Freunde und Feinde
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<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>Feinde</strong><br />
Friedensgebete in Leipzig<br />
zwischen 1981 <strong>und</strong> dem 9. Oktober 1989<br />
Dokumentation<br />
Herausgegeben von Christian Dietrich <strong>und</strong> Uwe Schwabe<br />
im Auftrag des<br />
„Archiv Bürgerbewegung e.V." Leipzig<br />
Mit einem Vorwort von Harald Wagner<br />
EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT
Umschlagfotos: Informationstafel in der Nikolaikirche, P. Friedrich<br />
Nikolaikirchhof am 18.09.1989 nach dem Friedensgebet, R. Kühn<br />
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme<br />
<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> <strong>Feinde</strong>: Dokumente zu den Friedensgebeten in Leipzig zwischen<br />
1981 <strong>und</strong> dem 9. Oktober 1989 / hrsg. von Christian Dietrich <strong>und</strong> Uwe Schwabe im<br />
Auftr. des „Archiv Bürgerbewegung e.V." Leipzig. Mit einem Vorw. von Harald<br />
Wagner. - Leipzig : Evang. Verl.-Anst., 1994<br />
ISBN 3-374-01551-4<br />
NE: Dietrich, Christian [Hrsg.]; Friedensgebet <br />
ISBN 3-374-01551-4<br />
© 1994 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig<br />
Printed in Germany • H 6478<br />
Satz: Satzstudio S:C:S, Leipzig ,<br />
Druck: Jütte Druck GmbH, Leipzig
Inhaltsverzeichnis<br />
Friedensgebete - Symbol der Befreiung......................................................................................................12<br />
1. Einführende Bemerkungen zur vorliegenden Publikation.........................................................12<br />
2. Friedensengagement, Kirche <strong>und</strong> herrschende Ideologie..........................................................13<br />
3. Frieden als partnerschaftliches Miteinander - Unfrieden als initiierter<br />
„Differenzierungsprozeß“ .........................................................................................................15<br />
4. Tradition, Glaube <strong>und</strong> Basisdemokratie - Quellen des Widerstandes .......................................18<br />
5. Friedensgebete in Leipzig <strong>und</strong> das Ende der DDR ...................................................................21<br />
Editorische Vorbemerkungen......................................................................................................................25<br />
1. Aufbau der Dokumentation.......................................................................................................25<br />
2. Auswahlkriterien <strong>und</strong> zeitliche Abgrenzung.............................................................................25<br />
3. Quellenlage................................................................................................................................26<br />
3.1. Die Akten der SED <strong>und</strong> der staatlichen Behörden ....................................................................27<br />
3.2. Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit ......................................................................28<br />
3.3. Kirchliche Gremien <strong>und</strong> private Quellen ..................................................................................28<br />
Dokumente<br />
Entstehen einer unabhängigen Friedensbewegung am Rande der evangelischen Kirche in der DDR<br />
Dok. 1 R<strong>und</strong>schreiben der Arbeitsgruppe “Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1981.........................32<br />
Dok. 2 Material der AG „Friedensdienst“ für die Friedensdekade 1981...............................................32<br />
Dok. 3 Information des Rates des Bezirkes zur Friedensdekade 1982..................................................34<br />
Dok. 4 Texte des Gottesdienstes während des 1. Leipziger Friedensseminars......................................36<br />
Dok. 5 Protokoll einer Vernehmung durch die Stasi aufgr<strong>und</strong> des Friedensgottesdienstes ..................40<br />
Dok. 6 Bericht vom Rat der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Pfarrern aufgr<strong>und</strong> des<br />
Friedensgottesdienstes...............................................................................................................43<br />
Dok. 7 Einladung des AK „Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1982 .................................................46<br />
Dok. 8 Bericht über eine Stasi-Vernehmung wegen des Plakates der AG ............................................47<br />
Dok. 9 Bericht des Rates der Stadt Leipzig über ein Friedensgebet während der<br />
Friedensdekade 1982.................................................................................................................49<br />
Dok. 10 Auszug aus einer Stasi-Monatsberichtserstattung für November 1982 .....................................50<br />
Dok. 11 Brief vom Rat der Stadt Leipzig an den 1. Sekretär der SED-Stadtleitung mit einem<br />
Bericht über Kerzendemonstrationen........................................................................................51<br />
Dok. 12 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit dem Präsidenten<br />
des Landeskirchenamtes............................................................................................................52<br />
Dok. 13 Auszug aus einer Stasi-Monatsberichtserstattung zum November 1983...................................55<br />
Dok. 14 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über die Friedensdekade 1983.............................59<br />
Dok. 15 Text eines Friedensgebetes im Dezember 1983.........................................................................61<br />
Dok. 16 Text des Friedensgebetes zur Friedensdekade 1984 von der AG „Friedensdienst“ ..................62<br />
Dok. 17 Brief einer Gruppe an die Landessynode vom Februar 1985 ....................................................63<br />
Etablierung der politisch-alternativen Gruppen <strong>und</strong> der Friedensgebete zwischen 1985 <strong>und</strong> 1987<br />
Dok. 18 Einladung von evangelischen Jugendmitarbeitern zu den montäglichen<br />
3
Friedensgebeten von Mitte 1985 ...............................................................................................65<br />
Dok. 19 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig zur Friedensdekade 1985 ............................................65<br />
Dok. 20 Brief von Pf. Berger über die Bildung des Bezirkssynodalausschusses an Sup.<br />
Magirius ....................................................................................................................................72<br />
Dok. 21 Ansprache von Pf. Wonneberger zum Abschluß der Friedensdekade 1986..............................73<br />
Dok. 22 Quartalseinschätzung des MfS zur Gruppe „Frauen für den Frieden“ von Ende 1986 .............74<br />
Dok. 23 Stasi-Information über Pf. Wonneberger von Ende 1986..........................................................76<br />
Dok. 24 Aus dem Liturgieheft der Friedensgebete von Anfang 1987.....................................................78<br />
Dok. 25 Brief Pf. Wonnebergers an die Leipziger Gruppen vom Januar 1987 .......................................79<br />
Dok. 26 Brief von Pf. Führer an den Bezirkssynodalausschuß vom Oktober 1987 ................................79<br />
Dok. 27 Stasi-Information über eine Veranstaltung zur Friedensdekade 1987 .......................................80<br />
Dok. 28 Stasi-Information über ein Gespräch von Sup. Magirius mit dem Stellvertreter des<br />
Oberbürgermeisters ...................................................................................................................82<br />
Dok. 29 Stasi-Information über ein Friedensgebet im Dezember 1987 ..................................................83<br />
Die Solidaritätsbewegung nach Inhaftierung Berliner Bürgerrechtler Anfang 1988 <strong>und</strong> das<br />
Zusammenkommen der Ausreisebewegung mit den politisch-alternativen Gruppen im Friedensgebet<br />
Dok. 30 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an das ZK der SED über den Beginn der<br />
Fürbittgebet im Januar 1988......................................................................................................84<br />
Dok. 31 Stasi-Information über ein Gespräch zwischen H. Reitmann <strong>und</strong> den<br />
Superintendenten.......................................................................................................................84<br />
Dok. 32 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leipzig zu Kirchenfragen<br />
für Januar 1988..........................................................................................................................86<br />
Dok. 33 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 01.02.1988............................................88<br />
Dok. 34 Auszug aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (29.01. bis 05.02.1988) ....................................88<br />
Dok. 35 Perspektivüberlegung von Basisgruppenmitgliedern vom Februar 1988 ..................................90<br />
Dok. 36 Stasi-Information zu einem Bürgerrechtler, der Papiere im Friedensgebet verteilte.................92<br />
Dok. 37 Information der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte an die SED-Bezirksleitung<br />
aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom 26.02.1988...................................................................93<br />
Dok. 38 Information der SED-Stadtleitung aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom 26.02.1988 ............95<br />
Dok. 39 Information des Rates des Bezirkes Leipzig aufgr<strong>und</strong> des Jarowinsky-Papiers vom<br />
26.02.1988.................................................................................................................................97<br />
Dok. 40 Bericht eines inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters über eine kirchliche Beratung aufgr<strong>und</strong><br />
der Jarowinsky-Rede ...............................................................................................................100<br />
Dok. 41 Zwei Texte aus dem Friedensgebet am 14.03.1988.................................................................104<br />
Dok. 42 Information des Stasi-Ministers über die Demonstration am 14.03.1988................................105<br />
Dok. 43 Bericht eines Demonstranten über den Protestmarsch am 14.03.1988....................................109<br />
Dok. 44 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit dem Präsidenten<br />
des LKA am 15.03.1988..........................................................................................................110<br />
Dok. 45 Interner Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 21.03.1988 ................................................111<br />
Dok. 46 Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leipzig zu Kirchenfragen (Februar/März<br />
1988)........................................................................................................................................114<br />
Dok. 47 Predigt von J. Läßig im Friedensgebet am 11.04.1988............................................................119<br />
Dok. 48 Reaktion von OKR Auerbach auf die Läßig-Predigt ...............................................................120<br />
Dok. 49 Texte aus dem Friedensgebet am 18.04.1988 ..........................................................................122<br />
Dok. 50 Vorlage für die Dienstbesprechung des Staatssekretariats für Kirchenfragen am<br />
25.04.1988...............................................................................................................................124<br />
Dok. 51 Stasi-Information über das Friedensgebet am 02.05.1988.......................................................124<br />
Dok. 52 Information des Stasi-Ministers über das Friedensgebet am 02.05.1988 ................................126<br />
Dok. 53 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppe „Kontakte“ vom April<br />
1988.........................................................................................................................................128<br />
4
Dok. 54 Brief eines Ausreisewilligen an Pf. Führer ..............................................................................129<br />
Dok. 55 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppen aus „Kontakte“ Juni<br />
1988.........................................................................................................................................131<br />
Dok. 56 Offener Brief der Arbeitsgruppe „Frieden“ in Leipzig-Gohlis, in dem sie ihre<br />
Mitarbeit an den Friedensgebeten aufkündigen ......................................................................131<br />
Dok. 57 Notizen des Leipziger Stasi-Chefs in Vorbereitung der Bezirkseinsatzleitungssitzung<br />
am 27.06.1988 .........................................................................................................................132<br />
Dok. 58 Notizen eines Stasi-Oberleutnants zur Auswertung der Bezirkseinsatzleitungssitzung<br />
am 27.06.1988 .........................................................................................................................133<br />
Dok. 59 Notizen zu einer Stasi-Dienstberatung Ende Juli 1988............................................................134<br />
Dok. 60 Leserbriefe des Informationsblattes der Leipziger Basisgruppen aus „Kontakte“<br />
August 1988 ............................................................................................................................134<br />
Dok. 61 Brief von Pf. Führer an Pf. Wonneberger, Pf. Berger <strong>und</strong> Sup. Magirius zur<br />
Neuordnung der Friedensgebete..............................................................................................134<br />
Dok. 62 Offener Brief der Jugendkommission der CFK zu den Friedensgebeten.................................135<br />
Dok. 63 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates der Stadt Leip zig zu Kirchenfragen<br />
(Juni/Juli 1988)........................................................................................................................135<br />
Beendigung der von den Gruppen verantworteten Friedensgebete <strong>und</strong> die Auseinandersetzungen darum<br />
Dok. 64 Brief von Sup. Magirius zur Neuordnung der Friedensgebete vom 15.08.1988 .....................137<br />
Dok. 65 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Landeskirchenamtes am 18.08.1988 .......................................................................................138<br />
Dok. 66 Brief von Sup. Magirius an Pf. Wonneberger, mit dem Pf. Wonneberger von der<br />
Organisierung der Friedensgebete entb<strong>und</strong>en wurde ..............................................................139<br />
Dok. 67 Offener Brief von Basisgruppenmitgliedern an Sup. Magirius vom 25.08.1988 ....................139<br />
Dok. 68 Begrüßung Pf. Führers im Friedensgebet am 29.08.1988........................................................140<br />
Dok. 69 Erklärung von Sup. Magirius im Friedensgebet am 29.08.1988..............................................141<br />
Dok. 70 Rede Pfarrer Führers im Friedensgebet am 29.08.1988...........................................................142<br />
Dok. 71 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstands am 29.08.1988..............................................142<br />
Dok. 72 Bericht eines Stasi-Mitarbeiters über das Friedensgebet am 29.08.1988 ................................143<br />
Dok. 73 Brief von Kaplan Fischer an Sup. Magirius.............................................................................144<br />
Dok. 74 Mitschrift aus einer Stasi-Beratung am Morgen des 05.09.1988.............................................144<br />
Dok. 75 Vorwort der Samisdat-Dokumentation „Die Kirche“, die im Friedensgebet am<br />
05.09.1988 verteilt wurde........................................................................................................145<br />
Dok. 76 Offener Brief einiger Basisgruppenmitglieder an Landesbischof Hempel vom<br />
05.09.1988...............................................................................................................................146<br />
Dok. 77 Erklärung einiger Basisgruppenmitglieder zur Friedensgebetsordnung vom<br />
05.09.1988...............................................................................................................................148<br />
Dok. 78 Brief des Rates des Bezirkes Leipzig an den Staatssekretär für Kirchenfragen über<br />
die Friedensgebete...................................................................................................................149<br />
Dok. 79 Polizeibericht über das Friedensgebet am 05.09.1988.............................................................150<br />
Dok. 80 Chiffriertes Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an das ZK über das Friedensgebet<br />
am 05.09.1988 .........................................................................................................................151<br />
Dok. 81 Bericht eines Demonstranten über den Schweigemarsch am 05.09.1988................................152<br />
Dok. 82 Brief an einen Unterzeichner des Offenen Briefes an Bischof Hempel...................................153<br />
Dok. 83 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über Gespräche mit Synodalen des<br />
B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR vom 12.09.1988 ..........................................154<br />
Dok. 84 Telefonprotokoll des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung zu einer Aktion gegen<br />
Ausreisewillige am 12.09.1988...............................................................................................155<br />
Dok. 85 Protokoll der Sitzung des Bezirkssynodalausschusses am 12.09.1988....................................157<br />
Dok. 86 Eingabe von Ausreisewilligen an den Nikolaikirchenvorstand ...............................................158<br />
5
Dok. 87 Bericht eines Stasi-Mitarbeiters u.a. über die Bezirkssynodalausschuß-Sitzung am<br />
12.09.1988...............................................................................................................................160<br />
Dok. 88 Notizen zweier Bürgerrechtler in Vorbereitung eines Gesprächs mit Bischof Hempel ..........164<br />
Dok. 89 Artikel aus den Berliner „Umweltblättern“ zum Leipziger Friedensgebet ..............................164<br />
Dok. 90 MfS-Information über Aktivitäten am Rande des Meetings auf dem Nikolaikirchhof<br />
am 19.09.1988 .........................................................................................................................165<br />
Dok. 91 Information Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Kirchentags-Landesausschusses am 21.09.1988.....................................................................166<br />
Dok. 92 Erklärung der AG „Umweltschutz“ zum Offenen Brief an Bischof Hempel ..........................166<br />
Dok. 93 Sitzungsprotokoll des Bezirkssynodalausschusses am 30.09.1988 .........................................167<br />
Dok. 94 Brief des Bezirkssynodalausschußvorsitzenden an den Kirchenvorstand von St.<br />
Nikolai vom 02.10.1988..........................................................................................................167<br />
Dok. 95 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 03.10.1988..........................................168<br />
Der Nikolaikirchhof als politisches Forum<br />
Dok. 96 Texte aus dem Friedensgebet am 24.10.1988 ..........................................................................168<br />
Dok. 97 Erklärung zu einer Aktion von Gruppenvertretern im Friedensgebet am 24.10.1988.............170<br />
Dok. 98 Stasi-Befragungsprotokoll eines Bürgerrechtlers aufgr<strong>und</strong> dessen Aktivitäten am<br />
24.10.1988...............................................................................................................................170<br />
Dok. 99 Erklärung zweier Leipziger Gruppen zu Stasi-Aktionen.........................................................172<br />
Dok. 100 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Sup. Magirius................173<br />
Dok. 101 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Kirchentags-Landesausschusses vom 03.11.1988...................................................................174<br />
Dok. 102 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 07.11.1988..........................................175<br />
Dok. 103 Auszug aus einem Brief einer Berliner Gruppe von Ausreisewilligen an E. Honecker ..........176<br />
Dok. 104 Flugblatt des Arbeitskreises.....................................................................................................176<br />
Dok. 105 Brief vom Rat des Bezirkes Leipzig an Bischof Hempel vom 11.11.1988 .............................177<br />
Dok. 106 Erklärung von Pf. Führer zu Beginn der Friedensnacht am 11.11.1988..................................178<br />
Dok. 107 Stellungnahme des Arbeitskreises ...........................................................................................179<br />
Dok. 108 Aktennotiz eines Stasi-Mitarbeiters zu einem Gespräch zwischen Sup. Magirius <strong>und</strong><br />
dem Stellvertreter des Oberbürgermeisters .............................................................................179<br />
Dok. 109 Stasi-Information zur Friedensdekade 1988 ............................................................................180<br />
Dok. 110 Telegramm des Rates des Bezirkes Leipzig an den Staatssekretär für Kirchenfragen<br />
zu einem Gespräch mit OKR Auerbach ..................................................................................184<br />
Dok. 111 Erklärung des Arbeitskreises ...................................................................................................185<br />
Dok. 112 Stellungnahme von Pfarrer Führer vom 16.11.1988................................................................185<br />
Dok. 113 Brief von Bischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 15.11.1988.....................................187<br />
Dok. 114 Gesamteinschätzung des Rates des Bezirkes Leipzig zur Friedensdekade 1988.....................188<br />
Dok. 115 Protokoll des Treffens Bischof Hempels mit Vertretern Leipziger Basisgruppen am<br />
21.11.1988...............................................................................................................................190<br />
Dok. 116 Bericht über ein Gespräch zwischen dem Nikolaikirchenvorstand <strong>und</strong><br />
Basisgruppenvertretern............................................................................................................191<br />
Dok. 117 Brief vom Bezirkssynodalausschuß an den Nikolaikirchenvorstand.......................................193<br />
Dok. 118 Beschwerde gegen eine Ordnungsstrafe ..................................................................................193<br />
Dok. 119 Text eines Flugblattes zum „Tag der Menschenrechte“, welches nach dem<br />
Friedensgebet am 05.12.1988 verteilt wurde ..........................................................................194<br />
Dok. 120 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 05.12.1988..........................................195<br />
Dok. 121 Brief des Vorsitzenden des Nikolaikirchenvorstandes an den<br />
Bezirkssynodalausschuß vom 08.12.1988 mit den Gr<strong>und</strong>sätzen einer zukünftigen<br />
Friedensgebetsgestaltung.........................................................................................................196<br />
Dok. 122 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................197<br />
6
Dok. 123 Brief von Ausreiseantragstellern an den Nikolaikirchenvorstand ...........................................200<br />
Dok. 124 Schreiben der Polizeibehörde an einen Bürgerrechtler............................................................201<br />
Dok. 125 R<strong>und</strong>brief von Pf. Wonneberger an die Basisgruppen zu den Gr<strong>und</strong>sätzen der<br />
Nikolaigemeinde .....................................................................................................................201<br />
Dok. 126 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (03.01.1989)...............................................................202<br />
Dok. 127 Staatliches Vorbereitungsmaterial zu einem Staat-Kirche-Gespräch ......................................203<br />
Verschärfung der Auseinandersetzung um die Friedensgebete nach der gelungenen Demonstration am<br />
15.01.1989 <strong>und</strong> in Vorbereitung des Leipziger Kirchentages<br />
Dok. 128 Stellungnahme der beiden Leipziger Superintendenten zum Demonstrationsaufruf der<br />
„Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ vom 16.01.1989...............204<br />
Dok. 129 Auszug aus dem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem Staatssekretär<br />
für Kirchenfragen am 18.01.1989 ...........................................................................................205<br />
Dok. 130 Erklärung der wegen des Demonstrationsaufrufes Inhaftierten, die im Friedensgebet<br />
verlesen wurde.........................................................................................................................205<br />
Dok. 131 Bericht der SED-Stadtleitung über das Friedensgebet am 23.01.1989....................................206<br />
Dok. 132 Information des Staatssekretariates für Kirchenfragen über ein Gespräch mit Bischof<br />
Hempel am 23.01.1989 ...........................................................................................................207<br />
Dok. 133 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />
<strong>und</strong> OKR Auerbach am 25.01.1989 ........................................................................................209<br />
Dok. 134 Brief des Bezirkssynodalausschusses an den Nikolaikirchenvorstand vom 26.01.1989 .........211<br />
Dok. 135 Bericht vom Rat des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch zwischen Staatsanwalt <strong>und</strong><br />
Vertretern der Kirche am 30.01.1989......................................................................................211<br />
Dok. 136 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 13.02.1989..........................................215<br />
Dok. 137 Texte des Friedensgebetes am 27.02.1989...............................................................................215<br />
Dok. 138 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 06.03.1989..........................................219<br />
Dok. 139 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Kirchentagslandesausschusses vom 07.03.1989 .....................................................................220<br />
Dok. 140 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Nikolaikirchenvorstandes am 07.03.1989 ...............................................................................224<br />
Dok. 141 MfS-Information über eine Ausbürgerung vor der Demonstration am 13.03.1989.................225<br />
Dok. 142 Stasi-Bericht über die Demonstration am 13.03.1989 .............................................................225<br />
Dok. 143 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über das Friedensgebet am 13.03.1989 .............227<br />
Dok. 144 Notiz des Rates des Bezirkes Leipzig mit kirchlichen Terminen ............................................228<br />
Dok. 145 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch zwischen dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> Bischof Hempel am 15.03.1989 ..................................228<br />
Dok. 146 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit den Superintendenten<br />
am 17.03.1989 .........................................................................................................................231<br />
Dok. 147 Stasi-Information über westliche Journalisten, die sich an der Demonstration am<br />
13.03.1989 beteiligten .............................................................................................................232<br />
Dok. 148 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................235<br />
Dok. 149 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Theologen der<br />
Leipziger Universität...............................................................................................................236<br />
Dok. 150 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 10.04.1989..........................................237<br />
Friedensgebetsbesucher im Polizeikessel <strong>und</strong> die Etablierung der Montagsdemonstrationen<br />
Dok. 151 Bericht des MfS über einen Schweigemarsch am 01.05.1989.................................................237<br />
Dok. 152 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Kirchentagslandesausschusses am 03.05.1989........................................................................238<br />
Dok. 153 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (07./08.05.1989).........................................................239<br />
7
Dok. 154 Reden der IG „Leben“ im Friedensgebet vom 08.05.1989......................................................239<br />
Dok. 155 Textauslegung von E. Dusdal im Friedensgebet vom 08.05.1989...........................................243<br />
Dok. 156 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 08.05.1989. 318..................................243<br />
Dok. 157 Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 08.05.1989 ..............................................................244<br />
Dok. 158 Stasi-Bericht über die Demonstration am 08.05.1989 .............................................................246<br />
Dok. 159 Stasi-Bericht über die Verhaftungen am 08.05.1989...............................................................247<br />
Dok. 160 Information des Rates der Stadt über das Friedensgebet am 08.05.1989 ................................249<br />
Dok. 161 ADN-Information über Vorgänge in Leipzig am 07. <strong>und</strong> 08.05.1989.....................................250<br />
Dok. 162 Notizen vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes vom 11.05.1989 ......................................251<br />
Dok. 163 Protokoll der Sondersitzung des Nikolaikirchenvorstandes vom 18.05.1989 .........................252<br />
Dok. 164 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit Sup. Magirius am<br />
19.05.1989...............................................................................................................................252<br />
Dok. 165 Stasi-Bericht über die Verhaftungen am 22.05.1989...............................................................254<br />
Dok. 166 Gesprächskonzeption Dr. Reitmanns für zwei Gespräche mit Bischöfen ...............................256<br />
Dok. 167 Brief von Bischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 25.05.1989.....................................258<br />
Dok. 168 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig an das Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />
über das Gespräch mit Bischof Hempel vom 26.05.1989 .......................................................260<br />
Dok. 169 Protokoll einer Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig am<br />
29.05.1989...............................................................................................................................263<br />
Dok. 170 Handschriftliche Aufzeichnungen des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes zur<br />
Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung................................................................266<br />
Dok. 171 Bericht über eine Verhaftung von Bürgerrechtlerinnen...........................................................268<br />
Dok. 172 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen am 30.05.1989 ....................................................................269<br />
Dok. 173 Brief von Landesbischof Hempel an den Rat des Bezirkes vom 31.05.1989 ..........................269<br />
Dok. 174 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (12.06.1989)...............................................................270<br />
Dok. 175 Bericht der SED-Stadtleitung Leipzig über die Demonstration am 12.06.1989......................270<br />
Dok. 176 Auszug aus einem Protokoll einer SED-Parteiaktivtagung zum Vorgehen gegen die<br />
Opposition ...............................................................................................................................271<br />
Dok. 177 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen am 16.06.1989 ....................................................................277<br />
Dok. 178 Fernschreiben des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung an den stellvertretenden<br />
Minister über das Friedensgebet am 19.06.1989.....................................................................278<br />
Dok. 179 Information der Propaganda-Abteilung der SED-Bezirksleitung über ein<br />
Pressegespräch mit Kirchenvertretern.....................................................................................279<br />
Dok. 180 Stasi-Bericht über das Friedensgebet am 26.06.1989 ..............................................................279<br />
Dok. 181 Auszug aus einem Vermerk zur Beratung zwischen Jarowinsky <strong>und</strong> dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen am 27.06.1989 ....................................................................280<br />
Dok. 182 Stasi-Quartalsbericht zu einem Bürgerrechtler ........................................................................281<br />
Dok. 183 Aktennotiz des Chefredakteurs der..........................................................................................282<br />
Dok. 184 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (03.07.1989)...............................................................283<br />
Dok. 185 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 03.07.1989..........................................283<br />
Dok. 186 Fernschreiben des Leiters der Stasi-Bezirksverwaltung an den stellvertretenden<br />
Minister über das Friedensgebet am 03.07.1989.....................................................................284<br />
Dok. 187 Brief des Nikolaikirchenvorstandes an den Staatssekretär für Kirchenfragen.........................285<br />
Dok. 188 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (15.08.1989)...............................................................286<br />
Die Demonstrationen nach dem Herbstmesse-Friedensgebet<br />
Dok. 189 Erklärung von drei Studenten anläßlich eines Protestfastens in der Thomaskirche ................286<br />
Dok. 190 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig an Bischof Hempel ......................................287<br />
8
Dok. 191 Brief des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig an den Nikolaikirchenvorstand....................288<br />
Dok. 192 Bericht des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Vertretern des<br />
Landeskirchenamtes am 22.08.1989 .......................................................................................288<br />
Dok. 193 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 28.08.1989..........................................289<br />
Dok. 194 Brief des Vorsitzenden des Nikolaikirchenvorstandes an den Oberbürgermeister vom<br />
29.08.1989...............................................................................................................................289<br />
Dok. 195 Mitschrift einer Rede des Leipziger Stasi-Chefs am 02.09.1989.............................................290<br />
Dok. 196 Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig über ein Gespräch mit dem<br />
Nikolaikirchenvorstand am 04.09.1989 ..................................................................................290<br />
Dok. 197 Auszug aus dem Zweimonatsbericht des Rates des Bezirkes Leipzig zu<br />
