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Kooky Rooster<br />

Erbschaft<br />

Gay Romance<br />

Gewidmet der Boylsove Gruppe Mit stolzem Gruß an kingusagi91 - die mit ihrem Werk<br />

"Mohnblumenpoesie" - zugleich mit mir auf dem Treppchen steht!


Erbschaft<br />

Die Sonne knallte runter und mein billiges Hemd war unter dem leicht modrig<br />

riechenden Anzug bereits klatschnaß geschwitzt. Die viel zu kleinen Schuhe drückten – es<br />

waren nicht meine. Das heiße Badewetter war alles andere als angemessen für eine<br />

Beerdigung.<br />

Ich hielt mich eher abseits, lief nicht vorne bei meinen Eltern, den Geschwistern und<br />

ihren Familien mit. Ein Umstand, der bei einigen Gästen für Verwunderung sorgte, hatte<br />

ich meinen Großvater doch bis zuletzt gepflegt.<br />

Hin und wieder packte mich eine der älteren Personen, Freunde und Bekannte meines<br />

Großvaters – nicht Familie – am Ellenbogen, oder drückt mit ihrer Handfläche zwischen<br />

meine Schulterblätter.<br />

„Junge, du gehörst nach ganz vorne.“<br />

Ich verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen – ach – nicht einmal Grinsen, es war<br />

einfach nur gequälte Traurigkeit. Ich sagte nichts, schüttelte nur den Kopf wie ein<br />

schüchternes Kind, das man dazu zwingen wollte, dem Angst einflößenden Onkel die<br />

Hand zu reichen. Ich erntete verständnisloses Kopfschütteln.<br />

„Das gehört sich nicht – das gehört sich gar nicht.“<br />

Ich mochte die alten Leute und ich konnte sie verstehen. Tradition verpflichtete sie<br />

dazu, den Anstand zu wahren und selbst die schlimmste Familienfehde für einen Tag<br />

lang ruhen zu lassen, nur um den Schein zu wahren. In meinem Fall war es noch nicht<br />

einmal eine richtige Familienfehde, dazu hätte man vermutlich richtig streiten müssen.<br />

Die Schieflage, die uns trennte, wurde nie diskutiert, nie ausgesprochen – zumindest nie<br />

mit mir, nie mit dem Betroffenen. Hinter meinem Rücken jedoch, das wußte ich wohl,<br />

zerriß man sich das Maul.<br />

„Dreißig Euro!“, war das Erste, das meine Schwester zu mir sagte, und hielt dabei ihre<br />

Hand auf wie ein Bettler. Wir standen keine fünf Meter vom offenen Grab entfernt, und<br />

die Trauergäste hatten sich in kleinere und größere Gruppen portioniert, scharrten im<br />

Kies und sprachen von den Plänen und Begebenheiten ihres Lebens. Ich hatte alleine<br />

herumgestanden, als sich meine Schwester von der Traube meiner Familie löste und auf<br />

mich zu gekommen war. Vielleicht hatte ich erwartet, dass sie mir mitteilen würde, die<br />

Familie habe beschlossen, ich solle mich zu ihnen gesellen – nicht so einsam herum<br />

stehen.<br />

Ich glotzte auf ihre fleischige Hand.<br />

„Ach ja!“, murmelte ich und fischte nach meiner Geldbörse. Ich zitterte etwas, war<br />

total dehydriert und fürchtete, wenn ich nicht bald etwas Kühles zu trinken bekäme,<br />

würde ich umfallen. Meine Schwester verfolgte jede meiner Bewegungen mit Argusaugen,<br />

und fast hatte ich den Eindruck, sie würde, wenn ich nicht achtsam genug wäre, meine<br />

Börse schnappen und weglaufen wie eine Berufsdiebin.<br />

„Das sind nur zwanzig Euro!“, beschwerte sie sich, als ich ihr den dunkelblauen,<br />

zerfledderten Schein reichte.<br />

„Den Rest geb' ich dir ein andermal“, erklärte ich so leise, dass ich es selbst kaum<br />

hörte.


„Das ist ein Scherz, oder?“, baute sie sich vor mir auf und wedelte mit dem Euroschein<br />

als wäre er ein Stück Klopapier. Ich zog die Schultern hoch und machte instinktiv einen<br />

Schritt zurück. „Dir ist Opa nicht einmal so viel Wert, dass du deinen Anteil am Kranz<br />

zahlst?!“, keifte sie mich an. Ich schloss die Augen, schluckte und spürte einen Knoten in<br />

meinem Bauch.<br />

„Nicht so laut“, bat ich und versuchte, als Gegengewicht zu ihrer Stimme, noch leiser<br />

zu sprechen. Dennoch reckten einige der Trauergäste ihre Köpfe und starrten zu uns her.<br />

„Ich zahl's ja“, versprach ich eindringlich, „aber ich hab grad' nicht so viel dabei!“<br />

„Wie? Was? Du hast nicht einmal dreißig Euro dabei?“, spottete sie laut und blickte<br />

mich ungläubig an. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und suchte verschämt ein Loch<br />

im Boden, in dem ich versinken könnte.<br />

„Lass mal sehen!“, fauchte sie und griff so schnell nach meiner Börse, dass ich nicht<br />

reagieren konnte. Sie drehte sich rasch weg, als ich danach grapschte, und durchsuchte<br />

alle Fächer. Sie war sich der Show bewusst, die sie mittlerweile bot, und schüttelte die<br />

Börse theatralisch, um zu demonstrieren, dass sie leer war. Völlig leer.<br />

„Mann, du bist ja total blank!“, rief sie. Ich spürte wie mir das Herz bis zum Hals<br />

schlug und ein heftiges Rauschen in den Ohren schränkte meine Wahrnehmung ein. Ich<br />

war bereits im Fluchtmodus, blieb aber noch wie angewurzelt stehen.<br />

„Wer ist denn das?“, rief sie, und zog das Foto eines unbekannten Schauspielers<br />

heraus. Er gefiel mir eben, und ich hatte noch nie einen echten Freund gehabt, träumte<br />

bislang nur von der Liebe. Ich hatte ihn vor Monaten mal in einem Theater gesehen, und<br />

das Foto dann aus dem Programmheft ausgeschnitten. Ja, das war peinlich für mein<br />

Alter, aber peinlich – schlagt im Lexikon nach – unter peinlich findet ihr mein Bild.<br />

