strong>r das beson<strong>de</strong>re inhaltliche Interesse einer Besucher*innengruppe<br />

mit <strong>de</strong>m Schicksal ehemals inhaftierter o<strong>de</strong>r ermor<strong>de</strong>ter<br />

Personen zusammenzubringen. KZ-Ge<strong>de</strong>nkstätten mit einer<br />

pädagogischen Abteilung hätten <strong>de</strong>n Anspruch Besuche unterschiedlichster<br />

Gruppen angemessen inhaltlich und methodisch vorzubereiten<br />

und auf spezifische Wünsche und Bedürfnisse kompetent eingehen<br />

zu können. Diese inhaltlichen Standards wür<strong>de</strong>n in Deutschland<br />

durch eine fest Verankerung <strong>de</strong>s Themas in schulischen Lehrplänen,<br />

ein hohes öffentliches Interesse an <strong>de</strong>r Aufarbeitung <strong>de</strong>s Nationalsozialismus<br />

und nicht zuletzt eine gute Finanzierungssituation flankiert.<br />

Ein Wort – viele Ansprüche! Ge<strong>de</strong>nkstätten im<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Vergleich<br />

Im Verlauf <strong>de</strong>s Workshops wur<strong>de</strong> allerdings <strong>de</strong>utlich, dass die oben<br />

beschriebenen und in <strong>de</strong>r Gruppe allgemein anerkannten Standards –<br />

wenn überhaupt – nur für die größeren <strong>de</strong>utschen KZ-Ge<strong>de</strong>nkstätten<br />

gelten. Sie sind das Ergebnis eines langen Professionalisierungsprozesses,<br />

<strong>de</strong>r schon seit Jahrzehnten läuft. In dieser Dynamik wur<strong>de</strong>n<br />

nicht nur die inhaltlichen und institutionalisierten Grundlagen <strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>utschen Ge<strong>de</strong>nkstättenpädagogik geschaffen, son<strong>de</strong>rn eben auch<br />

<strong>de</strong>r gut begrün<strong>de</strong>te Bedarf nach qualifizierter Bildungsarbeit an <strong>de</strong>n<br />

Stätten <strong>de</strong>r Verbrechen <strong>de</strong>s Nationalsozialismus hervorgebracht.<br />

Wenn man diese Standards aber aus <strong>de</strong>utscher Perspektive einseitig<br />

auf Griechenland und die dortige erinnerungskulturelle Landschaft<br />

überträgt, wird man wohlmöglich überhaupt keine adäquaten Pendants<br />

fin<strong>de</strong>n. Eine vergleichbare Infrastruktur (inkl. geeigneter Räumlichkeiten<br />

und ausgebil<strong>de</strong>tem Personal) von Ge<strong>de</strong>nkstätten, nach <strong>de</strong>m<br />

weiter oben <strong>de</strong>finierten Bild, wird man in Griechenland (noch) nicht<br />

fin<strong>de</strong>n. Im Erfahrungsaustausch <strong>de</strong>r Teilnehmen<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich,<br />

dass die dortige Erinnerungslandschaft bisher ohne einen breiten<br />

gesellschaftlichen Konsens über <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r nationalsozialistischen<br />

Verbrechen auskommen muss – verwiesen wur<strong>de</strong> hier bspw.<br />

auf die Folgen <strong>de</strong>s griechischen Bürgerkriegs im Anschluss an <strong>de</strong>n<br />

Zweiten Weltkrieg, <strong>de</strong>r die Bewertung <strong>de</strong>r zeitlich vorher gegangenen<br />

Ereignisse 1) fast vollständig überformt hätte und 2) in Deutschland<br />

beinahe komplett unbekannt sei –, sie muss auf staatliche Finanzierung<br />

weitestgehend verzichten und ist in elementarer Weise auf private<br />

und lokale Initiativen angewiesen.<br />

Dies be<strong>de</strong>utet allerdings nicht, dass in Griechenland nicht an die<br />