Kirchenfragen (Juli/August 1989)...........................................................................................292<br />
Dok. 198 Bericht der Zentralen Auswertungs- <strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS über das<br />
Friedensgebet am 04.09.1989..................................................................................................294<br />
Inhaftierungen nach dem Friedensgebet <strong>und</strong> Bildung einer Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten<br />
Dok. 199 Auszug aus Mitschrift einer Stasi-Beratung am 11.09.1989....................................................295<br />
Dok. 200 Augenzeugenbericht über den Polizeiterror am 11.09.1989....................................................295<br />
Dok. 201 Bericht über eine Verhaftung nach dem Friedensgebet am 11./12.09.1989 ............................296<br />
Dok. 202 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung über das Friedensgebet am 11.09.1989 .....................298<br />
Dok. 203 Auszug aus dem Protokoll der Tagung der SED-Bezirksleitung am 12.09.1989....................299<br />
Dok. 204 Brief von Sup. Richter an die Pfarrer der Ephorie Leipzig-West ............................................301<br />
Dok. 205 Brief einer Bürgerrechterlin.....................................................................................................302<br />
Dok. 206 Telegramm der Staatsanwaltschaft Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />
am 13.09.1989 .........................................................................................................................302<br />
Dok. 207 Erklärung von Mitgliedern des Neuen Forums Leipzig vom 17.09.1989................................304<br />
Dok. 208 Aktenvermerk von Pf. Führer über die Vorgänge am Abend des 18.09.1989.........................305<br />
Dok. 209 Bericht der Zentralen Auswertungs- <strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS über das<br />
Friedensgebet am 18.09.1989..................................................................................................306<br />
Dok. 210 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (19.09.1989)...............................................................307<br />
Dok. 211 Eingabe aus Forst an den Rat des Bezirkes wegen der Inhaftierungen nach den<br />
Friedensgebete.........................................................................................................................308<br />
Dok. 212 Brief der Suptur Leipzig-Ost an den Rat der Stadt ..................................................................308<br />
Dok. 213 Tonbandprotokoll eines Fürbittgebetes am 21.09.1989...........................................................309<br />
Dok. 214 Protestbrief von Teilnehmern eines Fürbittgebetes vom 22.09.1989.......................................315<br />
Dok. 215 Informationsblatt der Koordinierungsgruppe für die Fürbittandachten ...................................316<br />
Dok. 216 Überlegungen aus dem Bereich Kirchenfragen des Rates des Bezirkes zu den<br />
Friedensgebeten.......................................................................................................................317<br />
Friedensgebet gegen die Gewalt, die erste große Demonstration <strong>und</strong> die Vorbereitung des<br />
Ausnahmezustandes durch die SED<br />
Dok. 217 Tonbandprotokoll des Friedensgebetes am 25. September 1989.............................................318<br />
Dok. 218 Hausinformation des ZK der SED zur Demonstration am 25.09.1989....................................323<br />
Dok. 219 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung zur Demonstration am 25.09.1989 ............................323<br />
Dok. 220 Eingabe eines Pfarrers an den Rat des Bezirkes Leipzig .........................................................324<br />
Dok. 221 Aufzeichnungen zur Sitzung des Sekretariats der SED-Bezirksleitung am 27.09.1989..........324<br />
Dok. 222 Beschluß des Sekretariats der SED-Bezirksleitung vom 27.09.1989 ......................................326<br />
Dok. 223 Bericht des Ersten Sekretärs der SED-Stadtleitung auf der SED-Stadtleitungssitzung<br />
am 28.09.1989 über die Vorgänge an der Nikolaikirche.........................................................328<br />
Dok. 224 Brief von Magirius an den Rat des Bezirkes vom 29.09.1989.................................................329<br />
Dok. 225 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (29.09.1989)...............................................................329<br />
9
Dok. 226 Aus dem Bericht der SED-Gr<strong>und</strong>organisation einer Kompanie der<br />
Bereitschafspolizei ..................................................................................................................330<br />
Dok. 227 Information des MfS über ein Gespräch zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen am 28.09.1989 ....................................................................330<br />
Dok. 228 Texte aus dem Friedensgebet am 02.10...................................................................................331<br />
Dok. 229 Sitzungsprotokoll des Nikolaikirchenvorstandes vom 02.10.1989..........................................333<br />
Dok. 230 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an E. Honecker über die Demonstration am<br />
02.10.1989...............................................................................................................................334<br />
Dok. 231 Brief eines Genossen an das Bezirkskirchenamt Leipzig vom 02.10.1989 .............................336<br />
Dok. 232 Information der Polizei über das Friedensgebet am 02.10.1989..............................................338<br />
Dok. 233 Vermerk Pf. Führers über Informationen, die er am 03.10.1989 erhielt..................................338<br />
Dok. 234 Brief von Pf. Führer an Pf. Ebeling zur Öffnung der Thomaskirche für<br />
Friedensgebete.........................................................................................................................339<br />
Dok. 235 Fernschreiben der SED-Bezirksleitung an E. Krenz vom 05.10.1989.....................................340<br />
Dok. 236 Vermerk des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel am<br />
05.10.1989...............................................................................................................................341<br />
Dok. 237 Befehl des Leipziger Stasi-Chefs vom 06.10.1989..................................................................344<br />
Dok. 238 Aus dem Gästebuch der Nikolaikirche (06.10.1989)...............................................................344<br />
Dok. 239 Information des Rates des Stadtbezirkes Südost Leipzig über einen Gottesdienst am<br />
07.10.1989...............................................................................................................................345<br />
Der 9. Oktober <strong>und</strong> der Beginn der Herbstgesellschaft<br />
Dok. 240 Information des Rates des Bezirkes Leipzig über ein Gespräch mit Bischof Hempel<br />
am 09.10.1989 .........................................................................................................................346<br />
Dok. 241 Aktennotiz des Rates des Bezirkes Leipzig über eine Information von OKR<br />
Auerbach .................................................................................................................................347<br />
Dok. 242 Information zur Lage von der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte vom<br />
09.10.1989...............................................................................................................................348<br />
Dok. 243 Mitschrift aus einer Stasi-Beratung am 09.10.1989, 19.00 Uhr...............................................350<br />
Dok. 244 Einschätzung der SED-Stadtleitung über das Friedensgebet am 09.10.1989 in der<br />
Nikolaikirche...........................................................................................................................350<br />
Dok. 245 Brief vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig an den Vorsitzenden des<br />
Ministerrates über die Demonstration am 09.10.1989 ............................................................352<br />
Dok. 246 Information des Staatssekretärs für Kirchenfragen an das ZK der SED über das<br />
Friedensgebet am 09.10.1989..................................................................................................353<br />
Anhang<br />
Institutionen, Organisationen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
Beratung beim 1. Sekretär......................................................................................................................... 355<br />
Bezirkssynodalausschuß (BSA) ................................................................................................................ 355<br />
Ehrenamtliche Mitarbeiter für Kirchenfragen........................................................................................... 356<br />
Einsatzleitung <strong>und</strong> Mobilmachung............................................................................................................ 357<br />
Gesellschaftliche Kräfte ............................................................................................................................ 359<br />
Kampfgruppen........................................................................................................................................... 360<br />
Kirchenstruktur in Leipzig bzw. Sachsen.................................................................................................. 361<br />
Kirchentag in Leipzig 1989....................................................................................................................... 362<br />
Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis ............................................................................................... 367<br />
10
Kleines Kollektiv....................................................................................................................................... 367<br />
Kommunikationszentrum (KOZ) .............................................................................................................. 369<br />
Konziliarer Prozeß..................................................................................................................................... 370<br />
Montagsdemonstrationen .......................................................................................................................... 370<br />
Entwicklung der Montagsdemonstrationen...............................................................................................374<br />
Olof-Palme-Marsch................................................................................................................................... 375<br />
Pleißemarsch ............................................................................................................................................. 375<br />
Sozialer Friedensdienst (SoFD)................................................................................................................. 376<br />
Spitzengespräch am 6. März 1978 ............................................................................................................ 377<br />
Staatssicherheit in Leipzig......................................................................................................................... 379<br />
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) .................................................................................... 380<br />
Leipziger Gruppen....................................................................................................................... 381<br />
Aktion Sühnezeichen, Bezirksgruppe Leipzig .......................................................................................... 381<br />
Arbeitsgruppe „Konziliarer Prozeß im Vorschulalter“ ............................................................................. 382<br />
Arbeitsgruppe Friedensdienst (AGF) ........................................................................................................ 382<br />
Arbeitsgruppe für Frieden Gohlis.............................................................................................................. 382<br />
Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM).................................................................................................... 382<br />
Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU)........................................................................................................ 382<br />
Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt ........................................................................... 383<br />
Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR.................................................................. 383<br />
Arbeitskreis „Treff für Haftentlassene“..................................................................................................... 383<br />
Arbeitskreis Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung ..................................................................................................... 383<br />
Arbeitskreis Bausoldaten........................................................................................................................... 384<br />
Arbeitskreis Friedensdienst ....................................................................................................................... 384<br />
Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG) ............................................................................................................ 384<br />
Arbeitskreis Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene ................................................................................................. 384<br />
Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK) Leipzig ................................................................................... 384<br />
Christliche Friedenskonferenz (CFK), Kommission Friedensdienst der Jugend (Leipzig) ...................... 385<br />
Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft (DI) ............ 385<br />
Eine Mark für Espenhain........................................................................................................................... 385<br />
Frauen für den Frieden .............................................................................................................................. 386<br />
Friedenskreis Grünau/Lindenau ................................................................................................................ 386<br />
Gesprächskreis „Hoffnung für Ausreisewillige“....................................................................................... 386<br />
Gruppe Neues Denken............................................................................................................................... 386<br />
Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua (IHN) .............................................................................................. 386<br />
Initiativgruppe Leben (IGL)...................................................................................................................... 387<br />
Jugendkonvent Leipzig.............................................................................................................................. 387<br />
Kadenkreis................................................................................................................................................. 387<br />
Kontakte .................................................................................................................................................... 387<br />
Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“................................................................................. 388<br />
Koordinierungsgruppe............................................................................................................................... 388<br />
KOZ-Trägerkreis....................................................................................................................................... 388<br />
Offene Arbeit Mockau............................................................................................................................... 388<br />
Chronik zu den Friedensgebeten <strong>und</strong> politisch-alternativen Gruppen in Leipzig .....................................389<br />
Verzeichnis der aufgesuchten Archive <strong>und</strong> benutzen Akten.....................................................................419<br />
Unlizensierte Publikationen der Basisgruppen..........................................................................................420<br />
Verwendete Literatur.................................................................................................................................420<br />
Personenverzeichnis ..................................................................................................................................425<br />
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................................................435<br />
11
Friedensgebete - Symbol der Befreiung<br />
„Die Welt ist wahr für uns alle, doch verschieden für jeden einzelnen.“ (Marcel Proust) 1<br />
1. Einführende Bemerkungen zur vorliegenden Publikation<br />
Das vorliegende Buch reiht sich nicht ein in die mittlerweile unüberschaubare Flut der Schriften über die<br />
Revolution in Ostdeutschland <strong>und</strong> den damit einhergehenden Zusammenbruch der DDR <strong>und</strong> auch nicht in<br />
die Abhandlungen über die Rolle der Kirchen in der DDR. Das Besondere der vorliegenden Publikation<br />
besteht in der Reichhaltigkeit des Materials, der Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven <strong>und</strong> einer<br />
dadurch möglichen Reflexion. Sie stellt den Versuch dar, ein gesellschaftliches Phänomen innerhalb eines<br />
historisch kurzen Zeitabschnittes in einem überschaubaren sozialen Raum zu rekonstruieren. Es können<br />
also keine generellen Aussagen über die Rolle der Kirche bzw. umfassende Darstellungen selbst der<br />
Ereignisse in Leipzig erwartet werden. Allerdings besteht die begründete Hoffnung, daß hiermit ein<br />
wesentlicher Beitrag vorliegt, der sich jenseits von Gutdünken <strong>und</strong> Vorurteilen auf dieses Ziel zubewegt.<br />
Denn wenn Verstehen geschichtlicher Ereignisse überhaupt möglich sein soll, dann könnte die hier<br />
vorgelegte Auswahl der Dokumente, die Perspektivenvielfalt <strong>und</strong> die differenzierten Deutungsangebote<br />
die besten Voraussetzungen dazu bieten. Der Dokumententeil bringt im einzelnen: kirchliche Quellen<br />
(Originaltexte der Veranstaltungen; Protokolle kirchlicher Gremien; Reflexionen der Kirchenleitungen<br />
<strong>und</strong> Gruppen; Gedächtnisprotokolle Beteiligter), persönliche Aufzeichnungen <strong>und</strong> staatliche Quellen<br />
(öffentliche Verlautbarungen zu obigen Ereignissen; entsprechende interne Protokolle der Staats-, Partei-<br />
<strong>und</strong> Sicherheitsorgane; daraus folgende Anordnungen; operative Pläne).<br />
So kann an einem Ereignis nachvollzogen werden, welch verzweigtes Kapillarsystem der<br />
Kommunikation, welche Mißverständnisse <strong>und</strong> Fehlinterpretationen, welche Vorurteile <strong>und</strong> massiven<br />
Beeinflussungen relevant waren bzw. den stets präsenten Horizont jeder Handlung bildeten. Die<br />
LeserInnen werden damit in die Lage versetzt, die wirklichen Dimensionen selbst zu erk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> zu<br />
eigenständigen Beurteilungen zu gelangen. Um dies zu erleichtern, werden im Anhang Schlüsselbegriffe<br />
erläutert <strong>und</strong> mitunter kurze Erklärungen im Text eingefügt.<br />
In diesem einleitenden Aufsatz sollen vier Problemkreise aus soziologischer Sicht erörtert werden, um<br />
Hilfen zum Verständnis anzubieten. In der Auseinandersetzung mit den Texten stellte sich dies als<br />
besonders dringlich heraus, weil andernfalls mit der Lektüre unbemerkt die Vorurteile befestigt würden,<br />
die historisch produziert <strong>und</strong> manipuliert wurden. Uns leitet dabei die Überzeugung, daß<br />
Erkenntnisgewinn erst möglich wird durch immer wieder neues Aushandeln der jeweiligen<br />
Wirklichkeitsdefinition unter Einbeziehung der subjektiven Erfahrungswelten.<br />
Sicher ist aus der Geschichte nichts zu lernen im Sinne einer Korrektur gesellschaftlicher Großversuche. 2<br />
Möglicherweise aber dadurch, daß raumzeitliche Gesellschaftsstrukturen, imaginäre Institutionen <strong>und</strong><br />
kollektive Handlungsmuster sich aufhellen. Die Handlungssubjekte könnten dann in neuen<br />
Handlungssituationen über differenziertere Einsichten in Handlungsspielräume (Wissen um funktionale<br />
Äquivalente) verfügen. Dies bedeutet die reflexiv gewendete Integration historischer Ereignisse in<br />
aktuelle Problemlagen. Damit ist also nicht eine Vergangenheitsaufarbeitung im Sinne einer Auf- <strong>und</strong><br />
Abrechnung beabsichtigt, sondern Verstehen durch Horizonterweiterung, durch Erkennen eigener<br />
Begrenztheit, aber vor allem im Abbau von Bewußtseinsmüll aus Produktion <strong>und</strong> Distribution der STASI.<br />
Die skrupellose <strong>und</strong> äußerst wirksame Manipulation des Bewußtseins der fernen <strong>und</strong> nahen Beteiligten<br />
durch die Stasi aufzuarbeiten ist ein nicht nur die Bewohner der ehemaligen DDR angehendes Problem.<br />
Im Interesse des Friedens geht es dabei besonders um die Entlarvung der noch überall latenten Folgen der<br />
„Differenzierungsprozesse“. In ihnen wurde Wirklichkeitsdeutung fremdbestimmt, Handeln beeinflußt<br />
<strong>und</strong> Erinnerung - subjektive wie kollektive - präformiert. Dies unselige Werk kann <strong>und</strong> wird fortwirken,<br />
1 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Gefangene 1, Frankfurt 1969, S.254.<br />
2 Dies konnte bereits K. R. Popper überzeugend nachweisen; vgl. Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus.<br />
Tübingen 1965.<br />
12
solange uns die Mechanismen <strong>und</strong> die eigene Betroffenheit verborgen bleiben.<br />
Von einer weiteren Warte aus betrachtet, sollte natürlich der Geheimdienst der ehemaligen DDR keine<br />
Rolle mehr spielen, sondern wir sollten uns fragen (lassen), wie wir mit diesem Rhizom umgegangen sind,<br />
inwieweit wir uns haben erfassen lassen <strong>und</strong> welche Möglichkeiten der Resistenz <strong>und</strong> Läuterung<br />
offenstehen.<br />
2. Friedensengagement, Kirche <strong>und</strong> herrschende Ideologie<br />
Alle menschlichen Aktivitäten sind unlösbar eingeb<strong>und</strong>en in den jeweiligen sozialen Kontext. Das, was<br />
Menschen wissen <strong>und</strong> glauben, wie sie sich verhalten, was sie bevorzugen <strong>und</strong> was sie wie beurteilen, ist<br />
geprägt von der Welt, in der sie leben. Diese Lebenswelt bietet den stets unproblematisch erscheinenden<br />
Hintergr<strong>und</strong> unseres Erlebens <strong>und</strong> Verstehens. Dieses Reservoir alltäglichen Wissens wird uns in den<br />
feinsten <strong>und</strong> unscheinbarsten Formen des Zusammenlebens vermittelt. Es bildet einen Horizont von<br />
Selbstverständlichkeiten, die geprägt sind durch die jeweilige Kultur, durch allgemeine <strong>und</strong> spezielle<br />
Formen der Tradition, durch ideologische Überlagerungen, die in die Lebenswelt einsickern, <strong>und</strong> - in der<br />
Moderne stärker denn je - durch den angebotenen Medienkonsum. Weltdeutungen sind stets<br />
lebensweltlich vermittelt - objektive, extram<strong>und</strong>ane Welterkenntnis ist unmöglich. Alle Sozialität beruht<br />
auf dieser Einbettung in eine Lebenswelt. Individualität kann sich nicht außerhalb herausbilden, sondern<br />
sie ist auf die Interaktionen in der Lebenswelt angewiesen. Das Zentrum der jeweiligen Lebenswelt bildet<br />
der eigene Körper, der Leib. Um ihn schichten sich die Strukturen der Lebenswelt in räumlicher, zeitlicher<br />
<strong>und</strong> sozialer Hinsicht. Niemand kann seine eigene Lebenswelt überschreiten. Es ist lediglich möglich, sie<br />
auszudehnen. Aus dem eben Gesagten geht hervor, daß die Lebenswelten von Menschen nie völlig<br />
kongruent sein können. Auch für Personen, die im gleichen Land leben, bestehen vielfältige<br />
Abweichungen, bei gleichzeitigen Überschneidungen <strong>und</strong> Abhängigkeiten. In Gesellschaften mit geringer<br />
Mobilität <strong>und</strong> Strukturierung gleichen sich die individuellen Lebenswelten stärker als in solchen mit<br />
entgegengesetzten Kennzeichen. Aus diesen Andeutungen zur Theorie der Lebenswelt soll folgendes<br />
deutlich werden: Menschen, die in einem sozialen Raum zusammenleben, sind wesentlich mehr durch ihn<br />
geprägt, als es ihnen bewußt ist. Personen aus deutlich anderen sozialen Bezügen dagegen verfügen nur<br />
begrenzt über das jeweils notwendige Wissen, was zum erfolgreichen Handeln nötig ist. Deutlich wird<br />
dies immer im Falle großer Brüche in der Lebenswelt, wie es individuell durch eine Übersiedlung in ein<br />
anderes Land geschehen kann oder wie wir es momentan auf dem Gebiet der ehemaligen DDR feststellen:<br />
bis dahin gültiges Handlungswissen wird in großem Umfang entwertet, psychische Erkrankungen,<br />
Motivationsverluste <strong>und</strong> Anomien treten gehäuft auf. In diese Zusammenhänge ist die Fähigkeit zur<br />
Deutung von Handlungen eingeschlossen. Dahinter steht die Überzeugung, daß Handlungen selbst keine<br />
Bedeutung eignet, sondern daß es dazu immer einer Interpretation bedarf. Diese Interpretationsleistung<br />
wird wesentlich durch die Strukturen der Lebenswelt beeinflußt: gemeinsame Lebensweltsegmente<br />
befördern. das Verstehen. Die Beurteilung einer fremden Gesellschaft bzw. von Personen, die zur eigenen<br />
Lebenswelt kaum Kontakt haben, beruht notwendig immer auf den eigenen Deutungsmustern <strong>und</strong> nicht<br />
auf denen der Fremdgruppe 3 .<br />
Dies alles ist nun von höchster Relevanz für die Erklärung des Friedensengagements in der DDR, für die<br />
Rolle, die die Kirchen dabei gespielt haben, <strong>und</strong> die Probleme, die heute bei der Beurteilung all dessen<br />
auftauchen. Heute, da das Ende der vierzigjährigen Diktatur der SED vor aller Augen liegt, heute wird es<br />
wichtig, sich erinnern zu lassen, was wir damals gedacht haben 4 . Keineswegs soll damit gesagt sein, daß<br />
3 Inwieweit dies methodisch überhaupt überw<strong>und</strong>en werden kann, soll hier nicht diskutiert werden. Es verweist<br />
aber auf die Versuchungen aller Ethnologie <strong>und</strong> Geschichtsschreibung von außen: Besserwisserei, Bewertung aus<br />
sicherem Abstand <strong>und</strong> aus der eigenen Weltsicht. Dies kann sich souverän <strong>und</strong> weltmännisch geben, ist damit<br />
aber nur lebensweltlich eingeschlossen in eine Sicht, die meint, den Kulminationspunkt menschlicher<br />
Entwicklung darzustellen.<br />
4 Vgl. dazu D. Pollack: Selbstverlust durch Engagement. Das Gift wirkt weiter. Später Triumph der Stasi. In: LMH<br />
5/91, S. 213. D. Pollack erinnert daran, daß nicht nur die DDR-Bürger, sondern die ganze Welt - also auch die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik - den DDR-Staat faktisch anerkannt <strong>und</strong> mit ihm zusammengearbeitet hatte.<br />
13
alle dem gleichen Weltbild anhingen oder sich in gleicher Weise verhalten hätten. Im Gegenteil, es<br />
bestanden f<strong>und</strong>amentale Unterschiede, aber selbst diese waren auf das subtilste aufeinander bezogen, <strong>und</strong><br />
einige der entscheidenden - natürlich gegensätzlich gewerteten - Rahmenbedingungen unserer Existenz<br />
wurden von allen als unproblematisch angesehen <strong>und</strong> geteilt. Textzeugen sind hier wesentlich<br />
unbestechlicher als das eigene Erinnerungsvermögen. Interessant ist beispielsweise, daß selbst unsinnige<br />
<strong>und</strong> perverse Sprachregelungen in die Alltagssprache übernommen wurden. Und erst, wenn dieses<br />
Geflecht in seinem ganzen Ausmaß gesehen wird, erlangen deutlich davon abweichende Erkenntnisse <strong>und</strong><br />
Handlungen die ihnen zustehende Anerkennung. Den LeserInnen der vorgelegten Dokumente ist es an die<br />
Hand gegeben nachzuvollziehen, wie es beispielsweise mit der unbewußten Situationsdefinition aussah.<br />
Welche Chancen wurden einer Reform zugestanden, wer hatte sich gar vom möglichen Zusammenbruch<br />
der Parteidiktatur leiten lassen? Welche Schritte zur Wiedervereinigung bzw. zu einer deutschen<br />
Konföderation wurden in Betracht gezogen? Und wie sah es mit der Bewertung der<br />
Handlungsmöglichkeiten der DDR gegenüber der Sowjetunion, der Kirche gegenüber dem Staat aus?<br />
Hierher gehört auch die Frage, wie die Gruppen ihren eigenen Spielraum eingeschätzt <strong>und</strong> sich als<br />
Opposition verstanden haben. Pauschalisierende <strong>und</strong> nachträgliche Beurteilungen sowohl von Betroffenen<br />
als auch von auswärtigen Beobachtern gehen völlig am Problem vorbei <strong>und</strong> eignen sich lediglich,<br />
Klischees zu befestigen.<br />
Angesagt ist eine detaillierte Analyse der seinerzeit agierenden Gruppierungen 5 - unter Beachtung von<br />
Persönlichkeitsmerkmalen wichtiger Vertreter - vor dem Hintergr<strong>und</strong> eines lebensweltlich vermittelten<br />
Wissens <strong>und</strong> Verhaltens. Nur eine solche Betrachtungsweise bewahrt vor ungerechtfertigten<br />
Vereinnahmungen <strong>und</strong> vor anachronistischen Aburteilungen.<br />
Im Hinblick auf die Gruppen spiegeln sich solche Mißverständnisse beispielsweise in der pathetischschulmeisterlich<br />
vorgetragenen Tautologie, daß man die Gruppen nicht idealisieren solle, denn auch sie<br />
wären beeinflußt gewesen von der herrschenden Ideologie. Natürlich waren auch sie davon geprägt, denn<br />
ein völliges Aussteigen aus den sozialen Lebensräumen war weder möglich noch angestrebt. Bei einigen<br />
Gruppen war lediglich daran gedacht, über subkulturelle Lebensweisen mit solidarischen <strong>und</strong><br />
ökologischen Gr<strong>und</strong>positionen gestaltend auf die Gesamtgesellschaft einzuwirken. Dabei ist von keiner<br />
Gruppierung - soweit bekannt - ernsthaft der Sturz des Regimes betrieben worden. Dokumente in diesem<br />
Sinne sind hier reichlich zu finden. Verwiesen sei auf Joachim Garstecki (im FG vom 11. 11. 84) <strong>und</strong><br />
Jochen Lässig (vgl. Predigt vom 11. 4. 88; vgl. Dokumente 16 <strong>und</strong> 47), die ja beide von jedem Verdacht<br />
frei sind, Apologeten der ostdeutschen Machthaber gewesen zu sein. Regelrecht als Opposition haben sich<br />
die Gruppen größtenteils erst ab Herbst 1988 gesehen (auch dies war ein Bestandteil der lebensweltlich<br />
vermittelten Ideologie: wir sind nicht Opposition zum Sozialismus, sondern entschiedene<br />
Reformbewegung).<br />
In den verschiedenen Gremien der Kirchenleitung war dagegen ein anderes Gr<strong>und</strong>verständnis anzutreffen.<br />
Hier bestanden tendenziell größere Abneigungen gegenüber der Idee des Sozialismus, da dieser oft mit<br />
Kirchenfeindlichkeit identifiziert wurde. Dagegen aber war eine relativ hohe Anerkennung staatlicher<br />
Ordnungsfunktionen anzutreffen. An Reformen waren natürlich auch die Kirchenleitungen interessiert,<br />
aber nur so weit, wie es den mühsam ausgehandelten Status Quo zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat unberührt<br />
ließ. So war es den kirchlichen Exponenten eher unangenehm, von der Gesellschaft gegen den Staat<br />
vereinnahmt zu werden. Sie verwiesen immer wieder darauf 6 , daß die Kirche doch frei sei vom Verdacht,<br />
die Probleme des Staates lösen zu wollen. Das handlungsleitende Interesse der Kirchenleitungen -<br />
gegenüber dem der Gruppen - bestand also nicht in der Herbeiführung von Reformen, sondern in der<br />
Einhaltung der Ergebnisse des Spitzengespräches vom 6. 3. 1978. Alle Kritik <strong>und</strong> jegliche Aktivitäten<br />
mußten sich daran messen lassen, ob sie die formal zuerkannten Rechte der Kirchen auch nicht<br />
gefährdeten. Diese Position kann durchaus als vorsichtiges Taktieren eingeschätzt werden, keinesfalls aber<br />
als Kumpanei, als komplizenhafte Unterstützung eines Unrechtsregimes.<br />
5 Vgl. die weiterführenden Überlegungen bei: Harald Wagner: Kirche, Staat <strong>und</strong> politisch alternative Gruppen.<br />
Engagement zwischen Evangelium <strong>und</strong> Reglementierung. In: Horst Dähn (Hg:): Die Rolle der Kirchen in der<br />
DDR. Eine erste Bilanz. München 1993.<br />
6 Vgl. exemplarisch: Reinhard Henkys: Wenig Zukunftsweisendes. In: KiS 2/1988, S. 41ff.<br />
14
Um diese Behauptung zu stützen, scheint es an dieser Stelle angebracht, einige gr<strong>und</strong>sätzliche Worte zur<br />
Religion zu verlieren. Religion hat menschheitsgeschichtlich immer zwei Gr<strong>und</strong>funktionen zu erfüllen:<br />
eine integrativstabilisierende <strong>und</strong> eine befreiendaufrüttelnde. Beide widersprechen sich nur scheinbar <strong>und</strong><br />
schließen sich nicht aus, sondern bedingen einander gerade. Das wird nur dadurch verdunkelt, daß es<br />
immer wieder kirchliche Machtzentren gibt, die eine Funktion in den Vordergr<strong>und</strong> rücken <strong>und</strong> die andere<br />
mitunter gar bekämpfen. In der Geschichte der christlichen Kirchen - im Gegensatz zur biblischen<br />
Botschaft - bestand fraglos eine Dominanz der integrativ-stabilisierenden Funktion, unstrittig ist auch, daß<br />
dies wiederholt machtpolitisch ausgenutzt, christlicher Glaube also instrumentalisiert wurde. Nie aber war<br />
die andere Stimme völlig verlorengegangen: in allen Zeiten ist das prophetisch-reformatorische Element<br />
anzutreffen. In diesem Sinne kann der Gegensatz von Kirche <strong>und</strong> Gruppen in der DDR nur so verstanden<br />
werden, daß Kirche ohne die Gruppen die ihr obliegende Aufgabe, die Erfüllung der Funktion der<br />
Religion, hätte nicht wahrnehmen können. Die Gruppen sind nicht nur „auch“ Kirche, sondern ohne sie<br />
wäre die Kirche nur ein deformierter Restkörper. Andererseits wären die Gruppen ohne Erfüllung der<br />
integrativ-stabilisierenden Funktion in den Gemeinden <strong>und</strong> Kirchenleitungen nicht in der Lage gewesen,<br />
eine so hohe Akzeptanz <strong>und</strong> Wirksamkeit zu erringen. Kompliziert <strong>und</strong> komplikationsreich wurde die<br />
Situation dadurch, daß die Gruppen gegen Ende der achtziger Jahre nicht mehr nur religiöse Bewegungen<br />
vertraten, sondern teilweise zu ausschließlich politisch motivierten Reformgruppen wurden. Dies aber<br />
hätte keineswegs zu der schroffen Auseinandersetzung führen müssen, wie sie dann auftrat - zumindest<br />
nicht in der Phase der Auseinandersetzung mit dem SED-Regime. Dazu bedurfte es noch eines<br />
zusätzlichen Elements, eines vom Staatsicherheitsdienst manipulierten Differenzierungsprozesses.<br />
3. Frieden als partnerschaftliches Miteinander - Unfrieden als initiierter<br />
„Differenzierungsprozeß“<br />
Es ist ein altes Dilemma, daß Menschen Schwierigkeiten, die sie erdulden müssen - wie z. B.<br />
Arbeitslosigkeit -, als persönliches Versagen ansehen, anstatt die strukturelle Bedingtheit zu erfassen. Im<br />
Ergebnis dessen werden sie durch Schuldkomplexe niedergedrückt, ziehen sich zurück, werden verbittert,<br />
<strong>und</strong> - komplementär dazu - es gelangen die wirklichen Ursachen nicht zur Aufklärung. Natürlich sind<br />
soziale Strukturen immer auch von Menschen getragen, sie sind demzufolge nicht „unschuldig“ an den<br />
manifesten Gesellschaftsstrukturen. Diese Feststellung soll auf die Komplexität der Bedingungen<br />
stalinistischer Herrschaft hinweisen <strong>und</strong> im besonderen auf das Staat-Kirche-Verhältnis. Denn mit dem<br />