„Ist das dein Freund?“, fragte sie und ich spürte wie meine Wangen sowie meine Ohren<br />

dunkelrot anliefen. „Liegt er oben? … Du bist so eklig!“, zischte sie schließlich und warf<br />

mir meine Geldbörse so zu, dass sie vor meinen Füßen auf dem Kies landete. Sie genoss es<br />

sichtlich, dass ich mich vor ihr bücken mußte. Sie hüpfte zu meiner Familie zurück, und<br />

ich nahm nur noch aus dem Augenwinkel wahr, dass mich alle anglotzten.<br />

Ich drehte mich um und humpelte weg, hatte mittlerweile sicher blutende Blasen an<br />

den Füßen, sie stachen und brannten heftig – bei jedem Schritt.<br />

°°°<br />

Altbauwohnungen haben im Hochsommer einen entscheidenden Vorteil gegenüber<br />

Neubauten: Sie sind kühl. Ich schlug die hohe, knarzende Tür hinter mir zu, lehnte mich<br />

dagegen und ließ meinen Blick durch die typisch voll gestellte Wohnung eines alten<br />

Menschen gleiten. Alles war beige in beige und die Tapeten hatten große, majestätische<br />

Muster – Möbel, Lampen, Regale, sogar das Bett war liebevoll und üppig gestaltet.<br />

So hatte man früher gebaut. Früher, als man Möbel noch sein ganzes Leben lang<br />

besaß und kein Übergangsleben führte, mit Übergangsmöbeln und Übergangsjobs,<br />

Übergangsfreundschaften und Übergangsliebe.<br />

Dabei waren sie damals arm gewesen, besaßen nichts. Vielleicht war auch das der<br />

Grund, warum sie das, was sie hatten, so aussehen ließen, als stamme es aus<br />

Königshäusern. Mein Opa besaß Kleidungsstücke, wie den Anzug, den ich gerade trug, die<br />

waren sechzig Jahre alt. Außer am vielleicht etwas altmodischeren Schnitt und dem<br />

moderigen Geruch merkte man das nicht. Die alten Leute paßten auf ihr Zeug auf.<br />

Ich mußte, mit Abscheu, an meine Schwestern denken, für die ein Kleid bereits


untragbar wurde, wenn sie es auf einem einzigen Event angehabt hatten, einem einzigen<br />

Ball. Ich erinnerte mich an die unpassenden Schuhe, die an meinem Zeige- und<br />

Mittelfinger hingen. Ich habe sie mir ausgezogen, sobald ich das Friedhofsgelände<br />

verlassen hatte, und war den Rest des Weges auf dem Asphalt gelaufen. Viel besser war<br />

das nicht, denn er hatte sich unter der sengenden Sonne so erhitzt, dass ich fürchtete, zu<br />

meinen Druckstellen kämen noch Brandblasen hinzu. Ich ließ die Schuhe auf das Parkett<br />

fallen, streifte rasch das Sakko sowie die dazu passende Hose ab und hing sie sorgfältig<br />

zum Lüften auf einen Kleiderhaken.<br />

„Du hattest mit allem Recht, Opa, mit allem. Sei froh, dass du das nicht<br />

mitbekommen musstest!“, sprach ich mit dem Toten und blickte auf das Bett, die Mulde in<br />

der weichen Matratze, die er in den letzten Jahren durch sein immer geringer werdendes<br />

Gewicht gelegen hatte. Mein Blick wurde verschwommen, meine Augenlider heiß. Der<br />

einzige Mensch, der mich akzeptiert hatte wie ich war, mit dem ich über alles reden<br />

konnte, war nicht mehr.<br />

Ich sah ihn vor mir, wie er da gelegen hatte, mit tausend Runzeln im Gesicht und<br />

funkelnden Augen. Wie er mich immer gescholten hatte:<br />

„Junge, was tust du hier bei mir altem Sack. Geh' raus in die Welt, verliebe dich.“ Dann<br />

war stets ein verschmitztes Lächeln in sein Gesicht geschnellt: „Und dann erzählst du mir<br />

davon, ja?“<br />

Ich schniefte und wischte meinen Rotz mit dem Hemdsärmel weg. Durst und Trauer<br />

schickten mich in die Küche. Dort beugte ich mich unter den Wasserhahn, ließ<br />

abwechselnd das eiskalte Naß in meinen Nacken und über die Wangen in meinen Mund<br />

fließen. Der Schweiß auf dem Hemd war getrocknet und es stank erbärmlich, also<br />

entledigte ich mich auch noch dieses Kleidungsstücks. Immer noch vor mich hin<br />

schluchzend wankte ich zum großen Ohrensessel, dem Lieblingsplatz meines Großvaters,<br />

kuschelte mich hinein, zog die Knie hoch bis unters Kinn, umarmte meine Schienbeine und<br />

schlief ein.<br />

°°°<br />

„Was machst du hier?“, weckte mich eine entrüstet schrille Stimme. Ich blinzelte mit<br />

geschwollenen Augen durch den grellen Raum. Jemand hatte die Vorhänge zur Seite<br />

geschoben, und der brutale Tag griff gleißend in die Geborgenheit verflossener Tage, die<br />

träge in dieser Wohnung geschlafen hatten. Ich brauchte eine Weile, ehe die Silhouette,<br />

die vor dem grellen Licht stand, scharfe Konturen annahm. Meine Mutter.<br />

„Ich wohne hier?“, bot ich das Offensichtliche an und erinnerte mich erst durch ihren<br />

abschätzigen Blick, dass ich fast nackt war. Rasch griff ich nach den erstbesten Sachen,<br />

dem Anzug meines Großvaters, den ich zur Beerdigung getragen hatte. Ohne Hemd<br />

schlüpfte ich hinein, kämmte mit den Fingern grob durch mein blondes, schulterlanges<br />

Haar und zupfte an den Ärmeln. Erst jetzt entdeckte ich, dass sie nicht allein gekommen<br />

war. Offenbar hatten sie sich gemeinsam nach dem Leichenschmaus dazu entschlossen,<br />

hier her zu kommen, um der Leichenfledderei zu frönen. Meine Eltern, meine Geschwister<br />

und ihre Partner stellten die ganze Wohnung auf den Kopf.<br />

Ich hatte alles fast genau so gelassen, wie es vor dem Tod meines Großvaters gewesen<br />

war, wollte damit seine Seele, die Erinnerung in den Dingen so lang aufrecht erhalten,<br />

wie möglich. Meine Familie hatte die Wohnung entweiht noch ehe ich erwacht war.<br />

Vermutlich hatten sie schon eine ganze Weile gewütet, ehe sie entdeckten, dass ich hier


schlief.<br />

Sie durchstöberten Schränke, rissen Schubladen aus den Kommoden und stopften was<br />

ihnen gerade gefiel in große Säcke und Bananenkartons.<br />

Dafür, dass sie über fast alles die Nase rümpften, es für wertlosen Schund hielten,<br />

steckten sie erstaunlich viel davon ein. Man hätte glauben können, sie wären eine<br />

hungrige Diebesbande, die hier Wertsachen für ihr dürftiges Überleben zusammen klaute.<br />

