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Kim Eisenheide<br />

Mein Sommer <strong>als</strong> Unsichtbarer: Anders<br />

Gay Erotic


Anders<br />

Ich arbeitete <strong>als</strong> freier Wissenschaftsjournalist in Berlin. Wildschutz durch Computer,<br />

Gesichtsscanner am Flughafen, Geothermiekraftwerk in Brandenburg – die Themen<br />

fanden sich im gleichen Maße leicht, wie sie schwer zu verkaufen waren. Meine Beiträge<br />

versuchte ich auf den Wissenschaftsseiten der Tageszeitungen unterzubringen, aber die<br />

Konkurrenz war groß, das Geld knapp, die Arbeit unbefriedigend.<br />

Und im heißesten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (darüber musste<br />

man einfach eine Reportage schreiben, das dachten sich jedenfalls <strong>mein</strong>e Konkurrenten)<br />

machte sich der Frust über <strong>mein</strong>e berufliche Situation auch in <strong>mein</strong>er Beziehung zu<br />

<strong>mein</strong>em langjährigen Freund Julian bemerkbar.<br />

Nur seinetwegen war ich nach Berlin gezogen, weil er einen unglaublich guten Job in<br />

einem Bundesministerium bekommen hatte. Er bezahlte unsere Wohnung, unseren<br />

Urlaub, unser Leben. Und ich hoffte auf den Aufstieg in einer Branche, die von<br />

Selbstausbeutung lebte.<br />

Es war der Abend vor einer neuen Recherche, <strong>als</strong> er seinen Koffer packte und aus<br />

unserer stickigen Wohnung auszog. Der Schnitt, so überraschend er auch gezogen war,<br />

folgte einer schmerzvollen Konsequenz. Julian hatte sich nicht in einem Ausbruch von<br />

Wut und Enttäuschung für die Trennung entschieden: Dieser Schritt war wohlüberlegt.<br />

Kein Schreien, kein Flehen ging unserem Abschied voraus.<br />

Mit einer nüchternen Analyse, wie ich sie von Julian erwartet hatte, bilanzierte er die<br />

letzten Monate und zog daraus den logischen Schluss. Ich hatte versagt, hatte mit dem<br />

Schwanz gedacht und nicht mit dem Kopf, hatte nur daran gedacht, mit anderen<br />

Männern ins Bett zu steigen und so zu werden wie <strong>mein</strong> Vater. Mit dem kleinen<br />

Unterschied, dass er den Frauen hinterhergerannt war, bis <strong>mein</strong>e Mutter ihm den<br />

Laufpass gegeben hatte.<br />

Als Julian ging, brach die Welt noch nicht zusammen. Das tat sie erst ein paar<br />

Stunden später in der Hitze der Nacht. Ich hatte gesoffen, in der Schwulenkneipe die<br />

Straße runter, in der jetzt nur noch Heteros die Exotik suchten, und jeder Flirt ertrank<br />

dabei in einem neuen Bierglas. Einem Typen, der nicht sofort gegangen war, nachdem ich<br />

begonnen hatte, ihm <strong>mein</strong> Leid zu klagen,<br />

Während ich von der mühsamen Jagd nach Themen berichtete, spürte ich die<br />

permanente Unsicherheit, wie so häufig, wenn ich mit einem mir unbekannten Menschen<br />

redete. Ich analysierte jedes von mir gesagte Wort, wollte mich noch im Redefluss<br />

korrigieren und verhaspelte mich dabei. Es war wie ein Radwechsel in voller Fahrt.<br />

Der Typ hatte mir schließlich auf die Schulter geklopft und begonnen, von seiner Frau<br />

zu erzählen und dass er jetzt gehen müsse.<br />

Lasst mich doch alle in Ruhe, hatte ich nur gedacht und nicht gesagt, denn niemand<br />

war am Ende da gewesen, um mit mir zu ficken. Also hatte ich den Rest der Nacht im<br />

Internet nach Pornos gesucht, bis mir die Hand und der Arsch wehtaten. Der Alkohol<br />

betäubte nur <strong>mein</strong>en Schwanz, nicht den Schmerz.<br />

Hohl und leer legte ich mich in unser, in <strong>mein</strong> Bett, in das leere Bett.<br />

Die Nacht zog schmierige Schlieren, die hektisch zitternd verblassten.<br />

Ich war frei, nein, ich war verlassen. Ich konnte alles tun, was ich wollte, konnte


endlich, konnte was? Ich war wie <strong>mein</strong> Vater, ich war unfähig zu einer Beziehung, ich war<br />

unfähig, mit etwas anderem <strong>als</strong> mit <strong>mein</strong>em Schwanz zu denken.<br />

Schluchzend wälzte ich mich auf einem schweißnassen Laken, spürte eine nie<br />

gekannte Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit. Schlaflos starrte ich zum Mond,<br />

der durch das offene Fenster unseres Schlafzimmers schien. Warme Luft an <strong>mein</strong>er Haut.<br />

Mein Leben würde nie wieder so sein, wie es war.<br />

Pläne hatten ihre Gültigkeit verloren. Abmachungen waren wertlos geworden. Ficken,<br />

mit allem ficken, was jetzt in <strong>mein</strong>e Nähe kam - das konnte ich noch, doch was hatte<br />

das für einen Sinn?<br />

Jetzt konnte ich, doch jetzt wollte ich nicht mehr. Ich ekelte mich vor mir selber, vor<br />

dem Mann, der nur Schwanz war und nicht Kopf.<br />

Julians letzte Worte klangen wie die Warteschleife in einer Telefonanlage. »Ich habe<br />

versucht, dir zu helfen, aber du suhlst dich in deinem Selbstmitleid«, sagte er immer und<br />

immer wieder.<br />

Selbstmitleid. Wenn es nur das wäre. Ich hasste mich.<br />

Bald wich das Dunkel über der Stadt einem blassen Schimmer und einem hässlich<br />

heißen Morgen. Ich zog mich schwankend an, schlich die Treppe hinunter auf die Straße,<br />

kaufte mir einen Kaffee und setzte mich mit brennenden Augen in die S-Bahn. Mein Blick<br />

wollte ins Leere gehen und fing sich doch <strong>als</strong> blasse Reflexion in der Scheibe des Wagens.<br />

Das Gesicht kam mir seltsam fremd vor.<br />

Ein paar Monate früher: Wissenschaftsjournalist.<br />

Nachdem ich Dutzende von Bewerbungen geschrieben, verschickt und versucht hatte,<br />

irgendeine Festanstellung zu bekommen, wusste ich nur, was man mit einem<br />

Soziologiestudium alles nicht machen konnte. Auf Wissenschaftsjournalist wäre ich nie<br />

gekommen, bis mich ausgerechnet das Netzwerk von Julian auffing: Er kannte einen<br />