SED-Staat <strong>und</strong> den Kirchen lagen Institutionen vor, die in sich jeweils eigenen Strukturen verpflichtet<br />
waren. Diese jeweils aktuelle Form der Koexistenz (die als Möglichkeit vom Kirchenstaat bis zur<br />
kirchenfeindlichen Diktatur reichen kann) beruht auf Überlagerungen der beteiligten Einheiten, wobei<br />
Fragen der Dominanz von entscheidender Bedeutung sind. Ohne hier die Geschichte dieser Beziehung -<br />
mit allen Bedingungen <strong>und</strong> Besonderheiten - aufzeigen zu können, darf konstatiert werden, daß eine<br />
leidliche Akzeptanz (nach beeindruckendem Widerstand in der Gründungsphase der DDR!) der Kirchen<br />
durch den atheistischen Staat vorlag. Die besonderen Kennzeichen waren einerseits in einer Ähnlichkeit<br />
<strong>und</strong> andererseits in einer offenen Konkurrenz gegeben. Das Moment der formalen Vergleichbarkeit<br />
bestand darin, daß beide Institutionen hierarchisch gegliedert waren <strong>und</strong> somit eine kompatible<br />
Kommunikationsweise vertraten. Die Konkurrenz innerhalb ihrer Beziehung ging so weit, daß beide die<br />
andere ausgelöscht hätten, wenn dies ohne größeren Schaden hätte gelingen können. Da das keiner von<br />
beiden möglich war, zeigten sich beide an einem praktikablen Modus vivendi interessiert. Dieses<br />
Gr<strong>und</strong>verhältnis wurde natürlich durch vielfältige andere Interessen - innenpolitische wie außenpolitische<br />
- überlagert, welche die Geschichte der Staat-Kirche-Beziehung dann prägten. Auch innerhalb der Kirche<br />
gab es völlig unterschiedliche Positionen, die von der Abscheu vor einer „Proletendiktatur“ bis zur<br />
völligen Konformität mit den Interessen des Staates reichten. Vergessen werden darf zudem nicht, daß die<br />
Machtverteilung völlig asymmetrisch war, d.h., der Staat verfügte uneingeschränkt über das<br />
Machtmonopol: Neben allen möglichen Schikanen gegenüber der verfaßten Kirche, Benachteiligung von<br />
Christen im alltäglichen Leben <strong>und</strong> allumfassender atheistischer Agitation wurden in besonderer Weise<br />
geheimdienstliche Mittel angewandt, die Kirchen, wenn schon nicht zu vernichten, so sie doch<br />
einzugliedern in die totalitären Strukturen. Was der Staat hier in Gestalt des Geheimdienstes praktizierte<br />
15
<strong>und</strong> mit dem Begriff Differenzierungsprozeß belegte, meinte explizit: Unfrieden schaffen! Die Perversion<br />
dieses Unterfangens ist in der vorliegenden Materialsammlung besonders augenscheinlich, da es sich in<br />
Auseinandersetzung mit der kirchlichen Friedensbewegung in Leipzig äußerte: Frieden wurde in den<br />
Friedensgruppen nicht einfach als Abwesenheit von Krieg gesehen, nicht als die Friedhofsstille der Lüge<br />
<strong>und</strong> des feigen Schweigens. Nein, der Begriff des Friedens wurde aus der Fülle des biblischen Schalom<br />
abgeleitet: als von Gott her kommende Gemeinschaft, die untrennbar aufruht auf Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Solidarität.<br />
In den hier gebotenen Texten staatlicher Institutionen, besonders der Staatssicherheit, taucht der Terminus<br />
Differenzierungsprozeß häufig auf, <strong>und</strong> seine Schlagrichtung ist unverkennbar. Dennoch soll an dieser<br />
Stelle das dahinterstehende Phänomen beleuchtet werden. Auf der rein operativen Ebene handelte es sich<br />
um ein konzertiertes Vorgehen, welches die Zersetzung des Gegners - hier der Kirche - zum Ziel hatte.<br />
Zersetzung meinte, daß diejenigen Personen <strong>und</strong> Gruppen, die in bestimmten Belangen als „brauchbar“<br />
eingeschätzt werden konnten, abgedrängt wurden von solchen, die störend wirkten. Dabei war kein Mittel<br />
zu schade. Gerüchte 7 wurden verbreitet, mißliebige Personen wurden diskreditiert, Konflikte wurden<br />
geschürt, Ereignisse wurden inszeniert, die Bloßstellungen <strong>und</strong> Zerwürfnisse zur Folge hatten. In der<br />
vorliegenden Dokumentation ist dies besonders gut am Vorgehen gegen die Initiativgruppe „Frauen für<br />
den Frieden“ <strong>und</strong> gegen Pfarrer Christoph Wonneberger (vgl. Dokumente: 22, 23, 27f.) zu verfolgen.<br />
Diese formale Seite ist mittlerweile zur Kenntnis genommen 8 , nicht aber die damit einhergehende<br />
Manipulation der Weltwahrnehmung. Wie im vorhergehenden Punkt angedeutet wurde, ist Weltdeutung<br />
<strong>und</strong> Wirklichkeitsinterpretation kein Prozeß, der nach biologisch-mechanistischen Gesetzen verläuft,<br />
sondern es ist eine in lebensweltliche Bezüge eingeb<strong>und</strong>ene Wirklichkeitskonstruktion. Diese ist stets<br />
abhängig von kulturellen Deutungsmustern <strong>und</strong> ist überformt von Ideologien. Herrschende versuchten<br />
fraglos zu allen Zeiten, Einfluß auf diesen Prozeß zu nehmen. Was aber die Staatsicherheit in der DDR<br />
inszenierte, scheint einer anderen Qualität anzugehören. Ihr gelang, was der herrschenden Ideologie<br />
versagt blieb: die Differenzierung, sprich Entzweiung <strong>und</strong> Verfeindung oppositioneller Gruppierungen mit<br />
noch jetzt anhaltender Wirkung. Bemerkenswert an diesem Prozeß ist, daß er in den eigenen Reihen<br />
begann 9 <strong>und</strong> sich fortsetzte über alle möglichen Schattierungen der Abhängigkeit <strong>und</strong> des Dissens. An<br />
dieser Stelle ist es zwar nicht möglich, diese Prozeß-Struktur angemessen darzustellen, aber es soll<br />
zumindest auf dieses Ineinandergreifen hingewiesen werden. Selbstverständlich ist das faktisch nicht<br />
losgelöst zu sehen von der Gesellschaft <strong>und</strong> auch nicht von der lebensweltlichen Bewußtseinsbildung.<br />
Aber meines Erachtens liegt hier ein Phänomen vor, was nicht konturlos im Begriff der Ideologie<br />
aufgelöst werden darf. Denn es ist nicht unwesentlich, mittels welcher Strategien die Herrschaft erhalten<br />
wird bzw. Ideologien implantiert werden. Ich sehe darin letztlich die Voraussetzung zu einer<br />
differenzierten Kenntnisnahme, Aufarbeitung <strong>und</strong> Auseinandersetzung mit den Erscheinungen<br />
stalinistischer Machtausübung. Andernfalls wären weder kulturspezifische Unterschiede für die jeweiligen<br />
Staaten auszumachen noch individuelle Schuldanteile bzw. Rechtfertigungen zu benennen. Es ist in<br />
diesem Zusammenhang lehrreich, einen Blick in „Kaderschmieden“ des Regimes zu werfen, wie sie<br />
beispielsweise mit der Juristischen Hochschule in Potsdam bekannt sind. Dort wurde zielgerichtet auf das<br />
Bewußtsein der späteren Protagonisten des Systems zugegriffen. Erklärtes Ziel war es, „positive<br />
Einstellungen zur Partei der Arbeiterklasse“ zu entwickeln. Auch dort schreckte man nicht vor Lügen,<br />
Verfälschungen <strong>und</strong> Druck zurück: die Studenten erfuhren am eigenen Leib, was sie später an andere<br />
weitergeben sollten.<br />
7 Diese Aufzählung mag banal klingen. Wir wissen aber heute, daß hiermit in rücksichtlos-geplanter Weise<br />
Menschen vernichtet werden sollten <strong>und</strong> wurden. Die Stasi-Krake (<strong>und</strong> dies soll in keiner Weise die Spezies<br />
„Tintenfisch“ diskreditieren) schreckte dabei vor keinem Tabu zurück. Es sind mir Fälle bekannt, wo selbst die<br />
noch nicht schulpflichtigen Kinder Oppositioneller systematisch ausgespäht, analysiert <strong>und</strong> verleumdet wurden.<br />
8 Vgl. dazu: STASI intern. Macht <strong>und</strong> Banalität. Leipzig 1991, bes. S. 198 ff.<br />
9 Auch hinter dieser Behauptung verbergen sich menschliche Tragödien, denen bislang kaum Beachtung geschenkt<br />
wurde. Aber gerade die solchermaßen getäuschten <strong>und</strong> unter Druck gesetzten offiziellen <strong>und</strong> inoffiziellen<br />
Mitarbeiter der Stasi fühlen sich nun doppelt betrogen, wie ich in zahlreichen Gesprächen erfahren konnte. Von<br />
einer Analyse gerade dieser Grauzone wird der Fortgang der kollektiven <strong>und</strong> individuellen<br />
Vergangenheitsaufarbeitung nicht unwesentlich abhängen.<br />
16
Denn Menschen, die direkt mit dem „Gegner“ in Berührung kamen, mußten weitestgehend immun sein<br />
für dessen Argumentation: Bewußtseinsmanipulation der Aktivisten der Differenzierungsprozesse ist die<br />
Voraussetzung für den nächsten Schritt, die Operationalisierung dieser Strategie. Konzeptionelle<br />
Überlegungen dazu bietet eine Schrift dieser Institution 10 , es heißt dort: „Wenn das bisher Dargelegte<br />
[Ausführungen zur ‚historischen Herausbildung des gewaltfreien Widerstandes’ <strong>und</strong> dazugehörige<br />
‚operative Erkenntnisse’] gegenwärtige <strong>und</strong> in nächster Zeit zu erwartende Vorgehen der feindlichnegativen<br />
Personenzusammenschlüsse veranschaulicht <strong>und</strong> deutlich wird, daß durch eine erfolgreiche,<br />
politisch-operative Arbeit alle Formierungsabsichten des <strong>Feinde</strong>s von vornherein zu stören <strong>und</strong> zu<br />
unterbinden sind, um alle Eskalationsabsichten aus vorbeugender Sicht im Keim zu ersticken, soll der<br />
Vollständigkeit halber nur kurz erwähnt werden, daß die Verfechter des gewaltfreien Widerstandes mit<br />
sogenannten Durchbruchsschlachten <strong>und</strong> Massenbewegungen weitere Eskalationsstufen vorgeben, in<br />
dessen Verlauf es zu offenen konterrevolutionären Attacken kommen soll.“ Und: „Politisch-operative<br />
Maßnahmen ... dürfen in der Endkonsequenz nicht ihr Image stärken, <strong>und</strong> Maßnahmen der Zersetzung<br />
feindlich-negativer Zusammenschlüsse müssen mit hoher gesellschaftlicher Wirksamkeit die Auflösung<br />
bewirken, ohne daß es zu Märtyrer-Effekten kommt.“ 11<br />
Das vorliegende Unterrichtsmaterial zeigt, daß wissentlich mit falschen Behauptungen gearbeitet wird,<br />
denn „Durchbruchsschlachten“ gehören keinesfalls zum Repertoire des gewaltfreien Widerstandes.<br />
Darüber hinaus wurde versucht, aus den Schlappen um die Durchsuchung der Umweltbibliothek <strong>und</strong> um<br />
die Affäre anläßlich der Demonstration für Luxemburg <strong>und</strong> Liebknecht zu lernen.<br />
Die nächste Ebene - im Anschluß an die Ausbildung der Akteure -, die im Prozeß der Differenzierung <strong>und</strong><br />
Bewußtseinsmanipulation folgte, betraf die Umsetzung in Strategien innerhalb der Sicherheitsorgane. In<br />
diesem Stadium stand die eigentliche Differenzierung im Mittelpunkt, welche die Spaltung der<br />
oppositionellen Kräfte zum Ziel hatte <strong>und</strong> einherging mit Diskreditierung, Verunsicherung <strong>und</strong> Isolierung.<br />
Für den Bereich der Kirchen ist dies in einem R<strong>und</strong>schreiben Mielkes 12 aus dem Jahre 1978<br />
folgendermaßen fixiert: „Auf der Gr<strong>und</strong>lage der ‚Bearbeitungskonzeption zur weiteren politischoperativen<br />
Bearbeitung politisch-klerikaler Kräfte in der DDR ...’ vom 4. 3. 1975 sind verstärkt<br />
qualifizierte inoffizielle Mitarbeiter in Spitzenpositionen (leitende <strong>und</strong> mittlere Ebene) sowie in<br />
theologischen Ausbildungsstätten zu schaffen. Durch eine qualifizierte politisch-operative Arbeit ist zu<br />
gewährleisten, daß der Differenzierungsprozeß in den Kirchen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften so<br />
vorangetrieben wird, damit die realistisch denkenden Kräfte noch stärker an die humanistische Politik<br />
unserer Partei herangeführt, die Schwankenden gefestigt <strong>und</strong> feindlichnegative Personen gespalten <strong>und</strong><br />
paralysiert werden.“<br />
In der vorliegenden Dokumentation zu den Friedensgebeten in Leipzig ist dann der nächste Wirkungskreis<br />
dieser geheimdienstlichen Praxis anzutreffen - sie erscheint als die sämtliche Handlungen koordinierende<br />
Matrix. Hingewiesen sei hier - auch wiederum exemplarisch - auf die Kontroverse des<br />
Bezirkssynodalausschusses mit der Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“. Die Koordinierung aller<br />
Maßnahmen erfolgte im ZOV „Wespen“ (MfS XV 4113/85). Es handelte sich dabei um einen<br />
Frontalangriff auf eine kleine Frauengruppe, der von den Sicherheitsorganen selbst folgendermaßen<br />
beschrieben wurde 13 : „Zur Gewährleistung der weiteren zielgerichteten, effektiven <strong>und</strong> umfassenden<br />
Bearbeitung der feindlich-negativen Führungskräfte ist die weitere Heranführung <strong>und</strong> Einführung<br />
geeigneter inoffizieller Quellen notwendig. Dazu wird unter anderem die über Schlüsselpositionen<br />
zielgerichtet vorbereitete Veranstaltung im ‚Club der Intelligenz’ Leipzig genutzt. Darüber hinaus werden<br />
10 Hochschuldirektstudium Rechtswissenschaften: Spezialisierungsrichtung 2; Komplex IV; Lesematerial: Die<br />
Nutzung des gewaltfreien Widerstandes durch Kräfte politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit. VVS-o001; JHS-Nr.:<br />
34/89.<br />
11 Ebd. S. 44<br />
12 R<strong>und</strong>schreiben Mielkes vom 19. 4.1978 als: „Information über das Gespräch des Generalsekretärs des ZK der<br />
SED ... Honecker, mit dem Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 6. 3.<br />
1978 <strong>und</strong> einigen sich daraus ergebenden politisch-operativen Problemen.“ Als VVS MfS o009 Nr.: 30/78. In:<br />
BesierJWolf (1991), 301 f.<br />
13 Vgl. B V für Staatssicherheit, Abteilung XX: Quartalsberichterstattung U86 vom 27. März 1986 (ABL H 10)<br />
17
dazu offensive Zersetzungsmaßnahmen eingeleitet <strong>und</strong> realisiert. Durch den Einsatz weiterer inoffizieller<br />
Quellen ist der ständige Überblick über die von den bearbeiteten Personen ausgehenden feindlichnegativen<br />
Pläne <strong>und</strong> Absichten sowie angewendeten Mittel <strong>und</strong> Methoden zu gewährleisten <strong>und</strong> offensive<br />
Maßnahmen zur Vorbeugung feindlicher Angriffe sowie zur weiteren Forcierung der Auseinandersetzung<br />
der Kirche mit den Mitgliedern des Arbeitskreises ‚Frauen für den Frieden’ durchzusetzen.“<br />
Die Schwerfälligkeit der abgedruckten Textpassage steht offenbar in keinem Verhältnis zur operativen<br />
Umsetzung der Beschlüsse. Denn es gelang, die Initiativgruppe „Frauen für den Frieden“ <strong>und</strong> die<br />
Kirchenleitungen zu entzweien - <strong>und</strong> dies offensichtlich lebenslang. Inwieweit in diesem Zusammenhang<br />
die Aktivitäten des IMB „Carl“ (Pfarrer Dr. Berger) eine solche Schlüsselposition darstellt, wäre zu<br />
prüfen. Zu denken wäre dabei an eine entscheidende Sitzung der Leitung des Bezirkssynodalausschusses<br />
vom 27. 2. 1986, über die ein Brief von Dr. Berger vorhanden ist (hier S. 94). Dieses Dokument ist ohne<br />
weiteres als Aufforderung zur Zensur zu lesen, die an den Superintendenten herangetragen wurde.<br />
Alles wäre nur halb so schlimm, wenn wir es dabei belassen könnten, diese Differenzierungsstrategien der<br />
Stasi zu beschreiben. Leider gilt es zu konstatieren - Beispiele lassen sich im vorliegenden Material<br />
genügend finden -, daß sich Menschen haben differenzieren lassen. Gruppen wurden unterminiert.<br />
Menschen wurden diskreditiert <strong>und</strong> ausgegrenzt. Verleumdungen wurden weitergetragen.<br />
Zusammenarbeit wurde aufgekündigt. Mächtige haben ihre - auch mitunter noch so kleine - Macht<br />
benutzt, andere zu reglementieren. Vertrautheit wuchs zum <strong>Feinde</strong> - die zu den Verbündeten, zur<br />
Schwester <strong>und</strong> zum Bruder kehrte sich in Verdächtigungen, in Unfrieden <strong>und</strong> Kampf bis aufs Messer.<br />
Diese Handlungen bleiben bestehen, selbst wenn sich die Einsicht durchsetzen könnte, daß stimmt, was<br />
hier angedeutet wurde. Selbst dazu ist die Hoffnung gering, aber nicht aussichtslos. Ich schreibe das im<br />
Bewußtsein, mich zwischen die Stühle zu setzen, denn: geirrt haben sich immer nur die anderen. Nein, ich<br />
schreibe es in der Hoffnung auf Einsicht <strong>und</strong> Versöhnung.<br />
4. Tradition, Glaube <strong>und</strong> Basisdemokratie - Quellen des Widerstandes<br />
Trotz aller Anstrengungen <strong>und</strong> Perfidie ist es der Stasi nicht gelungen, auch nur eine kleine Zahl der<br />
Akteure im Umkreis um die Friedensgebete - genau wie sonst in der Opposition - zur vorsätzlichen<br />
Zusammenarbeit zu bringen. Die geheimdienstlichen Methoden taugten nicht, Konvertiten zu gewinnen.<br />
Lediglich Außenseiter, infiltrierte Quereinsteiger <strong>und</strong> regelrechte Agenten konnten in die Gruppen<br />
geschleust werden. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die theologischen Fakultäten 14<br />
an den staatlichen Universitäten, aber selbst dort war Resistance allgegenwärtig - auf allen Ebenen ist hier<br />
auf standhafte Frauen <strong>und</strong> Männer zu verweisen =, trotz mächtigen Drucks der universitären Hierarchie.<br />
Dies alles verw<strong>und</strong>ert um so mehr, als in der Gesellschaft die Allgegenwart <strong>und</strong> sogar eine<br />
gesellschaftliche Allmacht der Stasi zum lebensweltlichen Gr<strong>und</strong>wissen gehörte - es war etwas, das jedem<br />
Kind geläufig war, ohne daß es ihm explizit hätte erklärt werden müssen. So gesehen gehört die<br />
Widerstandskraft der Kirchen - im oben beschriebenen umfassenden Sinn - zu den unwahrscheinlichen<br />
<strong>und</strong> darum wahrhaft erklärungsbedürftigen Beständen der Geschichte Ostdeutschlands.<br />
Auch hier soll nicht der Versuch unternommen werden, alle Ursachen aufzuspüren. Das Friedensgebet in<br />
Leipzig <strong>und</strong> sein Umkreis verweisen zumindest deutlich auf drei Phänomene, die entscheidend zur<br />
Standhaftigkeit der kirchlichen Friedensbewegung haben beitragen können:<br />
a. Tradition<br />
Eine soziologische Untersuchung zum Traditionsprozeß in den Kirchen Ostdeutschlands ist für die Zeit<br />
nach dem 2. Weltkrieg noch nicht geschrieben. Auch über die Rolle der Tradenten, über die Personen <strong>und</strong><br />
Institutionen also, die dieses Gut weitergetragen haben, liegen nur spärliche Untersuchungen vor. In den<br />
nachfolgenden Überlegungen sollen einige Bemerkungen zur Pfarrerschaft auf das hier gemeinte<br />
14 Wirklich Erhellendes darf in diesem Zusammenhang von der Dissertation des Leipziger Theologen Edgar Dusdal<br />
erwartet werden. Die mir bereits bekannten Textpassagen lassen mich uneingeschränkt zu der hier gegebenen<br />
Einschätzung stehen.<br />
18
Problemfeld hinweisen. Dabei muß beachtet werden, daß selbst über diese klar beschreibbare Gruppierung<br />
nur spärliche Analysen vorliegen 15 . Was hier gesagt werden kann, ergibt sich aus eigenen Erfahrungen<br />
<strong>und</strong> durch Extrapolationen gesicherter Erkenntnisse: Engagement, politische Präferenzen <strong>und</strong><br />
Reflexionsfähigkeit waren sehr unterschiedlich entwickelt <strong>und</strong> weitgespannt. Keinesfalls hatten sich alle<br />
Pfarrer - später dann auch Pastorinnen - durch politische Ruhmestaten ausgezeichnet, aber dennoch wirkte<br />
das evangelische Pfarrhaus als eines der starken Fermente gegen die Egalisierung der Gesellschaft.<br />
Indirekte Stützung findet diese These in der Praxis der Staatsorgane. Auch in der vorliegenden<br />
Dokumentation wird dies deutlich an den Bemühungen, aus Gesprächen mit den Geistlichen auf die<br />
Stimmung in der Friedensbewegung zu schließen (vgl. z. B. die Befragung Leipziger Pfarrer aus dem<br />
Jahre 1985; vgl. Dokument 19). Diese Vorgehensweise erwies sich zwar in zweifacher Weise als<br />
Trugschluß - viele PfarrerInnen waren nicht aussagefähig, <strong>und</strong> die wirklichen Initiatoren wurden nicht<br />
erfaßt -, widerspiegelt aber die Weltsicht der damaligen proletarischen Machthaber. Der Pfarrerstand<br />
selbst befand sich im allbekannten Dilemma. In einem „Pfarrerspiegel“ aus dem Jahre 1940 wird diese<br />
Befindlichkeit - damals am Beispiel der Arbeiterfrage - bereits deutlich umrissen 16 : „Es ergab sich aus<br />
dem Wesen <strong>und</strong> der Stellung der Kirche, daß der evangelische Pfarrer mit zwiespältigen Gefühlen vor der<br />
Arbeiterfrage stand. Vom Evangelium mußte es ihn drängen, sich der Mühseligen <strong>und</strong> Beladenen<br />
anzunehmen (...), von der Staatskirche her aber war ihm auferlegt, sich schützend vor die Autorität des<br />
Staates zu stellen, die von der revolutionären Arbeiterbewegung immer ernstlicher angefochten wurde.<br />
Dieser Zwiespalt mußte allmählich jedem Pfarrer fühlbar werden, ihn zu beheben, ist der evangelischen<br />
Kirche nicht gelungen. ... <strong>und</strong> dieser Mangel ... stellte jeden evangelischen Pfarrer vor eine von ihm selber<br />
zu verantwortende Entscheidung.“<br />
Dieses Bild, das hier von der Pfarrerschaft in der evangelischen Kirche gezeichnet wird, widerspiegelt das,<br />
was oben mit der Doppelfunktion der Religion beschrieben wurde, aufs genauste <strong>und</strong> deckt sich auch mit<br />
den Ergebnissen der Studie Pollacks. Die Meinungsvielfalt war groß, alle waren letztlich auf sich selbst<br />
verwiesen, um sich zu positionieren. Vom Evangelium her wäre es klar gewesen: sich zuerst für die<br />
Benachteiligten einzusetzen - unabhängig davon, ob das angenehm ist oder ob es nützlich ist für die<br />
Kirche bzw. für das Kirche-Staat-Verhältnis 17 Die PfarrerInnen waren keineswegs immer diejenigen<br />
gewesen, die erkannt hätten, was die Zeichen der Zeit ansagten, dennoch waren sie es, die Oasen in der<br />
Gleichschaltungsideologie des Staates schufen - oder besser: es geschah in ihrem Umkreis: In den<br />
Gruppen der Jungen Gemeinde, in denen der Studenten <strong>und</strong> einfach im Umfeld der Pfarrhäuser. Dort<br />
sammelten sich Menschen, die den Anspruch des Evangeliums ernst nahmen. Diese, größtenteils jungen<br />
Menschen, ließen sich an der Wurzel (lateinisch: radix) ihrer Existenz anfragen - sie wurden radikalisiert.<br />
Oft über das Maß hinaus, das von den Initiatoren intendiert bzw. gewünscht worden war. In der Soziologie<br />
wird dieses Phänomen mit dem Begriff des erfolgreichen Scheiterns 18 umrissen. Widerspiegeln sich in der<br />
15 Herauszuheben ist hier fraglos die Untersuchung einer Leipziger Gruppe unter der Federführung des Theologen<br />
D. Pollak: Ulrike Franke, Andreas Fünfstück, Detlef Pollak, Joachim Rasch, Thomaß Weiß: Der Pfarrer im<br />
Spannungsfeld von Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft. Interviews mit Leipziger PastorInnen vor <strong>und</strong> nach der Wende. In:<br />
Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 47-62.<br />
16 August Winnig: Pfarrer <strong>und</strong> Arbeiter. In: Siegbert Stehmann (Hrsg.): Der Pfarrerspiegel. Berlin-Steglitz 1940; S.<br />
136.<br />
17 Vgl. in diesem Sinne eine Stellungnahme des Arbeitskreises Solidarische Kirche/Regionalgruppe Thüringen vom<br />
20. 1. 1989 zu R<strong>und</strong>briefen des Landesbischofs Leich; dort heißt es: „Es kann nicht Aufgabe der Kirche Jesu<br />
Christi sein, - auch <strong>und</strong> gerade in schwierigen Konfliktsituationen - die formal-juristische Argumentationsweise<br />
der herrschenden Staatsorgane positivistisch zu referieren (...). Vielmehr muß es uns als Christen in erster Linie<br />
darum gehen, die Fragen <strong>und</strong> auch die gesellschaftlichen, politischen <strong>und</strong> seelsorgerlichen Bedrängnisse der<br />
Menschen in diesem Land zu hören, ernstzunehmen <strong>und</strong> uns kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. Das gilt<br />
auch dann noch, wenn wir die Handlungsweise solcher Menschen möglicherweise als Nötigung empfinden.“<br />
(Der Text ist im Archiv Bürgerbewegung einzusehen.)<br />
18 Vgl. Johannes Weyer: System <strong>und</strong> Akteur. Zum Nutzen zweier soziologischer Paradigmen bei der Erklärung<br />
erfolgreichen Scheiterns. In: KZfSuS 1/1993, S. 1-22. Die Gr<strong>und</strong>annahme wird dort (S. 6) folgendermaßen<br />
umrissen: „Soziale Strukturen sind nach diesem Konzept das Produkt zweckgerichteten Handelns <strong>und</strong> darauf<br />
aufbauender (expliziter oder impliziter) Abstimmungsprozesse zwischen Akteuren; sie sind in ihrer Genese nicht<br />
19
Geschichte der Friedensgebete die Bemühungen der verantwortlichen Amtsträger nicht genau in dieser<br />
Weise?<br />
b. Glaube<br />
Ungleich bedeutungsvoller erscheint das zweite Moment: der lebendige Glaube des befreienden<br />
Evangeliums <strong>und</strong> die unmittelbare Erfahrung der Gottesnähe im Gebet.<br />
Das sozialethische <strong>und</strong> ökologische Engagement vieler Christen - in besonderer Weise das der<br />
MitgliederInnen der Basisgruppen - wuchs aus dem Geist, der die Prophetie, den Exodus <strong>und</strong> die<br />
bedingungslose Nächstenliebe (manchmal sogar unter Einschluß der <strong>Feinde</strong>sliebe) kennzeichnet. Solche<br />
Glaubensäußerungen waren selten ausgewogen <strong>und</strong> theologisch bis ins letzte reflektiert 19 . Ihr<br />
Kennzeichen war echte Betroffenheit: angerührtsein vom Leid <strong>und</strong>/oder von Gottes Verheißung. Hier tat<br />
sich eine Sphäre auf, die sich dem Denkhorizont der Machthaber völlig entzog. So verliefen deren<br />
Reaktionen stets auf einer völlig inadäquaten Ebene: sie beschworen kirchenpolitische Entscheidungen<br />
(die Ergebnisse des Gesprächs vom 6. 3. 1978), wo Entscheidungen vor Gott angesagt waren! Nur am<br />
Rande sei vermerkt, daß trotz dieses Klimas auch theologische Entwürfe keimten, die sich an einer<br />
radikalen Schöpfungstheologie, an der Johannäischen Liebesethik <strong>und</strong> an der emanzipatorischen<br />
Kommunikationspraxis Jesu orientierten.<br />
Die Wirkungen des Gebets zu beschreiben ist bis zu einem gewissen Grad unsinnig. Solche Wirkungen<br />
gilt es zu erleben. Um aber auf das Essentielle dieses Phänomens zu verweisen, sei aus einem der ältesten<br />
religiösen Texte, dem Ragveda, zitiert 20 : „Gewaltig ist das Gebet ... das Gebet erhält Himmel <strong>und</strong> Erde,<br />
das Gebet ist für die Götter, das Gebet ist Herr über sie. Auch die getanen Sünden bitte ich durch das<br />
Gebet ab.“ In der modernen Wissenschaft führt die Erwähnung der Transzendenz an den Rand der<br />
Peinlichkeit. Gerade im Bereich der Kirchensoziologie ist dies zu konstatieren. Interessanterweise kommt<br />
die solchermaßen ins Abseits gedrängte Sehnsucht nach dem Jenseitigen in allen möglichen esoterischen<br />
<strong>und</strong> okkulten Spielarten wieder ins Leben der modernen Menschen zurück. Beachtenswert ist darum, daß<br />
bei den Leipziger Friedensgebeten das Moment der Transzendenz - nicht zuletzt als Appellationsinstanz in<br />
ethischen Fragen - stets präsent war. Wie an den vorliegenden Materialien zu ersehen ist, gab es vielfältige<br />
Beschäftigungen mit dem Thema „Frieden“, aber das Montags-Gebet in der Nikolaikirche bildete den<br />
periodisch wiederkehrenden Rahmen einer ethischen, öffentlichen Selbstvergewisserung. Hier liegt ein<br />
nicht zu unterschätzender Kern der moralischen Resistenz, der auch die Moralphilosophien unserer Tage<br />
belehren könnte, daß die Reduktion auf Formalia der Konsensfindung ein zu unsicherer Ersatz ist. Denn in<br />
der Transzendenz erfährt sich der Mensch als bedingtes Lebewesen, als Lebewesen in der Verantwortung<br />
vor dem Sein. Erst aus solchem Erleben erwächst die Kraft des Widerstandes, die Erleuchtung gegen<br />
Verblendung <strong>und</strong> der Mut zum Leben. Innerhalb der Theorie der Lebenswelt erweisen sich solche Impulse<br />
sogar als lebensweltüberschreitend.<br />
c. Basisdemokratie<br />
Mit den beiden gerade erwähnten Faktoren Tradition <strong>und</strong> Transzendenzerfahrung im lebendigen Glauben<br />
bahnt sich eine weitere Evidenz an: Luthers Vorstellung vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen<br />
bildet die theologische F<strong>und</strong>ierung für basisdemokratische Strukturen in der Kirche. Es muß hier<br />
dahingestellt bleiben, ob es gute Gründe gibt, an hierarchischen Strukturen der Kirche in bestimmten<br />
Belangen vorerst festzuhalten 21 . Kein Zweifel aber darf daran bestehen, daß Kommunikation über<br />
ethische Fragen nie über asymmetrische, geschweige hierarchische Strukturen verlaufen darf. Dies ist<br />
von den Interessen der Mitglieder zu trennen, selbst wenn die dann entstehenden Strukturen sich zunehmend<br />
verselbständigen <strong>und</strong> den Individuen als kollektiver Zwang gegenübertreten.“<br />
19 Vgl. hier in der Dokumentation die Kontroversen zwischen Jochen Lässig <strong>und</strong> Beate Schade mit OLKR<br />
Auerbach.<br />
20 RV VI 51,8; zitiert in: Friedrich Heiler: Die Religionen der Menschheit. Stuttgart 1962, S.221.<br />
21 Vom Standpunkt einer systemtheoretisch orientierten Kirchensoziologie wären in diesem Zusammenhang<br />
immerhin funktionalistische Strukturmuster den hierarischen vorzuziehen.<br />
20
nicht nur im Falle unbelasteter Diskurse zu bedenken, sondern gerade auch innerhalb aktueller<br />
Konfliktsituationen. Für Gruppen <strong>und</strong> Organisationen erweisen sich Normen <strong>und</strong> Werte, die von den<br />
Mitgliedern selbst ausgehandelt bzw. immer wieder hinterfragt <strong>und</strong> internalisiert wurden, als sinnstiftend<br />
<strong>und</strong> resistent. Die aktive Einbeziehung der Subjekte erweist sich als stärkender Faktor für die jeweilige<br />
Organisation <strong>und</strong> als starke Motivation für die Subjekte selbst. In Anerkennung dieser Tatsachen wurden<br />
die Gruppen in der DDR zu Recht als emanzipatorische bzw. als sozialisierende Gruppen bezeichnet 22 ,<br />
die Bewegung in eine erstarrte Landschaft brachten. Da Wandel <strong>und</strong> Emanzipation jegliche Struktur in<br />
Frage stellen, besonders aber hierarchisch-verknöcherte, verw<strong>und</strong>ert es nicht, daß von seiten der<br />
Hierarchie - <strong>und</strong> von all denen, die sich im Bestehenden leidlich eingerichtet haben - Skepsis <strong>und</strong><br />
Ablehnung gegenüber den Unruhestiftern auftrat. Es mag Institutionen geben, wo diese Ablehnung<br />
gerechtfertigt ist, für die Kirche kann dies aber nicht gelten. Für sie ist Wandel konstitutiv. Einzig die<br />
lebendige Inkarnation des Wortes Gottes hat das Recht, sich Kirche Jesu Christi zu nennen. Die<br />
basisdemokratisch orientierten Gruppen haben dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. Eine Kirche,<br />
in der solches sich ereignet, darf sich glücklich schätzen, verweist es doch darauf, daß Gottes Geist noch<br />
weht <strong>und</strong> Menschen ergreift. Wenn hierzu immer komplementär das bedacht wird, was oben mit der<br />
Doppelfunktion der Religion beschrieben wurde, dann wird der Beitrag der Gruppen sowohl relativiert als<br />
auch gewürdigt. Denn eine Kirche, die ihre Tradition lebendig erhält, ist widerstandsfähig gegen alle<br />
Vereinnahmungen - böswillige wie gutgemeinte - des Staates oder anderer Mächtiger. In der vorliegenden<br />
Dokumentation wird deutlich, daß zwischen hierarchischen <strong>und</strong> basisdemokratischen Orientierungen ein<br />
echter Konfliktbereich vorliegt 23 . Gegensätzliche Erfahrungen <strong>und</strong> Interessen bestimmen hier eindeutig<br />
die Gewichtung. Glücklicherweise hielt dies spannungsvolle Miteinander in der DDR bis zum Schluß.<br />
Auch das ist ein Phänomen, das ans Unwahrscheinliche grenzt <strong>und</strong> seine Letztbegründung nur im<br />
Transzendenten findet. Denn gewaltig war der Versuch gewesen, beide Gruppierungen zu entzweien:<br />
Gleichgültig wo sich Reformkräfte in der Kirche bemerkbar machten, ob in den Gemeinden, ob in den<br />
Kirchenleitungen oder in den Gruppen, überall setzte die Stasi an mit ihrem Zerstörungswerk. Ihr Ziel war<br />
eine einseitige, systemstabilisierende Kirche. Und es muß hier offen ausgesprochen werden: vielfältige<br />
Bemühungen von Kirchenleitungen zur Ausgrenzung unliebsamer Personen <strong>und</strong> Gruppen arbeiteten<br />
faktisch in die gleiche Richtung. Falsch aber ist es, sie damit als Handlanger <strong>und</strong> Kumpane der<br />
Staatsmacht zu diffamieren. Es war ihr eigenes Interesse 24 - das ihrer Position <strong>und</strong> ihres jeweiligen<br />
Verantwortungsbereiches -, was sie hier vertraten, nicht das des Staates - aber auch nicht das Interesse der<br />
(ganzen) Kirche Jesu Christi.<br />
5. Friedensgebete in Leipzig <strong>und</strong> das Ende der DDR<br />
Sicherlich waren es nicht die Aktivitäten der Gruppen bzw. allgemein der Kirchen, die das Ende der SED-<br />
Herrschaft herbeigeführt haben. Ausschlaggebend waren die verheerende wirtschaftliche Situation, der<br />
politische Bankrott der SED <strong>und</strong> die Reformbewegungen Osteuropas, insbesondere die Perestroika in der<br />
damaligen SU, was wiederum mit der Selbstauflösung des Warschauer Paktes korrespondierte. Dennoch<br />
waren die Reformbewegungen bzw. die Zusammenbruchserscheinungen in Osteuropa keinesfalls<br />
einheitlich. Die Prozesse in Ungarn, Polen, der CSFR <strong>und</strong> in der SU waren von ihren jeweiligen Reform-<br />
Kräften geprägt. Gemeinsam war ihnen nur der Zusammenbruch der „kommunistischen“ Regimes - bei<br />
Beachtung aller gegenseitigen Verflechtungen. Auch in der DDR zeigten sich deutlich eigene Konturen:<br />
Die Partei erwies sich als nicht reformfähig, trotz vielfältiger Reformbestrebungen, die Intelligenz spielte<br />
nicht die Rolle, wie dies in der CSFR bzw. in Polen der Fall war. Der unter- <strong>und</strong> entscheidende Faktor in<br />
der DDR war offensichtlich die Rolle der Kirche. Mit Kirche kann in direkter Weise nur der<br />
22 Vgl. Ehrhard Neubert: Gesellschaftliche Kommunikation im sozialen Wandel. Berlin 1989.<br />
23 Auch dies ist kein neues Problem, denn die zweitausendjährige Kirchengeschichte ist von diesem Gegensatz<br />
durchzogen: als umstrittener Machtanspruch von Zentren (Rom), als Auseinandersetzung um das synodale<br />
Prinzip <strong>und</strong> bereits in divergierenden Auffassungen um kirchliche Ämter.<br />
24 Vgl. zur theoretischen Begründung dieser Zusammenhänge Jürgen Habermas: Erkenntnis <strong>und</strong> Interesse.<br />
Frankfurt/Main 1979.<br />
21
emanzipatorisch-befreiende Teil gemeint sein: die Gruppen in der Kirche <strong>und</strong> die an ihrem Rande. Nur in<br />
indirektem Sinne war es auch die hierarchisch verfaßte Amtskirche als Vertreterin der integrativstabilisierenden<br />
Funktion, indem sie Räume gewährte bzw. sich immer wieder abtrotzen ließ. So gesehen<br />
gehörte auch dieser Teil zu den notwendigen Voraussetzungen der Revolution, denn hätte sie sich nicht<br />
clever genug erwiesen, Sonderräume zu erhalten - wie es in der CSFR oder der SU nicht gelang! -, dann<br />
hätte sie diese auch anderen nicht zur Verfügung stellen können.<br />
Die Friedensgebete in Leipzig sind ein eindrückliches Exempel für diese allgemein formulierten<br />
Zusammenhänge. An der vorliegenden Dokumentation ist abzulesen, wie sich die Friedensbewegung als<br />
eigenständiger Faktor Schritt für Schritt herausbildete, welche Impulse wichtig waren <strong>und</strong> auch, welche<br />
Mißverständnisse <strong>und</strong> Komplikationen auftraten. Das Zersetzungswerk der Stasi ist nachzuverfolgen,<br />
obwohl die detaillierten Verbrechen an der Kirche, an den Gruppen <strong>und</strong> besonders an Personen noch<br />
längst nicht im vollen Ausmaß bekannt sind. Mit dem Beginn des Jahres 1988 verschärften sich die<br />
Konflikte in allen Richtungen in ungeahnter Weise: die „Ausreiser“ erkannten die Möglichkeiten der<br />
Friedensgebete zur Durchsetzung ihrer Interessen. Sie strömten zu H<strong>und</strong>erten in die Nikolaikirche. Die<br />
Gruppen erlangten dadurch einen Grad der Öffentlichkeit, der ihnen vorher völlig verschlossen war. Die<br />
Staatsorgane reagierten hysterisch, d. h., sie waren empört, beschwerten sich bei den Kirchenleitungen<br />
über die Veranstaltungen, fanden aber selbst kein Mittel, sich wirkungsvoll durchzusetzen. Die<br />
Reaktionen der Staatsmacht verwiesen auf den politischen Bankrott der SED. Die „Ausreiser“, die<br />
Menschen also, die mit diesem Land endgültig gebrochen hatten, die keinerlei Hoffnung mehr auf<br />
Reformen setzten, kamen mit starken Erwartungshaltungen zu den Friedensgebeten. Die meisten waren in<br />
keiner Weise vertraut mit kirchlichen Gebräuchen <strong>und</strong> dem christlichen Glauben. Sie erwarteten, daß ihre<br />
Probleme zur Sprache kamen. Beiträge in ihrem Sinne wurden lautstark begrüßt - unabhängig davon, ob<br />