Opfer von nationalsozialistischen Massenverbrechen gedacht wür<strong>de</strong><br />

o<strong>de</strong>r es keine Bemühungen, um eine angemessene Aufarbeitung und<br />

Dokumentation dieser Verbrechen gäbe. Es wur<strong>de</strong> allerdings <strong>de</strong>utlich,<br />

dass die national kodierten Erwartungshaltungen von Teilnehmen<strong>de</strong>n<br />

an Ge<strong>de</strong>nkveranstaltungen und Besucher*innen von Ge<strong>de</strong>nkstätten<br />

nicht immer kompatibel miteinan<strong>de</strong>r waren und sind. Während in<br />

Griechenland einzelne Opfergruppen noch immer um die Anerkennung<br />

ihres Leids kämpfen müssten und somit ganz grundsätzlich auf<br />

<strong>de</strong>r Suche nach Gehör und Akzeptanz seien, scheine diese Phase aus<br />

<strong>de</strong>utscher Perspektive schon lange abgeschlossen. Hier wer<strong>de</strong> vermeintlich<br />

souverän zwischen parteilicher Anteilnahme und Zeichen<br />

<strong>de</strong>r Anteilnahme auf <strong>de</strong>r einen Seite und zukunftszugewandter, aber<br />

auch distanzierterer Bildungsarbeit zu <strong>de</strong>n Verbrechen <strong>de</strong>s Nationalsozialismus<br />

auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite unterschie<strong>de</strong>n.<br />

Der anfänglich noch etwas ungewohnte Begriff <strong>de</strong>r „Ge<strong>de</strong>nkstättenkultur“<br />

stellte sich <strong>de</strong>swegen im Verlauf <strong>de</strong>s Workshops als glückliche<br />

Wortschöpfung heraus, unterstreicht er doch, dass eine aka<strong>de</strong>mische<br />

und zu<strong>de</strong>m spezifisch <strong>de</strong>utsche Definition von <strong>de</strong>m was eine Ge<strong>de</strong>nkstätte<br />

sein sollte, unvollständig bleibt, weil sie die mit <strong>de</strong>m Ort verbun<strong>de</strong>ne<br />

Wirkung auf die Anwesen<strong>de</strong>n nicht erfasst. Genauso wenig<br />

erfasst sie in was für eine gesellschaftliche Dynamik die Ge<strong>de</strong>nkstätten<br />

eingebettet sind o<strong>de</strong>r mit welchen politischen und kulturellen Erwartungen<br />

auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene<br />

die Arbeit vor Ort konfrontiert ist. Die Erweiterung um die „Kultur“<br />

versteht Ge<strong>de</strong>nkstätten als gesellschaftliche, soziale und kulturelle<br />

Orte. Ge<strong>de</strong>nkstätten sind nicht irgendwann einfach da, son<strong>de</strong>rn sind<br />

das Ergebnis vielfältiger Prozesse. Der Begriff <strong>de</strong>r Ge<strong>de</strong>nkstättenkultur<br />

kann dabei helfen, dies zu verstehen und kategorisch zu erfassen.<br />

Der sog. authentische Ort ist in Deutschland und Griechenland <strong>de</strong>r<br />

Ausgangspunkt für vielfältige Bemühungen, dass dort Geschehene so<br />

aufzubereiten, um es heutzutage für Jugendliche und an<strong>de</strong>ren Interessierte<br />

wahrnehmbar zu machen. Nicht nur die jeweils individuelle<br />

Motivation vor Ort, son<strong>de</strong>rn auch die Umsetzung und die Ausstattung<br />

solcher Ort unterschei<strong>de</strong>t sich jedoch oft erheblich. Es sei <strong>de</strong>swegen<br />

bei <strong>de</strong>r Konzeption von Bildungsprogrammen immer mitzu<strong>de</strong>nken –<br />

so eine ganz grundsätzliche Wortmeldung aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r Teilnehmen<strong>de</strong>n<br />