Redakteur im Ressort Wissen einer Berliner Tageszeitung. Die Redaktion beschäftigte<br />

immer wieder Freelancer. Jetzt sollte ich <strong>als</strong> freier Autor Themen vorschlagen.<br />

Also setzte ich mich mit <strong>mein</strong>em PC in eine stickige Büroge<strong>mein</strong>schaft von zwei jungen,<br />

dynamischen und ehrgeizigen Arschlöchern, einem Architekten und einem Kulturmanager,<br />

die so unerträglich produktiv waren, dass ich ihnen kaum bei der Arbeit zusehen konnte,<br />

und suchte nach Themen.<br />

Manchmal ging ich ins Büro, obwohl ich weder einen Artikel zu schreiben, noch Lust<br />

hatte, nach neuen Themen zu recherchieren. Nur Julians Ahnung, dass ich zuhause<br />

versumpfen würde, ginge ich nicht jeden Morgen vor die Tür, trieb mich an.<br />

Er sah die 50 Euro für den Arbeitsplatz <strong>als</strong> eine gute Investition in <strong>mein</strong><br />

Selbstbewusstsein, bestellte mir Visitenkarten und gab immer wieder Tipps, wenn er von<br />

einer Geschichte gehört hatte, die seiner Meinung nach einen guten Artikel ergab.<br />

Erdmagnetfeldsimulatoren. Kryobiologie. Wildwechsel-überwachung per Webcam. What<br />

the fuck.<br />

Erstaunlicherweise bekam ich nach einer Reihe von Themenvorschlägen die Aufgabe,<br />

über neue Methoden bei der Bekämpfung von Schuppenflechte zu schreiben, nach denen<br />

an der Charité geforscht wurde. In einer Sekunde hatte ich das Gefühl, voranzukommen,<br />

ein Ziel zu haben. Noch überraschender: Mein Artikel wurde gedruckt, zwar stark gekürzt<br />

und an mehreren Stellen umgeschrieben, aber Julian war begeistert, ich dagegen sah es


nur <strong>als</strong> eine Verzögerung vor dem Fall, <strong>als</strong> das retardierende Moment.<br />

Drei Tage später zertrümmerten drei abgelehnte Exposés, dumme Rechtschreibfehler<br />

und eine schludrige Recherche <strong>mein</strong> Selbstbewusstsein wie ein Vorschlaghammer einen<br />

Kieselstein.<br />

Ich war kein Wissenschaftsjournalist, ich war nicht mal Autor, ich war gar nichts, nur<br />

ein elender Hochstapler. Ich sagte auch nicht, ich sei Wissenschaftsjournalist, sondern ich<br />

sagte, ich würde <strong>als</strong> Wissenschaftsjournalist arbeiten. Ein kleiner, aber wie ich fand, feiner<br />

Unterschied. Meine Texte waren oberflächlich und schlecht geschrieben, sonst hätte der<br />

Redakteur sie nicht eigenhändig verändert.<br />

Manchmal stellte ich mir vor, wie ich etwas Großartiges tat, etwas Unfassbares<br />

greifen konnte. Mir kam es häufig so vor, <strong>als</strong> würde ich nur darauf warten, dass ich<br />

<strong>mein</strong>e Bestimmung fand. Irgendwo musste es das Leben geben, das für mich gemacht<br />

war, zu dem ich passte. Irgendwo musste ich doch zeigen können, was in mir steckte.<br />

Irgendwo musste es einen Platz geben, an dem <strong>mein</strong>e Narben kein Makel, sondern der<br />

Schlüssel waren.<br />

Saß ich an <strong>mein</strong>em alten PC im Büro, hatte ich das Gefühl, <strong>als</strong> seien <strong>mein</strong>e Hände mit<br />

Helium gefüllt. Zwei Minuten war das Maximum. Länger konnte ich mich nicht am Stück<br />

konzentrieren, konnte ich nicht über Kryobiologie nachdenken, weil nach zwei Minuten<br />

worldsex.com interessanter und jeder Klick geiler waren und jeder andere Gedanke <strong>als</strong><br />

der an <strong>mein</strong>e Arbeit mehr Befriedigung versprach.<br />

Manchmal dachte ich, ich würde die Daten aus dem Internet nur herunterladen, weil<br />

ich es konnte. Aber das war nur eine lahme Ausrede. In diesen Tagen kam es mir vor, <strong>als</strong><br />

säße ein anderer Mensch an <strong>mein</strong>em Arbeitsplatz, ein Mensch, der sich konzentrieren<br />

konnte. Manchmal sah ich ihn dort sitzen, während ich <strong>mein</strong>e Nägel feilte, weil mal<br />

wieder <strong>mein</strong> Rechner abgestürzt war. Dort saß ein dicklicher Typ und machte <strong>mein</strong>e<br />

Arbeit, während ich aus dem Fenster starrte, weil mir nichts einfiel. Er schrieb weiter,<br />

während ich in der Küche stand und Kaffee trank, weil mir zu warm war. Er suchte nach<br />

Themen, während ich auf Spiegel Online surfte, weil die Struktur des Textes laut Word<br />

plötzlich fehlerhaft war.<br />

Ich war nicht wirklich da, ich war nicht in dieser Welt. Nur wenn ich unbeobachtet auf<br />

Pornoseiten surfte, um mich für einen einzigen klaren Gedanken zu belohnen, wenn die<br />

Kollegen <strong>mein</strong>er Büroge<strong>mein</strong>schaft gingen und ich blieb, um <strong>mein</strong>e Hose auszuziehen,<br />

fühlte ich die Wirklichkeit durch <strong>mein</strong> Hirn schwemmen. Nur dann konnte ich mich<br />

konzentrieren, nur dann war es, <strong>als</strong> würde ich aufwachen. Doch nach jeder Rückkehr in<br />

die Welt der mit Helium gefüllten Hände wurde <strong>mein</strong> Denken immer unschärfer, konnte<br />

ich nicht mehr klarsehen. Es war wie ein ständiger Schwindel. Ich schwebte über allem,<br />

konnte nicht mehr zuhören, nicht richtig auf eine Frage eingehen, weil ich mit den<br />

Gedanken ständig bei den Files war, die ich noch runterladen musste.<br />

Wie krank muss man sein, wenn jedes Wort eine Assoziationskette auslöst, an deren<br />

Ende etwas steht, das mit Sex zu tun hat? Aus Arztpraxis wird Arztstuhl wird<br />

Doktorspielchen wird Latexhandschuh wird Faustfick. Aus Sommer wird Skater wird<br />