es sich gerade um Ansagen, Meditationen oder Gebete handelte. Auch das motivierte die Gestalter der<br />
Friedensgebete zu harscher Kritik an der Politik der SED, was offenen Beifall von den Rängen, Kritik <strong>und</strong><br />
Reglementierungen von den Kirchenleitungen <strong>und</strong> zügellose Proteste des Staates gegenüber den<br />
Superintendenten <strong>und</strong> dem Landeskirchenamt einbrachte. Die Verantwortlichen in der Kirche - in direkter<br />
Weise war das der Kirchenvorstand von St. Nikolai - versuchten, einen Weg zu finden, der einerseits die<br />
Weiterführung der Friedensgebete ermöglichte, die Anliegen der Ausreiser zwar aufnahm, sie aber<br />
andererseits nicht alleinbestimmend werden ließ <strong>und</strong> damit das Verhältnis zum Staat nicht über Gebühr<br />
belastete. Die Gruppen waren sich uneinig <strong>und</strong> letztlich auch ratlos, wie sie sich verhalten sollten. Denn<br />
die meisten waren thematisch geb<strong>und</strong>en 25 <strong>und</strong> nicht gewillt, sich dem Erwartungsdruck des Publikums<br />
völlig unterzuordnen. Die Kirchenleitung meinte, allein ordinierte Pfarrer wären in der Lage, hier Abhilfe<br />
zu schaffen. Als der zuständige Gebietsdezernent daraufhin die Predigt übernahm, war er konsterniert, daß<br />
die von ihm gewählte Weise, das Evangelium mit der Situation der Besucher zu vermitteln, offensichtlich<br />
weit hinter den Bemühungen der Gruppen zurückblieb 26 . Dies braucht keinesfalls als Schande aufgefaßt<br />
zu werden. Es kann aber als deutliches Indiz gelten für die Einschätzung der Gruppen durch einige<br />
Vertreter kirchenleitender Gremien, denn man wähnte sich kompetenter, in dieser schwierigen Situation<br />
das Evangelium zu verkünden. Dahinter wurde die ständig latente Entmündigung des basisdemokratischen<br />
Engagements offenbar: Die echte Betroffenheit, die prophetische Kraft <strong>und</strong> die moralische<br />
Unbeugsamkeit der Gruppen wurde als lästiger Dilettantismus vor der Staatsmacht empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
mitunter - hier in der Dokumentation ersichtlich - in Kirche-Staat Gesprächen in diesem Sinne<br />
25 Im Gegensatz zu der Behauptung W. Rüddenklaus, der sowohl aus Unkenntnis als auch aus hauptstädtischer<br />
Überheblichkeit spricht; Wolfgang Rüddenklau: Störenfried. ddr-opposition 1986-1989. Berlin 1992, S. 181 f:<br />
,,... reduzierte sich das Anliegen der Leipziger Basisgruppen fast völlig auf bloße Protestaktionen gegen die<br />
jeweilige Politik der Regierung, während die Ostberliner Gruppen stärker inhaltlich bestimmt waren.“<br />
26 Hier muß zumindest angemerkt werden, daß die Gruppen in zahlreichen Diskussionsr<strong>und</strong>en dieses Dilemma zu<br />
lösen versucht hatten. Es waren dabei gr<strong>und</strong>sätzlich-politische Argumentationen einbezogen als auch rein<br />
praktisch-homiletische Erkenntnisse ausgetauscht worden. Die Gruppen hatten also versucht, in offenen<br />
Diskursen ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Die Verärgerung über die Interventionen der Kirchenleitung<br />
ist darum auch so zu verstehen, daß sich die Basis in ihrem Ringen um angemessene Verkündigung in den<br />
Friedensgebeten von der kirchlichen Hierarchie nicht ernst genommen <strong>und</strong> aus dem gemeinsamen Prozeß der<br />
Meinungsfindung ausgeschlossen fühlte.<br />
22
abqualifiziert. Und es war oft genug unprofessionell, was in den von den Gruppen gestalteten Gebeten<br />
ablief, aber es kam aus den Herzen <strong>und</strong> war nicht selten getrieben vom Geist Gottes.<br />
Die Friedensgebete stellten in den letzten beiden Jahren nicht immer theologische Meisterwerke dar. Die<br />
Atmosphäre war selten meditativ <strong>und</strong> gemeinschaftsfördernd. Trotzdem waren die Friedensgebete in<br />
Leipzig das entscheidende Symbol für die Revolution in der DDR. Mir scheint es wichtig, dies<br />
herauszustellen <strong>und</strong> es mit folgenden Hinweisen zu belegen. Die vorgetragenen Elemente waren einzeln<br />
auch an anderen Orten zu finden, aber allein im Leipziger Friedensgebet waren sie alle vereint <strong>und</strong> hatten<br />
- <strong>und</strong> sie tun es noch heute! - dieser Institution ihr einzigartiges Gepräge verliehen:<br />
Die Friedensgebete wirkten als öffentliche Klagemauer mit großer Resonanz.<br />
Sie boten dabei einen kommunikativen Freiraum in der ansonsten geschlossenen Gesellschaft. Es waren<br />
die Gruppen, die den anfangs von der Amtskirche gewährten Raum strukturierten, indem sie ihn zum<br />
internen Austausch <strong>und</strong> zur gesellschaftlichen Wirksamkeit nutzten. Das Ringen um diesen Raum hielt bis<br />
zum Herbst 1989 an. Die Kirche versuchte ihn gegen den übermächtigen Staat zu erhalten, nicht ohne<br />
massiv in die Belange der Gruppen einzugreifen. Was nach außen als Meisterleistung erschien, erlebten<br />
einige im Innern als Bevorm<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> Ausgrenzung <strong>und</strong> zogen demonstrativ aus - als kinetische<br />
Dimension der umfassenden Gesellschaftskritik, die auch vor der Kirche nicht halt machte.<br />
Den Besuchern - <strong>und</strong> gerade denen, die das Land verlassen wollten, - erschienen die Amtskirche <strong>und</strong> die<br />
Gruppen als die einzig Gerechten im Lande. Ihnen allein trauten sie noch zu, für Gerechtigkeit<br />
einzustehen.<br />
Inspiriert wurden die Friedensgebete von der - vielleicht nicht immer geglückten - Beziehung zur<br />
Transzendenz. Dadurch wuchs ihnen die Fähigkeit zu, moralische Instanz zu sein.<br />
In der Regelmäßigkeit des montäglichen Gebets liegt eine nicht zu unterschätzende Komponente der<br />
Publizität <strong>und</strong> Wirksamkeit vor. Damit war gewährleistet, daß anstehende Diskurse lange genug Thema<br />
bleiben konnten <strong>und</strong> sich nicht am nächsten Tag in der Vergessenheit verloren.<br />
Die einstündigen Ruhepunkte mit ihrer angedeuteten Kraft <strong>und</strong> Wirkung bildeten den Ausgangspunkt zur<br />
gemeinsamen Bewegung 27 auf der Straße. Erst damit war die magische Grenze überschritten, die von<br />
einer religiösen Sonderveranstaltung - wenngleich von großer Bedeutung - zur Revolution führte.<br />
Wichtige Impulse setzten hier die beiden Pleiße-Pilgerwege 1988 <strong>und</strong> 1989. Interessanterweise war diese<br />
Bewegung zeitlich dem großen Abwanderungsstrom über Ungarn vorgelagert, wurde aber dann von<br />
dessen Sogwirkung enorm beeinflußt.<br />
In der Phase der Revolution, die überall am Vorabend des 7. Oktober begonnen hatte <strong>und</strong> mit der<br />
Montagsdemo vom 9. Oktober in Leipzig bereits vorentschieden war, stellten die Friedensgebete mit den<br />
anschließenden gewaltigen Demonstrationen auf dem Innenstadtring das einzig wirksame Druckmittel der<br />
gesamten Opposition gegenüber dem Staat an den Verhandlungstischen dar. Bezeichnenderweise hatte der<br />
Leipziger Bezirkschef für Inneres die Basisgruppenvertreter schon am 14. Oktober zu einem Treffen ins<br />
Stadthaus eingeladen - was früher strikt abgelehnt worden war. Dort signalisierte er Gesprächsbereitschaft<br />
für alle anstehenden Fragen. Die einzige Bedingung, die er stellte, war die dringliche Bitte an die<br />
Basisgruppen, alles zu tun, damit am nächsten Montag keine Demonstration stattfinden werde. Selbst<br />
noch an der Hilflosigkeit dieses Anliegens wird deutlich, daß die Herrschenden - trotz totaler Ausspähung<br />
durch die Stasi - nie begriffen hatten, was wirklich lief. Denn es hätte klar sein können, daß es sich um<br />
eine Bewegung handelte, die zwar nicht allein entstanden, aber dennoch führerlos war, d. h. sich um den<br />
Kristallisationspunkt Friedensgebet selbst organisiert hatte: Die Leute würden also so lange kommen, bis<br />
entscheidende Veränderungen realisiert wären. So war das Anwachsen der Teilnehmerzahlen nicht<br />
lediglich statistisch bedeutsam, sondern es war der einzige Garant, die Staatsmacht weiterhin an den<br />
mittlerweile „R<strong>und</strong>en Tisch“ zu zwingen 28 . Nicht von ungefähr versuchte die Staatsführung auch sonst<br />
27 Dieses höchst interessante Phänomen - was gerade für die deutsche (nicht stattgef<strong>und</strong>ene) Revolutionsgeschichte<br />
bedeutsam ist - wurde von Paul Virilio theoretisch ausgearbeitet; vgl. Paul Virilio: Der negative Horizont.<br />
Bewegung/Geschwindigkeit/Beschleunigung. München/Wien 1989.<br />
28 Ich behaupte hier nicht, daß die Demonstrationen in Leipzig wichtiger gewesen seien als die in der übrigen DDR<br />
<strong>und</strong> in Berlin, sondern daß mit den sich wöchentlich selbst organisierenden Demonstrationen im Anschluß an die<br />
Friedensgebete ein Faktor bestand, dem machtpolitisch nicht beizukommen war.<br />
23
alles, um die kritischen Geister von der Straße wegzubringen, wie beispielsweise mit dem scheinheiligen<br />
Angebot zum Dialog montags ab 18 Uhr in allen Hörsälen der Karl-Marx-Universität.<br />
Es braucht hier nicht orakelt werden, welche direkte Wirkung von der Institution Friedensgebet zum Sturz<br />
des SED-Regimes ausging, aber es darf konzediert werden, daß es als das entscheidende Symbol für den<br />
Gestaltungswillen der Bevölkerung in diesem Prozeß stand. Die Losung „Wir sind das Volk“, die erstmals<br />
auf dem Leipziger Ring skandiert wurde, ist der unmittelbare Ausdruck für diese Tatsache.<br />
Heute geht es natürlich nicht darum, Leipzig mit den Attributen einer Heldenstadt auszustaffieren, sondern<br />
sich zu vergegenwärtigen, was denn da alles zusammenlief. Hieran könnten Glücksumstände, erfolgreiche<br />
Interventionen, standhaftes Verhalten, Mißverständnisse, Feigheit, Verrat <strong>und</strong> Verbrechen deutlich<br />
werden. All dies steht noch aus, ist aber unverzichtbar für die Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinne<br />
einer Integration ins Gegenwärtige. Momentan ereignen sich dagegen eher neidvolle Demontagen,<br />
Vertuschungen <strong>und</strong> einseitige Geschichtsinterpretationen - faktisch führt all dies das Zersetzungswerk der<br />
Stasi fort. Die vorliegende Publikation dagegen vermag den aufgeschlossenen LeserInnen aus diesem<br />
Dilemma zu verhelfen. Aneignung der Geschichte kann zum individuellen Klärungsprozeß werden.<br />
Leipzig, im Dezember 1993<br />
Harald Wagner<br />
24
Editorische Vorbemerkungen<br />
1. Aufbau der Dokumentation<br />
Im Dokumententeil werden fast 250 Dokumente - soweit nötig <strong>und</strong> möglich - vollständig wiedergegeben.<br />
Sie sind chronologisch nach ihrem Entstehungszeitpunkt geordnet <strong>und</strong> in Gruppen nach Schwerpunkten<br />
(s. Inhaltsverzeichnis) zusammengefaßt. Unter der Dokumentennummer werden kurze Mitteilungen über<br />
den Kommunikationskontext <strong>und</strong> die Quellen des Dokumentes gegeben. Gibt es mehrere F<strong>und</strong>orte, so ist<br />
der erste angegebene der F<strong>und</strong>ort der verwendeten Vorlage. Es werden alle Angaben zum<br />
Kommunikationskontext wiedergegeben, die auf den Dokumenten zu finden sind. Falls möglich werden<br />
auch Informationen, die zusätzlich zu bekommen waren, mitgeteilt. Anstreichungen, Vermerke usw. auf<br />
den Dokumenten werden mit dem Hinweis auf „Bearbeitungsspuren“ mitgeteilt <strong>und</strong> - sofern die<br />
Herausgeber sie als relevant einstuften - werden diese im Regreß, im Text (eckige Klammern) oder in den<br />
Fußnoten wiedergegeben. Die Dokumente wurden von den Herausgebern vorsichtig überarbeitet, d. h.,<br />
offensichtliche Rechtschreibfehler wurden stillschweigend berichtigt, die Absatzgestaltung wurde im<br />
Interesse einer geschlossenen Präsentation frei gehandhabt. Markante Zeilenwechsel im Dokument<br />
werden dabei mit [/] gekennzeichnet. Von den Herausgebern veranlaßte Kürzungen werden mit [...]<br />
vermerkt <strong>und</strong>, wenn aus dem Zusammenhang nicht ersichtlich, kurz beschrieben. Dort, wo die<br />
Herausgeber in den Text eingegriffen haben, wird es stets durch eckige Klammern [] signalisiert.<br />
Verweise, die zum besseren Verständnis der Dokumente notwendig sind, sind als Fußnoten auf derselben<br />
Seite zu finden. Um diese Verweise <strong>und</strong> Erläuterungen kurzzuhalten, wurde an die Dokumente ein<br />
ausführlicher Anhang angefügt. Einerseits werden in kurzen Artikeln Institutionen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
erläutert, die für das Verständnis der Dokumente von Bedeutung sind <strong>und</strong> allein durch die Dokumente<br />
nicht erschlossen werden können. Andererseits finden sich dort eine ausführliche Chronik, ein Personen-<br />
<strong>und</strong> ein Basisgruppenverzeichnis <strong>und</strong> sechs Strukturpläne für verschiedene Institutionen bzw. deren<br />
Zusammenwirken. Die Chronik stellt die Leipziger Ereignisse in Beziehung zum nationalen <strong>und</strong> teilweise<br />
internationalen Geschehen. Das Gruppenverzeichnis ist zugleich eine kleine Geschichte der Leipziger<br />
Gruppen. Mit Hilfe des Abkürzungs- <strong>und</strong> des Literaturverzeichnisses sind die verwendeten Abkürzungen<br />
zu entschlüsseln. Da die Herausgeber Beteiligte am dokumentierten Geschehen sind, unterlassen sie es,<br />
neben den Dokumenten auch eine „Geschichte“ zu veröffentlichen.<br />
2. Auswahlkriterien <strong>und</strong> zeitliche Abgrenzung<br />
Die Dokumentation ist das Ergebnis einer dreijährigen Recherche, die mit Unterstützung des „Archivs<br />
Bürgerbewegung e.V.“ Leipzig möglich war. Hauptmotiv der Herausgeber (die keine Historiker sind) für<br />
eine Veröffentlichung ist ihr Unbehagen angesichts der öffentlichen Klischees zur Rolle der Kirche <strong>und</strong><br />
der politisch-alternativen Gruppen vor der <strong>und</strong> für die sogenannte Revolution im Herbst 1989. Auch die<br />
Geschichte der DDR zu verstehen setzt voraus, sie aus sich heraus verstehen zu lernen. Dafür sind<br />
Dokumentationen unersetzlich. Die in diesem Buch veröffentlichten Dokumente wurden unter mehr als<br />
tausend unveröffentlichten oder schwer zugänglichen Texten, die im Zusammenhang mit den Leipziger<br />
Friedensgebeten entstanden sind, ausgewählt. Die dabei untersuchten Aktenbestände sind im Anhang<br />
aufgelistet.<br />
Die Friedensgebete waren Anfang <strong>und</strong> Mitte der 80er Jahre ein Ort der Besinnung, Information <strong>und</strong> des<br />
Gebetes der Leipziger Friedensgruppen. An ihnen nahmen nur wenige - meist Christen - teil. Nur im<br />
Rahmen der alljährlichen Friedensdekaden im November besuchten mehr als 30 Personen - teilweise über<br />
1000 Personen - die kirchlichen Veranstaltungen. Nachdem Pf. Wonneberger 1986/87 die Friedensgebete<br />
als Ort der Kommunikation aufzuwerten versuchte, <strong>und</strong> die politisch-alternativen Gruppen ihre<br />
eigenständige Vernetzung ausbauten, gewannen die montäglichen Friedensgebete an Bedeutung. Zum<br />
25
zentralen Ort der politischen Auseinandersetzungen wurden sie jedoch erst, nachdem sich 1988 immer<br />
mehr Ausreisewillige an den Friedensgebeten beteiligten. Im Laufe von sieben Jahren wurde so aus der<br />
intimen Andacht <strong>und</strong> aus dem „Gruppentreff“ ein Forum, in dem die gesellschaftlichen Widersprüche<br />
(wie sonst nur selten in der DDR) artikuliert wurden. Am Rande der Friedensgebete eroberten die<br />
politisch-alternativen Gruppen das Terrain, auf dem dann die Macht der SED effektiv hinterfragt <strong>und</strong> in<br />
Frage gestellt werden konnte: Öffentliche Meetings <strong>und</strong> Demonstrationen. Die Herausgeber versuchten,<br />
gerade diese Entwicklung zu dokumentieren. Ausgewählt wurden dafür Dokumente, die die Herrschafts-<br />
<strong>und</strong> Kommunikationsstrukturen offenlegen. Vor allem, um die Wahrnehmungen <strong>und</strong> Optionen der<br />
Beteiligten (Kirche, Gruppen, Staat, SED, Staatssicherheit ...) in ihrer Spezifik <strong>und</strong> Differenziertheit zu<br />
dokumentieren, sind Schwerpunkte gesetzt worden. So wurden zu einzelnen Ereignissen mehrere<br />
Dokumente ausgewählt, während andere Vorgänge nicht dokumentiert wurden. Ausgewählt wurden<br />
solche Ereignisse, die von mehreren Seiten dokumentiert sind <strong>und</strong> wo die Dokumente deutliche<br />
Interpretations- bzw. Zielunterschiede der damaligen Autoren belegen. Auf diesem Wege soll ermöglicht<br />
werden, DDR-Geschichte auch als Regionalgeschichte in den Blick zu bekommen.<br />
Die spezifische Andachtsform der Friedensgebete entstand aus der liturgischen Erneuerungsbewegung<br />
„Gottesdienst einmal anders“ <strong>und</strong> den Gottesdiensten der Offenen Jugendarbeit <strong>und</strong> der<br />
Bausoldatengruppen in verschiedenen Städten der DDR Mitte der 70er Jahre. Institutionalisiert wurden sie<br />
durch die Einführung der Friedensdekaden 1980. Die Dokumentation beginnt jedoch erst mit Dokumenten<br />
zur Friedensdekade 1981, da den Herausgebern erst ab 1981 Dokumente zur Beteiligung der politischalternativen<br />
Gruppen an den Friedensgebeten zur Verfügung standen. Die Dokumentation endet mit dem<br />
9. Oktober 1989. Dieser Tag bedeutete faktisch das Ende der „geschlossenen Gesellschaft“ DDR<br />
(zumindest für Leipzig!). Nachdem der Repressionsapparat nicht zum Einsatz kam, brach das System aus<br />
Angst <strong>und</strong> Lüge zusammen. Nun war die kommunikative Kompetenz, die z. B. in den Friedensgebeten<br />
erworben wurde, gefragt. Der öffentliche Diskurs zu den „Lebensfragen des Volkes“ konnte beginnen.<br />
Diese „Herbstgesellschaft“ unterschied sich so tief von der DDR-Gesellschaft, daß ihr eine eigene<br />
Dokumentation gewidmet werden müßte.<br />
3. Quellenlage<br />
Zu dokumentieren gibt es nur das, wovon Dokumente vorhanden sind. Diese Binsenweisheit beschreibt<br />
den engen Rahmen, in dem sich die Herausgeber bewegen mußten, weshalb darauf ausführlich<br />
eingegangen werden soll.<br />
Die Leipziger Friedensgebete haben ein großes öffentliches Interesse gef<strong>und</strong>en, so daß es dazu schon<br />
einige Veröffentlichungen gibt. Die wichtigste wurde von führenden Leipziger Kirchenvertretern<br />
herausgegeben (Dona nobis pacem. Fürbitten <strong>und</strong> Friedensgebete Herbst ‘89 in Leipzig). Diese<br />
Dokumentation gibt jedoch nur Texte der Friedensgebete wieder, die Ende 1989 gehalten wurden, <strong>und</strong><br />
diese oft nur unvollständig. Das Gebet vom 25. 09. wurde durch eine Manuskriptseitenvertauschung sogar<br />
entstellt. Das Spezifische der Friedensgebete, einer liturgisch geb<strong>und</strong>enen Gemeindeveranstaltung, bei der<br />
politische Gruppen zu Wort kommen konnten, ist in dieser Dokumentation kaum zu fassen. Eine<br />
Verbindung zwischen dem Geschehen in den Kirchen <strong>und</strong> auf der Straße bzw. in den Herrschaftsetagen<br />
kam kaum in den Blick. Auch verstreute weitere Publikationen (s. Literaturverzeichnis) konnten diesen<br />
Mangel kaum beheben. Die hier vorgelegte Dokumentation versucht diese Lücke zu schließen. Sie bietet<br />
deshalb nur unveröffentlichte oder schwer zugängliche Dokumente.<br />
Auf der Suche nach den Texten ließen sich Archiv- <strong>und</strong> Privatquellen erschließen. Es wurden archivierte<br />
Unterlagen der Räte der Stadt bzw. des Bezirkes Leipzig <strong>und</strong> des Staatssekretariats für Kirchenfragen, die<br />
archivierten Materialien der SED (Kreisleitung, Stadtleitung, Bezirksleitung, Zentralkomitee) <strong>und</strong><br />
außerdem die zugänglichen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit eingesehen. Andererseits wurde -<br />
soweit zugänglich - unter den Protokollen kirchlicher Gremien <strong>und</strong> Publikationen der politischalternativen<br />
Gruppen ausgewählt. Ein wichtiges Ziel des „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ ist es,<br />
Dokumente der DDR-Opposition <strong>und</strong> des zivilen Widerstandes zu sammeln. Dabei fanden sich bei<br />
ehemaligen Basisgruppenmitgliedern auch für diese Dokumentation wichtige Texte.<br />
26
3.1. Die Akten der SED <strong>und</strong> der staatlichen Behörden<br />
Der Umgang mit den Unterlagen von Partei- <strong>und</strong> Staatsorganen (Ausnahme MfS) ist in doppelter Weise<br />
schwierig. Einerseits wurden die Akten nicht nach einheitlichen Registraturordnungen angelegt, sondern<br />
die Abteilungen bzw. Büros hatten eigene Ordnungen. So sind die Akten, die nicht Sitzungsprotokolle<br />
regulärer Gremien sind, in Form von Handakten angelegt worden, deren Umfang sehr unterschiedlich ist.<br />
Andererseits fanden in der Umbruchphase 1989/90 selten geordnete Aktenübernahmen statt. So wurde vor<br />
allem der Handaktenbestand ausgesiebt oder überhaupt nicht archiviert. Prinzipiell sind die archivierten<br />
Sachakten nur ein Teil der ursprünglichen Handakten 29 . Nur in den Fällen, wo Berichte an verschiedene<br />
Stellen gingen, lassen sich manchmal Lücken schließen.<br />
Ende 1989 war regulärer Archivierungstermin für die Büros der SED-Leitungen. So wurde zwischen<br />
September <strong>und</strong> Dezember 1989 ein Großteil ihrer Akten vom Archiv der damaligen Bezirksleitung der<br />
SED(-PDS) übernommen. Eine erste Auswahl fand schon in den SED-Leitungen statt, eine zweite - nur<br />
teilweise protokollierte Kassation - im Archiv der PDS. Die Bestände der Abteilungen Staat <strong>und</strong> Recht<br />
<strong>und</strong> Sicherheitsfragen der SED-Bezirksleitung Leipzig sind für die Jahre ab 1981 so dünn, daß Aussagen<br />
über die Arbeit dieser Abteilungen nur indirekt zu machen sind. Von der SED-Kreisleitung an der<br />
Leipziger Universität gibt es nur noch die Protokolle der Leitungs- <strong>und</strong> Sekretariatssitzungen ... Da die<br />
Akten des Vertreters des ZKs in der SED-Bezirksleitung, des sogenannten „Beschleunigers“, nicht<br />
archiviert wurden, sind vermutlich die Lücken im SED-Aktenbestand nicht weiter zu schließen.<br />
Die Archivierung der staatlichen Akten war ähnlich <strong>und</strong>urchsichtig <strong>und</strong> verlustreich. Für die Archivierung<br />
zuständig war nach DDR-Recht das Verwaltungsarchiv, welches der jeweiligen Abteilung Innere<br />
Angelegenheiten unterstellt war. Da das öffentliche Interesse an einer Aktensicherung in den Räten der<br />
Stadtbezirke, der Stadt <strong>und</strong> des Bezirkes kaum entwickelt war, kam es teilweise überhaupt nicht zu einer<br />
Archivierung der Akten. Der Leipziger Oberbürgermeister wies Ende Mai 1990 aufgr<strong>und</strong> eines<br />
Registraturwechsels die Archivierung sämtlicher Akten im Verwaltungsarchiv an. Eine unabhängige<br />
Kontrolle fand nicht statt. So sind eine Vielzahl der Akten des Stadtarchivs, das seit 1993 für die Akten<br />
der Stadt zuständig ist, zufällige F<strong>und</strong>e. Sämtliche archivierte Akten des Referates Kirchenfragen beim<br />
Rat der Stadt wurden Ende August 1990 von dem Mitarbeiter für Kirchenfragen H. Fenzlau in<br />
neuangelegten Aktenordnern dem Archiv übergeben 30 . Die (noch erhaltenen) Verschlußsachen des<br />
Sektors Geheimnisschutz wurden erst im Mai 1992 dem Archiv übergeben. Das einzige Arbeitsbuch des<br />
Stellvertreters des Oberbürgermeisters wurde auf dem Müll im Rathausinnenhof gef<strong>und</strong>en. Akten der<br />
Stadtbezirksverwaltung Leipzig-Mitte wurden 1992 in verschiedenen Kellerräumen gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
gelangten so ins Stadtarchiv...<br />
Für die Akten der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Bezirkes interessierte sich das<br />
Leipziger Bürgerkomitee schon früh, so daß es Anfang 1990 den Inhalt der Schränke des Stellvertretenden<br />
Vorsitzenden des Rates des Bezirkes versiegeln ließ. Das Verwaltungsarchiv des Rates des Bezirkes<br />
(heute Regierungspräsidium) hat jedoch aus nicht geklärten Gründen nicht alle dieser zeitweise<br />
versiegelten Akten dem Sächsischen Staatsarchiv übergeben (können). Die im Staatsarchiv liegenden<br />
Akten des Referates Kirchenfragen wurden von W. Jakel in einer Form übergeben, die den Verdacht der<br />
Manipulation nahelegt. So finden sich in den Akten gelochte <strong>und</strong> ungelochte Blätter, <strong>und</strong> für die jüngeren<br />
Akten läßt sich kaum eine Ordnung finden; auch hatten die Akten keine Titel...<br />
Ergänzend zu den Akten, die in Leipzig liegen, wurden die Akten der zentralen Behörden ausgewertet.<br />
Die Akten des Staatssekretariats für Kirchenfragen sind vollständig archiviert, jedoch wurden die Akten<br />
der Abteilung I(Sicherheit) vernichtet. Die im allgemeinen genaue Aktenführung im Staatssekretariat für<br />
Kirchenfragen ermöglichte eine gezielte Recherche, dies war bei den Akten des Zentralkomitees der SED<br />
nicht möglich. Die Herausgeber hatten erwartet, daß es eine Vorgangsakte „Friedensgebete“ oder<br />
29 Auch innerhalb der Akten der regulären Gremien lassen sich Lücken feststellen, so fehlen z. B. Beschluß-<br />
Protokolle 47/89 <strong>und</strong> 48/89 des Sekretariats SED-Bezirksleitung (Oktober/November 1989) (StAL SED A 5547<br />
<strong>und</strong> A 5548).<br />
30 Ab 19.11.1989 war der Bereich Kirchenfragen dem Ratsvorsitzenden (Oberbürgermeister) direkt unterstellt<br />
(Festlegung des Vorsitzenden des Ministerrates). Ende September 1990 wurden die Referate Kirchenfragen <strong>und</strong><br />
das Staatssekretariat für Kirchenfragen aufgelöst.<br />
27
„Leipzig“ gibt, doch sowohl die Arbeitsgruppe „Kirchenfragen“ als auch die Politbüromitglieder Krenz<br />
oder Jarowinsky haben keine solche Akten abgeliefert. So sind die Dokumente alle „Zufallsf<strong>und</strong>e“.<br />
Die Akten der Leipziger Polizeibehörden werden für die Übergabe an das Sächsische Staatsarchiv<br />
vorbereitet. Die Dienstvorgänge der „Deutschen Volkspolizei“ sind - anders als bei anderem Behörden,<br />
bei denen ein größerer Personalwechsel stattfand - z. Z. nicht offen zugänglich. Die Akten der Abteilung 1<br />
der Kriminalpolizei <strong>und</strong> deren inoffiziellen bzw. unbekannten Mitarbeiter sind nach Aussagen des<br />
Archivars des Polizeiarchives nie dort archiviert worden, womit die Akten des MfS auch als Quelle zur<br />
Arbeit der Polizei an Bedeutung gewinnen.<br />
3.2. Die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit<br />
Aufgr<strong>und</strong> des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) ist wohl eine wissenschaftliche Auswertung der Stasi-<br />
Unterlagen möglich, doch da in den letzten Jahren vor allem personenbezogene Unterlagen archiviert<br />
wurden, die nur bedingt der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung stehen, sind die nutzbaren MfS-<br />
Akten nur ein schmaler Ausschnitt der noch erhaltenen. Im Zentralarchiv sind die Handakten der<br />
Hauptabteilung XX/4 <strong>und</strong> eine Vielzahl an zentralen Informationen (ZAIG), die u. a. an<br />
Politbüromitglieder gingen, einsehbar. In der Außenstelle Leipzig des B<strong>und</strong>esbeauftragten sind bis heute<br />
(Mai 1994) - neben personenbezogenen Akten - nur die noch erhaltenen Dienstbücher archiviert <strong>und</strong><br />
damit zugänglich. Jedoch ist die Relevanz dieser ca. 4000 Bücher sehr unterschiedlich, <strong>und</strong> ihr Studium<br />
erfordert viel Geduld. Für die Vorgänge um die Friedensgebete sind vor allem einige Bücher der<br />
Abteilung XX <strong>und</strong> ein Buch des Leiters der Bezirksverwaltung von Bedeutung.<br />
Aufgr<strong>und</strong> der noch schlechten Aktenlage kommt den vom Bürgerkomitee hergestellten Kopien von Stasi-<br />
Unterlagen, die sich u. a. im „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ <strong>und</strong> im „Forschungszentrum zu den<br />
Verbrechen des Stalinismus“ (Dresden) befinden, ein hoher Quellenwert zu. Die vom Bürgerkomitee<br />
begonnene Archivierung wurde durch die Behörde des B<strong>und</strong>esbeauftragten nicht übernommen, so daß die<br />
Signatur-Angaben nicht mehr von Nutzen sind. Die Herausgeber geben deshalb nur die F<strong>und</strong>orte der<br />
Kopien an. Aus ihnen lassen sich jedoch zum Teil sichere Aussagen über die Herkunft - d. h. der<br />
aktenführenden MfS-Abteilung - machen. So waren Mitgliedern des Bürgerkomitees zur Auflösung des<br />
MfS 1990 vom Militärstaatsanwalt drei Säcke mit Unterlagen der Auswertungs- <strong>und</strong> Kontrollgruppe zur<br />
„wissenschaftlichen Auswertung“ zugänglich gemacht worden. Diese Unterlagen waren zum Teil<br />
„vorvernichtet“. Die Säcke enthielten vorwiegend Materialien aus „Operativen Vorgängen“, die<br />
vollständig vernichtet werden sollten 31 . Im Ordner H 8 des „Archivs Bürgerbewegung e.V.“ befinden sich<br />
Kopien von Akten, die offensichtlich im Büro des Leiters der Bezirksverwaltung Leipzig, in der Abteilung<br />
IX der Bezirksverwaltung <strong>und</strong> im Referat XX/2 der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS lagen. Im<br />
Ordner H 53 des Archivs Bürgerbewegung sind Kopien von Aktenstücken, die von den Referaten<br />
Kirchenfragen des Rates des Bezirkes oder der Stadt Leipzig erstellt wurden <strong>und</strong> an den Leiter des<br />
Referates XX/4 32 der Bezirksverwaltung des MfS gingen, gesammelt. Vermutlich stammen sie aus der<br />
Akte des Gesellschaftlichen Mitarbeiters Sicherheit (GMS) des MfS „Rat“, W. Jakel. W. Jakel hatte als<br />
operativer Mitarbeiter des Referates XX/4 gearbeitet <strong>und</strong> hielt als Referatsleiter für Kirchenfragen beim<br />
Rat des Bezirkes Leipzig engen Kontakt zum MfS.<br />
Die Herausgeber haben außerdem personenbezogene Akten des MfS hinzugezogen, die ihnen von<br />
Betroffenen zur Verfügung gestellt wurden.<br />
3.3. Kirchliche Gremien <strong>und</strong> private Quellen<br />
Für die Geschichte der Leipziger Friedensgebete sind die Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen der<br />
Gemeinde St. Nikolai - St. Johannis, die Protokolle des Bezirkssynodalausschusses „Frieden <strong>und</strong><br />
31 Kopien von Papieren aus diesen Säcken liegen im „Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“<br />
(Dresden) <strong>und</strong> im ABL H 10 <strong>und</strong> wurden zum Teil von Besier/Wolf (1991) veröffentlicht.<br />
32 Sie tragen durchweg das Kürzel „Co“ für Conrad.<br />
28
Gerechtigkeit“ der Bezirkssynode LeipzigOst <strong>und</strong> Aufzeichnungen des Bezirkskirchenamtes, der<br />
sächsischen Kirchenleitung (Kirchenleitung, LKA, Synode), der Ephorenkonventen <strong>und</strong> des<br />
Landesausschusses für Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag zu den Leipziger Vorgängen von Belang 33 . Weiterhin<br />
von Interesse sind Berichte über Gespräche mit staatlichen Stellen oder Gruppenvertretern <strong>und</strong><br />
Materialien zur Vorbereitung <strong>und</strong> Gestaltung der Friedensgebete.<br />
Die Protokolle des Nikolaikirchenvorstandes sind handschriftlich in ein Buch geschrieben worden, das<br />
beim Vorstandsvorsitzenden liegt. Die Herausgeber erhielten nach mehrmaligem Bitten auf Beschluß des<br />
Vorstandes Einsicht in das Buch <strong>und</strong> Kopien von den Abschnitten, in denen es um die Friedensgebete<br />
ging 34 . Diese fanden zum großen Teil Eingang in diese Dokumentation. Die Protokolle <strong>und</strong> Briefe des<br />
Bezirkssynodalausschusses (BSA), in dem Synodale <strong>und</strong> Basisgruppenvertreter gemeinsam saßen, wurden<br />
durch die Herausgeber von verschiedenen ehemaligen Mitgliedern des BSA zusammengetragen <strong>und</strong><br />
liegen heute im Original oder als Kopie im Archiv Bürgerbewegung. Der Versuch der Herausgeber, Akten<br />
des Landeskirchenamtes oder der Bischofskanzlei der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />
einzusehen, scheiterte am mangelnden „Vertrauen“ des Kirchenleitungskollegiums „zu einzelnen<br />
Leipziger Bürgerrechtlern“ 35 . Die vorhandenen kirchlichen Protokolle über Gespräche mit staatlichen<br />
Stellen, die die Leipziger Superintendenten führten, sind in dem Band „Sorget nicht, was ihr reden<br />
werdet“ 36 veröffentlicht worden. Sie werden nur in den Anmerkungen berücksichtigt.<br />
In verschiedenen Veröffentlichungen sind die Ansprachen der Pfarrer in den Friedensgebeten im<br />
September/Oktober 1989 zu finden 37 . Es fällt jedoch auf, daß die Texte von Gruppenmitgliedern, die<br />
während derselben Andachten verlesen wurden, kaum mit publiziert worden sind 38 . Aus der Zeit davor<br />
wurden noch keine Friedensgebetstexte publiziert. Die Herausgeber haben eine Vielzahl der Pfarrer <strong>und</strong><br />
Gruppenmitglieder über einen Zeitraum von zwei Jahren gebeten, ihre Aufzeichnungen <strong>und</strong> Skizzen zu<br />
den Friedensgebeten zur Verfügung zu stellen. Auf diesem Weg entstand eine kleine Sammlung von<br />
Predigten <strong>und</strong> liturgischen Stücken, die im Archiv Bürgerbewegung (H 1 <strong>und</strong> 55) liegt. Eine Auswahl<br />
daraus zu treffen war besonders schwierig, da die Sammlung kaum repräsentativ zu nennen ist. So fehlen<br />
wichtige Friedensgebete (z. B. 01. 02. 1988, 27. 06. 1988 oder 07. 11. 1988). Die Auswahl wurde dann<br />
folgendermaßen getroffen: Für die Zeit vor 1988 wurden die Gottesdienste ausgewählt, die sich aufgr<strong>und</strong><br />
der Materialdichte am besten dokumentieren ließen, für die Zeit danach, wenn das Friedensgebet eine<br />
große Resonanz fand.<br />
Um die Aktivitäten der politisch-alternativen Gruppen in den Blick zu bekommen, wurden deren<br />
Publikationen 39 <strong>und</strong> Veröffentlichungen in anderen Zeitschriften 40 untersucht. Außerdem wurden die<br />
Materialien, die das „Archiv Bürgerbewegung e.V.“ von verschiedenen Gruppenmitgliedern erhalten <strong>und</strong><br />
archiviert hat, ausgewertet. Eine erste Orientierung gaben die von Gruppenmitgliedern im Februar <strong>und</strong><br />
März 1989 herausgegebenen Chroniken bzw. Dokumentationen „Die Mücke“ 41 <strong>und</strong> „Was war los in<br />
Leipzig“ 42 . Für die Zeit danach war besonders der Nachlaß der Koordinierungsgruppe für die<br />
33 Zu den einzelnen Gremien s. Anhang S.352ff.<br />
34 Die Kopien liegen im ABL H 54<br />
35 so Brief J. Hempel an C. Dietrich vom 13.10.1992<br />
36 Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak<br />
37 Sievers (1990); Hanisch et al. (1990); Kuhn (1992), 35-37 u. ö.<br />
38 s. z.B. Fürbitten der AG Umweltschutz, die sich nicht in Hanisch et al. (1990) finden lassen (abgedruckt in: Zur<br />
Freiheit berufen, hrg. von Jürgen Israel, Berlin 1991, 183 f.)<br />
39 Dazu zählen folgende in Leipzig herausgegebene Zeitschriften <strong>und</strong> Dokumentationen: Streiflichter (1981-89),<br />
Kontakte (1984-89), IHN-Post (1986-89), Anschlag (1984-89), Solidarische Kirche (1988/89), Zweite Person<br />
(1987-90), Die neue Grüne (1989), Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte (1989), Glasnost (1987-89), Messitsch<br />
(1987-89), Sno Boy (1989), Umfeldblätter (1989), Die Kirche (1988), Ostmitteleuropa (1988), Varia (1989), Die<br />
Pleiße (1989), Dokumentation Straßenmusikfestival (1989), Die Mücke (1989) (ABL, Buchkunstmuseum in der<br />
Deutschen Bibliothek Leipzig <strong>und</strong> Privatbesitz).<br />
40 z. B.: Umweltblätter (Ost-Berlin), grenzfall (Ost-Berlin), Arche-Info (Ost-Berlin), Blattwerk (Halle),<br />
Straßenfeger (Quedlinburg), Unkraut (Eilenburg), Ost-West-Diskussionsforum (Düsseldorf)<br />
41 hg. von AG Menschenrechte <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit<br />
42 hg. von C. Dietrich, in: „Solidarische Kirche“ (Februar 1989)<br />
29
Fürbittgebete (Herbst 1989) ergiebig, der fast vollständig im Archiv Bürgerbewegung liegt.<br />
Eine wertvolle Quelle zur öffentlichen Rolle der Friedensgebete bzw. Nikolaikirche sind die Gästebücher<br />
der Nikolaikirche. Die Stadtkirche war täglich zwischen 9.00 Uhr <strong>und</strong> 18.00 Uhr geöffnet. Die „Offene<br />
Kirche“ hatte eine Informationsecke, an der sich jeder z. B. über kirchliche Erklärungen zu politischen<br />
Fragen informieren konnte. Außerdem gab es wechselnde Ausstellungen, z. B. zu Umweltfragen im Raum<br />
Leipzig oder zur Geschichte der Juden in Sachsen ... Die Gästebücher belegen jedoch, daß die Kirche auch<br />
zu einem Pilger- <strong>und</strong> Treffort von Ausreise- <strong>und</strong> Reformwilligen geworden war. Dies vollständig zu<br />