– mit welcher Gruppe, man wohin fahre und was man<br />

dort zu erreichen suche!<br />

Jugendliche und Ge<strong>de</strong>nkstätten – Praktische Gedanken<br />

zur Planung einer <strong>de</strong>utsch-griechischen Begegnung<br />

In einer lebhaften Diskussion ging es in <strong>de</strong>r Gruppe schließlich darum,<br />

welche Rolle für die Beschäftigung mit <strong>de</strong>n Verbrechen <strong>de</strong>s<br />

Nationalsozialismus in Jugendbegegnungen angemessen ist? Und<br />

noch spezifischer: Welchen Ort können o<strong>de</strong>r sollen bspw. <strong>de</strong>utsche<br />

50


ERINNERUNGSARBEIT<br />

KZ-Ge<strong>de</strong>nkstätten o<strong>de</strong>r griechische sog. Märtyrerdörfer in Jugendbegegnungen<br />

mit Teilnehmen<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Län<strong>de</strong>rn einnehmen?<br />

Die wohl wichtigste Erkenntnis <strong>de</strong>r Gruppe war, dass man in einer<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendbegegnung, ob <strong>de</strong>s historischen Zugriffs,<br />

nicht von sich auf die an<strong>de</strong>ren schließen sollte. Historische Themen<br />

la<strong>de</strong>n in vielerlei Hinsicht zum Lernen, Diskutieren und Mitfühlen<br />

ein, die Festlegung <strong>de</strong>r Teilnehmen<strong>de</strong>n auf bestimmte Aussagen o<strong>de</strong>r<br />

historische Wahrheiten, wür<strong>de</strong> dieses Potential jedoch entschei<strong>de</strong>nd<br />

begrenzen. Jugendliche müssten nicht zwanghaft von Irgen<strong>de</strong>twas<br />

überzeugt wer<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn sollten sich – gera<strong>de</strong> an <strong>de</strong>n historischen<br />

Orten – als aktive und fähige junge Menschen erleben, wenn sie sich<br />

empathisch mit <strong>de</strong>r Geschichte von sich und an<strong>de</strong>ren auseinan<strong>de</strong>rsetzen.<br />

Die Thematisierung von persönlicher Verwicklung in die Geschichte<br />

macht die Jugendlichen zu Akteur*innen in eigener Sache<br />

und konfrontiert sie nicht mit <strong>de</strong>m Min<strong>de</strong>rwertigkeitsgefühl, das sich<br />

bei Ihnen aus <strong>de</strong>r Nichterfüllung erwachsener Min<strong>de</strong>stansprüche ergeben<br />

könnte.<br />

Ge<strong>de</strong>nkstätten können eine wichtige Ressource für Jugendbegegnungen<br />

sein, da sie ein breites inhaltliches Angebot bereithalten, und bei<br />

<strong>de</strong>r Suche nach geeigneten Zugängen und Metho<strong>de</strong>n zur Geschichte <strong>de</strong>s<br />

Nationalsozialismus je<strong>de</strong>rzeit beratend tätig wer<strong>de</strong>n können. Gera<strong>de</strong> im<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Kontext sei es aber auch nicht nötig, Geschichte<br />

o<strong>de</strong>r „<strong>de</strong>n Nationalsozialismus“ als einziges Thema einer Jugendbegegnung<br />

festzulegen. Um die historische Tragweite klar zu machen, reiche<br />

– so einzelne Teilnehmen<strong>de</strong> – auch eine einzelne und konzentrierte Einheit.<br />

Überdies kann die Geschichte <strong>de</strong>s Nationalsozialismus auch zum<br />

Thema einer Jugendbegegnung wer<strong>de</strong>n, ohne dass dies überall dran<br />

steht o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund geschoben wird. Beispielsweise wenn<br />

sich die Jugendlichen intensiv mit verschie<strong>de</strong>nen Biographien o<strong>de</strong>r<br />