Shorts wird Beule wird Schwanz. Aus Autowerkstatt wird Hebebühne wird Schmiermittel<br />

wird Gleitmittel wird Analverkehr.<br />

Ich war so dauergeil und erregt – ich konnte an nichts Anderes mehr denken <strong>als</strong> an<br />

Sex. Ich fühlte mich wieder wie ein Motor, der auf vollen Touren im Leerlauf dreht; fühlte


mich, <strong>als</strong> hätte ich eine lose Schraube im Kopf. Ich wusste nicht, ob ich wach war oder<br />

träumte, fühlte mich müde und zugleich aufgekratzt, wollte mir ständig und überall<br />

einen runterholen. Auf dem Fahrrad, in der U-Bahn, in der Parkanlage, im Supermarkt,<br />

beim Telefonieren.<br />

Wo geht man hin, wenn die Reize nicht mehr aufhören? Ich spürte, wie <strong>mein</strong> Denken<br />

ausfranste. Mein Hirn war zu einem unübersichtlichen Schrottplatz geworden, in dem die<br />

Gedanken keine Ordnung mehr hatten, alt und rostig und nutzlos waren. Spürte, wie<br />

<strong>mein</strong>e Gedanken nicht mehr greifbar waren, wie ein Sandsturm, ein Schwarm Bienen, und<br />

wollte zugleich für mich alleine sein, <strong>mein</strong>e Gedanken glätten wie Putz an der Wand.<br />

Kam ich nach Hause, legte ich mich auf die Couch, drehte ABBA voll auf und<br />

versuchte, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Ich hörte wieder und wieder das gleiche<br />

Lied, S.O.S. in Endlosschleife, manchmal zehnmal hintereinander. Ich konnte damit nicht<br />

aufhören. Die Musik hüllte mich wie eine warme Decke ein. Bilder einer an die Schläfe<br />

gehaltenen Pistole, <strong>mein</strong> Finger am Abzug. Ich spürte den Schlag der Kugel am Schädel.<br />

Aussitzen, wie Helmut Kohl die wichtigen Themen, dam<strong>als</strong> <strong>als</strong> Kanzler, aussitzen<br />

musste ich diese Phase, bis die Stimmen verschwanden, bis der schiefe Schuh wieder<br />

gerade gelaufen war, ich mich wieder konzentrieren, mit Begeisterung einer Sache<br />

widmen konnte.<br />

Irgendwann musste der Knoten platzen, bis dahin musste ich das Monster unter<br />

Kontrolle haben, es nicht aus seinem Käfig lassen oder zumindest in der virtuellen<br />

Gefangenschaft halten.<br />

Beruflich trat ich monatelang auf der Stelle. Kämpfte mit der Stagnation. Ein Artikel<br />

pro Monat, viele Anrufe und E-Mails an neue Redaktionen und so viel Mühe, einen Fuß in<br />

die Tür zu bekommen. Zu <strong>mein</strong>em Glück hatte mich noch niemand entlarvt.<br />

Der Crash im Straßengraben war vorprogrammiert.<br />

Ich merkte es, wenn ich bei <strong>mein</strong>en Interviewpartnern saß und f<strong>als</strong>che Fragen stellte.<br />

Jedes <strong>mein</strong>er Worte war mühsam über <strong>mein</strong>e Lippen gekommen und ich hatte gefürchtet,<br />

jeden Augenblick <strong>als</strong> der enttarnt zu werden, der ich war: ein Hochstapler, ein Usurpator,<br />

ein Nichtschwimmer beim Iron Man auf Hawaii. Immer wieder spürte ich, wie ich langsam<br />

nach hinten kippte, wie der Horizont nach unten abtauchte und erst der blaue Himmel<br />

<strong>mein</strong>e ganze Sicht einnahm, bevor von oben der harte Boden in <strong>mein</strong> Blickfeld stieß und<br />

ich die Orientierung verlor, in die Tiefe trudelte und den Aufprall erwartete.<br />

Wann merkten die Redakteure eigentlich, dass ich ein Hochstapler war? Julian war<br />

glücklich in seinem Job, scheffelte Kohle, kaufte sich einen Laptop und bekam<br />

Bestätigung. Mich hingegen brauchte niemand. Diese Unzufriedenheit machte sich endlich<br />

auch in unserer Beziehung bemerkbar. Nicht zugeschraubte Zahnpastatuben, zu hohe<br />

Telefonrechnungen, Socken auf dem Fußboden.<br />

Manchmal schrie mich Julian an, weil ich <strong>mein</strong> Handy nicht angeschaltet hatte und er<br />

vergeblich versuchte, mir den Einkaufszettel für den Abend zu diktieren.<br />

Ich schrie zurück, weil er mir immer das Gefühl gab, ein Idiot zu sein. Nein, er gab mir<br />

nicht das Gefühl, er entlarvte mich. Und dennoch starb <strong>mein</strong>e Liebe nicht, sie änderte sich<br />

nur. Ich spürte immer häufiger, dass ich ihn umso mehr liebte, je weiter weg er war. War<br />

er auf Dienstreise, hatte ich Sehnsucht nach ihm, stellte mir vor, wie es sich anfühlen<br />

musste, einen geliebten Menschen neben mir im Bett zu haben und morgens neben<br />

diesem aufzuwachen.


Lag er neben mir, spürte ich seine unausgesprochenen Vorwürfe und wünschte mich<br />

weit weg.<br />

Nachts träumte ich wieder davon, im Haus <strong>mein</strong>er Eltern Pornohefte zu finden;<br />

Pornos, die ich immer gesucht hatte, die sie vor mir verstecken wollten. Pornos waren in<br />

den Träumen der heilige Gral und alles, was ich zum Glück brauchte. Wenn ich<br />

aufgewacht war, mit einer Erektion in der Schlafanzughose, hatte ich mich hohl und<br />

krank gefühlt.Julian hatte mich am Ende erwischt. Mein Browserverlauf hatte mich<br />

verraten. Es war nur der berühmte Tropfen. Wir waren uns fremd geworden.<br />

Kriegsparteien in einem Stellungskampf der Gefühle. Wir waren Minensucher, und der<br />

andere war das Minenfeld. Jede f<strong>als</strong>che Bewegung löste eine Explosion aus und nahm<br />

sich mehr von unserer Liebe. Früher wollte ich mich ändern, weniger dem Schwanz <strong>als</strong><br />

vielmehr den Kopf das Denken überlassen, und früher wollte Julian sich ändern, sensibler<br />

mit mir umgehen.<br />

Doch um beim Bild zu bleiben: Seine Hände begannen immer mehr zu zittern, und<br />