dokumentieren würde den Rahmen der Dokumentation sprengen, deshalb sind nur Eintragungen zu den<br />
Eckdaten ausgewählt worden. Ende Januar 1988 wurde der Protest gegen die Inhaftierungen in Berlin vor<br />
allem in der Kirche artikuliert, <strong>und</strong> im Herbst 1988 verstanden viele Ausreisewillige, daß die<br />
„Gastfre<strong>und</strong>schaft“ der Nikolaikirche keine Selbstverständlichkeit ist. Anläßlich der Polizeiaktionen am<br />
7./8. Mai 1989 wurde die Kirche Zufluchtsort <strong>und</strong> das Gästebuch ein Medium des<br />
Informationsaustausches. Dies verstärkte sich im September 1989. Nun artikulierten einige Besucher ihre<br />
Solidarität mit den Friedensgebeten bzw. mit der Gemeinde. Immer wieder heißt es: „Macht weiter so!“.<br />
Ab 21.09. wurde das Gästebuch zum Medium für Zustimmungserklärungen zum „Neuen Forum“.<br />
Um die Zusammenhänge rekonstruieren zu können, haben die Herausgeber eine Vielzahl an Hinweisen<br />
<strong>und</strong> Materialien von Zeitzeugen erhalten. Teilweise war dies mit wochenlangen Konsultationen<br />
verb<strong>und</strong>en. Für die Ausdauer, Hilfsbereitschaft <strong>und</strong> Freigebigkeit danken wir ihnen.<br />
30
Dokumente
1 Veranstaltungseinladung<br />
Hektographierter Brief, mit dem die Arbeitsgruppe „Friedensdienst“ zur Friedensdekade 1981 einlud (ABL H<br />
55).<br />
Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />
vom 8.-18.11.81 findet die Friedensdekade statt1 . In diesem Zeitraum sollen sich in möglichst vielen<br />
Gemeinden jeden Tag zur gleichen Zeit Menschen zum Friedensgebet treffen. Die Dekade wird mit dem<br />
Bußtagsgottesdienst am 18.11., 19.30 Uhr, in der Nikolaikirche beendet. Wir glauben, daß in einer<br />
politisch so angespannten Situation wie heute das Gebet für den Frieden eine besondere Bedeutung hat.<br />
Der B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen in der DDR wird dazu Material herausgeben . In der Anlage<br />
2 3<br />
möchten wir Anregungen zur thematischen Ausgestaltung der Gebete geben. Wir bitten Euch, nicht nur<br />
mit dem nachfolgenden Plakat 4 zu werben, sondern auch die Abkündigung in den kommenden<br />
Gottesdiensten möglich zu machen. Im Anschluß an den Bußtagsgottesdienst laden wir alle Helfer sehr<br />
herzlich zu einer Auswertung ein.<br />
Im Namen der Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes<br />
2 Friedensgebetstexte<br />
Material für Veranstaltungen, welches von der AG „Friedensdienst“ anläßlich der Friedensdekade 1981<br />
erarbeitet <strong>und</strong> über das Jugendpfarramt an die Leipziger Gemeinden versandt wurde. Die vier Papiere wurden<br />
im Jugendpfarramt vervielfältigt. Handschriftlich wurde „Nur für den kirchl. Dienstgebrauch“ darauf<br />
vermerkt (ABL H 55).<br />
Kriegsspielzeug<br />
Am 8.01.79 schlossen Spielzeugfabrikanten, der schwedische Verbraucherverband <strong>und</strong> der „Spielrat“ (der<br />
die Regierung vertritt) ein Abkommen, das die Herstellung <strong>und</strong> den Verkauf von Kriegsspielzeug in<br />
Schweden untersagt. Mit dieser Kampagne wurde in Schweden ein Beschluß in die Tat umgesetzt, der<br />
anläßlich des europäischen Jugend- <strong>und</strong> Studententreffens 1976 in Warschau gefaßt worden war, um auf<br />
ein Verbot von Kriegsspielzeug zu drängen.<br />
Frieden ist, [/] wenn den Kindern [/] bei dem Wort „Feind“ [/] nichts mehr einfällt.<br />
H.-E. Käufer<br />
− Wie reagiert Ihr, wenn sich Kinder beim Spielen totschießen?<br />
− Können Kinder den Sinn ihres Spieles begreifen?<br />
− Welchen Einfluß haben Presse <strong>und</strong> Fernsehen auf das Spiel von Kindern?<br />
Einige Gründe für die Abschaffung von militärischem Spielzeug<br />
− Militärisches Spielzeug fördert die Vorstellung, daß Gewalt ein übliches <strong>und</strong> sinnvolles Mittel ist, mit<br />
Schwierigkeiten fertig zu werden. Diese Vorstellung kann im Erwachsenenalter schädliche Folgen für<br />
das Zusammenleben mit anderen haben.<br />
− Militärisches Spielzeug stellt Krieg als etwas Harmloses dar. Krieg heute bei uns würde aber in<br />
1 Die erste FD fand 1980 unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ statt. Sie war Ausdruck einer neuen<br />
Gestaltung der „besonderen Gemeinschaft“ der ev. Kirchen in beiden deutschen Staaten (z.B.: gemeinsame<br />
Liturgien, inhaltliche Absprachen über das neugeschaffene gesamtdeutsche Gremium „Konsultativgruppe“ bei<br />
EKD <strong>und</strong> BEK ...). In Leipzig gab es während der FD 1980 eine Unterschriftensammlung zur Fortsetzung der FD<br />
an die Kirchenleitung <strong>und</strong> einige Jugendliche, die verschiedene Elemente der FD demonstrativ übernahmen. So<br />
verweigerten Schüler am Buß- <strong>und</strong> Bettag für eine Minute die Mitarbeit im Unterricht anläßlich der geplanten<br />
„Schweigeminute“, so daß staatliche Stellen den Pfarrern <strong>und</strong> kirchlichen Jugendmitarbeitern Aufruf zum Streik<br />
(in Parallele zu Polen!) vorwarfen.<br />
2 Das Material für die FD 1981 wurde von der Arbeitsgemeinschaft christlicher Jugend in der DDR erarbeitet <strong>und</strong><br />
vom Sekretariat des BEK herausgegeben.<br />
3 s. Dok. 2<br />
4 Das Plakat konnte von den Herausgebern noch nicht gef<strong>und</strong>en werden.<br />
32
Wirklichkeit Massenvernichtung bedeuten.<br />
− Es besteht ein Widerspruch zwischen dem Bemühen vieler Politiker um Rüstungsbegrenzung <strong>und</strong><br />
Abrüstung auf der einen Seite <strong>und</strong> der spielerischen Vorbereitung von Kindern auf Krieg auf der<br />
anderen Seite.<br />
− Die Abschaffung des militärischen Spielzeugs würde die militärische Sicherheit der DDR nicht<br />
beeinträchtigen. Sie wäre aber ein Beitrag zur Entspannung <strong>und</strong> eine indirekte Unterstützung der<br />
Friedensbewegung in westlichen Ländern.<br />
− Kinder sind durch ihre geringe eigene Erfahrungswelt noch sehr beeinflußbar <strong>und</strong> biegsam.<br />
− Sie glauben voller Vertrauen, was ihnen Erwachsene erzählen.<br />
− Da sie in vereinfachten Kategorien „gut <strong>und</strong> böse“ denken, können Kinder bei noch wenig entwickelter<br />
Kombinationsgabe keine Zusammenhänge erkennen.<br />
Zivilverteidigung<br />
Quelle: Lehrbuch Zivilverteidigung für Klasse 9 [/]<br />
„Schutzmaßnahmen vor den Wirkungsfaktoren der Kernwaffen“<br />
− Den wirksamsten Schutz bietet in jedem Falle der entsprechend vorbereitete Schutzraum.<br />
− In freiem Gelände wirft man sich sofort auf den Erdboden. Dabei zeigen die Füße in Richtung des<br />
Detonationszentrums. Die Hände werden zum Schutz des Kopfes in den Nacken gelegt. Zum Schutz<br />
der Atmungsorgane bleibt der M<strong>und</strong> geschlossen.“<br />
Zitat aus „Wissenschaftliche Welt“ 4/1980, Berlin: Bericht der medizinischen Arbeitsgruppe der 30.<br />
Pugwash-Konferenz<br />
Aufgr<strong>und</strong> der Detonations-, Hitze- <strong>und</strong> Strahlenwirkung wären Schutzbunker in Städten, die mit<br />
Kernwaffen angegriffen würden, wertlos. Bunker, die sich 10 km weit vom Explosionsort einer 1-<br />
Megatonnenbombe befänden, würden sich in Öfen verwandeln, in denen die Insassen bei den<br />
Großbränden an der Erdoberfläche verschmoren <strong>und</strong> ersticken würden. In größeren Entfernungen würden<br />
Bunker nur zeitweiligen Schutz gegen den hochradioaktiven Fall-out bieten. Überlebende würden aus den<br />
Bunkern in eine Welt heraufkommen, die einem Alptraum gliche: Wasser wäre ungenießbar,<br />
Nahrungsmittel wären radioaktiv verseucht <strong>und</strong> das ökonomische, ökologische <strong>und</strong> soziale Gefüge, von<br />
dem das Leben der Menschen abhängt, wäre zerstört. Den Überlebenden würden Epidemien drohen, denn<br />
überall lägen Leichen <strong>und</strong> Tierkadaver unbestattet herum. Viren, Bakterien, Pilze <strong>und</strong> Insekten, die<br />
gegenüber der Radioaktivität hochresistent sind, nähmen enorm zu, <strong>und</strong> die Widerstandskraft des<br />
menschlichen Organismus gegenüber Infektionen wäre durch die ionisierende Strahlung stark<br />
herabgesetzt.<br />
Kernwaffen haben eine so verheerende Wirkung auf die menschliche Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> das Leben, daß sie<br />
nie zum Einsatz kommen dürfen. Die einzige Möglichkeit, die Menschen vor ihren medizinischen<br />
Konsequenzen zu schützen, besteht darin, den Atomkrieg zu verhindern. Das ist die einzige Alternative.<br />
Gebet:<br />
Herr, du unser Gott, mit diesen Kernwaffen haben wir uns eingedeckt, sie reichen, um unsere <strong>und</strong><br />
deine Erde mehrmals zu zerstören!<br />
Herr, wir sind verzweifelt <strong>und</strong> suchen nach Wegen, das zu verhindern, wo sind diese Wege? Uns<br />
fällt das Suchen danach oft sehr schwer, <strong>und</strong> die Hoffnungslosigkeit erdrückt uns fast. Alles ist<br />
voll von falschen Informationen. Jedes System erdenkt sich Schutzmaßnahmen, die keine sind <strong>und</strong><br />
um uns zu beruhigen, um die Wahrheit zu vertuschen.<br />
Herr, Du unser Gott, zu dir rufen wir jetzt in dieser St<strong>und</strong>e. Hilf uns, Wege zum Frieden zu finden,<br />
hilf uns, den Weg deines Friedens zu erfahren.<br />
Amen.<br />
Rüstung<br />
Lukas 19,41-44 („Jesus weint über Jerusalem“)<br />
Als Jesus Jerusalem erblickte, weinte er <strong>und</strong> sagte traurig: „Wenn du doch heute erkennen wolltest, was<br />
dir Frieden bringt! Aber du bist blind dafür. Es kommt eine Zeit, da werden deine <strong>Feinde</strong> einen Wall rings<br />
um dich aufwerfen, dich belagern <strong>und</strong> von allen Seiten einschließen. Sie werden dich <strong>und</strong> deine<br />
Einwohner völlig vernichten <strong>und</strong> keinen Stein auf dem anderen lassen. Denn du hast den Tag nicht<br />
erkannt, an dem Gott dir zu Hilfe kommen wollte.“<br />
33
Die weltweite Rüstung hat nicht nur längst ein unerträgliches Ausmaß erreicht, sie schreitet rasend<br />
vorwärts. Es scheint fast aussichtslos, diese Entwicklung unter Kontrolle bringen zu wollen, bedenkt man<br />
den Umfang <strong>und</strong> [die] Vielfalt der Waffenarten, die Zahl der betroffenen Länder auch in der dritten Welt.<br />
Nur wenn es gelingt, möglichst vielen Menschen diese Situation bewußt zu machen, Gleichgültigkeit <strong>und</strong><br />
Bequemlichkeit zu überwinden, besteht Hoffnung.<br />
Erich Fried „Gründe“ 5<br />
„Weil das alles nicht hilft, [/] Sie tun ja doch was sie wollen... [/] Weil ich mir nicht noch mal die Finger<br />
verbrennen will... [/] Weil man nur lachen wird: Auf dich haben sie gewartet... [/] Und warum immer ich?<br />
[/] Keiner kann es mir danken, [/] Weil da niemand mehr durchsieht, [/] Sondern höchstens noch mehr<br />
kaputt geht... [/] Weil jedes Schlechte vielleicht auch sein Gutes hat... [/] Weil es Sache des Standpunktes<br />
ist <strong>und</strong> überhaupt, wem soll [/] man glauben? [/] Weil auch bei den anderen nur mit Wasser gekocht<br />
wird... [/] Weil ich das lieber Berufeneren überlasse... [/] Weil man nie weiß, wie einem das schaden<br />
kann... [/] Weil sich die Mühe nicht lohnt, [/] Weil sie das alle gar nicht wert sind...“<br />
Das sind Todesursachen [/] zu schreiben auf andere Gräber [/] die nicht mehr gegeben werden [/] wenn<br />
das die Ursachen sind.<br />
Sozialer Friedensdienst 6<br />
In unserem Lande werden zweimal im Jahr junge Menschen zum Wehrdienst eingezogen. Sie sollen die<br />
Errungenschaften des Sozialismus schützen. Es gibt aber auch Menschen, die den Dienst mit der Waffe<br />
aus Gewissensgründen nicht leisten können, deshalb wurde 1964 vom Staat die Möglichkeit geschaffen,<br />
als Bausoldat einen Wehrersatzdienst zu leisten. Wieder andere können auch dies nicht mit ihrem Glauben<br />
<strong>und</strong> Gewissen vereinbaren <strong>und</strong> werden zu Gefängnisstrafe verurteilt, wenn sie dem Einberufungsbefehl<br />
nicht folgen. Seit etwa einem Jahr bemühen sich Christen in der DDR, einen Weg für einen Dienst im<br />
zivilen Bereich (Krankenhaus, Alters- u. Pflegeheime usw.) zu finden. Er soll die Möglichkeit bieten, ein<br />
Zeichen des Friedens <strong>und</strong> der Versöhnung in diesen sozialen Bereichen zu setzen. Von der Güstrower<br />
Synode 7 wurde dieses Anliegen befürwortet, die Konferenz der Kirchenleitungen ist beauftragt, mit<br />
unserer Regierung darüber zu sprechen.<br />
Gebet:<br />
Herr, du unser Gott, viele Menschen ringen um den Frieden. Du gabst uns den Auftrag,<br />
Friedensstifter zu sein, aber unsere Wege sind so unterschiedlich, oft auch gegensätzlich. Schenke<br />
uns Achtung vor allen Menschen, die für den Frieden kämpfen, ob Christen oder Atheisten. ob mit<br />
oder ohne Waffe. Laß uns trachten nach Deinem Frieden. Gib uns die Kraft, den Weg frei nach<br />
unserem Gewissen zu wählen.<br />
Amen.<br />
3 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Auszug aus der Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres vom<br />
23.11.1981 an den Vorsitzenden des Rates, an den Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> an die Bezirksleitung<br />
der SED (Urbaneck) „über gegenwärtige kirchliche Aktivitäten“. Die Information wurde von Bitterlich<br />
unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren (BA O-4 1432).<br />
[...] In Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der „Friedensdekade“ wurde sichtbar, daß die überwiegende<br />
Mehrzahl der evangelischen Geistlichen im Bezirk Leipzig die durch den B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen<br />
in der DDR an die Gemeinden herausgegebenen Arbeitspapiere zur inhaltlichen Gestaltung der<br />
„Friedensdekade“ verwendet hat, ohne negative politische Aussagen zu treffen oder sich gegen die Politik<br />
5 E. Fried, Gedichte, Band 1, Berlin 1993, 365f.<br />
6 s. Anhang S. 376<br />
7 Die Synode des BEK stellte sich auf ihrer Güstrower Tagung (18.-22.09.1981) - ohne sich den Forderungskatalog<br />
der Initiative zu eigen zu machen - hinter die Forderung eines sozialen Wehrersatzdienstes (epd Dok. 4/81, 75-79,<br />
s.a. Bericht des Vorsitzenden der KKL, Landesbischof Dr. J. Hempel zum Thema Friedensverantwortung,<br />
Auszug in: Lingner, 150).<br />
34
des Staates zu wenden. Eine Reihe von Geistlichen hat überhaupt keine Aktivitäten unternommen, so daß<br />
Gottesdienste <strong>und</strong> Friedensgeläut unterblieben. [...]<br />
Nachfolgende Beispiele negativer Aktivitäten zeigen, daß sich die Pläne <strong>und</strong> Absichten rechter kirchlicher<br />
Kreise in unserem Bezirk auf eine verstärkte Wirksamkeit unter der Jugend richten <strong>und</strong> dazu eine<br />
intensive Unterstützung durch die Kirchenleitung der Landeskirche Sachsens gegeben wird.<br />
Im Jugendgottesdienst der Nikolaikirche Leipzig am 18.11.19818 , 19.30 Uhr waren ca. 800 Personen<br />
anwesend.<br />
Unter dem Thema: „Ent-rüstet Euch“ wurde in Form eines Sketches symbolisch eine Mauer errichtet <strong>und</strong><br />
darauf orientiert, daß Mauern Menschen, Familien, Kollektive <strong>und</strong> Völker trennen, was vielen gar nicht<br />
mehr bewußt sei. Im Zusammenhang mit der Frage: „Wie werde ich mit diesen Mauern fertig?“ wurde die<br />
Feststellung getroffen, daß es Einzelne gab, die sich hinter diesen Mauern hervorgewagt haben, wie z.B.<br />
Wolfgang Borchart [sic!]. Von diesem wurde ein Gedicht zitiert: „Arbeiter an der Werkbank, wenn sie Dir<br />
morgen befehlen, Du sollst statt Kochtöpfen Granaten drehen, dann gibt es nur eins, sag nein.“ 9<br />
Die Predigt, gehalten vom Jugendpfarrer Gröger, reflektierte über eine Grenze „an deren beiden Seiten<br />
Raketen aufgebaut sind. Auf der einen Seite könne man gegen diese Art von Schutz protestieren, <strong>und</strong> es<br />
werde auch protestiert. Auf der anderen Seite ist Ruhe <strong>und</strong> es herrscht Schweigen. Im nächsten Jahr<br />
kommen neue Pershing II Raketen dazu. Wieviel SS 20 dazukommen, wissen nur die Großen dieser<br />
Welt.“ Weitere Aussagen bezogen sich auf den Bußtag, der erst nachdem sich junge Leute entrüstet<br />
hätten, wieder zum kirchlichen Feiertag gemacht worden sei.“ „Wenn der Ruf erschallt, Gewehre<br />
anzufassen“, so Pfarrer Gröger, trifft er nur die Jugend.“ Es sei die Tragik, daß ältere bestimmen, was<br />
junge zu tun haben.“ Pfarrer Gröger stellte fest, junge Christen bemühen sich um eine Haltung, die in<br />
unserer Gesellschaft unüblich ist. Sie sollen die Heimat nicht mit der Waffe verteidigen, sondern in Alters<strong>und</strong><br />
Pflegeheimen arbeiten.<br />
Im Verweis auf Mathäi [Matthäus] 10 interpretierte Gröger die Anforderungen Jesu an die Menschen, daß<br />
− junge Christen nicht länger gedankenlos ein Gewehr in die Hand nehmen,<br />
− junge Christen [sich] nicht mit gemeinen Witzen über polnische Glaubensbrüder abfinden,<br />
− Anforderungen an den Staat gehen müssen, für Jugendliche unter 18 Jahren die Möglichkeit zu<br />
schaffen, eine Ausbildung ohne Waffe zu absolvieren.<br />
Diese Aussagen wurden jeweils durch heftigen Beifall der anwesenden Jugendlichen begrüßt.<br />
Das Fürbittgebet am Ende des Gottesdienstes sprach sich für alle Opfer der Gewaltherrschaft, für<br />
friedliche Lösung der Konflikte, der Nutzung von politischen <strong>und</strong> ökonomischen Potenzen zu friedlichen<br />
Zwecken aus. Es solle dort begonnen werden, wo Unfrieden <strong>und</strong> Ungerechtigkeit am nächsten sind, im<br />
Beruf, in der Familie oder bei der Armee 10.<br />
Bezeichnend für den Charakter dieses Jugendgottesdienstes war auch ein Informationsstand zur<br />
Unterstützung polnischer Bürger. Neben der Ausstellung von Waren, die von Christen der DDR an<br />
polnische Bürger geschickt werden können, wurden hier Adressen der Gottesdienstteilnehmer gesammelt,<br />
mit dem Hinweis, daß sie später Anschriften polnischer Bürger erhielten, um ihnen Pakete zu schicken 11.<br />
8 H. Bächer teilte den Herausgebern mit, daß - bis auf einen Abend <strong>und</strong> dem Abschlußgottesdienst - die Gebete<br />
von der AGF vorbereitet <strong>und</strong> durchgeführt wurden. Er schrieb den Herausgebern: „Für mich sind diese ersten 10<br />
Tage Friedensgebete 1981 der Anfang der Leipziger Friedensgebete. Nach der Friedensdekade '82 kam dann der<br />
Gedanke in der Leipziger Jugendarbeit [der evangelischen Kirche] auf, ein regelmäßiges Friedensgebet<br />
einzuführen.“<br />
9 W. Borchert, Dann gibt es nur eins!, in: ders., Das Gesamtwerk, Halle 1957, 397-400<br />
10 Die Fürbitten des Jugendgottesdienstes (von Lutz Stellmacher <strong>und</strong> Heinz Bächer) berührten das Thema Mauer<br />
<strong>und</strong> gingen auf die Angst vor einem Einmarsch in Polen ein („Herr, wir bitten dich für unser Nachbarvolk Polen.<br />
Hilf du den Verantwortlichen, daß sie die richtigen Entscheidungen treffen. Hilf, daß Polen ohne äußeren Einfluß<br />
zu einer eigenen polit. Lösung finden kann. [...] „ (ABL H 44/1).<br />
11 Im Gottesdienst wurde zu einer Paketaktion für evangelische Christen in Polen als „praktisches Zeichen für den<br />
Frieden“ aufgerufen. Dies war eine Form der Solidarität mit dem Volk in Versorgungsnot <strong>und</strong> Ausdruck der<br />
Angst, daß erneut die DDR-Armee - ähnlich wie 1968 - in einem Nachbarland militärisch eingreift (vgl. M.<br />
Wilke <strong>und</strong> M. Kubina, „Die Lage in Polen ist schlimmer als 1968 in der CSSR...“. Die Forderung des SED-<br />
Politbüros nach einer Intervention in Polen im Herbst 1980, in: Deutschland Archiv 3/1993, 335-340).<br />
35
Da es nicht zulässig ist, Anschriften der Bürger der DDR auf diese Art zu sammeln, weil eine<br />
Abwanderung in andere Kanäle nicht vermeidbar ist <strong>und</strong> diese Aktion mit dem Staat nicht abgestimmt<br />
wurde <strong>und</strong> somit den Rechtsvorschriften der DDR widerspricht, wird der Stellv. des OBM für Inneres,<br />
Genosse Sabatowska, beauftragt, mit dem zuständigen Superintendenten ein Gespräch zu führen <strong>und</strong><br />
diesen zu veranlassen, einen Wiederholungsfall auszuschließen 12.<br />
[...]<br />
Schlußfolgerungen:<br />
1. Die gegenwärtige Lage <strong>und</strong> Situation wird mit den Stellv. Vorsitzenden für Inneres des Rates der Stadt<br />
<strong>und</strong> der Räte der Kreise in einer Beratung am 24.11.1981 analysiert.<br />
2. Das politische Gespräch ist im Sinne des 6.3.1978 13 fortzusetzen mit der Zielstellung, keine politischen<br />
Konfrontationen zuzulassen.<br />
3. Die Friedens- <strong>und</strong> Abrüstungsproblematik ist in den Vordergr<strong>und</strong> zu stellen, wobei die ökonomische<br />
<strong>und</strong> die soziale Politik der DDR den Geistlichen überzeugend zu erläutern ist.<br />
4. Durch verstärkte Einflußnahme auf die progressiven Geistlichen sind diese mit unserer Argumentation<br />
vertraut zu machen, um gegen negative innerkirchliche Bestrebungen formierter vorgehen zu können.<br />
5. Auf die Geistlichen ist Einfluß zu nehmen, die Gesetze der DDR einzuhalten, wobei besonders durch<br />
die Veranstaltungstätigkeit <strong>und</strong> die Anordnung zur Genehmigung von Druckerzeugnissen breite<br />
Möglichkeiten eines koordinierten Vorgehens der staatlichen Organe gegen Gesetzesverstöße<br />
vorhanden sind.<br />
6. In Zusammenarbeit mit den Blockparteien <strong>und</strong> den Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ 14 sind<br />
wirksamere Maßnahmen zur Einbeziehung der Kirchenvorstände in die politische Überzeugungsarbeit<br />
zu treffen.<br />
7. Es ist notwendig die Gesamtverantwortung der Räte für die Staatspolitik in Kirchenfragen zu erhöhen,<br />
die Bürgermeister verstärkt in die Gesprächstätigkeit einzubeziehen <strong>und</strong> die Abgeordneten zu<br />
befähigen, die Staatspolitik in Kirchenfragen mit zu vertreten.<br />
4 Friedensgebetstexte<br />
15<br />
Bausteine aus dem Friedensgottesdienst am 06.03.1982 in der Michaeliskirche , der von der AG<br />
„Friedensdienst“ unter Leitung des Stadtjugendpfarrers Gröger gestaltet wurde. Die Teile A) <strong>und</strong> B) liegen<br />
handschriftlich vor, die Predigt als Ormig-Abzug mit Briefkopf des Jugendpfarramtes. Die Fürbitten wurden<br />
mit Maschine geschrieben <strong>und</strong> die Sprecher per Hand eingefügt (ABL H 55).<br />
[A) Liturgie 16]<br />
[B)] Besinnung<br />
Frage: Was macht uns sicher?<br />
Edgar [Dusdal]: Mich macht sicher, daß ich mir ein Wissen aneignen konnte <strong>und</strong> kann. Mit diesem brauch<br />
12 Dieses Gespräch fand am 03.12.1981 mit Superintendent Richter statt (vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 157).<br />
13 s. Anhang S. 377<br />
14 Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ waren bei der Nationalen Front organisiert.<br />
15 Die AGF <strong>und</strong> andere Friedensgruppen veranstalteten Anfang der 80er Jahre im März das sogenannte „Leipziger<br />
Friedensseminar“ (ursprünglich „Jugendwoche“ <strong>und</strong> „Bausoldatentreffen“). Zentrales Thema des ersten<br />
„Friedensseminars“ 1982 war der „soziale Friedensdienst“ (s. Anhang S. 376), den viele der über 100 Teilnehmer<br />
in einer DDR-weiten koordinierten Aktion einklagen wollten. Im Rahmen der Friedensseminare fand jedes Jahr<br />
ein großer Jugendgottesdienst statt. Der hier dokumentierte Gottesdienst beruht zum Teil auf Material, welches<br />
vom Sekretariat des BEK im Juli 1979 unter dem Titel „Gemeindetag Frieden: Was macht uns sicher?“<br />
herausgegeben wurde (epd-Dok 2/1980). Im Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />
wurden im November 1978 (B69-76) Anregungen für einen Familiengottesdienst zum Thema „Krieg dem Kriege<br />
- Der Frieden kommt!“ veröffentlicht, in dem ebenfalls parallele Elemente zu finden sind. Seit 1980 gab das<br />
Sekretariat des BEK jährlich Materialsammlungen für FG <strong>und</strong> Gemeindeabende heraus, die Anfang der 80er<br />
Jahre zumindest auch als Anregung für die FG in Leipzig verwendet wurden (s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 181-<br />
183).<br />
16 Die Zuordnung einer Liturgie zu diesem Gottesdienst ist nicht ganz sicher <strong>und</strong> unterbleibt deshalb.<br />
36
ich keine Angst vor Blamagen zu haben <strong>und</strong> kann sicher im Umgang mit anderen auftreten. Außerdem<br />
bringe ich damit meine Leistung, die mir Erfolg <strong>und</strong> eine gute Stellung garantieren. Auch merke ich<br />
mit diesem Wissen, daß ich gebraucht werde.<br />
Helmut W[olf]: Mich macht meine Lebensgr<strong>und</strong>lage sicher, für die ich Jahre gearbeitet habe <strong>und</strong> zu der<br />
auch meine Eltern einiges beisteuerten. Angefangen bei meiner kompletten Wohnungseinrichtung über<br />
das Auto bis zum guten täglichen Essen. Durch entsprechende Beziehungen brauch ich mir auch<br />
weiterhin keine Sorgen zu machen, <strong>und</strong> für alle Fälle liegt noch etwas auf der hohen Kante.<br />
Katja: Mich macht sicher, daß ich zufrieden mit meinem Äußeren bin. Um das zu unterstreichen, bemühe<br />
ich mich um chice Kleidung, die es leider oft nur im Ex oder Shop17 gibt. In Verbindung mit Make up<br />
<strong>und</strong> Frisur ergibt das ein Aussehen, das mich sympathisch werden läßt <strong>und</strong> wodurch ich mich<br />
schließlich freier bewegen kann.<br />
Lutz [Stellmacher]: Mich macht sicher, daß ich <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> habe. Geborgenheit, die ich in meiner<br />
Partnerschaft finde, das bedingungslose Angenommensein, das Vertrauen, welches mir der andere<br />
entgegenbringt, macht mich frei von meinen Unsicherheiten. Es öffnet mich nicht nur ihm gegenüber.<br />
Ich kann mich fallen lassen in dem Bewußtsein, aufgefangen zu werden.<br />
[C)] Predigt [Heinz Bächer 18]:<br />
Liebe Gemeinde! [/] Was macht uns sicher? [/] Das ist die Frage, die uns den ganzen heutigen Tag<br />
bewegte. Unser Friedensseminar hatte sie sich als Thema gestellt. Aber sie ist damit noch lange nicht<br />
abgetan. Sie besteht weiter <strong>und</strong> begleitet uns an jedem Tag im Leben. Was macht uns sicher?<br />
Vorhin sind Bereiche aufgezählt worden, von denen wir glauben, daß sie an irgendeiner Stelle bei jedem<br />
von uns ein Gefühl der Sicherheit hervorrufen. Ich möchte nochmals erinnern<br />
− da ist das Wissen, welches wir uns angeeignet haben. Wir müssen mehr wissen als die anderen. Die<br />
Überlegenheit, die sich für uns daraus ergibt, macht uns sicher.<br />
− ein Leben ohne materiellen Wohlstand ist für uns nur schwer vorstellbar. Wir brauchen ihn, um<br />
bequem leben zu können.<br />
− keiner von uns lebt gern allein. Darum bemühen wir uns um <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> <strong>und</strong> um Familie. Wenn andere<br />
uns brauchen, fühlen wir uns bestätigt, <strong>und</strong> das macht uns sicher.<br />
Und nun stellen Sie sich folgende Situation vor, die ein Fre<strong>und</strong> von mir so erlebt hat: Ein junger Mann<br />
fährt früh mit dem Motorrad zur Arbeit <strong>und</strong> bringt vorher noch seine Fre<strong>und</strong>in weg. Auf der Fahrt von<br />
dem Haus seiner Fre<strong>und</strong>in zur Arbeit passiert ein grausamer Unfall, an dem er keine Schuld hatte. Sein<br />
Leben hängt in Folge des Unfalls wochenlang vom Funktionieren medizinischer Geräte ab. Er wird<br />
wahrscheinlich nie wieder richtig laufen können, verlor ein Auge <strong>und</strong> hat seitdem Sprachschwierigkeiten.<br />
Sinnlos wurden für ihn:<br />
− erstens - die Partnerschaft, denn seine Fre<strong>und</strong>in hat ihn nach dem Unfall sitzen lassen.<br />
− zweitens - das Haus, das er für sich <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>in mit viel Mühe ausgebaut hatte<br />
− drittens - Beruf <strong>und</strong> Bildung, da er seinen Traumberuf KFZ-Schlosser nicht mehr ausüben kann. Durch<br />
den Sehschaden kann er noch nicht einmal ein Buch lesen.<br />
− viertens - er hat nicht mehr das hübsche Aussehen. Ein Brille <strong>und</strong> viele Narben zeichnen ihn.<br />
Das Schicksal meines <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>s hat mir zu denken gegeben. Es zeigt deutlich, daß wir unser Leben nicht<br />
absichern können. Trotz aller Anstrengungen bleibt die Ohnmacht <strong>und</strong> Unsicherheit im Leben, <strong>und</strong> wir<br />
vermögen nicht, dieses Leben durch unser Streben nach Sicherheit zu verlängern.<br />
In dieses Leben hinein hat uns Jesus etwas ganz Konkretes zu sagen: Matth. 6, 31-35 nach der<br />
Übersetzung von Jörg Zink.<br />
Deshalb sollt ihr euch nicht in der Sorge verzehren:<br />
Was essen? Was trinken? Was anziehen? Um all das kreisen die Gedanken derer, die von Gott nichts<br />
wissen. - Denn euer Vater im Himmel weiß, daß ihr das alles braucht. - Sorgt dafür, daß Gott geehrt wird<br />
<strong>und</strong> unter seiner Herrschaft bei euch etwas Gerechtes geschieht. Das übrige wird euch zufallen.<br />
17 Gemeint sind Delikat- bzw. Exquisit-Läden <strong>und</strong> Intershops, in denen es Ende der 70er <strong>und</strong> in den 80er Jahren<br />
teure Waren bzw. Waren gegen Devisen zu kaufen gab.<br />
18 Schon am 15.02.1982 beschloß die Abteilung XX der BV des MfS Leipzig gegen H. Bächer wegen seines<br />
Engagements für das Friedensseminar einen OV einzuleiten.<br />
37
Gott kennt uns. Er weiß um unsere Sorgen <strong>und</strong> will uns davon befreien. Weil er uns kennt, sind wir<br />
angenommen von ihm <strong>und</strong> brauchen uns nicht mehr ab[zu]sichern. Wenn wir dem Allmächtigen glauben,<br />
wird die Furcht vor den Mächtigen der Welt geringer.<br />
Wenn ich aus dem Vertrauen zu Gott lebe, kann ich es mir leisten, ein Risiko einzugehen. Z.B. brauche<br />
ich meinen Studienplatz nicht mehr durch 3 Jahre Armeezeit abzusichern. Aus dem Vertrauen auf Gott,<br />
daß er mir trotz Risiko einen Weg zeigen wird, der meinem Leben einen Sinn gibt, kann ich mich frei<br />
entscheiden.<br />
Des weiteren verweist uns Jesus darauf, daß wir Gott ehren <strong>und</strong> nun, da wir frei von unseren Sorgen sind,<br />
unter seiner Herrschaft etwas Gerechtes tun sollen. Dies geschieht, indem wir anderen die Augen öffnen,<br />
wo sie sich unnütze Sorgen um ihre Sicherheit machen, indem wir sie annehmen <strong>und</strong> ihnen Vertrauen<br />
schenken, den Einsamen, den Kranken, den Andersdenkenden, den Süchtigen <strong>und</strong> den Kaputten. So<br />
können wir einen neuen Sinn im Leben finden, der beiträgt zum Frieden auf dieser Welt.<br />
Das bisher Gesagte berührt fast ausschließlich den ganz persönlichen Bereich. Ich möchte nun auf den<br />
politischen Bereich von Sicherheit eingehen. Durch das Gefühl von Unsicherheit <strong>und</strong> Angst, durch das<br />
Bedürfnis, seinen Besitz zu sichern, entstand ein Rüstungswettlauf, der nur noch eine Sicherheit bieten<br />
kann, die da heißt: Der nächste Weltkrieg ist mit Sicherheit der letzte. Es fing an mit: Ich rüste auf, weil<br />
der andere mich, meinen Besitz bedroht. Das klingt noch recht vernünftig - aber was passierte dann? Es<br />
schlägt um in das Gegenteil. Ich werde bedroht, weil ich gerüstet bin <strong>und</strong> somit eine Gefahr für den<br />
anderen darstelle. Die Politiker sprechen von Sicherheit durch Abschreckung. Man schreckt sich<br />
gegenseitig ab durch die Zahl, wieviel mehr der eine den anderen vernichten kann. Einmal genügt nicht -<br />
also 7-mal. Denn: sicher ist sicher. - Bombensicher. Der andere muß wirklich vernichtet werden können.<br />
Bringt das Sicherheit? Bringt das Frieden? Eine deutliche Antwort darauf gibt der Theologe Dietrich<br />
Bonhoeffer in seiner Rede vom 28. August 1934 auf einer ökumenischen Konferenz: „Es gibt keinen Weg<br />
zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit. Sicherheiten fordern heißt, Mißtrauen haben, <strong>und</strong> dieses<br />
Mißtrauen wiederum gebiert Krieg. Frieden muß gewagt werden, ist das eine große Wagnis <strong>und</strong> läßt sich<br />
nie <strong>und</strong> nimmer sichern.“ 19 Aber welcher Staat kann <strong>und</strong> will das? Wir können zwar nicht von heute auf<br />
morgen verlangen, daß unser Staat sein Sicherheitsbedürfnis aufgibt, wenn es uns selbst schon schwer<br />
fällt, unsere Sicherheiten aufzugeben <strong>und</strong> Risiken auf uns zu nehmen. Aber wir müssen unsere Besorgnis<br />
aussprechen, so wie es die Synode der Ev. Kirche der Kirchenprovinz Sachsen deutlich gesagt hat, <strong>und</strong><br />
zwar darüber, daß das „Militärische in wachsendem Maße unser ganzes gesellschaftliches Leben<br />
durchdringt: Von Militärparaden bis zum Kindergarten, von gesperrten Wäldern bis zu den Kriterien bei<br />
der Zulassung zu Ausbildungswegen, vom Kriegsspielzeug der Kinder bis zu den Übungen der<br />
Zivilverteidigung. Das alles dient nicht der wirklichen Sicherheit <strong>und</strong> Zukunft unseres Lebens: dadurch<br />
wird einerseits Angst erzeugt, anderseits aber an den möglichen Krieg gewöhnt; dadurch wird vielleicht<br />
Disziplinierung erreicht, nicht aber zu einer kreativen Gestaltung des Friedens befähigt.“ 20<br />
Taucht bei solchen Erfahrungen nicht allzu schnell wieder Resignation bei uns auf in dem Sinne: Was<br />
können wir kleinen Lichter schon gegen die geballte Macht des Militärs auf der ganzen Welt tun? Diese<br />
Frage haben wir uns bestimmt <strong>und</strong> hoffentlich alle schon einmal gestellt. Gibt es Möglichkeiten für uns,<br />
Frieden zu schaffen ohne Waffen? Ja, es gibt sie. Es sind kleine Schritte <strong>und</strong> meist ganz persönliche<br />
Entscheidungen, die wir treffen müssen. Der Mut dazu wächst, <strong>und</strong> wir sind dabei nicht alleine. Das<br />
Seminar <strong>und</strong> der Gottesdienst heute beweisen uns das wieder. Wir wollen gemeinsam Zeichen setzen, die<br />
das Ja <strong>und</strong> das Nein beinhalten. Das Ja zu den Menschen in unserem <strong>und</strong> allen anderen Ländern; das Ja zu<br />
unserem Staat <strong>und</strong> der Zukunft der Menschen auf der ganzen Welt. Dem gegenüber bzw. nicht gegenüber,<br />
sondern aus diesem Ja heraus das Nein zu all dem, was dem Ziel, Leben zu erhalten <strong>und</strong> entwickelbares<br />
Leben auf seinen höchsten Stand [zu] bringen, widerspricht. Das heißt für mich: Nein zur Sicherheit durch<br />
Waffen, Nein zu Haßerziehung <strong>und</strong> Feindbildern <strong>und</strong> stattdessen Liebe <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>bilder. Das heißt für<br />
eine ganze Reihe junger Leute Nein zur Ausbildung an der Waffe <strong>und</strong> Nein zum bewaffneten Dienst <strong>und</strong><br />
Ja zu Friedenserziehung, Völkerverständigung <strong>und</strong> Abrüstung. Ja zu Alternativen gegenüber dem<br />
19 Dieses Zitat stand in der Materialsammlung zur FD 1981 des Sekretariats des BEK (S. 15) unter der Überschrift<br />
„Zum Stichwort: Sicherheit“.<br />
20 Beschluß der Synode der Kirchenprovinz Sachsen, in: epd-Dok 51/81, S. 17f.<br />
38
Rüstungswettlauf wie z.B. der Einrichtung eines sozialen Friedensdienstes in der DDR . 21<br />
Dieses Ja <strong>und</strong> Nein kann Konsequenzen haben für jeden einzelnen, die ihm niemand abnehmen kann, <strong>und</strong><br />
sie bedürfen guter Überlegung, bevor sie gegangen werden. Risiken einzugehen ist schwer, schwer für<br />
Eltern, die ihren Kindern die Zukunft nicht verbauen wollen, schwer für Schüler <strong>und</strong> Lehrlinge, die mit<br />
ihren Problemen alleine sind, ist schwer für junge Männer, die so viele Dinge noch nicht überschauen<br />
können, aber sich entscheiden müssen. Aber ich muß nochmals an die Sätze aus der Bergpredigt Jesu<br />
erinnern: Sorgt dafür, daß Gott geehrt wird <strong>und</strong> unter seiner Herrschaft bei euch etwas Gerechtes<br />
geschieht. Das Übrige wird euch zufallen. Ich muß nochmals sagen: Wer aus dem Vertrauen zu Gott lebt,<br />
kann auch viele Sorgen verlieren. Etwas kommt noch dazu: Keiner braucht seine Entscheidung im<br />
Alleingang zu fällen. Es gibt genug Pfarrer <strong>und</strong> Diakone, die offen sind für Fragen. Wir erleben es bei<br />
einem Friedenseminar, wie man sich gegenseitig beraten <strong>und</strong> ermutigen kann. Das viele Nachdenken, so<br />
wie heute, macht uns Hoffnung, Schritte des Friedens zu gehen. Hoffnung, die mit Zeichen setzen beginnt,<br />
mit Zeichen des Friedens. Ein solches Zeichen soll für uns heute Abend das Agape-Mahl sein, das wir<br />