In Wahrheit hatten sie mehr, als sie brauchten. Vermutlich würde der ganze Krempel in<br />

einer feuchten Ecke im Keller landen, und dort vor sich hin schimmeln. Hauptsache,<br />

niemand anderer hatte das Zeug.<br />

Ich stand an die Wand gedrückt und beobachtete das alles wie einen Verkehrsunfall<br />

den man in Zeitlupe wahrnahm und in den man dennoch nicht eingreifen konnte.<br />

„Du kannst hier nicht wohnen“, erklärte meine Mutter beiläufig, während sie eine Kiste<br />

altmodisch bestickter Tischdecken fand und ein gieriges Funkeln in ihre Augen trat. Nicht<br />

wegen der Tücher, diese durchwühlte sie nur grob auf der Suche nach Bargeld. Alte Leute<br />

deponierten es, wie Eichhörnchen, überall in ihren Wohnhöhlen, für schlechte Zeiten und<br />

weil sie den Banken nicht vertrauten. Zurecht.<br />

Ich hatte bisher nicht gewagt danach zu suchen, hätte es als Entweihung, gar als<br />

Diebstahl empfunden. Nun landeten Hunderte Euro aus allerlei Verstecken in den bereits<br />

gefüllten Taschen meiner Familie.<br />

„Wie meinst du das? Opa hat doch verfügt, dass ich …“, stammelte ich.<br />

„Opa war senil! Außerdem steht die Eigentumswohnung als seine Tochter doch mir<br />

zu“, erklärte sie und fand, wonach sie gesucht hatte. Mit flinken, gierigen Fingern klaubte<br />

sie die Hunderter, die zwischen den Tischtüchern eingeklemmt waren, heraus und zählte<br />

sie. Es mußten mindestens achthundert Euro sein.<br />

„Aber“, murmelte ich und ließ meine Schultern hängen.<br />

„Spätestens morgen früh bist du raus!“, stellte sie mit harter Stimme ihre Bedingung.<br />

Sie hatte mich bisher nicht eines Blickes gewürdigt, als wäre ich ihre polnische<br />

Hausangestellte, an der sie ebenfalls immer vorbei redete.<br />

„Ich weiß nicht wo ich hin soll“, flüsterte ich, damit nur sie es hören konnte. Ich wollte<br />

nicht, dass alle davon Wind bekamen. Die Show auf der Beerdigung war peinlich genug<br />

gewesen.<br />

„Du kannst ja zu einem deiner Lover ziehen“, meinte sie schnippisch und zog den<br />

nächsten Karton, diesmal jenen mit muffigen Vorhängen, unter dem Bett hervor und<br />

begann darin zu wühlen.<br />

„Ich hab keinen …“, begann ich und seufzte hoffnungslos. Warum auch immer, vor<br />

allem meine Eltern unterstellten mir, ein ausschweifendes Sexualleben zu führen. Dabei<br />

hatte ich nichts dergleichen – nie gehabt.<br />

Nachdem herausgekommen war, dass ich schwul bin, wurde ich zu meinem Opa<br />

umgesiedelt was ein etwas freundlicherer Ausdruck für 'Rauswurf' war. Sie hatten mich<br />

nicht etwa mit einem anderen Jungen erwischt, oder so etwas, sondern … Fotoschnipsel.<br />

Ich hatte aus den ausrangierten Zeitschriften meiner Schwestern heimlich die Fotos süßer<br />

Jungs ausgeschnitten, und sie in meinem Buch 'Hundert Jahre Eisenbahn' versteckt. Eines<br />

dieser uninteressanten, nichtssagenden Bücher, die vermutlich jeder Junge irgendwann<br />

geschenkt bekam. Wie der Teufel so wollte, mußte eine meiner Schwestern ein Referat<br />

zum Thema Eisenbahn schreiben und hatte sich das Buch – ohne nachzufragen –


geliehen.<br />

Ich war aus der Schule gekommen, und hatte mich unerwartet einer ganzen Armee<br />

feindseliger (meine Eltern) und hämischer (meine Geschwister) Gesichtern gegenüber<br />

gefunden. Aus irgendeinem Grund unterstellte man mir sofort, es mit den Männern der<br />

halben Stadt zu treiben, meinte, ich brächte meine Geschwister in Gefahr. Der offizielle<br />

Grund, mit dem sie mich vor der Wohnungstür meines Großvaters parkten war, dass ich<br />

alt genug sie für ein eigenes Zimmer, sie mir das aber in ihrem Haus nicht bieten könnten.<br />

Damals wußte ich es noch nicht, aber es war das Beste gewesen, das mir je hatte<br />

passieren können. Sie hatten ihm den wahren Grund verschwiegen, und ich drückte mich<br />

wochenlang davor, ihn einzuweihen, aus Angst, wenn er erführe, was Sache ist, würde er<br />

mich ebenfalls rauswerfen.<br />

Das Gegenteil war der Fall. Als ich es ihm endlich gebeichtet hatte, lachte er nur,<br />

meinte, das habe er längst gewußt und gestand mir, selbst schwul zu sein.<br />

Meine Familie wußte nichts davon und das war mir eine Genugtuung. Ich war der<br />

letzte Mensch auf der Welt, der von seinem Geheimnis wußte – ihn besser kannte als<br />

seine eigene Tochter. Ein Triumph.<br />

Plötzlich ertönte aus den hinteren Räumen schallendes Gelächter. Nach und nach<br />

fielen immer mehr in dieses Lachen ein. Meine Mutter fuhr, vom amüsierten Kichern der<br />

Anderen aufgeschreckt, hoch und folgte neugierig den fröhlichen Lauten. Endlich war ich<br />

für einige Sekunden allein und drückte mich an die Wand, als ich merkte, wie sehr meine<br />

Knie schlotterten. Mir drehte sich alles bei dem Gedanken, dass ich von nun an obdachlos<br />

war, und ich krallte mich benommen in die Tapete.<br />

„Hey, Chris, komm doch mal!“, drang schließlich die Stimme meines Schwagers an<br />

mein Ohr. Er stand in der Türe und musterte mich belustigt. Bisher hatte er mich keines<br />

Blickes gewürdigt und ich vermute, er hatte wirklich nicht bemerkt, dass ich in der<br />

Wohnung war.<br />

„Wie siehst du denn aus?“, gluckste er, als er mich im alten Anzug meines Großvaters<br />

sah, barfüßig und ohne Hemd. „Komm, dein Opa hat dir ein 'Erbe' vermacht!“ Er fuchtelte<br />

einladend mit den Händen, aber sein Grinsen verriet, dass mir eine Demütigung<br />

bevorstand. Widerwillig stieß ich mich von der Wand ab und folgte ihm.<br />

Er wartete an der Tür – ich drängte mich mit größtmöglichem Abstand an ihm vorbei<br />