Familiengeschichten beschäftigen. Das Thema <strong>de</strong>utsch-griechische Beziehungen<br />

vorschnell auf eine politische o<strong>de</strong>r symbolische Ebene zu<br />

hieven, da waren sich alle Anwesen<strong>de</strong>n einig, wirke sich bremsend auf<br />

die Eigeninitiative <strong>de</strong>r beteiligten Jugendlichen aus und wür<strong>de</strong> Gefühlen<br />

von Überfor<strong>de</strong>rung und Frust Vorschub leisten.<br />

Gunnar Zamzow, Bild: Christian Herrmann<br />

Gunnar Zamzow M.A. ist Politikwissenschaftler und als<br />

Referent im Bereich <strong>de</strong>r Jugend- und Bildungsarbeit <strong>de</strong>s<br />

Volksbun<strong>de</strong>s Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. tätig.<br />

Er ist in <strong>de</strong>r Programmkoordination För<strong>de</strong>rmittel u.a.<br />

zuständig für die Entwicklung <strong>de</strong>r Programme im Kontext<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischer Begegnungsarbeit.<br />

www.volksbund.<strong>de</strong><br />

51


ESSAY<br />

Bild: nik Lizenz: BY-NC-SA<br />

Geheimnis im Deckel – o<strong>de</strong>r was Tupperware mit <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>utsch-griechischen Jugendaustausch zu tun hat<br />

Anja Hack erlaubt uns einen etwas an<strong>de</strong>ren Einblick in die kulturelle Einbettung <strong>de</strong>r Tupperware<br />

in Griechenland und was ihre Vorgeschichte für die Weiterentwicklung <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-griechischen<br />

Jugendaustausches mit sich bringt.<br />

Anja Hack<br />

Bis in die 70er Jahre wan<strong>de</strong>rten Zehntausen<strong>de</strong> von jungen Griechen<br />

und Griechinnen nach Deutschland aus, weil dort Arbeitskräfte<br />

für <strong>de</strong>n Aufbau gebraucht wur<strong>de</strong>n und Anwerbeabkommen<br />

zwischen <strong>de</strong>n Staaten geschlossen wur<strong>de</strong>n. Und viele kehrten im<br />

Laufe <strong>de</strong>r Jahre wie<strong>de</strong>r in ihre Heimatdörfer zurück. Bedingt durch die<br />

Wirtschaftskrise entschei<strong>de</strong>n sich nun viele Griechen und Griechinnen<br />

<strong>de</strong>r zweiten und dritten Generation, wie<strong>de</strong>r nach Deutschland<br />

zurückzugehen. Sei es, weil ihnen die Sprache und Kultur mehr als<br />

vertraut war, o<strong>de</strong>r weil sie in Deutschland geboren und aufgewachsen<br />

sind - ein jahrzehntelanger Umzug ganzer Familien, die sowohl<br />

in Deutschland als auch in Griechenland zuhause sind. Ein freundschaftliches<br />

und vertrautes Verhältnis. Ein Hin und Her.<br />

Dr. Earl Tupper konnte sicher nicht ahnen, dass die Tupperware gera<strong>de</strong><br />

in Griechenland zu <strong>de</strong>m am meist gebrauchten Familienartikel wur<strong>de</strong>.<br />

Plastikbehälter in allen Größen mit patentiertem Deckel, <strong>de</strong>r luft-<br />

, wasser- und geruchsdicht schließt; genau richtig, um Gekochtes zu<br />

transportieren, das uns allen so bekannte, gefürchtete und geliebte Ritual,<br />

das sich immer mit <strong>de</strong>n Worten einleitet „Na sou balo ligo ….“ (zu<br />

Deutsch „Soll ich Dir ein bisschen einpacken…“). Resultat ist <strong>de</strong>r Transport<br />

von Bergen von Lebensmitteln fürsorglich gekocht von <strong>de</strong>r griechischen<br />

Mama, die im Handgepäck und Kofferräumen, in Flugzeugen,<br />

in Überlandbussen mit <strong>de</strong>r geliebten Person auf die Reise gehen. O<strong>de</strong>r<br />

sich tagtäglich in <strong>de</strong>n Kühlschränken von 20- bis 40-Jährigen stapeln.<br />