nachher miteinander feiern wollen. Daß Jesus uns vorangegangen ist mit seiner Liebe <strong>und</strong> mit seiner<br />
Botschaft, gibt uns Kraft. Sein Wort: „Selig, die Frieden machen, wo Streit ist, denn sie sind die Kinder<br />
Gottes“ gibt uns die nötige Ruhe.<br />
So möchte ich schließen mit einem Gedicht vom Rudolf Otto Wiemer: [/] Lob der kleinen Schritte<br />
„Wir loben die kleinen Schritte. [/] Der Mann, der das voreilige Wort nicht ausspricht. [/] Die Stimme, die<br />
sagt: Pardon, ich bin schuld. [/] Die über den Zaun des lästigen Nachbarn gestreckte Hand. [/] Wir loben<br />
die kleinen Schritte. [/] Die Faust in der Tasche. [/] Die nicht zugeschlagene Tür. [/] Das Lächeln, das den<br />
Zorn wegnimmt. [/] Wir loben die kleinen Schritte. [/] Das Gespräch der Regierungen. [/] Das Schweigen<br />
der Waffen. [/] Die Zugeständnisse in den Verträgen. [/] Wir loben die kleinen Schritte. [/] Die St<strong>und</strong>e am<br />
Bett des Kranken. [/] Die St<strong>und</strong>e der Reue. [/] Die Minute, die dem Gegner Recht gibt. [/] Wir loben die<br />
kleinen Schritte. Den kritischen Blick in den Spiegel. [/] Die Hoffnung für den anderen. Den Seufzer über<br />
sich selbst.“<br />
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen <strong>und</strong> Sinne in Jesus<br />
Christus...<br />
[D)] Fürbitten<br />
Edgar: Laßt uns beten!<br />
Herr, wir danken Dir für die Geborgenheit <strong>und</strong> Sicherheit, die Du uns im persönlichen Leben gegeben<br />
hast. Herr, wir danken Dir, daß wir in gesicherten sozialen Verhältnissen leben <strong>und</strong> unsere Sorge nicht<br />
dem täglichen Brot gelten muß. Wir bekennen, daß wir oft materiellen Wünschen nachlaufen <strong>und</strong> für<br />
unsere Mitmenschen zu wenig Zeit haben. Wir bitten, daß nicht häusliche Geborgenheit unser<br />
Lebensziel bedeutet, sondern laß uns erkennen, daß auch gesellschaftliche Aufgaben zu tun sind.<br />
Uwe: Herr, wir danken Dir für die vielen Möglichkeiten, uns zu bilden <strong>und</strong> uns ausreichend zu<br />
informieren. Wir bekennen Dir, daß wir oft diese Möglichkeiten zu Bildung <strong>und</strong> Information nicht<br />
nutzen oder bei unerfüllten Berufswünschen zu schnell resignieren. Wir bitten für alle Eltern, Lehrer<br />
<strong>und</strong> Erzieher, daß sie Vertrauen bilden <strong>und</strong> eine Erziehung zum Frieden praktizieren.<br />
Helmut: Herr, wir danken Dir für unsere Familie <strong>und</strong> unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, auf die wir uns verlassen können<br />
<strong>und</strong> die Freud <strong>und</strong> Leid mit uns teilen. Wir bekennen, daß wir oft schuldig werden, wenn die Harmonie<br />
in der Familie gestört ist <strong>und</strong> wir unseren <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n nicht offen entgegentreten.<br />
21 s. Anhang S. 376. Im Monatsbericht des Stellv. des Vorsitzenden des Rates [des Bezirkes] für Inneres vom<br />
30.03.1982 heißt es dazu: „Diese Aussagen, getroffen von dem Studenten der Sektion Theologie der KMU,<br />
gipfelten in der Feststellung, daß die Einführung eines sozialen Friedensdienstes, einzige mögliche Alternative<br />
zum Wehrdienst in der DDR <strong>und</strong> selbst der Dienst als Bausoldat ein Kompromiß sein muß, riefen frenetischen<br />
Beifall bei den mehr als 1200 Jugendlichen während des Gottesdienstes hervor. Die Reaktion des<br />
verantwortlichen Jugendpfarrers für das Jugendpfarramt Leipzig Gröger, der sich in Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung dieses Gottesdienstes bemühte, den staatlichen Erwartungen zur Einhaltung von Ordnung <strong>und</strong><br />
Sicherheit, gerecht zu werden <strong>und</strong> der die Gottesdienstteilnehmer darauf hinwies, die Kirche nicht mit einen<br />
Fußballplatz zu verwechseln, zeigt auf, daß in der Position kirchlicher Amtsträger gegenüber der Bewegung eines<br />
sozialen Friedensdienstes <strong>und</strong> zur Erhaltung des Friedens in der Welt eine deutliche Polarisierung eingetreten<br />
ist.“ (StAL BT/RdB 11410)<br />
39
Wir bitten Dich, gib uns die Liebe, den anderen zu verstehen, <strong>und</strong> mache uns auch bereit zu sachlichen<br />
Gesprächen mit Andersdenkenden.<br />
Katja: Herr, wir danken Dir, daß trotz der wahnsinnigen Rüstungen bisher kein 3. Weltkrieg ausgebrochen<br />
ist <strong>und</strong> wir in Mitteleuropa eine lange Friedensepoche hatten. Wir bekennen, daß uns die weitere<br />
Zukunft der Menschheit Angst macht, wir aber zu wenig Phantasie entwickeln, um den Frieden ohne<br />
Waffen zu sichern. Laß uns nicht ein Sicherheitsdenken hinnehmen, daß auf ein „Gleichgewicht des<br />
Schreckens“ hinausläuft.<br />
Lutz: Wir bitten Dich für die Politiker <strong>und</strong> Militärs, daß sie jederzeit verantwortlich handeln <strong>und</strong> von jeder<br />
militärischen Konfrontation Abstand nehmen, daß sie Verhandlungen <strong>und</strong> Dialoge mit der andern Seite<br />
suchen <strong>und</strong> zu Kompromissen bereit sind.<br />
Wir bitten Dich für die Offiziere <strong>und</strong> Berufssoldaten in allen Ländern: Laß sie erkennen, daß<br />
Sicherheit durch Waffen heute nicht mehr gegeben ist <strong>und</strong> daß auch sie zur Abrüstung bereit sind.<br />
Uwe: Wir bitten Dich für alle Wehrpflichtigen <strong>und</strong> Wehrdienstverweigerer <strong>und</strong> besonders für diejenigen,<br />
die bestraft worden sind, weil sie Frieden praktizieren wollen. Gib ihnen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zur Seite, die ihnen<br />
helfen, über Haßgefühle oder Resignation hinwegzukommen.<br />
Wir bitten für alle Menschen, die Friedensarbeit leisten, daß sie konstruktive Wege zum Frieden<br />
finden <strong>und</strong> diese Wege vielen Menschen bewußt machen können.<br />
Wir bitten für die Kirche <strong>und</strong> alle kirchlichen Mitarbeiter, daß sie das Engagement für den Frieden in<br />
der Welt als Teil der Botschaft Christi verstehen <strong>und</strong> dem Evangelium des Friedens vertrauen.<br />
Katja: Herr, wir tragen selber dazu bei, daß Angst, Vergeltung <strong>und</strong> Gewalt von neuem mächtig werden.<br />
Wir bitten Dich:<br />
Laß uns mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben, brennender lieben!<br />
Herr, schenke uns einen neuen Anfang <strong>und</strong> gib der Welt Frieden!<br />
Amen!<br />
Anmerkung von Heinz Bächer (1992): Ein wichtiges Ereignis in der Friedensarbeit war der Gottesdienst<br />
am 6. März 1982. Es war das Frühjahr, nachdem die Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ im Herbst<br />
[1981] zur Friedensdekade verteilt worden waren. Der Gottesdienst <strong>und</strong> das Friedensseminar wurden mit<br />
viel Engagement von dem Arbeitskreis Friedensdienst selbständig vorbereitet 22 . Ich war eingeladen auf<br />
das VP-Amt zu einer Befragung mittels vorgedruckter Postkarte. Erst dort gab sich der Beamte als MfS-<br />
Mitarbeiter zu erkennen. Ich war aufgeregt (meine erste ‘Vernehmung’) <strong>und</strong> hatte vorher W. Gröger<br />
Bescheid gegeben. Mit ihm war abgesprochen, daß das Jugendpfarramt <strong>und</strong> damit er die volle<br />
Verantwortung trägt, da ich als Student weitaus weniger geschützt war als kirchliche Mitarbeiter. Bereits<br />
vor dem 6.3. wurde ich eine Woche lang täglich „beschattet“. Als ich bei der VP war, mußte ich beim<br />
Pförtner den Ausweis abgeben, <strong>und</strong> die Ausgangstür hatte nur einen elektr. Öffner. Hinter mir fiel das<br />
Schloß in die Tür, ein angst machendes Gefühl. Der Vorgang wurde sowohl dem Superintendenten als<br />
auch dem Landeskirchenamt mitgeteilt. Ich selber erhielt nie eine Antwort oder eine Ermutigung von dort.<br />
5 Vernehmungsprotokoll<br />
Erinnerungsprotokoll zur Vernehmung des Theologiestudenten H. Bächer durch das MfS von H. Bächer.<br />
Typoskript (ABL H 55).<br />
Am 5.4.1982 war ich in das VPKA, Leipzig, Dimitroffstr. 5 zu einer Befragung um 8 Uhr bestellt 23.<br />
22 Die Sächsische Landessynode reagierte am 24.03.1982 auf die staatlichen Willkür- <strong>und</strong> Gewaltakte gegenüber<br />
Trägern des Aufnähers der FD 1981 mit einem Brief an die Jugend, in dem es hieß: „Wir müssen Euch aber<br />
sagen, daß wir nicht mehr in der Lage sind, Euch vor Konsequenzen, die das Tragen des Aufnähers jetzt mit sich<br />
bringen kann, zu schützen“ (in: Büscher/Wensierski/Wolschner, 290-292, 290). In der Kanzelabkündigung vom<br />
28.03.1982 stellte sich die Sächsische Landeskirche erneut hinter die Träger des Symbols: „Wir halten es für<br />
einen schwerwiegenden Fehler, dem wachgewordenen Bewußtsein mit Verboten zu begegnen.“ (ebenda 293f.,<br />
zur Reaktion in den Gemeinden vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 169)<br />
23 Am gleichen Tag fand auch eine Vernehmung von L. Stellmacher durch das MfS statt. Er hatte das Plakat, mit<br />
40
Unterzeichnet war die Vorladung mit dem Namen Schubert. Eingangs stellte sich Major Schubert als<br />
Mitarbeiter des MfS vor <strong>und</strong> machte mich mit den gesetzlichen Regelungen bekannt. Die Befragung fand<br />
statt auf der Gr<strong>und</strong>lage des § 12 (2) 24 des Gesetzes über die Aufgaben <strong>und</strong> Befugnisse der Deutschen<br />
Volkspolizei vom 11. Juni 1968 zur Klärung eines Sachverhaltes gemäß § 20 (2) 25.<br />
(V)ernehmer: Herr Bächer, Sie sind hier vorgeladen wegen Ihrer Predigt am 6. März 1982 in der<br />
Michaeliskirche Leipzig. Erzählen Sie bitte den Inhalt Ihrer Predigt.<br />
(B)ächer: Dieser Gottesdienst fand unter Leitung des Jugendpfarramtes Leipzig statt <strong>und</strong> auch unter<br />
dessen Verantwortung. Es war alles mit Jugendpfarrer Gröger abgesprochen. Deshalb möchte ich keine<br />
Aussagen ohne Pfarrer Gröger zu diesem Gottesdienst machen.<br />
(V): Sie sind hier auf Gr<strong>und</strong> einer Befragung von Ihnen <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong> gesetzlicher Bestimmungen.<br />
Haben Sie die Predigt ausgearbeitet?<br />
(B): Ja, in Absprache mit Pfarrer Gröger, dem ich sie auch schriftlich vorher vorgelegt habe.<br />
(V): Dann erzählen Sie über den Inhalt.<br />
(B): Sie war in zwei Teile geteilt. In einen persönlichen <strong>und</strong> in einen politischen. Gr<strong>und</strong>lage für die ganze<br />
Predigt war der Text aus dem Matth. Ev. Kap. 31-33. Ich lese es Ihnen mal vor (ich lese den Text aus<br />
dem NT vor). Dann habe ich ein Beispiel erzählt, das ein Fre<strong>und</strong> von mir erlebte. Er hatte einen<br />
schweren Unfall, nach dem er sein Leben neu einrichten mußte. Er mußte sich einen neuen Sinn<br />
suchen, da viele Werte für ihn verloren gingen. Dann bin ich darauf eingegangen, wo wir uns zu viele<br />
Sorgen um unsere materiellen <strong>und</strong> luxuriösen Sicherheiten machen.<br />
(V): Herr Bächer, wie war denn Ihr zweiter Teil gestaltet?<br />
(B): Da ging es um den politischen Bereich. Ich habe ein Beispiel gezeigt, wie sich Rüstung aufschaukelt.<br />
Daß es klein anfing, daß einer sagte, ich rüste auf, weil ich mich absichern will <strong>und</strong> der andere dann<br />
sagte, weil dieser aufgerüstet ist, fühle ich mich bedroht <strong>und</strong> rüste auch auf <strong>und</strong> so ein<br />
Rüstungswettlauf entstand, der so weit eskalierte, daß die Erde schon mehrmals vernichtet werden<br />
kann. Dann habe ich ein Zitat aus einer Rede von D. Bonhoeffer gebracht, die er 1934 über „Kirche<br />
<strong>und</strong> Völkerwelt“ hielt <strong>und</strong> in der er sich gegen militärische Sicherungen des Friedens wendet. Friede<br />
muß gewagt werden <strong>und</strong> kann nicht durch Waffen abgesichert werden, sagt er dort.<br />
(V): Herr Bächer, was haben Sie zu Wehrdienst <strong>und</strong> Wehrerziehung gesagt?<br />
(B): Was meinen Sie da, was soll ich gesagt haben?<br />
(V): Haben Sie nicht über die Dinge geredet?<br />
(B): Ich habe ein Zitat von der Synode der Kirchenprovinz Sachsen gebracht, in dem, glaube ich,<br />
Wehrerziehung drin vor kam. Es war aus einem Brief an die Gemeinden.<br />
(V): Herr Bächer, reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Was haben Sie dort vor h<strong>und</strong>erten<br />
Jugendlichen gesagt?<br />
(B): Was meinen Sie denn? Worauf wollen Sie hinaus?<br />
(V): Sie haben dort gegen die Gesetze der DDR verstoßen, § 214 (2) StGB 26 , <strong>und</strong> haben junge Leute<br />
aufgefordert, den Wehrdienst zu verweigern. Sie haben gesagt, daß die einzige Alternative zum<br />
Wehrdienst der Soziale Friedensdienst ist <strong>und</strong> haben einseitige Abrüstung des Warschauer Vertrages,<br />
speziell der DDR, gefordert. Sie haben sich gegen Wehrerziehung <strong>und</strong> vormilitärische Ausbildung<br />
ausgesprochen <strong>und</strong> haben H<strong>und</strong>erte Jugendliche aufgerufen, Risiken einzugehen <strong>und</strong> sich den<br />
dem zum Gottesdienst geworben wurde, hergestellt (Nachschrift der Vernehmung von L. Stellmacher - ABL H<br />
55).<br />
24 Der § 12 dieses Gesetzes lautete: „(1) Personalien dürfen nur dann festgestellt oder aufgenommen werden, wenn<br />
es zur Erfüllung polizeilicher Aufgaben unbedingt erforderlich ist. (2) Können Personalien nicht an Ort <strong>und</strong><br />
Stelle zweifelsfrei festgestellt werden, ist eine Zuführung zulässig. Sie ist auch zulässig, wenn es zur Klärung<br />
eines die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit erheblich gefährdenden Sachverhalts unumgänglich ist.“<br />
(Gesetzblatt der DDR Teil I, Nr. 11 vom 14.06.1968)<br />
25 „Die Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit sind ermächtigt, die in diesem Gesetz geregelten<br />
Befugnisse wahrzunehmen.“ (ebenda)<br />
26 § 214 (2) „Ebenso wird bestraft, wer gegen Bürger wegen ihrer staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit oder<br />
wegen ihres Eintretens für die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit mit Tätlichkeiten vorgeht oder solche<br />
androht.“ (Strafgesetzbuch, Berlin 1986, 77)<br />
41
Studienplatz nicht durch drei Jahre Armeezeit zu „verdienen“. Sie haben aufgerufen, sich mit den<br />
Leuten, die darüber anders denken, auseinanderzusetzen <strong>und</strong> sie von Ihren Ansichten zu überzeugen. In<br />
Ihrer Predigt haben Sie aufgerufen, an Arbeitsgruppen teilzunehmen. In dieser haben Sie berichtet, mit<br />
welchen Möglichkeiten die Jugendlichen auf Gr<strong>und</strong> gesetzlicher Bestimmungen Wehrerziehung <strong>und</strong><br />
GST-Ausbildung umgehen können <strong>und</strong> wie man Bausoldat wird <strong>und</strong> wie man dabei argumentieren<br />
muß. Nehmen Sie dazu Stellung!<br />
(B): Dies alles kann ich nicht akzeptieren! Ich habe nicht zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen. Ich<br />
habe vom Soz[ialen] Friedensdienst als Beispiel einer Alternative gegenüber dem Rüstungswettlauf<br />
gesprochen, nicht als einziger. Ich habe auch nicht davon gesprochen, daß der Warschauer Pakt,<br />
speziell die DDR, einseitig abrüsten soll. Auch war nicht die Rede davon, Andersdenkende zu<br />
überzeugen.<br />
(V): Herr Bächer, das, was Sie dort sagten, war für unser Verständnis keine Predigt mehr. Das war<br />
Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR. Das können wir uns nicht gefallen lassen.<br />
(B): Für mich war das Verkündigung des Wortes Gottes.<br />
(V): Stand der Gottesdienst noch in einem anderen Zusammenhang?<br />
(B): Was für einen Zusammenhang meinen Sie?<br />
(V): Fand noch etwas anderes an dem Tag in den Räumen der Michaeliskirche statt?<br />
(B): Ja, ein Friedensseminar.<br />
(V): Wer hatte dazu eingeladen?<br />
(B): Die Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes.<br />
(V): Welchen Zusammenhang hatte dieses mit dem Gottesdienst?<br />
(B): Der Gottesdienst war so etwas wie ein Abschluß des Friedensseminars.<br />
(V): Wer gehört zu Ihrer Arbeitsgruppe?<br />
(B): Darüber gebe ich keine Auskunft. Das sind innerkirchliche Angelegenheiten. Ich sehe dabei eine<br />
Einschränkung der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit.<br />
(V): Kennen Sie Herrn Lutz Stellmacher?<br />
(B): Ja, den kenne ich.<br />
(V): Wie hat er bei der Vorbereitung des Seminars mitgearbeitet?<br />
(B): Darauf kann ich keine Antwort geben. Ich berichte hier nicht über andere Personen.<br />
(V): Herr Bächer, ich habe Sie nur gefragt, wie er mitgearbeitet hat. Das ist doch kein Bericht.<br />
(B): Nein, ich gebe Ihnen darauf keine Antwort.<br />
(V): Wo haben Sie Lutz Stellmacher kennengelernt?<br />
(B): Innerhalb der Kirche.<br />
(V): Seit wann kennen Sie ihn?<br />
(B): Das weiß ich nicht mehr so genau. Es ist schon länger her.<br />
(V): Wie haben Sie zum Seminar eingeladen?<br />
(B): Schriftlich, mit Einladungen an die, die auch schon im Vorjahr da waren.<br />
(V): Weiter nicht?<br />
(B): Nein.<br />
(V): Überlegen Sie noch mal.<br />
(B): Ich wüßte nicht.<br />
(V): Hat Lutz Stellmacher Plakate hergestellt?<br />
(B): Ja.<br />
(V): Wie sahen diese aus?<br />
(B): Sie hatten das Format für die Schaukästen, die es gibt. Es stand drauf: „Was macht uns sicher?“ <strong>und</strong><br />
die Einladung zum Gottesdienst.<br />
(V): Ich meine, Sie <strong>und</strong> ich kennen es. Es hing ja überall aus 27.<br />
Waren nicht lauter Einzelfotos darauf?<br />
(B): Ja, so ist es.<br />
(V): Wo hat Herr Stellmacher die hergestellt? Hatte er eine Genehmigung dazu?<br />
(B): Das weiß ich nicht. Da bin ich überfragt.<br />
27 Das MfS zählte über 60 Aushänge dieses Plakates in Leipzig (BStU Leipzig AB 1003).<br />
42
(V): Wieviel Stück wurden hergestellt?<br />
(B): Das weiß ich auch nicht, sie wurden gleich im Jugendpfarramt abgegeben.<br />
(V): Herr Bächer, was haben Sie in der nächsten Zeit an ähnlichen Veranstaltungen geplant?<br />
(B): Ich habe bis jetzt nichts geplant.<br />
(V): Was haben andere Personen geplant?<br />
(B): Darüber ist mir nichts bekannt.<br />
(V): Herr Bächer, sind Sie sich im Klaren, daß Sie gegen die Gesetze unseres Landes verstoßen haben? In<br />
einem Wiederholungsfalle kann ein Ermittlungsverfahren gemäß § 214 (1) StGB 28 eingeleitet werden.<br />
Nehmen Sie das bitte hiermit zur Kenntnis.<br />
(B): Ja, ich nehme es zur Kenntnis.<br />
Darauf hin wurde das Protokoll angefertigt, in dem vieles auch zusammengefaßt war. Schwerpunkt waren<br />
diese fünf bzw. sieben Vorwürfe, in denen ich gegen § 214 (2) verstoßen haben soll. Das Gespräch fand in<br />
einem sachlichen Rahmen statt. Ich kann mich nicht in allen Fällen genau an Redewendungen erinnern,<br />
glaube aber, daß ich inhaltlich alles festgehalten habe. Die Befragung dauerte bis gegen 11.15 Uhr.<br />
6 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
29<br />
Information vom RdS Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 14.04.1982 über ein Gespräch am 06.04.1982<br />
mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius <strong>und</strong> dem Jugendpfarrer Gröger. Die 6 Seiten wurden von A.<br />
Müller unterzeichnet 30 <strong>und</strong> tragen Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB 21405).<br />
Gemäß der Bitte des Pfarrers Gröger wurde das Gespräch geführt, um den Jugendgottesdienst vom 6.3.82<br />
detailliert auszuwerten. Superintendent Richter nahm an diesem Gespräch unaufgefordert teil. Gröger<br />
begründete dies damit, daß Richter sein „Brötchengeber“ sei <strong>und</strong> aus diesem Gr<strong>und</strong>e am Gespräch<br />
teilnehme.<br />
Folgende Probleme standen im Mittelpunkt:<br />
− Jugendgottesdienst am 6.3.82 in der Michaeliskirche<br />
− Beschwerdeführung der Superintendenten über den Umgang der Sicherheitsorgane mit kirchlichen<br />
Amtspersonen<br />
− Liederabend der Kirche mit Gerhard Schöne<br />
31<br />
− kirchliche Aktivitäten während der Osterfeiertage<br />
Zum Jugendgottesdienst am 6.3.82 in der Michaeliskirche äußerte sich Pfarrer Gröger auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />
des ihm vorliegenden Wortlautes der durch den Theologiestudenten des 3. Studienjahres an der KMU<br />
[Karl-Marx-Universität] 32,<br />
Bächer, gehaltenen Predigt sowie eines Gesprächsprotokolls über die mit<br />
28 § 214 (1) „Wer die Tätigkeit staatlicher Organe durch Gewalt oder Drohungen beeinträchtigt oder in einer die<br />
öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Mißachtung der Gesetze bek<strong>und</strong>et oder zur Mißachtung der<br />
Gesetze auffordert, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe,<br />
Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.“(Strafgesetzbuch, Berlin 1986, 77)<br />
29 Die Gegenüberlieferung dieses Gespräches, eine Nachschrift von J. Richter ist abgedruckt in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 170-173. Dort ist vermerkt, daß den Superintendenten im Nachgang des Gespräches<br />
auffiel, daß „die im Protokoll sichtbar werdende Tendenz unverkennbar ist: auf unserer Ebene sachlich <strong>und</strong><br />
fre<strong>und</strong>lich. Auf der Ebene der Jugendlichen hart <strong>und</strong> einschüchternd.“ Richter vermerkte in der Mitteilung an das<br />
Landeskirchenamt weiter: „Diese Erkenntnis ist uns nur schwer erträglich. Sie sollte bei Gesprächen mit dem<br />
Staatssekretär unbedingt mit angesprochen werden. Schließlich haben wir viel zu verlieren: das Vertrauen der<br />
Jugendlichen. Noch ist es groß.“ (ebenda, 173)<br />
30 Nach J. Richter nahmen von staatlicher Seite neben A. Müller ein Herr Güntherberg <strong>und</strong> ein Herr Heinze am<br />
Gespräch teil (ebenda, 170).<br />
31 Der Liedermacher G. Schöne veröffentlichte 1981 <strong>und</strong> 1982 zwei Schallplatten, die vor allem innerhalb der<br />
evangelischen Kirche gute Resonanz fanden („Spar deinen Wein nicht auf für morgen“ <strong>und</strong> „Lieder aus dem<br />
Kinderland“). Am 25.03.1982 fand ein Konzert G. Schönes in der Michaeliskirche statt.<br />
32 Am Rand wurde vermerkt: „Bächer studiert jetzt am Theol. Seminar.“ In Leipzig gab es bis 1992 die<br />
43
Bächer seitens der Sicherheitsorgane durchgeführten Befragung. Pfarrer Gröger bemerkte zum<br />
Jugendgottesdienst, daß ihn die Praktiken der Sicherheitsorgane vor, während <strong>und</strong> nach Beendigung des<br />
Gottesdienstes verärgert hätten. So33 seien bereits geraume Zeit vor Beginn des Gottesdienstes Toni-<br />
Wagen34 der VP um den Nordplatz Streife gefahren. Während des Gottesdienstes seien durch Anwesende<br />
Teilnehmer am Gottesdienst fotografiert worden, des weiteren wurden Passagen der Predigt<br />
mitgeschrieben. Gröger brachte weiterhin zum Ausdruck, daß ihm die Art <strong>und</strong> Weise des Umgangs mit<br />
Bächer <strong>und</strong> Stellmacher durch die Sicherheitsorgane befremde. Die Predigt selbst sei kollektiv erarbeitet<br />
worden, darum verstehe er nicht, warum Bächer nach § 214 (2) StGB Strafe angedroht worden sei.<br />
Außerdem sei der Ton, in welchem mit Bächer gesprochen wurde, mehr als rüde gewesen35 . In der<br />
Predigt sei darauf hingewiesen worden, daß sich jeder selbst entscheiden müsse, vor dem die<br />
Entscheidung stehe, welche Art des Wehrdienstes er mit seinem Gewissen vereinbaren könne. Auf den<br />
„sozialen Friedensdienst“ sei nur als zu begrüßende, durch den Staat bestätigungswürdige Alternative<br />
hingewiesen worden. Außerdem seien während der Befragung Bächers durch die Sicherheitsorgane<br />
Textstellen der Predigt aus ihrem Zusammenhang heraus zitiert worden. Sie haben beispielsweise nie die<br />
Textstelle: „Wir machen Fre<strong>und</strong>schaft zum Menschen neben uns, zu den Menschen im anderen Land. Wir<br />
sagen ja zu diesem Staat, zu dieser Gesellschaft“ erwähnt. Gröger wurde entgegnet, daß es Eingaben von<br />
Teilnehmern am Gottesdienst gebe, welche an öffentliche Institutionen geschickt wurden. In diesen<br />
Eingaben sei Beschwerde darüber geführt worden, daß eine offene Polemik gegen unseren Staat <strong>und</strong> die<br />
Ableistung des Wehrdienstes mit der Waffe geführt wurde 36.<br />
Gröger äußerte, daß er dies nicht verstehen könne, denn nach dem Jugendgottesdienst sei in<br />
Gesprächskreisen die Möglichkeit gewesen, möglicherweise entstandene oder vorhandene Unklarheiten<br />
zu klären. Er stehe jedenfalls voll inhaltlich hinter der Predigt von Bächer, <strong>und</strong> man hätte ihn ebenso<br />
zuführen oder verhaften können37 . Superintendent Richter bemerkte diesbezüglich, daß es<br />
kirchenrechtlich gar nicht zulässig sei, Bächer für eine Predigt, welche von der Kanzel aus gehalten<br />
worden sei, verantwortlich zu machen. Bächer38 sei noch kein ausgebildeter Pfarrer, <strong>und</strong> für Personen <strong>und</strong><br />
Predigt solcher Personen ohne abgeschlossene theologische Ausbildung sei der Pfarrer, in diesem Fall<br />
Pfarrer Gröger, in vollem Umfang verantwortlich. Außerdem sei er mit den Methoden des Staatsapparates<br />
in keiner Weise einverstanden.<br />
Daraufhin39 wurde Richter auf die Tatsache hingewiesen, daß die Sicherheitsorgane nicht unter dem<br />
Begriff Staatsorgane gefaßt werden40 . Die mühevolle Kleinarbeit der Mitarbeiter für Kirchenfragen beim<br />
Rat der Stadt <strong>und</strong> das Ansehen ihrer Person würden durch das Verhalten der Sicherheitsorgane gemindert<br />
werden, äußert Richter anschließend41 . So sei beispielsweise der Diakon Weißmann [richtig: Weismann]<br />
von der Straße weg zugeführt <strong>und</strong> von den Sicherheitsorganen befragt worden 42.<br />
Dies werde sich Richter<br />
Möglichkeit, entweder an der Universität oder am Theologischen Seminar (Kirchliche Hochschule) Theologie zu<br />
studieren. Zum Theologischen Seminar s.: Vogler, Werner u.a. (Hgg.)<br />
33 Dieser Satz wurde am Rand angestrichen <strong>und</strong> daneben vermerkt: „Sicherheit“.<br />
34 DDR-Jargon für PKW der Polizei<br />
35 vgl. Dok. 5<br />
36 Diese Angaben lassen sich nach der Aktenlage nicht bestätigen. Dagegen waren zu den Konzerten S. Krawczyks<br />
1987 in Leipzig einige Protestbriefe - vermutlich von „ehrenamtlichen Mitarbeitern“ der Abteilung Innere<br />
Angelegenheiten - zu finden (SAL ZR 7048/17).<br />
37 Dieser Satz wurde unterstrichen.<br />
38 Dieser Satz wurde ebenfalls unterstrichen.<br />
39 Hinter diesem <strong>und</strong> den folgenden Absätzen waren Fragezeichen gesetzt, die jedoch durchgestrichen wurden.<br />
40 Hier wurde handschriftlich angefügt: „(sehr richtig)“<br />
41 Hier wurde handschriftlich angefügt: „(Das ist richtig!)“<br />
42 Über diese Festnahme berichtet B. Weismann am 18.10.1993: „An diesem Tag wurde ich gegen 9.45 Uhr - ich<br />
war auf dem Weg ins Jugendpfarramt - auf dem Nikolaikirchhof von zwei Beamten des MfS festgehalten.<br />
Nachdem sie meine Personalien festgestellt hatten, wurde ich aufgefordert mitzukommen. Ich weigerte mich.<br />
Nach einigem Hin <strong>und</strong> Her (etwa 10-15 Passanten blieben stehen <strong>und</strong> beobachteten schweigend die Szene) wurde<br />
ich gezwungen in einen PKW mit zivilem Kennzeichen einzusteigen. Die Fahrt ging zum Polizeikomplex in der<br />
Dimitroffstraße. In einem Verhörzimmer mußte ich ca. eine halbe St<strong>und</strong>e, von einem Beamten bewacht, warten.<br />
44
zukünftig nicht mehr bieten lassen. Zukünftig werde er bei Fortsetzung der Befragung ihm unterstellter<br />
kirchlicher Amtspersonen als Superintendent an diesen teilnehmen. Superintendent Magirius ergänzte<br />
Superintendent Richter in der Hinsicht, daß er bei weiteren Befragungen <strong>und</strong> Zuführungen von<br />
Angestellten der Kirche dazu übergehen werde, diese Fälle unter Nennung des Namens <strong>und</strong> der näheren<br />
Umstände von der Kanzel zu verkünden. Er habe aber die Hoffnung, daß dies nicht notwendig zu sein<br />
brauche. Daher bitte er die Mitarbeiter für Kirchenfragen des Rates der Stadt, auf die Sicherheitsorgane in<br />
entsprechender Weise einzuwirken. Superintendent Magirius wurde darauf verwiesen, daß die<br />
Sicherheitsorgane eigenständige Organe darstellen, denen der Staatsapparat nicht weisungsberechtigt ist 43 .<br />
Magirius wurde anschließend darüber ins Bild gesetzt, daß die Sicherheitsorgane für die Sicherheit der<br />
gesamten Bevölkerung der DDR, der Atheisten <strong>und</strong> Christen, also auch für die Sicherheit seiner Person<br />
verantwortlich seien. Verständlich sei doch das Vorgehen der Sicherheitsorgane, wenn man sich gewisse<br />
Erscheinungen der letzten Zeit vor Augen halte. So sei in der letzten Woche die Losung „Frieden schaffen<br />
ohne Waffen“ in Großformat über die Karl-Heine-Straße geschmiert <strong>und</strong> mit einem Hakenkreuz versehen<br />
worden. Dadurch würde doch auch das Anliegen der Kirche verunglimpft werden, zumal man solche<br />
Handlungen wie in der Karl-Heine-Straße nicht Gemeindemitgliedern der Kirche unterstelle. Sicherlich<br />
stünden nicht alle angewandten Methoden außerhalb jeder Kritik, doch das Anliegen der<br />
Sicherheitsorgane sei auch im Sinne der Kirche. Darauf wandte Richter ein, daß er sich dagegen<br />
entschieden verwahre, wenn die evangelischen Kirchen als ein „Hort der Konterrevolution“ betrachtet <strong>und</strong><br />
mit Nationalsozialismus <strong>und</strong> Faschismus in Verbindung gebracht werden würde. Er sei gegenwärtig dabei,<br />
solchen Hinweisen nachzugehen, Adressen könne er jedoch noch nicht nennen. Magirius brachte<br />
weiterhin zum Ausdruck, daß ihm die „übertriebenen“ Sicherheitsmaßnahmen unverständlich seien. Es 44<br />
entstehe bei ihm die Frage, ob denn der Staat Angst habe, die Machtfrage sei doch seit langem geklärt <strong>und</strong><br />
die Kirche habe nicht die Absicht, die Macht des Staates anzutasten.<br />
Noch einmal auf den Jugendgottesdienst vom 6.3.82 Bezug nehmend, äußert Richter, daß die heutige<br />
Generation von Jugendlichen seiner Meinung nach die „liebste“ seit 30 Jahren <strong>und</strong> nie die Generation von<br />
Konterrevolutionären sei. Die Maßnahmen der Sicherheitsorgane seien nur geeignet, diese Jugendlichen<br />
zu verunsichern. Heraus kämen dann Erwachsene, die nur noch in sich gekehrt seien <strong>und</strong> „nicht mehr aus<br />
dem Haus herausschauen“. Damit wäre dem Staat auch nicht gedient. Wenn er das Verhalten von<br />
Angestellten der Volksbildung gegenüber Kindern von engagierten Christen, die Kinder von<br />
Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrern ausgenommen, betrachte, komme er zu dem Eindruck, daß diese als<br />
Menschen zweiter Klasse behandelt würden. Dies würden auch Übergriffe im Zusammenhang mit den<br />
Aufnähern „Schwerter zu Pflugscharen“ beweisen. Abschließend brachten Richter, Magirius <strong>und</strong> Gröger<br />
zum Ausdruck, daß solche Gespräche mit den Mitarbeitern für Kirchenfragen geeignet seien, das<br />
Dann betraten zwei weitere Beamte den Raum. Einer stellte sich als Major ... (den Namen weiß ich nicht mehr)<br />
vor. Im Verlauf des Verhörs ging es um den 'Berliner Appell', verfaßt von Rainer Eppelmann am 25.1.1982. Die<br />
Stasi hatte in Erfahrung gebracht, daß ein Exemplar des Appells in meine Hände gelangt war. Sie wußten auch,<br />
daß ich mit Pfarrer Wonneberger (damals war er Pfarrer in der Weinbergskirche Dresden) in Verbindung stand,<br />
mit dem ich darüber sprach, wie dieser Appell unter die Leute gebracht werden könnte. Die Beamten wollten, daß<br />
ich mich von Wonneberger distanzieren sollte. Sie drohten massiv mit harten Maßnahmen, wenn ich den<br />
'Berliner Appell' verbreiten würde. Sie nahmen mir, nach einer Taschenkontrolle, das Schriftstück ab. (Allerdings<br />
hatte ich vorher den 'Berliner Appell' abgeschrieben <strong>und</strong> versteckt aufbewahrt.) Des weiteren versuchten die<br />
Beamten mich unter Druck zu setzen, ihnen zuzuarbeiten <strong>und</strong> sie zu informieren, wo der Appell auftauchen<br />
würde. Dieses Ansinnen lehnte ich strikt ab. Und weil ich dazu lachte, schlug der Major einen äußerst scharfen<br />
Ton an <strong>und</strong> sagte sinngemäß: 'Mit Euch werden wir schon fertig'. Ich gab ihm zu verstehen, daß ich, wenn ich<br />
hier herauskäme, diesen Vorfall meinem Vorgesetzten, Herrn Superintendent Richter, mitteilen würde. Daraufhin<br />
bemühten sich die Beamten, mit mir sachlicher zu sprechen. Gegen 13.00 Uhr ließen sie mich wieder frei.<br />
Damals arbeitete ich als Bezirksjugendwart im Jugendpfarramt. Dieses Ereignis ist schon 11 1/2 Jahre her <strong>und</strong><br />
ich konnte hier nur das Wesentliche mitteilen.“ R. Eppelmann wurde am 9.02.1982 aufgr<strong>und</strong> des 'Berliner<br />
Appells' inhaftiert. Am darauffolgenden Tag erließ der Leipziger Stasi-Chef ein R<strong>und</strong>schreiben zum Umgang mit<br />
Unterzeichnern dieses Appells (s. Besier/Wolf, 316f., vgl. Bericht von K. Hinze vom 22.03.1982 in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 165f.).<br />
43 Die letzten beiden Nebensätze wurden unterstrichen. Es folgt handschriftlich: „(Sehr richtig)“<br />
44 Dieser Satz wurde unterstrichen <strong>und</strong> am Rand angestrichen.<br />
45
Verständnis für die beiderseitigen Probleme zu vertiefen <strong>und</strong> Probleme zu beseitigen.<br />
Im Anschluß daran wurden die Liederabende des Liedersängers Gerhard Schöne im Gespräch berührt.<br />
Richter, Magirius <strong>und</strong> Gröger wurden darauf verwiesen, daß Schöne kein Angestellter der Kirche sei <strong>und</strong><br />
diese Veranstaltung keinen vordergründigen religiösen Charakter trage. Daher sei es erforderlich,<br />
Veranstaltungen dieser Art beim VPKA, Abt. Erlaubniswesen, anzumelden. Sonst laufe man Gefahr,<br />
gegen die Gesetzlichkeit in unserem Staat zu verstoßen 45 . Richter bemerkte dazu noch, daß er Schöne auf<br />
einer Schallplatte gehört habe <strong>und</strong> er der Meinung sei, daß dieser mit seinen Texten das Anliegen des<br />
Evangeliums mit seinen Worten ausdrücke. In der Endkonsequenz stimme er dem gegebenen Hinweis<br />
zum Anmelden von Veranstaltungen dieses Charakters inhaltlich zu. Zum Abschluß wurde noch auf die<br />
bevorstehenden Osterfeiertage eingegangen. Zu eventuell geplanten Veranstaltungen der Kirche gefragt,<br />
antworteten Richter <strong>und</strong> Magirius, daß mit Ausnahme des Suchens von Ostereiern keine Aktivitäten<br />
vorgesehen seien. Gröger ergänzte noch, daß es in einigen Gemeinden üblich sei, die Nacht von<br />
Ostersonnabend zum Ostersonntag durchzuwachen. Dies trüge jedoch nicht den Charakter organisierter<br />
religiöser Handlungen. Bei der Verabschiedung wurde Jugendpfarrer Gröger zugesichert, seiner<br />
Einladung, das Jugendpfarramt zu besuchen, zu einem späteren Zeitpunkt gern zu folgen.<br />
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß beide Superintendenten mehrmals im Gespräch darauf<br />
hinwiesen, Reibungspunkte zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche, welche nie auszuschließen sind, auf der Ebene<br />
von Gesprächen zu klären <strong>und</strong> damit an den Ergebnissen des 6.3.1978 festzuhalten 46 . Ausgehend davon,<br />
wurde Magirius unsererseits darauf aufmerksam gemacht, sich seine Äußerung, man werde bei weiteren<br />
Zuführungen seitens der Sicherheitsorgane dazu übergehen, die Fälle mit Namen <strong>und</strong> Umstand von der<br />
Kanzel abzukündigen, reiflich zu überdenken, da ansonsten seitens der Kirche das Verhältnis Staat/Kirche<br />
auf ein weiteres belastet würde. Richter gab zu, daß es auch innerhalb der Kirche Kräfte gibt, die darauf<br />
hinarbeiten, das Verhältnis Staat/Kirche zu belasten. Hier wurde an seine wie an Magirius[‘]<br />
Verantwortung appelliert, dies nicht zuzulassen, sondern darauf einzuwirken, den Kräften keinen<br />
Spielraum zu überlassen. Es wurde darauf hingewiesen, daß das Gespräch vom 6.3.1978 für beide Seiten,<br />
für den Staat wie für die Kirche, Verpflichtungen beinhaltet, die nicht nur für den Staat, sondern auch für<br />
die Kirche, als Kirche im Sozialismus, bindend sind.<br />
Über das Gespräch wurden im Anschluß die Sicherheitsorgane in Kenntnis gesetzt.<br />
7 Veranstaltungseinladung<br />
In einem Schreiben der Arbeitsgruppe „Friedensdienst“ vom 17.09.1982 werden alle Gemeinden von Leipzig<br />
dazu aufgerufen, sich an der Vorbereitung der Friedensdekade zu beteiligen 47 . Das hektographierte Schreiben<br />
hat die Adresse des Jugendpfarramtes als Briefkopf. Handschriftlich wurde darauf vermerkt: „Nur für<br />
