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kim-eisenheide-mein-sommer-als-unsichtbarer-anders

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endlich, konnte was? Ich war wie <strong>mein</strong> Vater, ich war unfähig zu einer Beziehung, ich war<br />

unfähig, mit etwas anderem <strong>als</strong> mit <strong>mein</strong>em Schwanz zu denken.<br />

Schluchzend wälzte ich mich auf einem schweißnassen Laken, spürte eine nie<br />

gekannte Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit. Schlaflos starrte ich zum Mond,<br />

der durch das offene Fenster unseres Schlafzimmers schien. Warme Luft an <strong>mein</strong>er Haut.<br />

Mein Leben würde nie wieder so sein, wie es war.<br />

Pläne hatten ihre Gültigkeit verloren. Abmachungen waren wertlos geworden. Ficken,<br />

mit allem ficken, was jetzt in <strong>mein</strong>e Nähe kam - das konnte ich noch, doch was hatte<br />

das für einen Sinn?<br />

Jetzt konnte ich, doch jetzt wollte ich nicht mehr. Ich ekelte mich vor mir selber, vor<br />

dem Mann, der nur Schwanz war und nicht Kopf.<br />

Julians letzte Worte klangen wie die Warteschleife in einer Telefonanlage. »Ich habe<br />

versucht, dir zu helfen, aber du suhlst dich in deinem Selbstmitleid«, sagte er immer und<br />

immer wieder.<br />

Selbstmitleid. Wenn es nur das wäre. Ich hasste mich.<br />

Bald wich das Dunkel über der Stadt einem blassen Schimmer und einem hässlich<br />

heißen Morgen. Ich zog mich schwankend an, schlich die Treppe hinunter auf die Straße,<br />

kaufte mir einen Kaffee und setzte mich mit brennenden Augen in die S-Bahn. Mein Blick<br />

wollte ins Leere gehen und fing sich doch <strong>als</strong> blasse Reflexion in der Scheibe des Wagens.<br />

Das Gesicht kam mir seltsam fremd vor.<br />

Ein paar Monate früher: Wissenschaftsjournalist.<br />

Nachdem ich Dutzende von Bewerbungen geschrieben, verschickt und versucht hatte,<br />

irgendeine Festanstellung zu bekommen, wusste ich nur, was man mit einem<br />

Soziologiestudium alles nicht machen konnte. Auf Wissenschaftsjournalist wäre ich nie<br />

gekommen, bis mich ausgerechnet das Netzwerk von Julian auffing: Er kannte einen<br />

Redakteur im Ressort Wissen einer Berliner Tageszeitung. Die Redaktion beschäftigte<br />

immer wieder Freelancer. Jetzt sollte ich <strong>als</strong> freier Autor Themen vorschlagen.<br />

Also setzte ich mich mit <strong>mein</strong>em PC in eine stickige Büroge<strong>mein</strong>schaft von zwei jungen,<br />

dynamischen und ehrgeizigen Arschlöchern, einem Architekten und einem Kulturmanager,<br />

die so unerträglich produktiv waren, dass ich ihnen kaum bei der Arbeit zusehen konnte,<br />

und suchte nach Themen.<br />

Manchmal ging ich ins Büro, obwohl ich weder einen Artikel zu schreiben, noch Lust<br />

hatte, nach neuen Themen zu recherchieren. Nur Julians Ahnung, dass ich zuhause<br />

versumpfen würde, ginge ich nicht jeden Morgen vor die Tür, trieb mich an.<br />

Er sah die 50 Euro für den Arbeitsplatz <strong>als</strong> eine gute Investition in <strong>mein</strong><br />

Selbstbewusstsein, bestellte mir Visitenkarten und gab immer wieder Tipps, wenn er von<br />

einer Geschichte gehört hatte, die seiner Meinung nach einen guten Artikel ergab.<br />

Erdmagnetfeldsimulatoren. Kryobiologie. Wildwechsel-überwachung per Webcam. What<br />

the fuck.<br />

Erstaunlicherweise bekam ich nach einer Reihe von Themenvorschlägen die Aufgabe,<br />

über neue Methoden bei der Bekämpfung von Schuppenflechte zu schreiben, nach denen<br />

an der Charité geforscht wurde. In einer Sekunde hatte ich das Gefühl, voranzukommen,<br />

ein Ziel zu haben. Noch überraschender: Mein Artikel wurde gedruckt, zwar stark gekürzt<br />

und an mehreren Stellen umgeschrieben, aber Julian war begeistert, ich dagegen sah es

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