Aber sind es wirklich nur die Tiropitas, die Spanakopitas, die hier mit<br />

auf die Reise gehen? O<strong>de</strong>r füllen wir in die Tupperdosen die eigenen<br />

Vorstellungen, Fürsorge und Kontrolle, gewachsene Erwartungen an<br />

<strong>de</strong>n Familienverbund, vielleicht auch Ängste? Und was hat dies mit<br />

<strong>de</strong>m <strong>de</strong>utsch-griechischen Austausch und <strong>de</strong>n Beziehungen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

Län<strong>de</strong>r zu tun?<br />

Was viele nicht wissen ist, dass bis 1944 die <strong>de</strong>utsche Wehrmacht<br />

Griechenland besetzt und ausgeplün<strong>de</strong>rt hatte, es herrschte bittere<br />

Armut. Die politischen Lager waren in <strong>de</strong>r Folge extrem gespalten,<br />

was in einen jahrelangen Bürgerkrieg mün<strong>de</strong>te. Über 12 % <strong>de</strong>r griechischen<br />

Bevölkerung emigrierte ins europäische und internationale<br />

Ausland. Junge griechische Frauen aus Dörfern und Großfamilienverbun<strong>de</strong>n,<br />

die bis in die 50er Jahre nicht einmal gewohnt waren, auf<br />

Frem<strong>de</strong> zu treffen o<strong>de</strong>r zu reisen, fan<strong>de</strong>n sich im <strong>de</strong>utschen System<br />

<strong>de</strong>r Aufbauzeit in Deutschland wie<strong>de</strong>r. In einem Deutschland, welches<br />

knapp ein Jahrzehnt vorher Kriegsgegner und Besetzungsmacht war.<br />

Was vielen auch nicht bekannt ist: Es gab zwar einen generellen<br />

Familiennachzug, aber viele Familien waren gezwungen, ihre Jüngsten<br />

in Griechenland zu lassen, versorgt bei Großeltern o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Verwandten (Ta paidia tis balitsas – Kofferkin<strong>de</strong>r). Viele Geschwister<br />

wur<strong>de</strong>n über Jahre getrennt. Die Empfindungen <strong>de</strong>r Mütter lassen sich<br />

nur erahnen, umso mehr, als sie jahrhun<strong>de</strong>rtelang kulturell geprägt<br />

waren von <strong>de</strong>m Prinzip <strong>de</strong>s Familienkerns und <strong>de</strong>r nicht hinterfragten<br />

52


ESSAY<br />

Rolle <strong>de</strong>r Großfamilie. Ein Trauma einer ganzen Nachkriegsgeneration,<br />

das bis heute nicht wirklich aufgearbeitet wur<strong>de</strong>.<br />

Deutschland sprach von einem sehr erfolgreichen und gelungenen<br />

Beispiel <strong>de</strong>r Integration griechischer Gastarbeiter. Die Mehrzahl <strong>de</strong>r<br />

griechischen Gastarbeiter ging jedoch mit ihren Ersparnissen zurück<br />

und mit <strong>de</strong>r Einstellung, dass ihre Kin<strong>de</strong>r auf keinen Fall als Handwerker<br />

arbeiten, son<strong>de</strong>rn einen aka<strong>de</strong>mischen Wer<strong>de</strong>gang einschlagen<br />

sollen, um eine bessere Lebensgestaltung zu erreichen. Die finanzielle,<br />

häusliche und berufliche Absicherung <strong>de</strong>r (auch „geparkten“)<br />

Kin<strong>de</strong>r erhielt einen noch höheren Stellenwert, zusätzlich <strong>de</strong>s von<br />

Kriegsgenerationen bekannten Phänomens <strong>de</strong>r Überversorgung mit<br />

Nahrungsmitteln.<br />

Das Prinzip <strong>de</strong>r Familie bestimmt in Griechenland daher auch die<br />