<strong>mein</strong> Zünder reagierte immer sensibler auf Fehlgriffe. Ich reagierte explosiv, unbeherrscht,<br />

nichts konnte er richtigmachen, jede seiner Fragen war ein Vorwurf, jede Bemerkung ein<br />

Seitenhieb auf <strong>mein</strong> berufliches Versagen. Ich warf ihm Arroganz vor und<br />

Überlegenheitsgefühl, und war doch nur geprägt von Minderwertigkeitskomplexen und<br />

unzufrieden mit mir selbst.<br />

Und dann, eines Tages, am Vorabend zu <strong>mein</strong>er Recherche, hatte Julian die Taschen<br />

gepackt. Ich könne die Wohnung übernehmen, hatte er gesagt, aber eine WG sei<br />

vermutlich die bessere Alternative. Eine billigere Alternative für jemanden ohne richtigen<br />

Job – das hatte er eigentlich ge<strong>mein</strong>t. Aber er schien es <strong>als</strong> einen letzten Dienst an mir zu<br />

verstehen, eine nette Geste, es mir nicht zu sagen. Ich war auch so von alleine<br />

draufgekommen.<br />

Im Hahn-Meitner-Institut in Berlin-Wannsee wurde ich erwartet. Vom Pförtner bekam<br />

ich eine Plakette, an der die Strahlungsbelastung abzulesen war. Eine Physikerin namens<br />

Horkheimer begrüßte mich. In einem Fahrstuhl fuhren wir in das dritte Untergeschoss.<br />

Es ging bei diesem Artikel um Forschungen an Bildern. Mittels einer speziellen<br />

radioaktiven Strahlung wollten Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Kunsthistorikern<br />

herausfinden, wie viele Farbschichten sich unter einem Bild von Tizian wirklich verbargen.<br />

Ich konnte den Erläuterungen von Dr. Horkheimer nicht zuhören.<br />

In Gedanken war ich ständig bei Julian. Der Kloß in <strong>mein</strong>em H<strong>als</strong> schwand nicht. Wir<br />

gingen durch einige Türen und Gänge. Neonröhren an den Decken, grünes Linoleum auf<br />

dem Boden, weiße Wände. Schließlich gelangten wir zu einer schweren Stahlkammer. Das<br />

gelb-schwarze Zeichen für Radioaktivität darauf beeindruckte mich mehr <strong>als</strong> erwartet.<br />

Als sich die Tür hinter uns schloss, wirkte es wie das Finale in einem Film, wenn sich die<br />

letzten Menschen in einem Atomschutzbunker versteckten und die Atomraketen<br />

abgeschossen wurden.<br />

Fünf oder sechs Wissenschaftler wirbelten um den Forschungsreaktor herum. Der<br />

Kontrollraum hatte bemerkenswert wenig Ähnlichkeit mit dem, was ich aus Filmen<br />

erkannte. Keine große Schalttafel, sondern viele herkömmliche Computer, Monitore,<br />

unbekannte Maschinen. Ich musste zugeben – ich war schlecht vorbereitet auf dieses<br />

Experiment. Außerdem war mir übel.


Ob die Menschen um mich herum bemerkten, dass ich noch immer besoffen war? Ich<br />

hatte keine Ahnung, was genau dort vor sich ging. Bei den Telefonaten mit Frau Dr.<br />

Horkheimer hatte ich die Pressemitteilung vorliegen, und ich verstand, was die<br />

Wissenschaftler dort machten. Aber vom Wie hatte ich keine Ahnung. Ich war Journalist,<br />

kein Physiker. Jetzt fehlten mir die Infos der Mitteilung, und außerdem fochten Bier und<br />

Tequila einen unfairen Kampf gegen mich.<br />

Bald tauchte die Mitarbeiterin der Gemäldegalerie mit dem Bild auf. Neben ihr ein<br />

muskelbepackter Wachmann. Und schließlich gerieten die Wissenschaftler in Wallung.<br />

Drückten hier einen Knopf und gaben dort Befehle ein. Als Frau Dr. Horkheimer<br />

ankündigte, die Untersuchung würde um eine halbe Stunde verschoben, verlor ich den<br />

Kampf. Die Stahltür öffnete sich nur für mich, ich wankte in den Korridor dahinter. Dann<br />

fiel die schwere Pforte wieder ins Schloss. Die Toilette war ein erstaunlich schmuddeliger<br />

Raum. Penible Wissenschaftler waren wohl nur zu Hause und im Labor penibel, nicht<br />

jedoch in fremden Toiletten.<br />

Das weiße Toilettenbecken nahm mir nur zu gerne <strong>mein</strong>e Buße ab. Mit zitternden<br />

Händen umklammerte ich die Keramik und spürte, wie sich <strong>mein</strong> Magen wieder<br />

entkrampfte. Erschöpft hockte ich mich auf den Boden. Nach ein paar Minuten konnte ich<br />

<strong>mein</strong> Bild im Spiegel wieder klar fixieren, einen Schluck Wasser aus dem Hahn nehmen<br />

und mit festem Griff die Tür zum Korridor öffnen.<br />

Die roten Lichter auf dem Weg zurück zur Kammer fand ich zunächst nur<br />

überraschend. Als dann jedoch die Sirenen zu dröhnen begannen, packte mich die Panik.<br />

Die letzte Kurve vor der Stahltür nahm ich schon mit zitternden Knien.<br />

Mir brach der Schweiß aus. Was schiefgelaufen war, hat mich später nicht interessiert.<br />

Das Bild jedoch von der durchsichtigen Stahltür und den brennenden Menschen dahinter<br />

werde ich nie vergessen. Die Wissenschaftler, die Mitarbeiter, die Frau aus dem Museum,<br />

der Wachmann – sie alle rissen sich verzweifelt die lodernde Kleidung vom Körper. Ihre<br />

Haare brannten.<br />

Und die Stahltür: Sie war durchsichtig, doch man konnte die Konturen weiter<br />

erkennen. Sie wirkte wie aus Glas, brach das Licht, verzerrte die Perspektive auf das<br />

Drama dahinter. Der Schock riss mir fast die Füße weg. Als dann <strong>mein</strong> Hemd und <strong>mein</strong>e<br />

Hose zu qualmen begannen, konnte ich nur noch <strong>mein</strong> Leben retten. Ich riss mir die<br />

schmelzenden Schuhe von den Füßen, zog mir das bereits brennende Hemd über den<br />

Kopf, warf die Hose ab.<br />

Die Menschen hinter der Stahltür waren zusammengebrochen, <strong>als</strong> ich das nächste Mal<br />

hinsah. Ich wollte fliehen und wusste nicht wohin. Meine Boxershorts wurden brennend<br />

heiß. Sie folgten <strong>als</strong> nächste.<br />

Das Linoleum unter <strong>mein</strong>en Füßen wurde warm, wellte sich, löste sich auf. Ich rannte<br />

nackt den Korridor hinauf, <strong>als</strong> ich den Knall hörte. Etwas riss mich von den Füßen, ich<br />

prallte gegen eine Tür. Diese sprang auf, ich stürzte in den dunklen Raum dahinter und<br />

stieß mir den Kopf. Dann verlor ich das Bewusstsein.<br />

Zitternd wachte ich auf. Anfangs wusste ich nicht, wo ich war, hielt einen Feudel für<br />

<strong>mein</strong> Kopfkissen und ein altes Handtuch für <strong>mein</strong>e Decke. Dann spürte ich den Besen in<br />

<strong>mein</strong>em Rücken. Es war noch immer dunkel in der Besenkammer. Notbeleuchtung im<br />

Korridor. Rotes Blinken.