– aber kaum war ich hindurch legte er eine Hand auf meine Schulter. Er hatte mich noch<br />

nie berührt, (aus Angst, schwul zu werden), doch nun schob er mich weiter durch den Flur<br />

in das Zimmer, aus dem das Gelächter kam.<br />

„Na, die kann er ja gut gebrauchen!“, kicherte meine Schwester, jene, die mich wegen<br />

meines Geldproblems auf dem Friedhof gedemütigt hatte, als sie meine nackten Füße<br />

entdeckte.<br />

Mein Schwager drängte mich bis in die Mitte des Raumes und ließ mich los. Zu meinen<br />

Füßen stand ein Karton, auf den mein Opa in seiner typisch krakeligen Schrift 'Für Chris –<br />

nach meinem Ableben' geschrieben hatte. Mir schossen sofort Tränen in die Augen, aber<br />

ich versuchte, sie vor meiner Familie zu verbergen.<br />

Sie standen in aufgeregter Erwartung um mich herum. Das erinnerte mich an<br />

vergangene Kindergeburtstage, als ich die Kerzen ganz allein ausblasen durfte und<br />

neugierige Blicke gespannt darauf warteten, was ich zu den Geschenken sagen würde.<br />

Ich ging auf die Knie und betastete die Schrift auf dem Karton, als wäre es feinste


Einlegearbeit aus Elfenbein.<br />

„Na, mach schon auf!“, drängelten sie mich und jemand prustete, ein anderer kicherte<br />

gemein. Ich hätte den Karton lieber alleine aufgemacht, ohne schadenfrohes Publikum,<br />

aber ich konnte mich gegen meine Familie noch nie durchsetzen. Mit zittrigen Fingern<br />

nestelte ich am Deckel herum und hob ihn sachte an.<br />

„Mach's nicht so spannend!“, ermahnte mich mein Schwager.<br />

Der Deckel kippte weg, und beim ersten Blick in den Karton spürte ich ein heftiges<br />

Ziehen in meinem Bauch, meinem Herzen. Zwischen knisterndem, durchscheinendem<br />

Seidenpapier, lagen zwei Paar alte, abgetragene Schuhe. Meine Familie lachte. Sie hatte<br />

offenbar bereits, respektlos wie sie war, nachgesehen und gewußt, was mich erwarten<br />

würde. Was sie nicht wußte, war, dass dies für mich das größte Geschenk darstellte, dass<br />

mein Großvater mir hinterlassen konnte.<br />

Meine Tränen strömten nun hemmungslos und ich vergaß, wer um mich war und dass<br />

man mich verspottete, langte in den Karton und hob den Linken des einen, den Rechten<br />

des anderen Paares heraus, drückte sie gegeneinander und an meine Brust. Das Lachen<br />

versickerte. Es machte offenbar keinen Spaß, dass ich nicht empört, gedemütigt, verletzt<br />

reagierte, sondern wirklich berührt war, mich wirklich freute. Sie kamen sich – hoffentlich<br />

– blöd vor, und verließen nach und nach das Zimmer.<br />

Ich wußte, wem diese Schuhe gehört hatten, und ich wußte, warum meinem Großvater<br />

daran gelegen hatte, dass ich sie bekam.<br />

Dreißig Jahre lang hatte mein Großvater eine heimliche Liaison mit einem Kollegen<br />

gehabt, mit dem er gemeinsam für einen Installateur gearbeitet hatte. Beide hatten sie<br />

Familien, nach Außen hin ein braves, bürgerliches Leben geführt, ihr Herz aber hatte stets<br />

dem Mann gehört, mit dem sie jeden Tag zehn Stunden gearbeitet hatten.<br />

Kennen gelernt hatten sie sich als Mitarbeiter der Konkurrenz, dann alles daran<br />

gesetzt, in der gleichen Firma, als ein fixes Team, auf Montage zu gehen. Trotz alledem<br />

war es ein einziges Versteckspiel, über drei Jahrzehnte, nervenaufreibend, oftmals<br />

verzweifelt, aber nie hatte zur Debatte gestanden, sich zu trennen. Bis eines Tages ein<br />

Unfall passierte, und der Freund meines Opas auf einer Baustelle, durch einen<br />

herabstürzenden Balken, getötet wurde.<br />

Mein Großvater hat ihn in seinen Armen gehalten, bis der Notarzt eingetroffen war,<br />

der nur noch den Tod feststellen konnte. Man mußte den Toten regelrecht aus dem<br />

Klammergriff meines Großvaters herausoperieren und es bedurfte drei starker Männer,<br />

ihn von seinem toten Geliebten wegzuzerren.<br />

Spätestens da erkannten die Kollegen, welch besondere Beziehung die beiden Männer<br />

miteinander verbunden hatte. Am ersten Tag nach der Beerdigung überreichten sie<br />

meinem Großvater schweigend die Schuhe seines Geliebten.<br />

Jedes mal, wenn mein Großvater davon erzählte, standen ihm Tränen in den Augen.<br />

Selbst dreißig Jahre später noch. Er hatte die Trauer ganz mit sich allein ausmachen<br />

müssen, und den Verlust nie überwunden.<br />

Die Arbeitsschuhe, die er an diesem Tag getragen hatte, hat er nie mehr angezogen<br />

und sie zu jenen seines Freundes gepackt. Er sagte immer, mit jenem Tag sei nicht nur sein<br />

Freund, sondern auch ein Teil von ihm selbst gestorben.<br />

Ich hatte nicht gewußt, dass die Schuhe noch existierten. Ich habe immer<br />

angenommen, sie wären in all den Jahren irgendwann einer Aufräumarbeit meiner


mittlerweile verstorbenen Großmutter, oder aber später meiner Mutter zum Opfer<br />

gefallen. Offenbar hatte er sie gut vor ihnen versteckt und erst hervorgeholt, als er<br />

wußte, dass er es nicht mehr lange machen würde. Die krakelige Schrift auf dem Karton<br />

verriet, dass es noch nicht sehr lange her sein konnte, dass er sie für mich bereitgestellt<br />

hatte.<br />

Ich merkte nicht, wie meine Familie die Wohnung verließ, verkroch mich, die Schuhe<br />

umklammert, in diesem Zimmer und hing Anekdoten nach, die mein Großvater von sich<br />

und seinem Freund erzählt hatte.<br />

„Junge“, hatte er oft am Ende seiner Erzählungen gesagt, „diese Schuhe sind magisch.<br />

Sie wurden über so lange Zeit mit so viel Liebe bedacht, sie sind gewiß verzaubert.“<br />