innerkirchlichen Dienstgebrauch“ (ABL H 55).<br />
Liebe Mitarbeiter!<br />
Vom 7.11.-17.11.82 wird in diesem Jahr die Friedensdekade sein.<br />
Wir haben uns, zusammen mit unserer Arbeitsgruppe „Friedensdienst“, Gedanken gemacht, wie wir diese<br />
Friedensdekade vorbereiten <strong>und</strong> durchführen könnten. Dabei dachten wir ganz besonders an die<br />
Kirchgemeinde vor Ort. Das Anliegen dieser Friedensdekade ist es, so breit <strong>und</strong> vielfältig wie möglich<br />
unsere Gemeinden mit einzubeziehen. Deshalb machen wir Ihnen nachfolgend Angebote, wie Sie mit uns<br />
zusammen diese Friedensdekade noch mehr, als im vergangenen Jahr, in das Bewußtsein Ihrer<br />
Kirchgemeinde rücken können.<br />
45 Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen vom 30. Juni 1980 (GBl. I, Nr. 24)<br />
46 s. Anhang, S. 377<br />
47 Das Jugendpfarramt schickte 1982 drei Einladungen zur Friedensdekade an alle Leipziger Gemeinden, im Juni,<br />
am 17.09. <strong>und</strong> am 22.10. (vgl. ABL H 55 <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 177f.). Die letzte Einladung wurde<br />
versandt, da die oben abgedruckte „nicht in allen erreichbaren Gemeinde- <strong>und</strong> Jugendkreisen“ ankam. In der<br />
Einladung vom Juni 1982 bot die AGF Material zur eigenständigen Vorbereitung der FD an. Ein Teil des<br />
erarbeitetet Materials liegt im ABL.<br />
46
1. Vorbereitungstag für interessierte Mitarbeiter (Kirchvorsteher, Gruppenleiter usw.) am Sonnabend, dem<br />
9.10.82, 9 Uhr - 13 Uhr im Gemeindesaal der Nikolaikirche, Ritterstraße 5. (Anmeldungen werden bis<br />
1.10. an das Jugendpfarramt erbeten!)<br />
2. Untergruppen unserer Arbeitsgemeinschaft „Friedensdienst“ haben Gemeindeabende, die zur<br />
Durchführung der Dekade in den Ortsgemeinden ermuntern sollen, erarbeitet 48 . Diese Abende sind<br />
dem Jugendpfarramt vorgelegt worden <strong>und</strong> werden hiermit empfohlen für Jugendgruppen,<br />
Bibelst<strong>und</strong>enkreise, Ehepaarkreise, Gemeindeabende usw. Bitte melden Sie uns Ihr thematisches<br />
Interesse (Datum, welcher Ort, Zeit, Gruppe) <strong>und</strong> wir vermitteln Ihnen die Referenten. Folgende<br />
Abende bieten wir an:<br />
a) Frieden - durch Angst, Resignation, Ohnmacht?<br />
b) Frieden - durch Rüstung?<br />
c) Frieden - durch Erziehung im Kinderzimmer?<br />
d) Frieden - durch Pazifisten?<br />
e) Frieden - durch Bäume pflanzen?<br />
f) Frieden - durch Bibellesen?<br />
3. Wir bereiten für die Dekade Gebetsst<strong>und</strong>en in der Nikolaikirche vor, die über das allgemeine<br />
angekündigte Informationsmaterial hinausgehen. Diese St<strong>und</strong>en entstehen aus den o.g.<br />
Gemeindeveranstaltungen. Vom 7.11.-17.11.82 beginnt das Gebet jeweils um 18 Uhr mit dem<br />
Abendläuten <strong>und</strong> endet gegen 18.30 Uhr.<br />
4. Am Sonntag, 14.11., laden wir aus Anlaß der Dekade Familien mit ihren Kindern von 16-18 Uhr in die<br />
Goldschmidtstr. 14 zu einem bunten Friedensnachmittag ein, der mit dem Gebet abgeschlossen wird.<br />
5. Am Bußtag, 17.11., laden wir um 19.30 Uhr zum Friedensgottesdienst in die Nikolaikirche ein.<br />
Weitere Informationen senden wir Ihnen zu!<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichen Grüßen [/] (gez.) W. Gröger (gez.) Chr. Heinze (gez.) B. Weismann<br />
8 Vernehmungsprotokoll<br />
Kopie der handschriftlichen Aufzeichnung L. Stellmachers über eine Vernehmung durch zwei Mitarbeiter des<br />
MfS vom 20.10.82 (ABL H 55).<br />
Vorbemerkung: [/] Ich bin Student an der Hochschule für Grafik <strong>und</strong> Buchkunst, Leipzig, Fachklasse<br />
Fotografie. Anläßlich der Kulturkonferenz der FDJ läuft z.Zt. an unserer Schule eine Ausstellung mit<br />
Studentenarbeiten, darunter Arbeiten unserer Abteilung. Die Ausstellung wurde am 18.10. fertiggestellt.<br />
Als ich am 19.10. in die Schule kam, traf ich auf Herrn Jansong, den Dozenten meiner Fachklasse sowie<br />
Frau Richter, ebenfalls Leiter einer Fachklasse, die sehr erregt feststellten, der Ausstellungsteil unserer<br />
Abteilung sei ohne ihr Wissen konzipiert worden <strong>und</strong> einige wichtige Studentenarbeiten würden fehlen.<br />
Das könne unmöglich so bleiben. Sie würden in eigener Verantwortung verändern. [/] U.a. wurde ich von<br />
Herrn Jansong beauftragt, mein Plakat zur Friedensdekade der ev. Kirchen, November 1982, zu hängen.<br />
[/] (Dieses Plakat ist eine Studienarbeit, wurde unter Betreuung <strong>und</strong> mit Absprache zu Dozent <strong>und</strong><br />
Abteilungsleiter im Frühjahr 1982 erarbeitet <strong>und</strong> im Sommer, nach Prüfungsabschluß, dem<br />
Jugendpfarramt Leipzig zur Verwendung angeboten).<br />
Im Laufe des Tages besichtigte eine Kommission, bestehend u.a. aus Vertretern der Hochschulleitung,<br />
einem Vertreter des Kulturministeriums <strong>und</strong> Vertretern des FDJ-Zentralrates, die noch nicht wieder<br />
vollständig hergestellte Ausstellung, verweilte sichtlich verstimmt vor meinem Plakat <strong>und</strong> entfernte dieses<br />
anschließend. [/] In einem Gespräch zwischen Hochschulleitung <strong>und</strong> meinem Dozenten wurde der<br />
Verärgerung über die eigenmächtige Veränderung der Konzeption Ausdruck gegeben <strong>und</strong> erklärt, daß<br />
jegliche Werbung für die Kirche in staatlichen Einrichtungen nicht zulässig sei.<br />
Am 20.10. wurde ich in meiner Schule zu einem Gespräch mit zwei Mitarbeitern des MfS gebeten.<br />
Gespräch: [/] Die Mitarbeiter stellten sich vor, erklärten, sie wollten weder Vernehmung noch Befragung<br />
mit mir durchführen, sondern ein fre<strong>und</strong>schaftliches Gespräch. Es wurde kein Protokoll geführt. Ich bat<br />
48 s. Anm. 51<br />
47
zunächst, mir Notizen machen zu dürfen, um Jugendpfarramt wie Abteilungsleiter den Inhalt des<br />
Gespräches mitteilen zu können, um das Gespräch zu vereinfachen, unterließ ich die Notizen dann aber.<br />
Zunächst wurde gefragt, wie es passieren konnte, daß die Ausstellung nicht entsprechend ursprünglicher<br />
Konzeption hing <strong>und</strong> wie mein Plakat entstanden sei, ich erklärte dies wie in der Vorbemerkung<br />
geschildert. Im zweiten Teil ging es um meine Arbeit im Jugendpfarramt als Mitglied der Arbeitsgruppe<br />
Friedensdienst. Mir wurden einige Fakten aus meiner Biographie zitiert, mein Vater sei Genosse gewesen,<br />
leider vor 12 Jahren verstorben, ich hätte aktiven Wehrdienst geleistet, am FDJ-Studienjahr<br />
teilgenommen, Abzeichen für gutes Wissen usw. erworben, auch habe das erste Gespräch, das ich vor<br />
einem halben Jahr mit einem Mitarbeiter des MfS führte 49 , einen positiven Eindruck hinterlassen, ich<br />
hätte zugesichert, mich normgerecht, d.h. entsprechend den Gesetzen unseres Landes verhalten zu wollen<br />
- (Bei diesem Gespräch ging es um ein Plakat zu einem Gottesdienst „Was macht uns sicher?“, daß ich<br />
herstellte <strong>und</strong> im Auftrag des Jugendpfarramtes, ohne Genehmigung fotografisch vervielfältigte, damit die<br />
„Anordnung über Genehmigung von Druck- <strong>und</strong> Vervielfältigungserzeugnissen“ vom 20.7.59 (GB Teil 1,<br />
S. 640), in der Fassung vom 13.6.68 (GB [Teil] 2, S. 360) verletzte, sowie um meine Arbeit im<br />
Jugendpfarramt) - müsse ich nicht gelegentlich mit anderen Mitarbeitern, z.B. Herrn Bächer, der lediglich<br />
als Bausoldat gedient hätte <strong>und</strong> im genannten März-Gottesdienst (s.o.) zur Wehrdienstverweigerung<br />
aufgerufen hätte in Konflikt kommen? Ich antwortete, Herr Bächer hätte in diesem Gottesdienst<br />
keinesfalls zur Wehrdienstverweigerung aufgerufen, wenn, dann wäre ich mit ihm sicherlich in Konflikt<br />
gekommen. Die Mitarbeiter unserer Gruppe seien in einzelnen Fragen selbstverständlich unterschiedlicher<br />
Ansicht, das sei normal, ich würde in dieser Gruppe auch deshalb mitarbeiten, um meine Meinung zu<br />
vertreten. Über strittige Fragen würden wir sprechen. Was das Ziel unserer Arbeitsgruppe sei? Wir kämen<br />
zusammen, um zur Friedensproblematik Informationen zu sammeln, uns darüber auszutauschen, eine<br />
Meinung zu bilden <strong>und</strong> unsere Erkenntnisse weiterzuverbreiten in Form von Gemeindeabenden oder auch<br />
persönlichen Gesprächen. Wir würden die Friedensdekade sowie ein Friedensseminar im Frühjahr<br />
vorbereiten. Was z.Zt. meine konkrete Arbeit sei? In Vorbereitung der Friedensdekade hätten wir<br />
Gemeindeabende erarbeitet, ich sei an einem Abend „Frieden - durch Pazifisten?“ beteiligt. Das<br />
Jugendpfarramt bietet diese Abende an, die Gemeinden bestellen uns.<br />
Welche Erfahrungen ich gemacht hätte? Wie der Abend ausgesehen hätte? Pazifismus sei unserer Ansicht<br />
nach ein z.Zt. vielgebrauchtes Wort, über das man sich verständigen müsse. Wir würden über<br />
verschiedene Definitionen, die Geschichte <strong>und</strong> seine bisherige praktische Realisierung vortragen (z.B.<br />
Martin Luther King, William Penn) <strong>und</strong> in einem anschließenden Gespräch nicht versuchen, zu einer<br />
einheitlichen Meinung zu kommen, sondern jeden seinen Standpunkt finden zu lassen. Gesprochen wird<br />
dabei besonders über die Möglichkeiten der Realisierung des pazifistischen Ideals in einer bestimmten<br />
Zeit, an einem bestimmten Ort (z.B. Mittelamerika, Südafrika, Europa). Meiner Ansicht nach wären<br />
manche Probleme der Gegenwart dabei noch zu wenig diskutiert worden. Wie stark das Interesse an<br />
einem solchen Abend gewesen sei? [/] Relativ stark. [/] Hätte jemand an einem solchen Abend<br />
provozieren wollen? [/] (Gemeint war auf Nachfrage offensichtlich das Vortragen extremer politischer<br />
Ansichten). [/] Nein. [/] Wir hätten doch aber z.B. in jenem Märzgottesdienst sicher die Erfahrung<br />
gemacht, daß es Leute gäbe, die provozieren wollten? Es gäbe meiner Ansicht nach sehr viele<br />
Jugendliche, die nicht unbedingt an die Kirche geb<strong>und</strong>en sind, die große Probleme mit der gegenwärtigen<br />
politischen Situation haben, diese Probleme aber nirgendwo austragen können. Hier versagen<br />
Organisationen wie die FDJ. Diese Jugendlichen suchen innerhalb der Kirche Gespräch <strong>und</strong> Antworten.<br />
Wir als Arbeitsgruppe <strong>und</strong> Veranstalter teilen nicht unbedingt ihre Ansichten. Auch ich hatte bei jenem<br />
Märzgottesdienst Angst vor einer kritischen Situation. Sich aber dann nicht mehr zu stellen, hielte ich für<br />
einen sehr folgenschweren Fehler. Damit sei jenen Jugendlichen auch die letzte Möglichkeit zum<br />
Gespräch genommen, daraus könne wesentlich Schlimmeres entstehen. [/] Wie sich die Mitglieder unserer<br />
Arbeitsgruppe hinsichtlich Konfrontation mit dem Staat verhalten würden? [/] Wir sind der Meinung, daß<br />
Frieden außenpolitisch wie innenpolitisch nur auf dem Wege der Verständigung möglich ist, nicht aber<br />
durch Konfrontation, daß wir daher bemüht sind, Konflikte zu vermeiden. Wir orientieren darauf, alle<br />
legalen, gesetzlich möglichen Mittel in Anspruch zu nehmen, das politische Geschehen zu beeinflussen.<br />
49 anläßlich des Leipziger Friedensseminar, s. Anm. 23<br />
48
Es gibt einen engeren, ständigen Mitarbeiterkreis, der diese Auffassung ohne Ausnahme vertritt, der sehr<br />
eng <strong>und</strong> unter Anleitung von Herrn Gröger <strong>und</strong> Magirius zusammenarbeitet, die Haltung der letzteren sei<br />
ja sicher bekannt. Dieser Kreis kontrolliert alle unsere Aktivitäten. Daneben haben wir sehr viele Gäste<br />
oder kurzzeitige Mitarbeiter, die wir oft nicht gut kennen <strong>und</strong> für die persönlich wir natürlich nicht<br />
garantieren können.<br />
Abschließend baten die Mitarbeiter des MfS, das Friedensdekade-Plakat sich anschauen zu dürfen, sie<br />
äußerten wiederholt, es richte sich keinerlei Vorwurf gegen das Plakat selbst, nur müsse es dort hängen,<br />
wo es hingehört, in der Nikolaikirche (entsprechend Text) 50.<br />
9 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Anlage zur Information vom RdS Leipzig, Stellv. des OBM für Inneres, über den „Verlauf der<br />
Friedensdekade 1982 auf dem Territorium der Stadt Leipzig“ die Friedensdekade. Die Information ging an<br />
den RdB, SED-Stadtleitung <strong>und</strong> die KD Leipzig-Stadt des MfS. Unterzeichnet wurde sie von Sabatowska. Sie<br />
trägt den Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ <strong>und</strong> den Eingangsstempel des RdB vom 23.11.1982 (ABL H<br />
53). Die einzige Anlage der Information ist ein Bericht über den Abschlußgottesdienst der Friedensdekade<br />
1982 am 17.11.1982 in der Nikolaikirche zum Thema: „Wir können nicht schweigen.“, die hier<br />
wiedergegeben wird (StAL SED ohne Nummer).<br />
Anwesend waren ca. 1800 Jugendliche, vorwiegend aus den Jungen Gemeinden der Stadt Leipzig. Der<br />
Jugendgottesdienst wurde durch eine Band unter Leitung von Landesjugendwart Lehnert musikalisch<br />
ausgestaltet. Dieser Gottesdienst wurde durch eine Arbeitsgruppe unter Leitung des ev. Jugendpfarramtes<br />
der Stadt Leipzig vorbereitet. Während des Gottesdienstes traten besonders in Erscheinung Pf. Gröger, der<br />
die Predigt hielt, Sozialdiakon Hinze, der Informationen <strong>und</strong> Ankündigungen verlas, <strong>und</strong> Vikar Heinze<br />
<strong>und</strong> Diakon Weißmann [richtig: Weismann], die einen Sketsch gestalteten. Die Gr<strong>und</strong>lage des Sketsches<br />
bildeten symbolisch die 3 indischen Weisheiten - Nichts sagen, Nichts hören, Nichts sehen. Ein Händler<br />
(Diakon Weißmann) preist gegenüber einem Käufer (Vikar Heinze) ein M<strong>und</strong>pflaster an, welches eine<br />
nichtgewünschte Kritik an der Gesellschaft verhindert bzw. so formuliert, daß sie im Ergebnis positiv<br />
klingt; des weiteren einen Kopfhörer, mit dem man nur das hört, was einem angenehm ist (im Hintergr<strong>und</strong><br />
wurde das Lied „Ein bißchen Frieden“ eingespielt), <strong>und</strong> zuletzt wurde eine Brille feilgeboten, mit der man<br />
die Wirklichkeit sehen kann, wie man sie sich vorstellt, aber nicht wie sie ist. Im Ergebnis wurde<br />
formuliert (sinngemäß), daß man mit M<strong>und</strong>pflaster, Kopfhörer <strong>und</strong> Brille voller Zuversicht in die Zukunft<br />
blicken kann. Danach wurde der Sketsch von Weißmann <strong>und</strong> Heinze auf die gesellschaftliche<br />
Wirklichkeit ausgelegt. Es wurde sinngemäß formuliert, daß man nicht schweigen kann<br />
− zu der zunehmenden Militarisierung,<br />
− wenn Kinder Krieg statt Frieden spielen,<br />
− wenn Haß statt Vertrauen verbreitet wird,<br />
− wenn Menschen schweigen, um ihrer Karriere willen,<br />
− wenn Menschen schweigen, um Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen<br />
− wenn man um der Karriere willen abgeforderte Null-acht-fünfzehn Stellungnahmen schreibt, obwohl<br />
man dazu eine andere Meinung hat.<br />
Im Anschluß daran hielt Pf. Gröger, Leiter des Jugendpfarramtes, die Predigt. Zur Gr<strong>und</strong>lage nahm er<br />
Texte aus der Offenbarung des Johannes. Sinngemäß äußerte er in seiner Predigt u.a.:<br />
− 37 Jahre fallen keine Bomben mehr auf Leipzig. Diese Selbstverständlichkeit ist keine<br />
Selbstverständlichkeit. Man verdankt dies dem Wirken unserer Politiker, daß man in unserer<br />
Gesellschaft in Frieden leben kann. Dafür sind sie dankbar. Auch für das Zusammenwirken von Staat<br />
50 Auf dem Plakat war das Symbol der 2. UN-Abrüstungssezession mit einem Mann vor einer Erdkugel, der ein<br />
Gewehr über seinem Kopf zerbricht, verwendet worden. Da der BEK wieder das Symbol „Schwerter zu<br />
Pflugscharen“ als FD-Symbol verwendete, wurde für die Nikolaikirche ein Plakat mit diesem Symbol angefertigt.<br />
Ein ca. 1,50mx1,50m großes Transparent mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ steht heute noch in der<br />
Nikolaikirche (s. Foto auf dem Umschlag).<br />
49
<strong>und</strong> Kirche in Blick auf die Erhaltung des Friedens.<br />
− Dankbar sei man, daß die Gespräche zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche auch in der Stadt Leipzig immer<br />
möglich waren <strong>und</strong> sind in schlechten wie in guten Zeiten.<br />
− Man könne aber nicht schweigen, wenn ein großer Teil der Jugend ohne Ziel, ohne Ideal <strong>und</strong><br />
verunsichert lebt. Verunsichert <strong>und</strong> resignierend deswegen, weil ihr ehrliches Bemühen um Frieden<br />
<strong>und</strong> das Mitwirken in der einheitlichen Friedensbewegung in der DDR von der Gesellschaft<br />
mißverstanden wird.<br />
− Man könne nicht schweigen, wenn der soziale Friedensdienst als ein Modell der Friedenseinübung<br />
staatlicherseits abgelehnt wird.<br />
− Man könne nicht schweigen, daß zwischen November 1981 <strong>und</strong> November 1982 gegen die Träger des<br />
Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“, die aus einem ehrlichen Friedenswillen diese Aufnäher<br />
tragen, mit staatlichen Maßnahmen vorgegangen wird. Diese Maßnahmen haben tiefe W<strong>und</strong>en bei der<br />
Jugend geschlagen, die heute noch offen sind <strong>und</strong> durch Befehl auch nicht vergessen gemacht werden<br />
können. Diese Maßnahmen haben verunsichert, viele Jugendliche resignieren.<br />
− Man könne nicht schweigen, daß bei der Pfingstmanifestation der FDJ für Frieden, wo christliche<br />
Jugendliche mit eigenen Losungen mitdemonstrieren wollten, dies abgelehnt wurde <strong>und</strong> für einige der<br />
Weg nicht am Völkerschlachtdenkmal endete, sondern auf dem Polizeirevier.<br />
− Im weiteren Verlauf seiner Predigt reflektierte Gröger Bibelstellen der Offenbarung theologisch.<br />
− Im letzten Teil seiner Predigt berief er sich auf Billy Graham, der in Moskau im Mai zur Konferenz der<br />
religiösen Friedenskräfte sagte, daß die Großmächte ein Moratorium des Vertrauens unterzeichnen<br />
sollten, weil das gegenseitige Unterstellen von bösen Absichten den Rüstungswettlauf nie beenden<br />
wird, sondern diesen ins Unermeßliche noch steigert.<br />
− Er forderte auf (Gröger), einmal darüber nachzudenken, was es ist, daß uns heute Konflikte in der<br />
Welt, wo Menschen getötet, gefoltert <strong>und</strong> gequält werden, wo Menschen hungern <strong>und</strong> vor Hunger<br />
sterben, kaum noch betroffen machen.<br />
− Am Schluß seiner Predigt rief er die Jugendlichen auf, genau zu sehen, genau zu hören <strong>und</strong> über das,<br />
was man sieht <strong>und</strong> hört, auch zu sprechen <strong>und</strong> nicht zu schweigen. Zu sprechen, auch wenn es für den<br />
einzelnen nicht immer persönliche Vorteile bringt. Es kommt darauf an, den Frieden im kleinen zu<br />
praktizieren.<br />
− Der Abschlußgottesdienst verlief von seiten der Teilnehmer disziplinarisch. Beendet wurde dieser<br />
gegen 21.30 Uhr.<br />
10 Stasi-Information<br />
Auszug aus der monatlichen Berichterstattung der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS (Referat AuI,<br />
unterzeichnet vom Leiter der Abteilung, Wallner) zum Monat November 1982 vom 06.12.1982 an die<br />
Hauptabteilung XX des MfS, aufgr<strong>und</strong> der Anweisung des Leiters der HA XX vom 03.11.1979 (Tgb.-Nr.<br />
XX/AIG/160279/schmi-gi). Handschriftlich vermerkt steht neben der maschinengeschriebene Adresse: „Gen.<br />
Oberst Eppisch“ (BStU Leipzig, Abt. XX MB Nov. 82).<br />
[...] 1.7. Sicherungsbereich Kirchen/Religionsgemeinschaften<br />
OV „Zersetzer“ [in diesem Operativen Vorgang wurde vor allem H. Bächer bearbeitet] - Reg.-Nr. [...]<br />
Im Zeitraum der vom 7.11.-17.11.1982 stattgef<strong>und</strong>enen „Friedensdekade“ der ev. Kirchen in Leipzig<br />
konzentrierte der Arbeitskreis (AK) „Friedensdienst“, unter Leitung von „Zersetzer“, seine Aktivitäten auf<br />
die Durchführung mehrerer Vorträge in den Kirchgemeinden der Leipziger Ephorien <strong>und</strong> Gemeinden des<br />
Kreises Leipzig 51.<br />
[... Bericht über den AK „Friedensdienst“] Der [sic!] Höhepunkt <strong>und</strong> Abschluß der<br />
51 Im Abschlußbericht des RdB, Stellv. des Vorsitzenden für Inneres, vom 19.11.1982 zur FD heißt es: „Der<br />
Arbeitskreis 'Friedensdienst' beim Jugendpfarramt hat besondere starke Aktivitäten bei der Durchführung von<br />
kleineren Veranstaltungen entwickelt.“ (BArch O-4 1432) Pf. Gröger sprach von „ungefähr 30<br />
Gemeindeabenden“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 183). Diese wurden auch nach der FD 1982 „aus Einsicht in die<br />
Notwendigkeit“(ebenda) fortgesetzt.<br />
50
ereits angeführten „Friedensdekade 1982“ im Verantwortungsbereich bildete der „Friedensgottesdienst“<br />
am 17.11.1982 52 unter dem Thema „Wir können nicht schweigen“, an dem ca. 1800<br />
Jugendliche/Jungerwachsene teilnahmen. [/] Als zeitweiliger Gast des „Gottesdienstes“ richtete<br />
Landesbischof Hempel das Wort zu einer kurzen Ansprache an die Teilnehmer <strong>und</strong> brachte zum<br />
Ausdruck: Es sei nicht zufällig, daß dieser Jugendgottesdienst am Bußtag stattfinden würde, da gerade im<br />
Blick auf die vielfältigen Friedensaktivitäten der jungen Christen auch vieles schiefgegangen sei. Man<br />
solle den Begriff „Vertrauen“ zum zentralen Orientierungspunkt für christliches Friedensengagement<br />
wählen, junge Christen müßten sich mit ihren Friedensaktivitäten das Vertrauen des Staates erwerben.<br />
Bezogen auf das Motto „Wir können nicht schweigen“ orientierte Hempel auf das Neue Testament, in<br />
dem am Beispiel Jesus klar zu erkennen sei, an welchen Stellen Christen sprechen müssen <strong>und</strong> wo sie zu<br />
schweigen haben. [/] Gegenüber den durch inoffizielle Quellen als positiv eingeschätzten Ausführungen<br />
Hempels trug die von Pfarrer Gröger gehaltene Predigt einen resignierenden <strong>und</strong> pessimistischen<br />
Gr<strong>und</strong>tenor. (Jugendliche seien in ihren Bemühungen um SOFD von Staat <strong>und</strong> Kirche im Stich gelassen<br />
worden, das Problem des Entfernens von Aufnähern habe Schmerz <strong>und</strong> Verbitterung hinterlassen u.ä.<br />
bereits bekannte Positionen). [/] Abgesehen von den Bemerkungen Hempels enthielt der gesamte<br />
Gottesdienst keine klare Orientierung für die künftige Arbeit zur Friedensproblematik. Die Reaktionen der<br />
Teilnehmer auf vordergründig negative Äußerungen im Verlaufe des Gottesdienstes war [sic!] sehr<br />
verhalten. [...]<br />
11 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Brief des RdS Leipzig, Stellv. des OBM für Inneres an den 1. Sekretär der SED-Stadtleitung, R. Wötzel, vom<br />
08.11.1983 mit einer Information „über Vorkommnisse im Rahmen der Friedensdekade“. Unterzeichnet<br />
wurden die zwei Blätter von Sabatowska (StAL BT/RdB ohne Nr.).<br />
1. Zum Sachverhalt 53<br />
Am 5.11.83 gegen 18.15 Uhr wurden auf dem Marktplatz ca. 50 Jugendliche sitzend einen Kreis bildend<br />
<strong>und</strong> in der Mitte brennende Kerzen aufgestellt, angetroffen. [/] Am 6.11.83 gegen 19.50 Uhr<br />
versammelten sich 20 Jugendliche am Bachdenkmal des Thomaskirchhofes kurzzeitig mit brennenden<br />
Kerzen. [/] Am 7.11.83 gegen 18.40 Uhr versammelten sich 30 Personen aus der Nikolaikirche kommend<br />
<strong>und</strong> gingen in Richtung Naschmarkt <strong>und</strong> Grimmaische Straße mit brennenden Kerzen. [/] Durch Genossen<br />
der Volkspolizei wurden insgesamt 32 Beteiligte durch Feststellen der Personalien <strong>und</strong> Befragung<br />
namhaft gemacht. [/] Bei den Beteiligten handelt es sich ausschließlich um Jugendliche im Alter von 16<br />
bis 23 Jahren <strong>und</strong> um keine negativ dekadenten Personen. Die Befragung der Beteiligten nach ihrem<br />
Motiv ergibt, daß sie mit dieser „Symbolhandlung“ ihren Willen zum Frieden dokumentieren wollen <strong>und</strong><br />
beabsichtigen, die Bürger zum Nachdenken über den Frieden anzuregen. Ausgangspunkt für diese<br />
sogenannten „Symbolhandlungen“ sind offensichtlich die täglich stattfindenden Friedensgottesdienste in<br />
der Nikolaikirche bzw. Thomaskirche. [/] Die beabsichtigte Öffentlichkeitswirksamkeit wurde, bedingt<br />
auch durch den Zeitpunkt der Handlungen <strong>und</strong> durch die Tatsache, daß durch die Passanten der<br />
Hintergr<strong>und</strong> dieser Handlungen kaum übersehen wird, im wesentlichen nicht erreicht. Das kann man aus<br />
Reaktionen von Passanten, wie, es ist doch noch gar nicht Advent, schlußfolgern.<br />
52 s. vorhergehendes Dokument<br />
53 Zur „Absicherung“ der FD hatte der Stellv. d. OBM für Inneres des RdS Leipzig u.a. befohlen, daß die Stellv. des<br />
SBBM für Inneres während der Friedensdekade täglich schriftlich über kirchliche Veranstaltungen berichten.<br />
(Information des RdS Leipzig „über die eingeleiteten Maßnahmen zur staatlichen Absicherung...“ vom 7.11.1983<br />
- StAL BT/RdB 20707). Diese tägliche Berichterstattung gab es in allen Ebenen bis zum StfK. Staatssekretär<br />
Gysi hatte die verantwortlichen in den Bezirken dazu am 02.11.1983 eingewiesen. Am 4.11.1983 wurden die<br />
Stellv. der Vorsitzenden für Inneres der Räte der Bezirke durch das StfK angewiesen, auszuschließen, daß<br />
„pazifistische Positionen“ „in Form <strong>und</strong> im Rahmen sogenannter gewaltfreier Aktionen (provokatorischdemonstrative<br />
öffentlichkeitswirksame Handlungen, Lichterketten, Fastenaktionen usw.)“ geäußert werden.<br />
(Telegramm-Entwurf unterzeichnet von Gysi <strong>und</strong> Bestätigung der Übermittlung von Hubrich - BArch O-4 461).<br />
51
2. Wertung dieser Ereignisse<br />
Diese Ereignisse können nur als Mißbrauch christlich-motivierten Friedensengagements durch reaktionäre<br />
Kräfte innerhalb der Kirche im Sinne einer eigenen selbständigen Friedensbewegung bewertet werden.<br />
Dafür sprechen auch u.a. folgende Tatsachen: [/] In den seit Anfang September durch den Stellv. d. Rates<br />
des Bezirkes für Inneres <strong>und</strong> dem Stellv. d. OBM f. Inneres in kurzen Abständen mit dem Präsidenten der<br />
Landeskirche Sachsen, Domsch, den beiden Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius sowie mit dem<br />
Jugendpfarrer Gröger geführten Gesprächen54 wurde auf wiederholte Herausforderung von diesen<br />
versichert, alle Veranstaltungen im innerkirchlichen Rahmen zu halten, alles zu unterlassen, was zu einer<br />
Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche führen <strong>und</strong> zu politischen Mißverständnissen geeignet sei <strong>und</strong><br />
sich strikt an die Gesetzlichkeit zu halten. [/] Noch am 19.10.83 wurde von Jugendpfarrer Gröger<br />
versichert, daß es in Leipzig zu keinen symbolhaften Handlungen wie in Berlin zum Weltfriedenstag55 kommen werde. [/] Es wird offensichtlich, daß der Einfluß politisch-progressiver kirchenleitender<br />
Persönlichkeiten wie Magirius nicht ausreicht, um in der Praxis zu abgegebenen Worten zu stehen.<br />
3. Schlußfolgerungen<br />
1. Der Stellv. d. Rates d. Bez. f. Inneres <strong>und</strong> der Stellv. d. OBM f. Inneres führen am 8.11.83, 14.00 Uhr<br />
eine prinzipielle Aussprache mit den Sup. durch mit dem Ziel, daß unter Verantwortung beider Sup.<br />
gewährleistet wird, daß derartige sogenannte „Symbolhandlungen“ im Interesse der Kirche <strong>und</strong> des<br />
Staates der Unterbindung jeglichen politischen Mißbrauchs im Namen der Kirche sowie unter<br />
Wahrung der Gesetzlichkeit (keine Demonstration beantragt <strong>und</strong> genehmigt) unterbleibt 56.<br />
2. Das VPKA sichert weiterhin die uniformierte Präsenz der VP, sichert die Feststellung zur Person <strong>und</strong><br />
gewährleistet die Auflösung derartiger Handlungen im Anschluß an die täglich stattfindenden<br />
Friedensgottesdienste in der Innenstadt soweit erforderlich.<br />
3. Durch den Rat der Stadt im Zusammenarbeit mit dem Rat d. Bezirkes wird ab 8.11.83 bis auf weiteres<br />
die offizielle Teilnahme von Vertretern der Staatsorgane an diesen Friedensgottesdiensten<br />
gewährleistet.<br />
12 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einem Gedächtnisprotokoll vom Rat des Bezirkes Leipzig, Sektor Kirchenfragen, vom<br />
28.11.1983 über ein Gespräch des Stellv. des Vorsitzenden des RdB für Inneres mit dem Präsidenten des<br />
Landeskirchenamtes. Das 7-seitige Gedächtnisprotokoll trägt den Stempel „Nur für den Dienstgebrauch“ <strong>und</strong><br />
wurde von Ebisch unterzeichnet <strong>und</strong> von Reitmann bestätigt. Am 30.11.1983 wurde das Protokoll an den<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen gesandt (StAD RdB 45081 <strong>und</strong> in: BArch O-4 795).<br />
Das Gespräch fand am 25.11.1983 auf mehrfachen Wunsch von Herrn Domsch statt. Als Inhalt des<br />
Gesprächs nannte Domsch die Bitte, Auskünfte über die Angehörigen vom Synodalen Dr. Hofmann u.a.<br />
im Zusammenhang mit den Ereignissen am Capitol am 18.11.1983 verhafteten Personen zu erhalten.<br />
Domsch drängte auf den frühest möglichen Gesprächstermin, um eine baldige Entlassung der Verhafteten<br />
zu erreichen. Domsch verspätete sich zum Gespräch, an dem außerdem Herr Rau vom Landeskirchenamt<br />
<strong>und</strong> Gen. Ebisch, Rat des Bezirkes, Bereich Kirchenfragen, teilnahmen. Das Gespräch verlief insgesamt in<br />
54 Zum Gespräch am 02.09.1983 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 198-202. Bei einem Staat-Kirche-Gespräch im<br />
Sommer 1983 muß Pf. Gröger schon auf mögliche „Komplikationen während der Friedensdekade“ hingewiesen<br />
haben (Information zum Berichtszeitraum Juni/Juli 1983 von Sabatowska vom 4.8.1983, S. 7 - StAL BT/RdB<br />
20713).<br />
55 Am 1. September versuchten ca. 70 Menschen in Berlin eine Menschen- bzw. Kerzenkette zwischen den<br />
Botschaften der Sowjetunion <strong>und</strong> den USA. Diese symbolische Aktion sollte die Großmächte mahnend an ihre<br />
Friedensverantwortung erinnern. Sicherheitskräfte unterbanden jedoch diese Aktion <strong>und</strong> verhafteten einige<br />
Teilnehmer.<br />
56 J. Richter vermerkte zu diesem Gespräch: „Unsere Antwort: Es gibt innerhalb der Kirche keine Organisatoren<br />
von Demonstrationen. Deswegen können wir auch niemanden direkt ansprechen. Wir werden aber im<br />
Friedensgebet die Jugendlichen darauf hinweisen, daß sie nicht mit Kerzen auf die Straße gehen. [...] Die Ansage<br />
am Dienstag bewirkte, daß keine Kerzen in der Öffentlichkeit auftauchten.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 203)<br />
52
einer sachlichen Atmosphäre. Es wurde durch einen Anruf vom Bischof Hempel unterbrochen. Hempel<br />
bat um einen Rückruf von Domsch (im Telefongespräch ging es um eine Sache Ziegler <strong>und</strong> um eine nicht<br />
zu gewährende Unterschrift in der Angelegenheit eines „EKHd-Projektes“) [... Verweis der staatlichen<br />
Vertreter auf staatliche Kirchenpolitik <strong>und</strong> einer „auf beiderseitigen Vertrauen begründeten<br />
Gesprächsführung“ ...]<br />
Dem stimmte Domsch zu <strong>und</strong> erklärte sinngemäß: „Sie sprachen von kirchlicher Hierarchie, es gibt aber<br />
die vom Evangelium ausgehende Gewissensfreiheit in der Kirche, die die Rand- <strong>und</strong> Grenzbereiche nicht<br />
einschränkt. Es gibt auch viele Christen, die ausscheren wollen, siehe Pfarrer Rausch 57 <strong>und</strong> Pfarrer<br />
Stiehler. Mit den Ereignissen am Capitol <strong>und</strong> den „Kerzen“ ist auch so ein Grenzbereich erreicht. Die<br />
Superintendenten <strong>und</strong> auch Jugendpfarrer Gröger haben in der Nikolaikirche verkündet <strong>und</strong> die<br />
Jugendlichen aufgerufen, nicht mit ihren Kerzen auf die Straße zu gehen - die Antwort war ein<br />
Pfeifkonzert -. Danach haben sie die Verlängerung des Friedensgebetes in der Kirche angeboten“. Domsch<br />
brachte weiter zum Ausdruck, daß die Superintendenten auf die Gespräche mit den Staatsorganen richtig<br />
reagiert hätten <strong>und</strong> auch versucht haben, ihren Inhalt in Gesprächen mit den Jugendlichen umzusetzen.<br />
Pfarrer Gröger hätte den Jugendlichen ebenfalls gesagt, daß ihre Handlungen nicht mehr von der Kirche<br />
gedeckt werden können. Die zuständigen Pfarrer haben so gehandelt, wie mit den staatlichen Organen<br />
abgestimmt war. Die Jugendlichen stellten jetzt mehrfach die Frage: „Ob es Sache der Kirche ist, so etwas<br />
bekannt zu geben. Ist die Kirche beauftragt, derartige Festlegungen den Jugendlichen mitzuteilen? Die<br />
Jugendlichen hätten angeblich die Frage gestellt: „Macht Ihr Euch nicht zum Büttel des Staates?“ 58 Nach<br />
Meinung Domschs, wäre zu hoffen, daß der Staat derartiges auf andere Weise bekannt gibt, z.B. in<br />
Zeitungsveröffentlichungen usw.<br />
Domsch wurde eindeutig klar gemacht, daß der Ansatzpunkt doch ein anderer ist. Es ist doch in der<br />
Kirche zu sehen, alle Aktionen gehen doch von der Nikolaikirche aus. Die Kirche hat ihre Verantwortung<br />
wahrzunehmen, damit es im „Grenzbereich“ nicht zu Straftaten kommt, <strong>und</strong> Döring ist doch kein<br />
Vertreter des Grenzbereiches, sondern ein leitender Mann <strong>und</strong> verantwortlich für Jugendarbeit in der<br />
Kirche. Außerdem ist den Superintendenten mehrfach gesagt worden, daß Veranstaltungen, die nicht<br />
beantragt <strong>und</strong> nicht genehmigt, von den Veranstaltern ohne die vom Gesetzgeber gegebenen Modalitäten<br />
durchgeführt werden, strafrechtlich geahndet werden.<br />
Im weiteren Gesprächsverlauf versuchten Domsch <strong>und</strong> auch Rau, das Gespräch in Gr<strong>und</strong>satzfragen<br />
abzudrängen. So sprach Domsch u.a. von dem Zusammenhang zwischen Evangelium, Predigt <strong>und</strong> Politik<br />
<strong>und</strong> Rau machte deutlich, daß alle Bereiche von politischen Fragen betroffen sind. Für die Jugendlichen<br />
wären Dr. Martin Luther King <strong>und</strong> Bonhoeffer Vorbilder für die Sache des Friedens. Sie wären sich einig,<br />
daß der Frieden bewahrt werden müsse. Da es ihnen aber nicht gegeben ist, die Rüstungsspirale<br />
zurückzudrehen, würden sich die Jugendlichen mit solchen Aktionen äußern. Domsch sprach in diesem<br />
Zusammenhang davon, daß die Jugendlichen durch die vielen Veröffentlichungen zur Friedensbewegung<br />
in den kapitalistischen Ländern angeregt wurden, etwas Ähnliches zu tun. In diesem Teil des Gespräches<br />
wurde beiden Herren eindeutig dargelegt:<br />
1. Es besteht kein Gr<strong>und</strong>, die Demonstrativhandlungen der Jugendlichen zu verniedlichen. Durch 15 bis<br />
20 Jugendliche ist unserem Staat enormer außenpolitischer Schaden zugefügt worden.<br />
2. Die Nikolaikirche war mehrfach Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkt derartiger Aktionen. In der Nikolaikirche<br />
wurde am 16.11.1983 durch Flüsterpropaganda für die Aktion am 18.11.1983 vor dem Capitol<br />
57 Hans Georg Rausch war Pfarrer der Immanuel-Kirchgemeinde in Leipzig-Probstheida. Er erklärte im Sommer<br />
1955, nachdem das LKA ihm einen Amtswechsel nahegelegt hatte, zusammen mit dem Kirchenvorstand, daß<br />
seine Gemeinde von der Sächsischen Landeskirche unabhängig sei. Die DDR-Regierung (Abteilung Kultfragen)<br />
bestätigte im August 1955 dieser Gemeinde den Status „Körperschaft des öffentlichen Rechts“ <strong>und</strong> CDU <strong>und</strong><br />
Staat unterstützen die unabhängige Gemeinde bis in die 70er Jahre. Während dieser Zeit konnte die Sächsische<br />
Landeskirche nicht über den Gemeindebesitz verfügen, so daß die Christen der landeskirchlichen Gemeinde ihre<br />
Gottesdienste in einem Zirkuszelt hielten. Der Gegenspieler von H.-G. Rausch war der damalige Leipziger<br />
Superintendent Stiehl.<br />
58 Diese Formulierung hatte K. Domsch schon am 15.06.1982 in einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Rates<br />
des Bezirkes Dresden, M. Scheler, gebraucht (Protokoll v. Lewerenz - SAPMO-BArch IV B 2/14/102). „Büttel<br />
des Staates?“ wurde mit der Maschine unterstrichen.<br />
53
geworben.<br />
3. Die staatlichen Organe haben den kirchenleitenden Persönlichkeiten mehrfach Gelegenheiten gegeben,<br />
Einfluß auf diese Jugendlichen zu nehmen, ohne daß strafrechtliche Maßnahmen durchgeführt wurden.<br />
4. Mit dem Brief an das Präsidium der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche stellen sich kirchenleitende<br />
Persönlichkeiten hinter die Aktion der Jugendlichen 59.<br />
Zur Erklärung an das Präsidium der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche führte Domsch an, daß er diese<br />