Die Ruhe war brutal.<br />

Ich rappelte mich auf. An <strong>mein</strong>en Füßen spürte ich den warmen Boden, im Gesicht den<br />

heißen Luftzug im Korridor, ich schmeckte den Rauch in der Luft und roch <strong>mein</strong>en eigenen<br />

Schweiß. Ich wagte kaum, den Blick zurück in den Korridor zu werfen. Doch es war<br />

weniger schlimm <strong>als</strong> befürchtet.<br />

Dort, wo der Forschungsreaktor gewesen war, gähnte ein tiefes Loch, in dem ein<br />

kleines Feuer flackerte. Rohre, verbogen wie krumme Äste, ragten aus der Wand, Kabel<br />

griffen ausgefranst ins Leere. Keine verbrannten Reste von Menschen, kein Blut, keine<br />

Knochen.<br />

Die Stahltür war verschwunden, <strong>mein</strong>e Kleidung auf dem Boden zu Asche verbrannt<br />

und mit dem Linoleum verschmolzen. Meine Brieftasche ein schwarzer Klumpen. Als ich<br />

mich bückte und danach griff, fasste ich ins Leere.<br />

Und dann bemerkte ich es. Der Schock überrollte mich wie ein Güterzug. Ich glaubte<br />

erst an eine optische Täuschung, blinzelte, wollte mir mit der Hand die Augen reiben und<br />

wurde noch panischer. Mein Herz raste wie eine Ratte in ihrem Käfig. Da war keine Hand,<br />

waren keine Finger. Ich konnte <strong>mein</strong>e Hände nicht sehen, nicht <strong>mein</strong>e Füße, nicht <strong>mein</strong>e<br />

Beine.<br />

Verblüfft fiel ich zurück auf <strong>mein</strong>en Hintern. Wieder blieb mir die Luft weg. Ich hob<br />

das, was ich <strong>als</strong> Hände spürte, vor <strong>mein</strong>e Augen und sah durch sie hindurch. Ich führte sie<br />

näher an <strong>mein</strong>e Augen und berührte plötzlich <strong>mein</strong> Gesicht. War ich tot? Ein Geist? Mein<br />

Herz raste, <strong>mein</strong>e Knie zitterten, der Kater war verschwunden.<br />

Ich musste mich berühren, <strong>mein</strong>e Hände kneten, um mich zu vergewissern, dass sie<br />

noch da waren. Ich fasste <strong>mein</strong>e Füße an, <strong>mein</strong>e Knie, <strong>mein</strong>e Oberschenkel, tastete nach<br />

<strong>mein</strong>em Penis und <strong>mein</strong>en Hoden, spürte erleichtert das Schamhaar, beruhigend den<br />

Bauch, <strong>mein</strong>e Oberarme, <strong>mein</strong> Gesicht, <strong>mein</strong>e Haare.<br />

Langsam erhob ich mich und griff erneut nach <strong>mein</strong>em verkohlten Portmonee im<br />

Linoleum. Die Koordination einer unsichtbaren Hand stellte <strong>mein</strong> Hirn vor eine schwere<br />

Aufgabe. Zweimal, dreimal griff ich daneben. Dann schließlich konnte ich die Lücke im<br />

Bild ersetzen und den steinharten schwarzen Klumpen, in dem <strong>mein</strong>e Kreditkarten, <strong>mein</strong><br />

Ausweis, <strong>mein</strong> Leben steckten, ungläubig betasten.<br />

Mir wurde schwindelig. Schmerzen nur im Kopf, ansonsten ging es mir gut. Und jetzt?<br />

Wo sollte ich hin? Was sollte ich machen? Hier war ein Reaktor explodiert. Das mussten<br />

doch Feuerwehr und Polizei, Katastrophenschutz und THW bemerkt haben? Vorsichtig lief<br />

ich barfuß den Gang hinauf.<br />

Wie hatte das geschehen können?<br />

Warum war ich nicht verbrannt wie die anderen?<br />

Und wie konnte ein Atomreaktor Materie unsichtbar machen?<br />

So viele banale Fragen von einem, der keine Ahnung hatte. Ich zog eine Tür auf, ging<br />

durch einen weiteren Gang und stand schließlich wieder vor dem Fahrstuhl. Er war außer<br />

Betrieb. Ich wollte nur raus aus diesem Labyrinth, geriet beinahe in Panik und fand<br />

schließlich die Tür zum Treppenhaus.<br />

Als ich im Erdgeschoss anlangte, war noch immer niemand zu sehen oder zu hören.<br />

Der Empfang war geräumt. Doch draußen auf der Straße standen eine Menge Menschen<br />

etwa 100 Meter vor dem Gebäude des Instituts in der prallen Sonne. Ich sah sie durch die<br />

Glastüren der Lobby.