Mein Großvater hatte sich oft gewünscht, mir würde eine ähnliche Liebe widerfahren,<br />

aber natürlich ohne deren grausames, abruptes Ende. Ja, manchmal hatte er mich<br />

regelrecht aus der Wohnung gejagt mit dem Befehl, mich zu verlieben. Ich war dann den<br />

halben Tag durch die Auen gelaufen, hatte mir Kinofilme angesehen oder in einem Café<br />

ein Buch gelesen, und war Abends unverrichteter Dinge wieder heimgekehrt.<br />

Wenn er wissen wollte, ob ich jemanden kennen gelernt hatte, erzählte ich manchmal<br />

kleine Geschichten. Ich betrieb auf einer ganz anderen Ebene Heimlichtuerei: ich verbarg,<br />

dass ich das mit der Liebe nicht konnte. Ich kriegte das einfach nicht hin, wußte nicht, wie<br />

man das machte. Es war mir ein Rätsel geblieben.<br />

Irgendwann hatte ich mir, als er mich wieder einmal davon jagte um die Liebe zu<br />

finden, dieses Theaterstück angesehen und mich in einen der Nebendarsteller verguckt.<br />

Natürlich nur von meinem Platz aus, denn ich hatte nicht den Mut, ihn hinter der Bühne<br />

aufzusuchen, um zumindest ein Autogramm zu erhalten. Dabei war es ein winziges<br />

Theater und ein Leichtes, mit den Schauspielern in Kontakt zu kommen, wenn man<br />

wollte.<br />

Statt dessen hatte ich sein Foto aus dem Programmheft ausgeschnitten, und eine<br />

wilde Geschichte um ihn herum zusammen fantasiert.<br />

Das war die einzige Sache, in der ich meinen Großvater je belogen habe. Aber ich<br />

vermutete, er wußte es, denn er bat nie darum, ihn kennenzulernen. Ich war überzeugt,<br />

hätte er geahnt, dass es ihn wirklich gab, er hätte ihn kennenlernen wollen. So aber<br />

wollte er mir meine Fantasie lassen und mich nicht bloßstellen. Er liebte die Geschichten,<br />

die ich erfand und ich steigerte mich mitunter so in sie hinein, dass ich mir wünschte, sie<br />

wären tatsächlich geschehen.<br />

Mittlerweile war es dunkel geworden und ich schlich durch das Chaos, das meine<br />

Familie hinterlassen hatte. Nichts stand mehr an seinem Platz, viele Dinge fehlten, in<br />

erster Linie aber war nur alles auf der Suche nach Bargeld zerwühlt worden. Noch immer<br />

im Anzug meines Großvaters und beide Paar Schuhe an meine nackte Brust gepreßt, legte<br />

ich mich in die Kuhle, die der sterbende Körper hinterlassen hatte. Immerhin hat keiner<br />

von meiner Familie den Mut gehabt, diese Stelle zu berühren, vermutlich aus Angst vor<br />

dem Tod oder den Spuren der Inkontinenz. Jetzt ließ ich mich in diese – über viele Monate<br />

und Jahre hinweg entstandene – Mulde sinken, umschlang die Schuhe, kuschelte mich in<br />

die stinkende Matratze und schlief ein letztes Mal in dieser Wohnung.<br />

°°°<br />

„Boa, ist das eklig!“, weckte mich die Stimme meiner Schwester. Ich blinzelte und<br />

blickte hoch zu vier Silhouetten, die auf mich herab sahen.


„Ich hab dir doch gesagt, du sollt hier verschwinden!“, mahnte meine Mutter und<br />

blickte drein als wäre sie in Hundekot getreten.<br />

„Du pennst im Bett eines Toten, hast du keine Angst vor dem Leichengift?“, rief meine<br />

Schwester pikiert und hielt sich die Nase zu.<br />

„Wenn es nicht im Guten geht …“, summte meine Mutter. Mein Bruder und mein<br />

Schwager ruckelten mit ihren Schultern und verschränkten ihre Arme, als wären sie<br />

gefährliche Türsteher. Das sah lächerlich aus, aber ihre Entschlossenheit konnte dennoch<br />

schmerzhaft sein. Ich erhob mich unter den verächtlichen Blicken meiner Familie, und<br />

tappte einfach zur Tür hinaus.<br />

„Willst du nichts mitnehmen?“, rief mir meine Schwester ins Treppenhaus nach, wo ihre<br />

Frage mehrmals widerhallte. Ich drehte mich nicht um, spürte unter meinen nackten<br />

Sohlen erst den kühlen Stein der Stiegen, dann den heißen Asphalt der Straße. Ich lief<br />

durch die stickigen Gassen, erlaubte meinen Füßen gelegentlich Erholung, indem ich sie<br />

über die schmalen Grasstreifen – zwischen zwei Fahrbahnen – latschen ließ. Die Stunden<br />

vergingen, ich legte Kilometer um Kilometer zurück als böten sie eine Lösung, als wäre an<br />

ihrem Ende ein Obdach gewiß.<br />

„Welcher Idiot trägt die Schuhe in der Hand spazieren?“, rief man mir gelegentlich zu.<br />

„Bei dem Wetter mit einem Anzug – bist du Masochist?“, pöbelten andere. Da ich aber<br />

nicht danach aussah, als ob man von mir etwas holen könnte, ließ man mich sonst in<br />

Ruhe.<br />

Der Tag neigte sich dem Abend zu, die Lichter der Autos bekamen einen majestätischen<br />

Glanz. Ihr Lack wurde durch das Licht der Laternen gekrönt, der Himmel starb mit<br />

grellem Blau und ich fand mich auf dem orange beleuchteten Vorplatz des kleinen<br />

Theaters wieder. Meine Füße brannten vom langen Weg, und die glatte, warme<br />

Oberfläche des Kopfsteinpflasters fühlte sich angenehm an.<br />

Die – mit Plakaten vollgeklebte – Tür des Theaters wurde geöffnet und ich trat ein.<br />

Der typisch modrige Geruch alter Kellerräume stieg in meine Nase, als ich als erster der<br />

Gäste über den abgetretenen Teppich schritt. Bis zur Vorstellung war es noch lange hin,<br />

vermutlich waren noch nicht einmal alle Schauspieler da. Ziellos lief ich im Foyer hin und<br />

her, betrachtete Plakate und überlegte, was ich nun tun sollte.<br />

„Möchten Sie eine Karte kaufen?“, sprach mich die Dame hinter der Kassa freundlich<br />

an. Ich schreckte hoch, drückte die Schuhe fester an meine nackte Brust und stürmte zum<br />