Freizeitgestaltung im außerschulischen Bereich. Die Beson<strong>de</strong>rheit <strong>de</strong>s<br />

griechischen Schulsystems ist, dass die Mehrzahl <strong>de</strong>r Schüler/-innen<br />

außerschulische Nachhilfestun<strong>de</strong>n nehmen, um das Uni-Aufnahmeverfahren<br />

zu bestehen. Ein entsteht ein Alltag, in <strong>de</strong>m Jugendliche<br />

eingebun<strong>de</strong>n sind in einen fremdbestimmten Zeitverbund von Schule,<br />

Nachhilfe, Sport- o<strong>de</strong>r Sprachkursen, einem ganzen Wochen-Programm,<br />

das kaum Zeit o<strong>de</strong>r Freiraum lässt, für jugendliche Eigeninitiative<br />

o<strong>de</strong>r (finanzielle) Selbstverwirklichung. Ein Alltag, an <strong>de</strong>m<br />

Schüler/-innen je<strong>de</strong>n Tag von schulrucksacktragen<strong>de</strong>n Müttern zur<br />

Schule gebracht und abgeholt wer<strong>de</strong>n und 16 Stun<strong>de</strong>n auf Achse<br />

sind, damit in <strong>de</strong>r Folge das Kind durch ein lan<strong>de</strong>sweites und strenges<br />

Punktesystem an einer Universität angenommen wird.<br />

Die Zukunft eines Lan<strong>de</strong>s ist seine Jugend. Die griechischen Jugendlichen<br />

zählen im Moment zu <strong>de</strong>n Verlierern <strong>de</strong>r Wirtschaftskrise. Die<br />

Krise verschärft die strukturellen Probleme: Selektiver Zugang zu<br />

Arbeitsplätzen in <strong>de</strong>r Privatwirtschaft, restriktive Personalaufnahme<br />

im Öffentlichen Dienst und reduzierte Einstellungsbereitschaft <strong>de</strong>r<br />

Betriebe. Bedingt durch die hohe Arbeitslosigkeit und fehlen<strong>de</strong> berufliche<br />

Perspektive entsteht Frustration und es entschei<strong>de</strong>n sich viele<br />

junge Menschen wie<strong>de</strong>rum ins Ausland zu gehen.<br />

Gerne zitiere ich <strong>de</strong>n 18jährigen Spyros Dadani<strong>de</strong>s aus Komotini mit<br />

seinem Artikel „Point of view: Seated“, <strong>de</strong>r seit Anfang <strong>de</strong>s Jahres in<br />

London Film- und Theaterwissenschaften studiert:<br />

„Freiwillige Austauschprogramme haben in <strong>de</strong>r Regel eine grundlegen<strong>de</strong><br />

Eigenschaft, viele Menschen kommen zusammen, um wie man<br />

sich vorstellen kann, etwas gemeinsam zu tun. Ich mag das sehr...! Ich<br />

mag das, weil ich weiß, dass, wenn es ein gemeinsames Ziel gibt, eine<br />

Verbun<strong>de</strong>nheit mit <strong>de</strong>m Nebenmann und <strong>de</strong>m Gegenüber entsteht. Wir<br />

lernen uns alle in unglaublich kurzer Zeit kennen, arbeiten zusammen<br />

in Workshops und lassen die Aben<strong>de</strong> bei einem gemeinsamen Bier ausklingen.<br />

Schließlich kommen wir beim Abschied alle zum Weinen und<br />

schreiben: „Ich vermisse dich so sehr!!“ auf Facebook.<br />

Aber - es ist nicht so. Ich hatte das Vergnügen, an einem PERPATO-Projekt<br />

im vergangenen September teilzunehmen, bei <strong>de</strong>m ich einige<br />

<strong>de</strong>utsch-griechische Teilnehmer/innen kennerlernte, die in diesem<br />

Jahr „zurückkehrten“. Ich kannte diese Menschen im Grun<strong>de</strong> nur eine<br />