Fahrzeuge der Polizei, der Feuerwehr, des THW, Ambulanzen, Sanitäter, Männer in<br />

weiß, grün, blau sowie eine Menge Schaulustige. Durch eine offene Tür wehte heiße<br />

Sommerluft herein. Umschmeichelte mich.<br />

Da stand ich. Nackt. An einem Ort des größten anzunehmenden Unfalls. War am<br />

Leben und fühlte mich gut. Niemand konnte mich sehen.<br />

Mein Herz pochte bis zum H<strong>als</strong>.<br />

Was würde passieren, wenn ich mich zu erkennen gab? Welche Experimente würde<br />

man mit mir machen? Wieder sah ich an mir herab und sah – nichts. Ich war unsichtbar.<br />

Ich war alleine. Ich hatte kein Geld, keinen Freund und keine Ahnung, wie es weitergehen<br />

sollte.<br />

Meine Welt war zusammengebrochen. Es gab nur noch die Welt um mich herum. War<br />

es Zufall? Schicksal? Fantasie oder der Tod? Was es war, wusste ich nicht. Es war, und<br />

das begriff ich: Es war. Ich traf <strong>mein</strong>e Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde.<br />

Ich holte tief Luft und trat in <strong>mein</strong> neues Leben.<br />

Bevor die Feuerwehr in Schutzanzügen das Institut betrat, hatte ich mich durch die Tür<br />

ins Freie geschlichen. Die Hitze eines regelwidrig <strong>sommer</strong>lichen Junitages raubte mir<br />

beinahe den Atem. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Die Sonne fühlte sich nach<br />

Mittag an. Sirenen heulten, Motoren brummten, Funkgeräte schnarrten Durchsagen.<br />

Die Sonne war immer noch gelb, die Bäume vor dem Institut grün, der Himmel blau<br />

und der kochende Asphalt auf der Straße schwarz. Nur ich war unsichtbar. Niemand<br />

bemerkte mich, niemand ahnte auch nur, dass ich über den Platz vor dem Institut zur<br />

Absperrung lief. Auf den Lippen der Ruf: »Hallo, hier bin ich, etwas Schreckliches ist<br />

passiert! Helft mir!«<br />

Doch ich sagte ihn nicht, war sprachlos. Vor mir die Welt. Und in mir nichts <strong>als</strong> der<br />

Wunsch, <strong>mein</strong> altes Leben hinter mir zu lassen.<br />

Meine nackten Füße gaben auf den warmen Granitplatten anfangs kleine, platschende<br />

Geräusche von sich, doch nach ein paar Schritten ging ich beinahe geräuschlos. Das<br />

Gefühl der Verlorenheit schwand mit jedem Zentimeter, den ich zurücklegte, und die<br />

Aufregung, die ich zuletzt in einem Kindheitstraum gespürte hatte, wuchs.<br />

Es war wie in dem Traum, den ich oft <strong>als</strong> Teenager hatte. Darin flog ich nackt und wie<br />

ein Vogel mit ausgebreiteten Armen in einer warmen Sommernacht über die Dächer<br />

<strong>mein</strong>er Kleinstadt, spähte durch hell erleuchtete Fenster in fremde Zimmer und spürte die<br />

Lust daran, im Schutze der Dunkelheit eine Erektion zu bekommen.<br />

Die Realität war jedoch nie so schön. Manchmal überkam mich die Lust, wenn ich in<br />

unserem Viertel Zeitungen austrug und von der Dunkelheit eingeholt wurde, und ich<br />

fummelte in einer dunklen Ecke einer kaum befahrenen Straße <strong>mein</strong>en harten Schwanz<br />

aus der Hose, um zu masturbieren.<br />

Ich konnte mich auch daran erinnern, wie ich mit 13 zum letzten Mal mit <strong>mein</strong>en<br />

Eltern Skifahren war und die Lust auf der Skipiste zu groß wurde, um ihr zu widerstehen.<br />

Dann glitt ich von der Piste in den Fichtenwald, schnallte die Skier ab und setzte mich<br />

hinter einen Baum um zu wichsen. Aber ich kam nie an dieses Gefühl in <strong>mein</strong>em Traum<br />

heran, in dem ich die warme Luft überall an <strong>mein</strong>em nackten Körper spürte und ich<br />

<strong>mein</strong>e Erektion stolz unter mir zur Schau trug.<br />

Das Prickeln in der Lendengegend wurde überraschend stark. Doch nicht die


Katastrophe geilte mich auf, sondern die Aussicht, einen Traum wahr machen zu können.<br />

Ich war frei. Julian hatte mich verlassen, weil ich nur Schwanz und nicht Kopf war.<br />

Na und?<br />

Dann war ich eben nur Schwanz.<br />

Ich stellte mich vor starrende Feuerwehrleute, nervöse Polizisten und schreiende<br />

Wissenschaftler. Keiner reagierte auf mich.<br />

Ich stellte mich hüpfend vor einen wartenden Sanitäter. Er sah durch mich hindurch<br />

zur Tür des Instituts. Die Wärme an <strong>mein</strong>en Füßen erinnerte mich wieder daran, dass ich<br />

anwesend und am Leben war. Die Sonne schien es jedoch nur zu ahnen. Ich sah hinter<br />

mich: kein Schatten. Die Sonnenstrahlen jedoch brannten auf <strong>mein</strong>er Haut, wärmten<br />

mich. Nur das sichtbare Licht ging durch mich durch. So würde ich <strong>als</strong>o noch einmal<br />

nahtlos braun werden in <strong>mein</strong>em Leben, und niemand konnte es sehen. Schade.<br />

Die warme Luft umschmeichelte mich.<br />

Ein paar Feuerwehrleute in Schutzanzügen gingen jetzt mit Messgeräten zum<br />

Eingang. Was auch immer nach der Explosion des Reaktors ausgetreten war – weit schien<br />

die Strahlung nicht gekommen zu sein, sonst hätte man das ganze Viertel geräumt.<br />

Neben mir begannen zwei Feuerwehrleute eine Unterhaltung. Der Sanitäter sah durch<br />

mich hindurch.<br />

Er hatte schöne Zähne, die immer wieder im Sonnenlicht aufblitzten. Je länger ich ihn<br />

anstarrte, umso größer wurde die Lust, ihn zu berühren, sie zu küssen. Ich hatte Julian so<br />

gerne geküsst. Und in diesem Moment fehlte er mir plötzlich. Oder fehlte mir die Nähe?<br />

Mein Herz schlug schneller.<br />

Ich überlegte, etwas zu sagen wie: He, ich bin unsichtbar.<br />

Rasch verwarf ich den Gedanken wieder. Denn <strong>als</strong> ich so vor dem Sanitäterin stand,<br />

mit dem Verlangen nach Julian und dem Wissen, dass alles vorbei war, dass es keine<br />

Möglichkeit gab, dort weiter zu machen, wo wir aufgehört hatten, wurde <strong>mein</strong>e Lust<br />

auch zwischen <strong>mein</strong>en Beinen spürbar.<br />

Nur Schwanz.<br />

Der heiße Wind an <strong>mein</strong>em Körper, die warmen Steine unter den Füßen, das Wissen,<br />

vollkommen nackt unter Dutzenden von Menschen zu stehen und nicht gesehen zu<br />

werden, erregte mich plötzlich. Die Geilheit überfiel mich regelrecht. Sie ließ <strong>mein</strong> Herz<br />

schneller schlagen, beschleunigte <strong>mein</strong>en Atem und pumpte Blut in <strong>mein</strong>e Lenden.<br />