Ausgang. Ich prallte gegen einen Körper, Arme fingen mich auf, als ich gefährlich zu<br />

taumeln begann.<br />

„Ist die Vorstellung von der Vorstellung so schlecht, dass du schon jetzt flüchten<br />

mußt?“, lachte jemand mit angenehmer, freundlicher Stimme. Ich blickte hoch und in sein<br />

Gesicht – jenes, das ich seit Monaten in meiner Geldbörse herumtrug. Jenes, von dem ich<br />

meinem Opa ein Märchen nach dem anderen erzählt hatte. Jenes, das zum Inbegriff<br />

meiner unerfüllten Sehnsucht nach Liebe geworden war.<br />

„Ich kann mir die Karte nicht leisten!“, rutschte aus mir heraus. Das hatte ich nicht<br />

sagen wollen, mir war peinlich, dass ich pleite war. Himmel, ich war obdachlos und hatte<br />

keinen Cent. Außer dem alten Anzug meines Opas und der zwei Paar alten Schuhe, besaß<br />

ich nichts mehr.<br />

„Geile Schuhe“, bemerkte er, der, so wußte ich aus dem Programmheft, Philipp hieß. Ich<br />

betrachtete sie, als hätte ich eben erst gemerkt, dass ich sie bei mir trug und nickte


stumm.<br />

„Also wenn du das Stück wirklich sehen willst, bist du heute mein Gast!“, erklärte<br />

Philipp und musterte mich von Kopf bis Fuß. „Edles Styling“, fügte er anerkennend hinzu,<br />

„wo hast du diese steilen Sachen her?“<br />

„Opa!“, grunzte ich kurz, und meine Mundwinkel wackelten unwillkürlich.<br />

„Den mußt du mir mal vorstellen, scheint einen guten Geschmack zu haben“, lächelte<br />

er, legte einen Arm um meine Schultern und schob mich an der Kassa vorbei, wobei er der<br />

Dame dahinter zuzwinkerte. Sie blinzelte zurück und nickte mit einem breiten Grinsen.<br />

Tatsächlich waren noch nicht alle Schauspieler da, aber jene, die anwesend waren,<br />

beschäftigten sich mit der Maske. Offenbar gab es hier keine Maskenbildner oder<br />

Kosmetiker, denn sie schminkten sich selbst.<br />

„Das ist der fade Teil des Abends, setz' dich hier hin und erzähl mir von dir“, forderte<br />

Philipp mich auf, klopfte auf einen der Drehstühle und ließ sich auf den daneben fallen.<br />

Vorsichtig, als könnte der Stuhl kippen, ließ ich mich auf dem Sitz nieder und beobachtet<br />

fasziniert, wie sich die Mimen Puder, Cremes, Make-Up, Rouge und Lippenstift auftrugen.<br />

Wie sie ihre Augen aufrissen, um Kajal und Wimperntusche zu applizieren, und ihre Haare<br />

unter Netze klemmten um Perücken aufzusetzen.<br />

Dabei entlockte mir Philipp eine Information nach der anderen.<br />

Er störte sich nicht an meinen zunächst knappen Antworten. Es kümmerte ihn nicht,<br />

dass ich mir zu Beginn jede Antwort zäh aus meiner Nase ziehen ließ. Er fragte einfach,<br />

was er wissen wollte und bohrte nach, wenn ihm die Antwort nicht präzise genug war.<br />

Und irgendwann redete ich ganz von selbst, erzählte von meinem Opa und meiner<br />

Familie, plauderte, als wäre er ein guter Freund, jemand, den ich schon immer kannte.<br />

Plötzlich erhob er sich, in eine mittelalterliche Bauernmagd mit clownesker Schminke<br />

verwandelt, umarmte mich mehr als freundschaftlich, indem er sanft sein Becken gegen<br />

meines drückte, und hauchte:<br />

„Such dir einen Platz, da draußen sind genug leere Sitze. Ich seh' dich dann in der<br />

Pause.“<br />

Mein Ohr glühte unter seinem Atem und ich wußte, den Geruch von billiger Schminke<br />

würde ich fortan für immer lieben. Ich befühlte kurz den Stoff seiner Kleider, war nicht<br />

mutig genug, darunter seinen Körper zu ertasten, griff nach den Schuhen und suchte mir<br />

im Dunkeln einen Platz.<br />

Ich krallte meine Finger ins Leder, und auch wenn ich ohne Unterbrechung auf die<br />

Bühne starrte, genau zuhörte, bekam ich vom eigentlichen Stück wenig mit. Ich himmelte<br />

Philipp an, und auch wenn er einige Meter entfernt auf der Bühne stand war mir, als<br />

spürte ich noch immer seine Arme um mich, seinen Atem auf meinem Ohr, roch die<br />

Schminke.<br />

°°°<br />

„Ist dein Freund hier ein Poet?“, trällerte ein Schauspieler, der erst während der ersten<br />

Hälfte der Vorstellung gekommen war, als er mich sah.<br />

„Auf jeden Fall ist er ein Gedicht“, summte ein anderer, wedelte dann vor seiner Nase<br />

herum und fügte hinzu: „Auch wenn er dringend eine Dusche braucht.“<br />

Ich wurde rot. Er hatte recht, ich mußte furchtbar stinken. Meine letzte Dusche war<br />

zwei Tage her, dazwischen hatte ich auf dem Begräbnis geschwitzt, in einem Totenbett<br />

geschlafen und trug zudem einen muffigen Anzug. Ich schleppte außerdem Lederschuhe


mit mir herum, in denen jahrzehntelang Männerfüße gesteckt hatten.<br />

Philipp lächelte, neigte sich zu mir und schnüffelte an meinem Hals, an meinem Ohr,<br />

an meiner Schläfe und sagte, den Kopf so nah an meinem, dass ich schielen mußte, wenn<br />

ich ihm in die Augen sehen wollte: „Dieser Geruch wird ab jetzt mein Herz höher schlagen<br />

lassen.“<br />

Meine Oberschenkel kitzelten und in meinem Magen wühlte die Aufregung wild<br />

herum. Mein Herz zupfte so süß an meinem Brustbein, dass es fast schmerzlich stach.<br />

Philipp zwinkerte mir zu und unterließ den Kuss, nach dem ich mich so sehr sehnte, dass<br />

meine Lippen bereits kribbelten.<br />

Die Glocke zum Pausenende läutete und ich wurde nervös. Die Schauspieler eilten<br />

davon und ließen mich mit Philipp allein. Er trat auf mich zu, strich über mein Revers,<br />

betrachtete unter den dicken, falschen Wimpern hindurch mein mageres Brustbein, meine<br />

Unterlippe, meinen Scheitel und forderte leise aber bestimmt:<br />

„Ich darf doch hoffen, dass du nach der Vorstellung noch mal hier her kommst?“<br />