Woche, aber ich hatte das Gefühl, vertraute und wichtige Freun<strong>de</strong> zu<br />

haben. Es war, als ob ich sie schon jahrelang kannte. Und das obwohl<br />

wir vielleicht nicht mehr als zehnmal am gleichen Tisch gesessen hatten.<br />

In <strong>de</strong>n vergangenen Jahren beteiligte ich mich nicht an <strong>de</strong>n Camps,<br />

weil ich entwe<strong>de</strong>r Prüfungen hatte o<strong>de</strong>r Tests ablegen musste...! Aber<br />

in diesem Jahr war ich dabei ... und es wur<strong>de</strong> mir klar, dass diese Erfahrungen<br />

so viel wichtiger sind als die Beugung <strong>de</strong>s Verbes in Present<br />

Perfect Simple o<strong>de</strong>r die Verwendung <strong>de</strong>s Konjunktivs in Englisch.<br />

Vielleicht klingt es klangvoll und ernsthaft, aber was letztlich zählt,<br />

sind die Menschen um dich herum und nicht du. Was zählt ist, dass<br />

wenn Du eine Enttäuschung lebst, es zu schaffen, dass sie dich nicht<br />

blockiert und sie zum Anlass zu nehmen, einen Schritt nach vorn zu<br />

gehen o<strong>de</strong>r wie in meinem Fall, die Rä<strong>de</strong>r zu bewegen.“ (Quelle: Paratiritis<br />

tis Thrakis, letzter Zugriff: 20.06.2016).<br />

Deutlicher kann <strong>de</strong>r Unterschied zu <strong>de</strong>r viel eigenständigeren Lebensund<br />

Freizeitgestaltung <strong>de</strong>utscher Kin<strong>de</strong>r und Jugendlicher nicht sein.<br />

Und gera<strong>de</strong> hier ist ein genereller Austausch wichtig, um in einem<br />

ersten Schritt die verschie<strong>de</strong>nen Systeme zu verstehen, Vertrauen<br />

aufzubauen und auch Horizonte zu erweitern. Austauschprogramme<br />

sind hier nicht nur Wegbereiter <strong>de</strong>utsch-griechischer Beziehungen,<br />

son<strong>de</strong>rn sie übernehmen eine wichtige Rolle: Sie bringen die Menschen<br />

zusammen. Ein Dialog, in <strong>de</strong>m zukünftig vor allem auch Familien<br />

in Deutschland und Griechenland miteingebun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n müssen.<br />

Erfolgreiche Projekte zwischen griechischen und <strong>de</strong>utschen Vereinen<br />

zeigen, wie sich eine Zusammenarbeit einfach und praxisnah<br />

zu Themen organisieren lässt, welche die Jugend in Europa beschäftigt.<br />

Durch die Intensivierung <strong>de</strong>r zivilgesellschaftlichen Kontakte in<br />

Deutschland und Griechenland können weitere Aktivitäten im Bereich<br />

eines interessanten und nachhaltigen Jugendaustauschs auf vielen<br />

Ebenen gestaltet wer<strong>de</strong>n, soweit auch in Deutschland die Bereitschaft<br />

besteht, Anträge über finanzielle För<strong>de</strong>rprogramme zu stellen. Durch<br />

die Teilnahme an <strong>de</strong>utsch-griechischen und europäischen Programmen<br />

erhalten Jugendliche, die wenig finanzielle Möglichkeiten haben,<br />

Einblicke, wie sie eine autonome Lebensgestaltung erreichen können.<br />

Austausch zeigt durch die Vermittlung von Eigeninitiative, sozialer<br />

Verantwortung und interkulturellen Kompetenzen Perspektiven auf<br />

und eröffnet die Möglichkeit, Freundschaften über Län<strong>de</strong>rgrenzen<br />

hinweg zu schließen. Und sich von einer mit patentiertem Deckel<br />

verschlossenen Tupperdose gefüllt mit Erfolgsdruck, Versagungs- und<br />

Zukunftsangst und <strong>de</strong>r Furcht vor Verän<strong>de</strong>rung von Lebensgewohnheiten<br />

zu befreien.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n mir jetzt sagen: Übertreibung, Unsinn, nur vier Tage kennt<br />

ihr euch und dann sowas.<br />

53


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