Und dann fiel alles, fielen die ganze Traurigkeit, die Angst und die Unsicherheit von<br />

mir ab. Ich war am Leben. Ich war unsichtbar.<br />

Frei, ich war frei. Ich konnte all das machen, was ich schon immer machen wollte,<br />

ohne dabei erwischt zu werden. Konnte nur Schwanz sein, nur Geilheit, ohne dass mich<br />

jemand verurteilen würde.<br />

Konnte mich wichsend auf den Alexanderplatz stellen, in den besten Hotelbetten<br />

schlafen, in die Zimmer anderer Leute gucken, mich in den besten Restaurants<br />

vollfressen, gratis ins Kino gehen, Typen in die Dusche folgen.<br />

Ich hing am Gängelband der Gene? Ich war wie <strong>mein</strong> Vater? Natürlich war ich das.<br />

Und es war okay. Ich hatte einen dicken Schwanz und immer Lust, ich war Voyeur und<br />

liebte es, nackte Körper anzusehen, ich wollte mir immer und überall einen runterholen<br />

und konnte keine Beziehung führen.<br />

Als Unsichtbarer, so wurde mir jetzt bewusst, konnte ich alles und musste ich nichts.


Unsichtbar.<br />

Langsam bekam das Wort für mich einen neuen Geschmack im Mund.<br />

Ich trat einen Schritt zurück. Meine Erektion wuchs weiter. Ich konnte nicht <strong>anders</strong> <strong>als</strong><br />

<strong>mein</strong>e Hand daranlegen und mit ein paar schnellen Bewegungen zu kontern. Es war<br />

unglaublich. Ich stand vor so vielen Menschen und holte mir einen runter. Wirre Gedanken<br />

schossen mir in den Kopf. Ich wollte dem Sanitäter <strong>mein</strong>en Schwanz ins Gesicht pressen,<br />

in den Mund, zwischen die Lippen. Doch was dann? Mit Sicherheit würde er mir keinen<br />

blasen, so viel verstand ich. Er wartete nicht darauf, den Schwanz eines Unsichtbaren zu<br />

lutschen.<br />

Mein Herz pochte aufgeregt.<br />

Narrenfreiheit.<br />

Vorsichtig lief ich an der Absperrung entlang, bis die Menschen dahinter weniger<br />

wurden. Schließlich endete das Plastikband an einem hohen Metallzaun. Dahinter stand<br />

niemand. Ich bückte mich und glitt unter dem Plastikband hindurch. Dann war ich frei.<br />

Berlin war jetzt <strong>mein</strong> Spielplatz.<br />

Nur bei welchem Spielgerät fing ich an? Erst einmal musste ich weg vom Institut. Weg<br />

aus dieser Gegend.<br />

Das Institut lag am Ende einer exklusiven Wohnsiedlung. Deshalb hatten sich auch<br />

nur einige wenige Schaulustige eingefunden. Hinter einer zweiten Absperrung, standen<br />

Männer mit Bierbäuchen, alte Frauen in hässlichen Kleidern, kleine Kinder und dann auch<br />

ein paar vom Wohlstand verwöhnte Teenager und Twens, mit knappen Tops und engen<br />

Hosen.<br />

Ich überlegte, zurückzugehen und ein wenig am Rettungssanitäter zu fummeln, doch<br />

dann wurde <strong>mein</strong> Wunsch zu groß, so schnell wie möglich diese Gefahrenzone hinter mir<br />

zu lassen.<br />

Die Hitze umschmeichelte mich wie ein warmes Tuch. Ich kam mir vor, <strong>als</strong> sei ich in der<br />

Sauna. Nackt und schamlos, mit dem kleinen Unterschied, dass ich mich auf offener<br />

Straße befand.<br />

Winzige Steinchen bohrten sich in <strong>mein</strong>e Fußsohlen, an manchen Stellen war der<br />

Asphalt so heiß, dass ich Angst hatte, mich zu verbrennen. Auf dem Weg zur S-Bahn kam<br />

ich an den ersten Wohnhäusern vorbei. Hohe Hecken vor großen Gärten, dahinter alte<br />

Villen und schicke Einfamilienhäuser mit teuren Autos auf der Auffahrt.<br />

Ich hatte Durst. War neugierig. Und der Weg war <strong>mein</strong> Ziel.<br />

Je länger ich unterwegs war, umso deutlicher wurde mir, dass ich mit diesem Schicksal<br />

den Hauptgewinn gezogen hatte. Niemand wusste, dass ich noch lebte. Meine Brieftasche<br />

auf dem Boden, <strong>mein</strong>e Kleidung – all das waren deutliche Indizien, dass ich nicht mehr<br />

am Leben war, offiziell. Dabei war ich einfach nur unsichtbar und konnte alles machen,<br />

was ich wollte, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.<br />

Ich konnte gratis im Zug fahren, in fremde Häuser sehen.<br />

Mit jedem Schritt fielen mir neue Dinge ein.<br />

Ich hatte alles verloren, <strong>mein</strong>en Freund, <strong>mein</strong> altes Leben, <strong>mein</strong>en Job, <strong>mein</strong> Aussehen.<br />

Ich war endlich frei.<br />

Ich konnte ins Bundeskanzleramt, in die Zentr<strong>als</strong>tellen der Macht, ich konnte in die<br />

Hotels eindringen und Prominente, Schauspieler, Musiker beobachten und sehen, wie die<br />

Stars aussahen, wenn sie die Tür hinter sich zumachten.


Was wirst du machen, wenn du weißt, dass du nicht mit der Konsequenz leben musst?<br />

Gilt der kategorische Imperativ?<br />

Die Vielfalt der Möglichkeiten machte mich schwindelig. All die verschütteten Wünsche<br />

kamen in mir hoch. Doch was würde ich machen, wenn ich sie sah. Nur zusehen? Oder<br />

anfassen? Wie konnte ich anfassen, ohne entdeckt zu werden?<br />

Ratlos blieb ich stehen. Es war Sommer, wir hatten bestimmt 33° Celsius – wenn von<br />

diesen Villen nicht mindestens jede zweite mit einem Pool ausgestattet war, würde ich<br />

<strong>mein</strong>en Namen in Chevy Chase ändern.<br />

Ich betrat über die erste Auffahrt, die nicht mit einem Tor gesichert war, ein<br />

großzügiges Anwesen. Das Problem, vor das ich mich dann gestellt sah, war ein ganz<br />

banales: Auch <strong>als</strong> Unsichtbarer konnte ich nicht durch geschlossene Türen gehen. Und<br />

hinter das Haus, so stellte ich schnell fest, führte der Weg nur über einen spitzen Zaun.<br />