„Du darfst!“, flüsterte ich und mußte mich wieder beherrschen, meinen Mund nicht auf<br />

seine rot bemalten Lippen zu drücken und seine Maske zu ruinieren. Doch ich wollte ihn<br />

berühren, unbedingt, und so griff ich, als sich unsere Wege trennten – seiner Richtung<br />

Bühne, meiner in den Zuschauerraum – nach seiner Hand und drückte sie. Philipp<br />

lächelte, und unter dem Kostüm einer Bauernmagd wirkte das erregend, so scheu und<br />

unschuldig, dass sich mein Schwanz begehrlich rührte.<br />

°°°<br />

Nach der Vorstellung war ich nicht der Einzige, der sich in den Backstagebereich<br />

begab, und so stand ich eine ganze Weile befangen herum, während die Schauspieler<br />

Autogramme gaben und sich zu ihrer Leistung beglückwünschen ließen. Immer wieder<br />

suchte Philipps Blick nach mir, und wenn unsere Augen einander begegneten, lächelte er.<br />

In meinem Inneren kribbelte es rauf und runter.<br />

„Verzeihung!“, konnte ich hören, wie er die Leute bat, ihm Platz zu machen. Im<br />

Gegensatz zu seinem Auftritt verstellte er die Stimme nicht zu einem hohen Lispeln, und<br />

ihr tiefes, energisches Brummen bildete einen verstörenden Kontrast zu seiner<br />

Aufmachung.<br />

Er kam direkt auf mich zu, wobei er unelegant die Perücke von seinem Kopf riß, mich<br />

mit seinem Körper rammte und gegen die Wand stieß. Ich ließ die Schuhe fallen, spürte,<br />

wie der Stoff des Kleides über meine nackte Brust, den Bauch streifte und seine Hände<br />

sich fest um meine Wangen legten.<br />

Im nächsten Moment landeten seine cremigen Lippen auf meinen, schmeckte ich<br />

Schminke und seine Zunge, die sich gierig nach meiner streckte. Mir klappten die Augen<br />

zu, und ich öffnete meinen Mund weit, erwiderte den Kuss, den ich seit Monaten ersehnt<br />

und Hunderte Male in meiner Fantasie durchgespielt hatte. Zwar hatte er da nie ein Kleid<br />

angehabt oder war geschminkt gewesen, aber da wollte ich nun nicht kleinlich sein.<br />

Er preßte mich gegen die Wand, bis ich kaum noch Luft bekam und durch die Röcke<br />

seines Kleides drückte sich seine Erektion gegen mein Becken. Ich stöhnte, als er sich von<br />

mir löste und in die Hocke ging. Doch anstatt mir vor den Fans, wie ich schon befürchtete,<br />

einen zu blasen, hob er nur die Schuhe auf, reichte mir ein Paar, behielt das andere, ergriff<br />

meine Hand und zog mich in den hinteren Teil des Gebäudes – in eine Art Abstellraum.<br />

„Es ist völlig wahnsinnig und ich verstehe, wenn du nicht kannst, aber: Ich möchte,


dass du mit mir kommst!“, erklärte er atemlos, während er die Tür hinter sich zuschlug.<br />

„Wie meinst du das? Ich bin doch schon hier …“, fragte ich und schaute mich um. Hier<br />

standen eine Menge Requisiten herum, es sah gespenstisch aus.<br />

„Ich meine nicht hier her“, amüsierte er sich, sein Brustkorb hob und senkte sich heftig<br />

– heftiger, als der Weg verursachen konnte, den wir hierher gelaufen waren.<br />

„Du meinst, zu dir nach Hause?“, riet ich, und mein Herz polterte dahin. Seine Augen<br />

waren groß, fast, als hätte er Angst vor meiner Entscheidung.<br />

„Nein!“, hauchte er und ich konnte sehen, wie Mut aus ihm heraus tröpfelte und er<br />

immer kleiner wurde. Welch ein Kontrast dazu, wie er mich vorhin überfallen hatte.<br />

„Was meinst du dann?“, fragte ich begriffsstutzig.<br />

„Ich habe soeben ein Angebot bekommen – für ein Engagement im Ausland“, erklärte<br />

er, ließ seine Schultern fallen und flüsterte: „Ausgerechnet jetzt!“ Dann nahm er sich<br />

wieder zusammen, zog die Ohrclips ab und erzählte ihnen: „Ich hab mir das immer<br />

gewünscht. Jede Vorstellung hab ich gehofft, dass man mich entdeckt und ich endlich<br />

von hier wegkomme. Heute ist es soweit – ausgerechnet …“ Er grinste mich seltsam an.<br />

„Ausgerechnet heute tauchst du auf und ich wünsche mir erstmals, nicht sofort<br />

wegzugehen.“<br />

„Du meinst … Fragst du mich gerade, ob ich dich ins Ausland begleiten möchte?“ Mir<br />

wurde kalt vor Aufregung, und ich krallte meine Finger fest in die Schuhe meines<br />

Großvaters. Philipp nickte verlegen, in seiner Hand baumelte das andere Paar Schuhe.<br />

'Magisch', dachte ich jetzt an die Worte meines Großvaters – die Schuhe hatten eine<br />

zauberhafte Wirkung.<br />

„Okay“, sagte ich entschlossen, hätte dabei ein Grinsen nicht einmal verbergen können,<br />

wenn ich mich darum bemüht hätte.<br />

„Ich weiß, dass kann ich nicht verlangen, einfach über Nacht alles abzubrechen …“,<br />

stammelte Philipp, ohne zu begreifen, dass ich bereits zugesagt hatte.<br />

„Ich komme mit“, wiederholte ich und nun war ich es, der dabei kaum Luft bekam, so<br />

heftig klopfte mein Herz.<br />

„Wirklich?“, machte Philipp große Augen, warf Schuhe und Ohrringe von sich, stürmte<br />

auf mich zu und schrie dabei euphorisch: „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“<br />

Im nächsten Moment schlangen sich seine Arme um mich, und er drückte mich so fest<br />

an sich, dass ich fürchtete, gleich würden Rippen knacksen.<br />

Ich ließ überrumpelt die Schuhe fallen und schlang meine Arme um ihn, küsste seinen<br />

Hals, sein Kinn, seine Wange, seinen Mundwinkel. Als ich mich von ihm löste, quittierte er<br />

das mit einem irritierten Ächzen. Hektisch fummelte ich nach dem Stoff seines Rockes und<br />

hob den Saum. Philipp stöhnte erregt auf, doch ich hatte anderes vor, als er scheinbar<br />

erwartete, wischte mit dem Stoff sachte über seinen Mund, entfernte behutsam den<br />