Diese Mühe wollte ich mir nicht machen, <strong>als</strong>o versuchte ich es beim nächsten Haus<br />

nebenan. Dort gelangte ich zwar hinter das Haus auf die Terrasse, doch niemand war<br />

zuhause und alle Türen waren verschlossen.<br />

Es war nicht so einfach wie gedacht, anderer Leute Privatsphäre zu missachten.<br />

Manchmal waren die Jalousien heruntergelassen, manchmal waren die Türen einfach nur<br />

verschlossen.<br />

Unbefriedigt schlich ich über den Rasen. Am liebsten wäre ich in den See gesprungen.<br />

Von irgendwo erscholl Musik. Ich kletterte über den Zaun und landete im Garten eines<br />

Familienanwesens mit Spielsachen auf dem Rasen. Daran hatte ich kein Interesse.<br />

Ich brauchte Penetration. Lust. Ich war doch nicht Unsichtbar, um Rentnern beim<br />

Feiern zuzusehen.<br />

Der Lärm nahm zu, und nach einer weiteren überwundenen Grundstücksgrenze<br />

erreichte ich die Quelle. Im Garten einer großen Villa mit Pool fand eine Grillparty statt.<br />

Viele gut angezogene Menschen saßen mit Flaschen, Gläsern, Tellern auf teuer<br />

aussehenden Gartenmöbeln. Zwischendurch lief ein Hund.<br />

Am Grill stand ein Mann, der wie der Herr des Hauses aussah. Lachen, Musik,<br />

Konversation. Viel zu viel für mich. Ein Englisch sprechender Depp trat mir beim<br />

Vorbeigehen auf den Fuß und merkte es nicht einmal, ein anderer Snob rannte mich<br />

beinahe um.<br />

Eine Party ist kein guter Ort für einen Unsichtbaren.<br />

Vor allem nicht ab dem Moment, an dem mich der Hund witterte und mich anbellte.<br />

Knurrend hockte er vor der Terrasse. Es sah zum Glück aus, <strong>als</strong> belle er den Grillmeister<br />

an.<br />

Ich schlich um den Grill herum, das blöde Vieh folgte mir. Der Herr des Hauses fluchte,<br />

der Hund bockte. Unauffällig stupste ich eine Wurst von einem Teller, auf dem sich das<br />

Fleisch türmte. Der Hund kannte, kläffte, schnappte sich die Wurst, der Hausherr<br />

schimpfte noch lauter und trat nach dem Köter, der jaulend verschwand.<br />

Blödes Vieh.<br />

Unter dem großen Proteststurm einiger anwesender Tierfreunde, den<br />

beschwichtigenden Worten des Grillmeisters und einem anschließenden Prösterchen (auf<br />

alle aussterbenden Tierarten, die nicht gegessen werden können) schnappte ich mir ein<br />

Schnitzel und verkroch mich in den Schatten einer Buchenhecke.<br />

Dort verschlang ich gierig das Schnitzel, vermied jeden Blick auf <strong>mein</strong>en Magen oder


esser: auf den Ort, an dem er sich befinden musste, wischte mir die Finger an Blättern ab<br />

und streunte fürs Erste gesättigt weiter.<br />

Ich pinkelte in den Pool des Nachbarhauses, streifte noch durch ein paar Gärten,<br />

rüttelte zunehmend frustriert an verschlossenen Türen und überlegte, wo ich ganz<br />

unauffällig noch einen wegstecken könnte, verwarf den Gedanken und ging, müde<br />

geworden, auf dem Grundstück eines verschlossenen Hauses ans Ufer.<br />

Dort ragte ein Gartenpavillon auf das Wasser. Ein Chaos empfing mich. Liegen, Sessel,<br />

Kissen, Handtücher. Da hatte wohl die Putzfrau frei. Ein laues Lüftchen wehte über den<br />

See. Motorboote, Segler, Kinderlachen. Ich spürte, wie das Adrenalin aus <strong>mein</strong>em Körper<br />

wich und die Müdigkeit in mich kroch.<br />

Unsichtbar.<br />

War ich das vorher nicht auch schon gewesen? Wer vermisste mich denn? Julian? Der<br />

hatte mit mir abgeschlossen. Unsere Wohnung war gekündigt, und er würde froh sein,<br />

wenn er seine Sachen abholen konnte, ohne dabei auf mich zu stoßen.<br />

Meine Mutter? Die rief nur alle Jubeljahre an. Mein kleiner Bruder? Wir hatten nicht<br />

mehr viel Kontakt, seit er in die USA gezogen war und dort bei einem großen IT-<br />

Unternehmen <strong>als</strong> Programmierer Karriere machte.<br />

Mein Vater? Bis der in seiner südfranzösischen Kommune von diesem Unglück erfuhr,<br />

konnten Wochen vergehen. Ihm fiel selten auf, dass ich mich wochenlang nicht meldete.<br />

Suchte man im Institut nach mir? Sollte ich zur Polizei? Sollte ich mich stellen und das<br />

Risiko eingehen, dass mit mir Experimente angestellt wurden? Was, wenn ich krank war,<br />

wenn mich die Strahlung langsam tötete?<br />

Na und, dachte ich, dann ist es eben so. Bis dahin, so beschloss ich, würde ich das<br />

Beste aus dieser Situation machen. Was auch immer das hieß.<br />

Nur ein kurzes Nickerchen, damit ich am Abend in irgendein Haus einbrechen und<br />

nackte Menschen beobachten konnte. Ich legte mich in eine Liege, in der ein weiches<br />

Polster verhinderte, dass mir der Bambus das Blut abschnürte.<br />

Hässliche Streifen, so wusste ich, würde er ja nicht hinterlassen.<br />

Ich legte mich zurück und schloss die Augen. Die Helligkeit blieb.<br />

So ein Scheiß.<br />

Ich sah mich um, nahm ein gebrauchtes Handtuch von einem der anderen Sessel und<br />

legte es mir über die Augen, damit es dunkel wurde.<br />

Wie spät mochte es sein? Die Sonne war hinter dem Haus versunken. Nach acht? Von<br />

Ferne brandete das Lachen der Party herüber. Noch immer war es heiß. Ich schwitzte und<br />

bekam Lust darauf, in den See zu springen und mich abzukühlen.<br />

Was, dachte ich noch, wenn ich aufwache und wieder sichtbar bin? Was, wenn dann<br />

die Besitzer des Pavillons auftauchten und mich so, nackt, vorfanden?<br />

Nur ein kurzes Nickerchen, ein Schläfchen, <strong>als</strong> Unsichtbarer.<br />

Würde ich ein Loch im Wasser hinterlassen?<br />

Über diesen Gedanken schlief ich ein.


Tag der Veröffentlichung: 13.12.2016<br />

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