Lippenstift und flüsterte:<br />

„Ich möchte dich schmecken, nicht dieses – klebrige Zeug.“<br />

Philips wuchtige, falsche Wimpern flatterten erregt und er hielt gehorsam still,<br />

erwartete mit halboffenem Mund den Kuss. Zunächst kostete ich zaghaft, vorsichtig,<br />

schließlich aber preßte ich meine Lippen gierig gegen seine, und er kam mir verlangend<br />

mit der Zunge entgegen.<br />

„Du warst doch schon mal hier, oder? Vor ein paar Monaten“, nuschelte er zwischen<br />

zwei Küssen. Seine kühlen, nervösen Finger rutschten unter mein Sakko, strichen über


meinen Rücken hoch zu meinen Schulterblättern.<br />

„Ja“, hauchte ich atemlos, und spürte die Gänsehaut bis in den Nacken kriechen,<br />

konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Philipp hielt inne und strahlte mich<br />

mit glänzenden Augen an.<br />

„Ich hab dich gesehen. Ich bin sicher, du warst es“, frohlockte er. Mit einer flinken<br />

Bewegung rutschte das Sakko von meinen Schulter, und als hätte man einen Motor<br />

angeworfen begann er, mich stürmisch mit Hunderten kleiner, begehrlicher Küsse zu<br />

überfallen.<br />

„Merkst du dir jeden Zuschauer?“, stöhnte ich gegen die Decke und fuhr mit<br />

gespreizten Fingern durch sein Haar, während er neckend über meine Nippel leckte.<br />

„Dich hab ich mir gemerkt!“, säuselte er zwischen schmatzenden Geräuschen, als er an<br />

meinen Brustwarzen saugte bis ich wimmerte.<br />

Sein Geständnis machte mich ganz wild, ich zog seinen Kopf zu mir hoch und glitt mit<br />

meiner Zunge zwischen seine Lippen, eroberte seinen Mund mit ohnmächtiger Gier.<br />

Er schob die Röcke hoch und zwang meine Hand zwischen seine Schenkel, drückte sie<br />

auf seine harte Beule. Hektisch öffnete er meine Hose, umfaßte meinen Schwanz und<br />

massierte ihn mit gekonntem Griff. Ungeschickt zerrte ich an seiner Strumpfhose, um<br />

auch endlich zu seiner nackten Erektion zu gelangen.<br />

Wir stöhnten und ächzten, Stoff raschelte, Körperteile kollidierten, Lippen suchten,<br />

Zungen schmeckten, Finger tasteten sich mutig vorwärts.<br />

Mitten im schönsten Rausch drehte sich Philipp um, raffte seine Röcke hinten hoch,<br />

stützte sich gegen die Tür und reckte mir auffordernd seinen nackten Hintern entgegen.<br />

Ich hatte so etwas noch nie gemacht, doch meine Geilheit führte mich, und nur wenige<br />

Momente später hatte ich den Widerstand mit erregtem Schnaufen überwunden und<br />

bewegte ich mich in ihm.<br />

Als wir schließlich schweißgebadet und erschöpft auf den Boden sanken, bemerkte ich<br />

verräterisch schwarze Linien auf Philips Wangen.<br />

„Was ist passiert?“, fragte ich besorgt, und zeichnete sie mit meinem Zeigefinger nach.<br />

„Du bist passiert!“, flüsterte er, fuhr hoch und grinste rasch, „Ach quatsch, die falschen<br />

Wimpern sind eine Qual.“<br />

Mein Herz machte einen Hüpfer, dann ertränkte es sich in seiner eigenen Torheit.<br />

Philipp zupfte an den falschen Wimpern herum wie an widerspenstigen Raupen. Das sah<br />

echt eklig aus, wie sie sich so an den Augenlidern fest klammerten, als hinge davon ihr<br />

Leben ab. Philipp war anschließend optisch wieder ein Stückchen mehr der Mann<br />

geworden, den ich so verehrte.<br />

°°°<br />

Ich wartete artig im Foyer, während sich Philipp in einen Mann zurückverwandelte. Die<br />

Schuhe standen vor mir auf dem kleinen, runden Tisch mit den Programmheften und ich<br />

konnte noch immer nicht fassen, was gerade passiert war und in naher Zukunft noch<br />

passieren sollte.<br />

Ich würde spontan mit dem Mann meiner Träume verreisen. Ich hätte das nie gekonnt,<br />

als mein Großvater noch lebte. Philipp hatte ausgerechnet heute sein Engagement im<br />

Ausland bekommen. Mich hatte etwas, wie eine unsichtbare Schnur, zu diesem Theater<br />

geführt. Wie rasch sich doch alles gewendet hatte, und aus dem schlimmsten der<br />

schönste Tag meines Lebens geworden war!


„Opa, du Schlingel! Das hast du doch alles so gedreht!“, grinste ich die Schuhe an.<br />

„Wer hat was gedreht?“, fragte Philips wohlige Stimme. Ich blickte hoch, und mein<br />

Herz jubelte bei seinem Anblick. Er hatte als Bauernmagd schon seine Reize, aber als<br />

Mann war er unschlagbar. Ich hätte ihn am liebsten sofort wieder in die<br />

Requisitenkammer verschleppt.<br />

Die Röcke hatten verborgen, was für wohlgeformte Beine er hatte – die Jeans betonten<br />

sie und ohne Schminke würde er noch, da war ich sicher, der Schwarm vieler Mädchen –<br />

und so mancher Jungs, werden. Er hatte schauspielerisches Talent, aber sein Manager<br />

wäre dumm, wenn er sein Aussehen nicht ausschlachten würde.<br />

„Das verrate ich ein andermal!“, antwortete ich und als ich ein Paar ergriff, packte er<br />

wie selbstverständlich das andere Paar Schuhe.<br />

„Was es mit den Schuhen auf sich hat, das mußt du mir auch noch unbedingt<br />

erzählen“, forderte er.<br />

„Hm. Das sind mittlerweile zwei Geschichten – eine berührende und eine magische!“,<br />

erklärte ich und folgte ihm ins Freie. Die Sommernachtluft griff hitzig nach uns und<br />

machte klar, wie kühl die alten Innenräume des Theaters gewesen waren.<br />

„Das mit den Tränen, das lag nicht an den falschen Wimpern!“<br />

Ich blickte Philipp erstaunt an. Er schlang seine Finger um meine freie Hand, ließ<br />

seinen Blick anzüglich über meine nackte Haut gleiten, die unter dem Sakko hervor<br />

blitzte und fügte hinzu:<br />

„Auch das ist eine so berührende wie magische Geschichte, aber die erzähle ich ein<br />

anderes Mal.“


Texte: Kooky Rooster<br />

Bildmaterialien: Foto von rgbstock.com<br />

Lektorat/Korrektorat: sissisuchtkaiser - DANKE!<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Tag der Veröffentlichung: 08.09.2016<br />

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