Form nicht für legitim hält, um kirchliche Standpunkte darzustellen. Er geht gemeinsam mit Bischof<br />
Hempel davon aus, der Westpresse keine Anhaltspunkte für die Einmischung in die Beziehungen Staat-<br />
Kirche zu geben. Nach Meinung von Domsch wäre es richtig gewesen, ein solches Schreiben, wenn<br />
überhaupt, dann an den Rat der Stadt zu richten. Domsch machte deutlich, daß es Superintendent Richter<br />
nicht gelungen ist, das Schreiben zu verhindern.<br />
Diese Aussage von Domsch wurde zum Anlaß genommen, um ihm die Frage zu stellen: „Was ist in der<br />
Kirche eigentlich los, wer kann gegenwärtig alles Aktionen in der Kirche durchführen?“ „Wer kann<br />
eigentlich die Friedensdekade der Kirche verlängern?“ Außerdem wurde deutlich gemacht, daß das<br />
Anliegen für das Gespräch doch eigentlich der Wunsch gewesen ist, Informationen über die inhaftierten<br />
Jugendlichen zu erhalten, <strong>und</strong> so aus der Bitte für das Gespräch natürlich auch die Verantwortung <strong>und</strong> der<br />
Bezug für die Sächsische Kirche besteht. Herr Domsch wurde in Kenntnis gesetzt über die inhaftierten<br />
Personen, ihre nicht abgeschlossene Berufsausbildung <strong>und</strong> ihre zum Teil bereits bekannten<br />
strafrechtlichen relevanten Handlungen in der Vergangenheit <strong>und</strong> die laufenden Ermittlungsverfahren<br />
nach § 212 [Widerstand gegen staatliche Maßnahmen] <strong>und</strong> 217 60 StGB.<br />
Ausführlicher wurde Domsch über die Familie Castillo informiert. Herr Domsch wurde durchaus<br />
zustimmend der Standpunkt des Synodalen Hofmann über das Verhalten seiner Familienangehörigen<br />
mitgeteilt61 . Domsch wurde mit der Frage konfrontiert, ob er überhaupt wisse, was sich eigentlich in den<br />
Kirchen abspielt? So wurden am 20.11.1983 in der Nikolaikirche 2 ausländischen Journalisten von einem<br />
Herrn, der sich als Pfarrer ausgab, Auskünfte erteilt ohne sie nach ihrer Legitimation gefragt zu haben.<br />
Des weiteren hat sich in der Wohnung des Synodalen Dr. Hoffmann bei der Übergabe seiner Tochter<br />
durch einen Volkspolizisten, ein Pfarrer aufgehalten, der gegenüber den Übergebenden tätlich wurde. Die<br />
staatlichen Organe erwarten von der Kirche neben der Angabe der Person zumindest eine Entschuldigung<br />
dieses Mannes.<br />
Am 20.11.1983 wurde der Gottesdienst in der Thomaskirche von 2 Punkern mit brennenden Kerzen<br />
unterbrochen. Beide rissen dem Diakon Döring das Mikrophon aus der Hand <strong>und</strong> sagten: „Während ihr<br />
betet - werden Jugendliche von der Staatssicherheit festgenommen!“<br />
Am 20.11.1983 wurde in Döbeln während einer Veranstaltung der Jungen Gemeinde in der Nikolaikirche<br />
durch den Sohn des kirchlichen Angestellten Landgraf Material verbreitet, was staatsfeindlichen<br />
Charakter trug. Die staatlichen Organe erwarten, daß auf den Jugendpfarrer Uhlig Einfluß genommen<br />
wird, um zukünftig so etwas zu unterbinden.<br />
Präsident Domsch war über diese Fakten schockiert <strong>und</strong> brachte zum Ausdruck, daß ihm klar sei, daß so<br />
etwas nicht geht. Zu dem Vorfall bei der Übergabe der Tochter des Synodalen Dr. Hoffmann äußerte er,<br />
die meisten wüßten nicht, daß man sich strafbar macht, wenn man einen Bürger berührt. Er kam auf die 7<br />
59 s. Dok.14, Anlage 2<br />
60 § 217: Zusammenrottung<br />
(1) Wer sich an einer der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen<br />
beteiligt <strong>und</strong> sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane oder andere zuständige<br />
Staatsorgane verläßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, mit<br />
Haftstrafe oder mit Geldstrafe bestraft<br />
(2) Wer eine Zusammenrottung organisiert oder anführt (Rädelsführer), wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr<br />
bis zu acht Jahren bestraft.<br />
(3) Der Versuch ist strafbar.<br />
61 A. Castillo ist Tochter des damaligen Landessynodalen Dr. R. Hofmann.<br />
62 s. a. Bericht des MfS (Dok. 13). J. Richter berichtete über dieses FG weiter: „[Diakon] Döring hat sofort mit<br />
ihnen gesprochen. Ein dritter Jugendlicher hat dann mit Erlaubnis von [Pfarrer] Grabner kurz <strong>und</strong> sachlich<br />
erklärt, was inzwischen geschehen war.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 209)<br />
62<br />
54
Inhaftierten zurück <strong>und</strong> fragte, ob es nicht einen Weg gebe, diese Sache lautlos zu regeln. Er äußerte:<br />
„Herr Reitmann, ich habe die herzlichste <strong>und</strong> innigste Bitte Milde walten zu lassen <strong>und</strong> nach<br />
Möglichkeiten geringe Strafen, wenn überhaupt, auszusprechen. Wenn Zwang zur Anwendung kommt,<br />
schadet das unserer weiteren Arbeit mit den Jugendlichen nur.“<br />
Herrn Domsch wurden abschließend <strong>und</strong> zusammenfassend zu diesem Teil des Gesprächs noch einmal die<br />
staatlichen Anliegen vorgetragen. [/] Die Anwesenden wurden aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, daß<br />
sich solche Einzelfälle, wie<br />
− das Auftreten von Punkern in Kirchen<br />
− staatsfeindliche Hetze in Veranstaltungen der Jungen Gemeinden, wie in Döbeln<br />
− der Brief an die Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche, der durch die Superintendenten nicht verhindert<br />
wurde<br />
nicht wiederholen <strong>und</strong> daß die Kirche auf diese Mitarbeiter einwirkt, die hauptamtlich für die kirchliche<br />
Jugendarbeit verantwortlich sind <strong>und</strong> den Brief an die Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche unterzeichnet<br />
haben. Bezugnehmend auf eine Bemerkung von Domsch, daß Leipzig kein Jena sei 63 , wurde darum<br />
gebeten in Leipzig keine „Wonneberger“ 64 heranzuziehen oder zuzulassen. Es wäre deshalb gut zu<br />
wissen, wer die beiden angeblichen Pfarrer der Nikolaikirche sind. Im Zusammenhang mit den Punkern<br />
verwies Herr Rau darauf, daß in einer Kirche in Hannover ein Jugendlicher eindringen konnte <strong>und</strong> dem<br />
Kruzifix den Hals abschneiden konnte. Darauf wurde ihm entgegnet, daß man doch spätestens jetzt in der<br />
Kirche alles tun müsse, damit keine Hannover-Verhältnisse eintreten. Präsident Domsch bereiten nach<br />
seinen Aussagen Schreiben aus der Bevölkerung Sorgen, daß in Bad Lausick Raketen stationiert werden<br />
sollen [... u.a. wird von K. Domsch gefragt, warum 3 Mitarbeiter der Diakonie inhaftiert wurden...].<br />
13 Stasi-Information<br />
Auszug aus der monatlichen Berichterstattung der BV Leipzig des MfS, Abteilung XX/AuI (unterzeichnet<br />
von Oberstleutnant Wallner), für den Monat November 1983 (vom 05.12.1983), an das Ministerium für<br />
Staatssicherheit Hauptabteilung XX <strong>und</strong> AKG, aufgr<strong>und</strong> eines Schreibens des Leiters der HA XX vom<br />
07.01.1983 (Tgb.-Nr. XX/AKG/397/83), mit Informationen zu den Demonstrationen in Leipzig. Der<br />
Gesamtbericht umfaßt 27 mit der Maschine engbeschriebene Seiten (BStU Leipzig Abt. XX MB Nov. 1983).<br />
1. Ergebnisse der politisch-operativen Arbeit zur Verhinderung, Aufklärung <strong>und</strong> Bekämpfung politischer<br />
Untergr<strong>und</strong>tätigkeit im Verantwortungsbereich.<br />
[...] In der Zeit vom 5. - 18. November 1983 kam es im Stadtgebiet von Leipzig wiederholt zu<br />
öffentlichkeitswirksamen Ansammlungen Jugendlicher <strong>und</strong> Jungerwachsener, die mit brennenden Kerzen<br />
„ihre Angst um den Frieden“ bek<strong>und</strong>en wollten. Ein Teil dieser Personen hat Verbindung zur kirchlichen<br />
Jugendarbeit, einige sind wegen rechtswidriger Ersuchen auf Übersiedlung, wegen des Tragens<br />
pazifistischer Symbole oder wegen krimineller Delikte bereits aufgefallen. Diese Handlungen in der<br />
Öffentlichkeit stehen in engem Zusammenhang mit der sogenannten Friedensdekade der Evangelischen<br />
Kirchen, die vom 6.-16.11.83 abgehalten wurde <strong>und</strong> in deren Verlauf täglich in der Zeit von 18.00 - 18.30<br />
Uhr ein Friedensgebet in der Leipziger Nikolai-Kirche durchgeführt wurde.<br />
Erstmals wurde eine derartige Ansammlung von Jugendlichen/Jungerwachsenen am 5.12.83 gegen 18.15<br />
Uhr auf dem Markt am Alten Rathaus festgestellt. R<strong>und</strong> 50 Personen setzten sich im Kreis auf den Platz<br />
<strong>und</strong> zündeten Kerzen an. Durch die schnelle Auflösung der Ansammlung konnten nur 12 Personen durch<br />
63 Die Jenaer Friedensgruppen haben aufgr<strong>und</strong> ihrer besonders effektiven Öffentlichkeitsarbeit <strong>und</strong> Orientierung auf<br />
innergesellschaftliche Gr<strong>und</strong>probleme (MfS <strong>und</strong> Mauer) 1981-83 zu einer deutlichen Verunsicherung des Staates<br />
geführt. Am 24.11. fand ein Gespräch zwischen Stadtrat Sabatowska <strong>und</strong> den Superintendenten statt, bei dem<br />
Sabatowska behauptete, daß hinter der „Aktion sowohl arbeitsscheue <strong>und</strong> kriminelle Elemente als auch<br />
systemfeindliche aus dem Bereich Jena <strong>und</strong> Berlin stünden“ (so Bericht J. Richter, in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 210).<br />
64 C. Wonneberger war u.a. aufgr<strong>und</strong> des Aufrufs zum „Sozialen Friedensdienst“ zu einem vom Staat besonders<br />
gefürchteten Pfarrer geworden.<br />
55
eintreffende Kräfte der VP namentlich festgestellt werden. Bereits am 7.11.83 fanden sich in der Zeit von<br />
18.45 Uhr bis 18.55 Uhr erneut r<strong>und</strong> 30 Personen im Alter zwischen 15 <strong>und</strong> 21 Jahren am Markt mit<br />
brennenden Kerzen ein, 20 Personen konnten namentlich festgestellt werden. Darunter befand sich die<br />
Tochter des [... geschwärzt] der Landeskirche Sachsen, [... geschwärzt] sowie die Person [... geschwärzt]<br />
der Verbindung zur „Initiativgruppe Nikaragua“ hat.<br />
Am 9.11.83 wurden am Gedenkstein für die ehemalige Jüdische Synagoge in der Gottschedstraße<br />
insgesamt 32 Personen namentlich festgestellt, die im Zusammenhang mit dem Jahrestag der<br />
„Kristallnacht“ an dieser Stelle Kerzen entzündeten. Die Personen waren zu unterschiedlichen Zeiten<br />
(erste Gruppe 18.00 Uhr, zweite Gruppe 18.55 Uhr) festgestellt worden.<br />
Ein weiteres Ereignis dieser Art war am 12.11.83 festzustellen, daß anläßlich der Ökumenischen<br />
Begegnungstage65 zahlreiche kirchenleitende Personen des In- <strong>und</strong> Auslandes sowie die Vertreter<br />
westlicher Massenmedien in Leipzig weilten. Bereits kurz vor 18.00 Uhr bildeten r<strong>und</strong> 30 Personen einen<br />
Kreis auf dem Markt <strong>und</strong> zündeten Kerzen an. Durch eingesetzte gesellschaftliche Kräfte66 <strong>und</strong> DVP<br />
wurde die Ansammlung aufgelöst, die Beteiligten begaben sich zum überwiegenden Teil zur<br />
Nikolaikirche, um an dem „Friedensgebet“ teilzunehmen. Nach dessen Abschluß versuchten wiederum ca.<br />
30 Personen zum Markt zu gelangen <strong>und</strong> dort Kerzen anzuzünden67 . Sie konnten durch eingesetzte Kräfte<br />
daran gehindert werden, 11 Personen wurden zum VPKA zugeführt. Sie hatten sich der polizeilichen<br />
Aufforderung nach Auflösung der Ansammlung widersetzt. Dazu gehörte auch der Diakon der<br />
Thomaskirche, [... geschwärzt], der aktiv in der Initiativgruppe „Hoffnung Nikaragua“ mitarbeitet sowie<br />
die freischaffende Philosophin [... geschwärzt], die bereits im Oktober durch einen inoffiziellen Hinweis<br />
der BV Dresden im Zusammenhang mit einer geplanten Provokation durch negativ-feindliche Kräfte mit<br />
kirchlichen Bindungen bekannt wurde. Diese Provokationen sollten am Nationalfeiertag in Leipzig<br />
durchgeführt werden, indem Teile der Verfassung der DDR symbolisch „zu Grabe getragen werden<br />
sollten.“ Bei der Auflösung der Ansammlung auf dem Markt am 12.11.83 geriet der in Leipzig weilende<br />
Korrespondent der „Frankfurter R<strong>und</strong>schau“, [... geschwärzt] in die Kontrollmaßnahmen der VP. Die<br />
ökumenischen Begegnungstage wurden von dem Vorfall nicht negativ beeinflußt 68.<br />
Unmittelbar nach dem Ereignis vom 5.11.83 wurde durch abgestimmte Maßnahmen des<br />
Zusammenwirkens mit den zuständigen Organen direkter Einfluß auf die Superintendenten genommen,<br />
damit diese in die Disziplinierung der negativ-feindlichen Kräfte einbezogen werden. Beide Leipziger<br />
Superintendenten <strong>und</strong> auch andere Amtsträger ließen in den folgenden Tagen das intensive Bemühen<br />
erkennen, eine weitere Belastung des Verhältnisses Staat-Kirche nicht zuzulassen <strong>und</strong> Störungen der<br />
öffentlichen Ordnung nicht zu dulden.<br />
Diese Bemühungen der Superintendenten wurden jedoch durch [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt] nicht<br />
65 Die Ökumenischen Begegnungstage waren Teil der Feierlichkeiten anläßlich des 500. Geburtstages M. Luthers<br />
<strong>und</strong> fanden vom 10.-13.11.1983 in Leipzig im Anschluß an den Feiern in Eisleben statt.<br />
66 Zu „gesellschaftlichen Kräften“ s. Anhang S. 359<br />
67 Der Leiter der „Informationsgruppe“ zu den „Ökumenischen Begegnungstagen“ A. Müller berichtete in seinem<br />
Tagesrapport: „Nach Beendigung des Friedensgebetes zündeten Jugendliche in der Kirche <strong>und</strong> im Vorraum der<br />
Kirche Kerzen an. Auf Betreiben eines harten Kerns (Gammler) wurden die Jugendlichen angehalten <strong>und</strong><br />
ermutigt, mit den brennenden Kerzen in die Öffentlichkeit in Form einer Gruppierung in Richtung Markt zu<br />
gehen.“ (StAL BT/RdB 20707) Teile der b<strong>und</strong>esdeutschen Friedensbewegung hatte im Herbst 1983 ohne Plakate<br />
<strong>und</strong> Transparente, jedoch mit Kerzen <strong>und</strong> Kreuzen für Abrüstungen demonstriert, um ihre Gewaltfreiheit zu<br />
dokumentieren (z.B. Friedenskreuzzug in München am 16./17.11.1983).<br />
68 Im Abschlußbericht des Sekretariats der SED-BL zu den „Ökumenischen Begegnungstagen“ hieß es: „Nachdem<br />
die Mehrzahl der Veranstaltungen bereits in korrekter Weise abgelaufen war, versuchten bekannte negative<br />
Kräfte durch provokative Handlungen (in Gegenwart von Vertretern der Westpresse) den guten Gesamteindruck<br />
zu stören. (Versuch einer Demonstration von ca. 50 Personen) Diese Aktion hatte keine Wirkung auf den<br />
Gesamtverlauf der 'Ökumenischen Begegnungstagen' <strong>und</strong> fand keinen Widerhall in der Öffentlichkeit.“ (Vorlage<br />
für das Sekr. der SED-BL vom 16.11.1983 - StAL SED IV E-2/3/106) In der Rede der SED-SL am 13.12.1983<br />
sagte jedoch der SED-Sekr. Müller: „Wir wenden uns aber gegen solche, wie die kleine Gruppe der Naiven <strong>und</strong><br />
ihrer Inspiratoren, die denken, sie könnten mit einer Kerze den Frieden sichern, anstatt unsere sozialistische<br />
Heimat durch ergebnisreiche, fleißige Arbeit zu stärken.“ (StAL SED IV E-5/01/058)<br />
56
in der erforderlichen Weise unterstützt, das Auftreten beider Personen in „Friedensgebeten“ sei nach<br />
Einschätzung der Superintendenten angetan gewesen, vorhandene Emotionen der Jugendlichen „noch<br />
anzuheizen“. Inoffizielle Quellen bestätigen dies in ihren Berichten zu einzelnen Veranstaltungen der<br />
Friedensdekade. Inoffiziell wurde bekannt, daß eine Reihe Jugendlicher eine weitere Zusammenrottung<br />
mit brennenden Kerzen für den 18.11.83 zur Eröffnung der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche [kurz Dok-<br />
Woche] am „Capitol“ planten. Dieses Vorhaben wurde mit einem am 18.11.83 an den Veranstalter der<br />
Dok-Woche gerichteten Brief bestätigt69 , der als Durchschlag der Abt. Inneres beim Rat der Stadt <strong>und</strong><br />
beiden Superintendenten übermittelt wurde.<br />
Verfasser dieses Briefes sind [... geschwärzt (A. Rothe, M. Lösche, B. Weismann, H.-F. Fischer, K. Hinze,<br />
H.-J. Döring)]. Sie motivierten ihren Brief damit, daß „sie es nicht verantworten können, den Dingen ihren<br />
Lauf zu lassen, weil sie Angst haben müssen, daß den Jugendlichen mit unangemessener Härte begegnet<br />
wird.“ Deshalb boten sie ein stündliches Friedensgebet in der Nikolaikirche an. Beide Superintendenten<br />
sprachen den Unterzeichnern des Briefes die Kompetenz ab, im Namen der „kirchlichen Mitarbeiter“ zu<br />
sprechen, wie das im Brief erfolgte.<br />
Am 18.11.83 versammelten sich gegen 19.07 Uhr r<strong>und</strong> 25 Personen an der Filmbühne „Capitol“ <strong>und</strong><br />
versuchten, einen Kreis zu bilden <strong>und</strong> Kerzen anzuzünden. Insgesamt wurden 17 Personen zugeführt, die<br />
Ansammlung war gegen 19.15 Uhr aufgelöst. Unter den Zugeführten befanden sich vier Mitglieder der<br />
„Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua“, zwei Töchter des [... geschwärzt] zwei rechtswidrig Ersuchende<br />
<strong>und</strong> Personen mit anderen operativ-interessanten Merkmalen.<br />
Im Ergebnis der durchgeführten Befragungen wurden gegen sieben Personen Ermittlungsverfahren mit<br />
Haft gemäß Paragraph 217 StGB eingeleitet:<br />
− [... geschwärzt 70]<br />
(RE, Punker-Anhänger) - erf. f. KD Stadt<br />
− [... geschwärzt] (RE, SOFD), OPK „Platz“ - KD Stadt<br />
− [... geschwärzt] - erf. f. BV Berlin, Abt. XX/7<br />
− [... geschwärzt] - OPK „Platz“ - KD Stadt<br />
− [... geschwärzt] (Punker) OPK „Stern“ - KD Stadt<br />
− [... geschwärzt] - erf. f. BV Halle [... geschwärzt]<br />
Gegen die [... geschwärzt] wurde ein EV ohne Haft eingeleitet.<br />
Im Zusammenhang mit dem Vorkommnis am 18.11.83 ist folgender Zwischenfall am 20.11.83 im<br />
Abendgottesdienst in der Thomaskirche zu sehen: Als der an der Gestaltung des Gottesdienstes beteiligte<br />
[... geschwärzt] die Fürbitte sprechen wollte, kamen zwei Jugendliche (Punker) mit brennenden Kerzen in<br />
der Hand durch das Kirchenschiff gelaufen. Da [... geschwärzt] eine abwartende Haltung einnahm,<br />
konnten sie sich das Mikrofon nehmen; danach brachten sie sinngemäß zum Ausdruck: „Während ihr hier<br />
vom lieben Gott redet, werden junge Leute auf der Straße wegen ihres Friedensbekenntnisses von<br />
Staatssicherheit <strong>und</strong> Polizei verfolgt, inhaftiert <strong>und</strong> gefoltert. Sie werden 26 St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> länger durch die<br />
Staatssicherheit festgehalten“. Dieser Vorfall erregte bei den anwesenden Gläubigen starkes Mißfallen.<br />
[... Es folgen Berichte über b<strong>und</strong>esdeutsche Initiativen, die die DDR-Opposition im Raum Leipzigs<br />
unterstützten, Berichte zu einzelnen OVs <strong>und</strong> zum Beispiel der Hochschulgruppe der PLO an der<br />
Leipziger Universität (S. 8-21)]<br />
3.7. Sicherungsbereich Kirche/Religionsgemeinschaften<br />
[...]<br />
Im Zeitraum vom 6.-16. November 1983 wurde die sogenannte Friedensdekade der Evangelischen<br />
Kirchen der DDR unter dem Thema „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“ durchgeführt. Zum<br />
Verlauf der „Friedensdekade 1983“ wird durch interne <strong>und</strong> auch offizielle Quellen übereinstimmend<br />
eingeschätzt, daß kirchenleitende Personen bestrebt waren,<br />
− die vielfältigen Luther-Ehrungen in der DDR für Aktivitäten gegen die Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong><br />
Bildungspolitik auszunutzen <strong>und</strong> die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR auch international zu<br />
69 s. Dok. 14, Anlage 2<br />
70 Inhaftiert wurden wegen ihrer Teilnahme an den Kerzendemonstrationen: Olaf Schubert, Bernd Starcke, Anke<br />
Castillo, Klaus Fiedler, Sven Wetzig <strong>und</strong> Bettina Münzberg (s. Amnesty International (1992), 59 <strong>und</strong> Spiegel Nr.<br />
49/1983, 52).<br />
57
diskreditieren, wobei jedoch die zentralen Veranstaltungen der „Ökumenischen Begegnungstage“ auch<br />
kirchlicherseits als Erfolg anerkannt wurden;<br />
− Keine Verantwortung für provokativ-demonstrative Handlungen feindlich-negativ beeinflußter<br />
Jugendlicher <strong>und</strong> Jungerwachsener im Anschluß oder vor Beginn der Friedensgebete zu übernehmen<br />
<strong>und</strong><br />
− im Ergebnis unmißverständlicher Warnungen staatlicherseits erkennen ließen, daß ihnen nicht an einer<br />
offenen Konfrontation mit den Staatsorganen gelegen ist.<br />
In der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisgebieten kam es zu vielfältigen Aktivitäten, insbesondere in Form<br />
von jugendspezifischen Veranstaltungen, Gottesdiensten, Ausstellungen <strong>und</strong> „Friedensminuten“-<br />
Glockengeläut, wovon ein Teil - neben ohnehin vielfach pseudopazifistischen Äußerungen <strong>und</strong><br />
Bek<strong>und</strong>ungen - durch versteckte <strong>und</strong> auch offene Angriffe gegen einzelne Seiten der sozialistischen<br />
Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung, speziell die Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong> Bildungspolitik der DDR<br />
gekennzeichnet war.<br />
Besonders hervorzuhebende Veranstaltungen mit negativen Akzenten sind: [... Kurzberichte über vier<br />
Veranstaltungen]<br />
Abschluß <strong>und</strong> Höhepunkt zahlreicher kirchlicher Veranstaltungen im Bezirk während der<br />
„Friedensdekade 1983“ bildete der sog. Friedensgottesdienst in der Nikolaikirche am 16.11.83, 19.40 Uhr<br />
bis gegen 21.30 Uhr, in dem [... geschwärzt] /Dresden die Predigt hielt <strong>und</strong> an welchem neben kirchlichen<br />
Amtsträgern <strong>und</strong> Mitarbeitern ca. 1300 Jugendliche <strong>und</strong> Jungerwachsene teilnahmen. [/] Dieser<br />
Gottesdienst machte von Anbeginn deutlich, einerseits das Befolgen der den [... geschwärzt] <strong>und</strong> [...<br />
geschwärzt] in mehreren Aussprachen durch den Stellvertreter für Inneres des Rates des Bezirkes,<br />
Genossen Dr. Reitmann, <strong>und</strong> den Stellvertreter des OBM für Inneres, Genossen Sabatowska, mit<br />
Nachdruck erteilten Auflagen zur unbedingten Gewährleistung der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit<br />
im Zusammenhang mit dieser Abschlußveranstaltung; andererseits Versuche, diese Auflagen zur<br />
emotionalen Aufheizung von Teilnehmern zu nutzen sowie den beachtlichen Grad von Manipuliertheit<br />
derselben <strong>und</strong> deren offenk<strong>und</strong>ige Bereitschaft zu weiteren mannigfaltigen Aktivitäten im Sinne der von<br />
feindlichen Zentren <strong>und</strong> Kräften gelenkten <strong>und</strong> ihnen hörigen kirchlichen Amtsträgern realisierten<br />
politisch-ideologischen Diversion. [/] Auf eine Mitteilung, daß die ‘heutige Kollekte für die Leute bzw.<br />
deren Angehörige bestimmt ist, die wegen ihres Einsatzes für den Frieden in Schwierigkeiten geraten<br />
sind’ wurde mit Beifall reagiert. [/] Die von [... geschwärzt] gehaltene Predigt stand unter dem Thema<br />
„Ein Denkmal für den Frieden“ <strong>und</strong> enthielt keine offenen Angriffe gegen die sozialistische Staats- <strong>und</strong><br />
Gesellschaftsordnung. [/] Nach dieser Predigt wurden ‘Fürbitten’ gesprochen, in denen sich die<br />
gegenwärtigen Angriffsrichtungen gegen unsere Militär-, Sicherheits- <strong>und</strong> Bildungspolitik widerspiegeln:<br />
[/] „Wir bitten Dich, Herr, für alle in unserem Land, die sich für Gerechtigkeit <strong>und</strong> Abrüstung einsetzen<br />
<strong>und</strong> die keine Waffen mehr in die Hände nehmen. Besonders bitten wir dich, sich (hier wurde eine Reihe<br />
Namen genannt) anzunehmen, die deswegen inhaftiert worden sind. Auch bitten wir Dich für die, die den<br />
Wehrdienst mit der Waffe ableisten. Sei ihnen nah, daß sie nicht Schaden nehmen an Geist, Seele <strong>und</strong><br />
Leib!“ [/] „Wir bitten Dich für alle, die sich um den kleinen Frieden zu Hause <strong>und</strong> im täglichen Leben<br />
bemühen, für alle, die sich öffentlich als Christen zu erkennen geben <strong>und</strong> für alle, die das eine oder das<br />
andere nicht schaffen“. [/] „Wir bitten Dich für die Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen an den POS, EOS, Berufs-<br />
<strong>und</strong> Fachschulen, für die Studenten an den Hochschulen <strong>und</strong> Universitäten, daß Wehrerziehung, GST-<br />
Lager <strong>und</strong> Zivilverteidigung in ihnen nicht eine Ideologie der Gewalt hervorrufen. Gib ihnen Kraft, daß<br />
wir Spannungen in Familie, Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft gewaltfrei lösen.“ [/] „Wir bitten Dich für die<br />
Politiker in Ost <strong>und</strong> West, besonders auch für unsere Regierung, die sich für weniger Waffen abmühen.<br />
Laß sie nicht allein in ihren Sachzwängen. gib ihnen Phantasie, Einfallsreichtum <strong>und</strong> Fähigkeit zum<br />
Weiterverhandeln.“ [/] „Wir bitten Dich, daß keine neuen Raketen in der BRD stationiert <strong>und</strong> das<br />
vorhandene Raketenübergewicht in der Sowjetunion, wie angeboten, reduziert werden, damit die<br />
eingesparten Mittel zum Schutz der Umwelt eingesetzt werden, damit wir friedlich miteinander leben <strong>und</strong><br />
innere <strong>und</strong> äußere Nöte der Menschen beseitigt werden können. Bewahre uns vor Angst <strong>und</strong> laß uns die<br />
nötigen Schritte tun“.<br />
Unter den Anwesenden kursierte ein Text als ‘Anregung’ zu einer „Aktion Abrüstung von unten“, wobei<br />
auf den Abschluß sog. persönlicher Friedensverträge zwischen Bürgern aus Staaten des Warschauer<br />
58
Vertrages <strong>und</strong> der NATO orientiert wird 71 . Als Adressen für die Zusendung solcher Verträge wurden für<br />
Bürger des NSA ein [... geschwärzt], 4930 Detmold, <strong>und</strong> für DDR-Bürger die B<strong>und</strong>essynode 1040 Berlin,<br />
Auguststr. 80, genannt. [/] Abschließend betonte [... geschwärzt], daß er eine Mitteilung mit einem<br />
Wortspiel einleiten müsse, damit man es besser schlucken kann: [/] „Messer, Gabel, Schere, Licht [/] sind<br />
für kleine Kinder nicht“ [/] „Kerzen, Blumen <strong>und</strong> lila Tücher [/] sind nichts für Jugendliche“ [/] „Und nun<br />
im Klartext: Vor dem Gottesdienst ist uns eröffnet worden, daß es heute Abend nicht nur mit<br />
Aufschreiben abgeht. Wer heute Abend mit Kerzen, Blumen oder Lila Tüchern außen gesehen wird, der<br />
wird heute zur Kasse gebeten (Buh-Rufe, Pfiffe). Ihr habt es gehört <strong>und</strong> wißt, wo die Kerzen brennen<br />
können <strong>und</strong> dürfen. Man wird es draußen sehen, in unserer Nikolaikirche ist es licht. (Beifall)“ [/] Im<br />
Abschluß an diesen Friedensgottesdienst gab es keine öffentlichen Provokationen.<br />
Zur Gewährleistung eines die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit nicht beeinträchtigenden Verlaufs aller<br />
kirchlichen Veranstaltungen zur „Friedensdekade 1983“ wurden sowohl in deren Vorbereitung als auch in<br />
der weiteren Folge durch verantwortliche Mitarbeiter der zuständigen örtlichen Staatsorgane verstärkt<br />
Aussprachen mit kirchenleitenden Personen <strong>und</strong> anderen Amtsträgern geführt. [/] Zum Auftreten [...<br />
geschwärzt Jugendpfarrer Gröger] während des Abschlußgottesdienstes am 16.11.83 vertrat<br />
Superintendent Magirius die gleiche Auffassung wie die staatlichen Organe. [... geschwärzt] hätte<br />
„unnötig die Emotionen der Jugendlichen geweckt.“ [/] Wenn er dies vorher gewußt hätte, hätte er die<br />
abschließenden Worte selbst gehalten. Er informierte, daß er zu dieser Problematik am 17.11.83 mit [...<br />
geschwärzt] ein persönliches Gespräch führen werde. (In seiner Predigt am 14.11.83 in der Nikolaikirche<br />
hatte Magirius zur Besonnenheit aufgerufen <strong>und</strong> dazu aufgefordert, mit brennenden Herzen statt mit<br />
brennenden Kerzen aus der Kirche zu gehen).<br />
Die Analysierung der von reaktionären kirchlichen Kräften im Zusammenhang mit der „Friedensdekade<br />
1983“ <strong>und</strong> in der Folgezeit entwickelten Aktivitäten bestätigt, daß einerseits weiterhin innerkirchliche<br />
Auseinandersetzungen mit extremen Provokationen inspirierenden <strong>und</strong> Vorschub leistenden Kräften im<br />
Gange sind <strong>und</strong> sich unter kirchlichen Amtsträgern wie auch Laien ein komplizierter<br />
Differenzierungsprozeß vollzieht, andererseits jedoch reaktionäre kirchliche Kräfte unvermindert<br />
zielstrebig alle sich ihnen bietenden Möglichkeiten <strong>und</strong> „Freiräume“ zur Verwirklichung ihrer subversiven<br />
Absichten zu nutzen versuchen, wobei Bestrebungen sichtbar werden, feindlich-negative Kräfte zu<br />
formieren <strong>und</strong> öffentlichkeitswirksam werden zu lassen.<br />
Am 25.11.83 kam es auf Ersuchen des [... geschwärzt] des Landeskirchenamtes Dresden, [... geschwärzt],<br />
zu einem Gespräch mit ihm durch den Stellvertreter für Inneres beim Rat des Bezirkes Leipzig, Genossen<br />
Dr. Reitmann, an welchem [... geschwärzt] teilnahm 72 . Im Verlauf dieses Gesprächs wurde den<br />
kirchenleitenden Personen eine Reihe Fakten dargelegt, welche eindeutig die konfrontativen Positionen<br />
verantwortlicher kirchlicher Amtsträger des Bezirkes Leipzig belegen. [... geschwärzt] war über diese<br />
Fakten schockiert <strong>und</strong> brachte zum Ausdruck, daß ihm klar sei, daß so etwas nicht geht. Bezüglich der<br />
Inhaftierten fragte er, ob es nicht einen Weg gäbe, diese Sache lautlos zu regeln. Er bat ausdrücklich<br />
darum, Milde walten zu lassen <strong>und</strong> nach Möglichkeit geringe Strafen auszusprechen bzw. überhaupt<br />
davon abzusehen.<br />
14 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Auszug aus einer Information vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig (H.<br />
Reitmann, i.V. unleserlich) vom 12.12.1983 „zur Staatspolitik in Kirchenfragen“. Die Information trägt<br />
71 Die Idee der „persönlichen Friedensverträge“ ist verschieden gestaltet worden. Sie sollten zeichenhaft<br />
vorwegnehmen, was man von den Staaten erhoffte. Sie zeugten von dem Wunsch, etwas Verbindliches für den<br />
Frieden zu tun <strong>und</strong> dienten zuerst eigener Versicherung <strong>und</strong> der Kommunikation über die Mauer hinweg.<br />
Unterstützung fand diese Initiative u.a. von Bischof Scharf, R. Eppelmann, H. Falcke, DIE GRÜNEN. Der<br />
Naumburger Friedensarbeitskreis verbreitete 1983 einen Aufruf zu dieser „Abrüstung von unten“, der<br />
offensichtlich der Hintergr<strong>und</strong> dieser MfS-Information ist (vgl. Meckel/Gutzeit, 88-90 u. A. Schaller, Die<br />
Persönlichen Friedensverträge, in: Spuren).<br />
72 s. Dok. 12<br />
59
Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> einen Eingangsstempel des Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 14.12.1983<br />
(BArch O-4 1116).<br />
[...] Die Friedensdekade der Evangelischen Kirchen vom 6.-16.11.83 zeigte in den Kirchen des Bezirkes<br />
Leipzig durchweg Veranstaltungen mit pazifistischen Tendenzen sowie Verhaltensorientierungen für die<br />
Gläubigen anhand des Evangeliums, wobei besonders die Bergpredigt im Mittelpunkt stand.<br />
Provokatorische Ausfälle <strong>und</strong> destruktive Äußerungen in den Veranstaltungen gab es überwiegend in der<br />
Stadt Leipzig durch die geistlichen Pfarrer Rothe, Michaelis, Pfarrer Meckert, Marienkirche, Pfarrer<br />
Führer, Pfarrer Gröger sowie durch den Katholischen Kaplan Dietrich von der Dominikaner-<br />
Niederlassung <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Albert Leipzig (siehe Anlage 1).<br />
Der Prozeß der Zurückdrängung der negativen <strong>und</strong> feindlichen Verhaltensweisen stellte einen absoluten<br />
Schwerpunkt in der Gesprächstätigkeit mit den Kirchlichen Amtsträgern dar. [/] Im Verlauf der Gespräche<br />
mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius im Vorfeld <strong>und</strong> während der Friedensdekade wurden<br />
diese auf die Wahrnehmung ihrer persönlichen Verantwortung zur Einflußnahme auf konkret benannte<br />
Pfarrer ihrer Ephorie hingewiesen73 . Zur Zurückdrängung gesetzwidriger öffentlichkeitswirksamer<br />
Verhaltensweisen (§ 217 StGB74 ) <strong>und</strong> das demonstrative Abbrennen von Kerzen auf konfessionell<br />
geb<strong>und</strong>enen Jugendlichen, nahm nach entsprechender Einflußnahme durch die staatlichen Organe<br />
Superintendent Magirius am 13. <strong>und</strong> 14.11.83 während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche Leipzig<br />
seine Verantwortung wahr, indem er gegen o.g. Handlungsweise in der Öffentlichkeit als Symbolhandlung<br />
<strong>und</strong> Zusammenrottung auftrat.<br />
In einem Schreiben, datiert vom 18.11.83 wandten sich hauptamtliche Vertreter der kirchlichen<br />
Jugendarbeit in provokatorischer Weise an das Präsidium der 26. Internationalen Dokumentar- <strong>und</strong><br />
Kurzfilmwoche (siehe Anlage 2). Dieses Schriftstück ist inhaltlich eine Verletzung gr<strong>und</strong>sätzlicher<br />
Prinzipien des Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong> verleumdet die gesetzlich gesicherten<br />
Verhaltensweisen der Sicherheitsorgane bei entsprechender strafrechtlicher Relevanz gegen Personen <strong>und</strong><br />
Gruppen einzuschreiten. Bei Konfrontation dieses Sachverhaltes an die Superintendenten der Stadt<br />
Leipzig stellten sich diese vor die Unterzeichner o.g. Schriftstückes 75.<br />
[...]<br />
[gez.] Dr. Reitmann<br />
Anlage 1:<br />
Friedensgottesdienst in der Nikolaikirche Leipzig 16.11.83<br />
In der Begrüßung wies Pfarrer Führer darauf hin, daß die Kollekte für die bestimmt sei, die sich für den<br />
Frieden eingesetzt haben <strong>und</strong> jetzt materielle Not leiden. „Ihr versteht mich schon“. Zum Abschluß dieses<br />
Gottesdienstes formulierte Pfarrer Gröger: „Messer, Schere, Licht, Gabel ist nicht für kleine Kinder,<br />
Blumen, Lila Tücher, Kerzen sind nichts für Jugendliche. Es sei wahrscheinlich gewollt, daß man sich als<br />
graues unscheinbares Mäuschen in der Öffentlichkeit bewegen soll. Hier in der Kirche <strong>und</strong> in der<br />
Wohnung ist das Kerzen anzünden aber noch möglich.“<br />
Jugendgottesdienst, Michaeliskirche Leipzig 13.11.83<br />
Pfarrer Rothe: „Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat ist es nicht zu einem<br />
Burgfrieden gekommen, das Verhältnis hat eine Zuspitzung erfahren. Es sei das Verdienst des<br />
Landesbischof Dr. Hempel, daß man jetzt offensiver auftreten könne.“<br />
Friedensgottesdienst, Versöhnungskirche Gohlis 13.11.83<br />
Kaplan Dietrich von der Dominikaner-Niederlassung <strong>und</strong> Pfarrkirche St. Albert formulierte: „Die<br />
Mächtigen der Welt dulden keine Meinung neben der ihren. Auch in unserem Leben ist das so. Daß jeder<br />
Jugendliche in der DDR einen Lehrberuf hat, entspricht nicht der Wahrheit. Die Ausübung der Lehre wird<br />
an Bedingungen geknüpft, die mit unserem Gewissen nicht immer vereinbar sind. Lehrverträge werden<br />
nur dann abgeschlossen, wenn der Jugendliche an der vormilitärischen Ausbildung teilnimmt. Bei<br />
Nichtteilnahme wird der Lehrvertrag gelöst, dies ist Berufsverbot. Die Eltern dieser Jugendlichen werden<br />
73 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 203-208<br />
74 s. Anm. 60<br />
75 vgl. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 209f.<br />
60
durch die Betriebe in Ausübung ihrer Gewissensfreiheit bedroht. Ich fühle mich zu schwach, den<br />
Jugendlichen zu sagen, daß sie den Waffendienst ablehnen <strong>und</strong> dafür auf den Beruf verzichten.“<br />
Gottesdienst Marienkirche 13.11.83<br />
Pfarrer Meckert: „Wie lange wollen wir uns gefallen lassen, daß man uns ein falsches Feindbild<br />
aufzwingt. Wir wissen alle, daß es falsch ist, aber wir wählen den bequemen Weg <strong>und</strong> schweigen dazu.<br />
Wir dulden, daß unter dem Deckmantel Frieden aufgerüstet wird, dabei wissen wir genau, jeder will nur<br />
der Stärkere sein. Wir dulden, daß Frieden mißbraucht wird“.<br />
[handschriftlich:] Anlage 2:<br />
Abschrift<br />
An das Präsidium der 26. Internationalen Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche 76<br />
Wir schätzen die bedeutsame lokale <strong>und</strong> internationale Rolle, welche die Dokumentar- <strong>und</strong><br />
Kurzfilmwoche im Hinblick auf die allgemeine Bewußtheit bleibenden Friedens <strong>und</strong> sozialer<br />
Gerechtigkeit wahrnimmt. Deshalb halten wir es für unsere Pflicht, Sie über Folgendes zu informieren:<br />
Auch in der DDR wächst unter vielfältigen gesellschaftlichen Gruppen die persönliche Betroffenheit <strong>und</strong><br />
Sorge darüber, daß der Frieden immer mehr gefährdet wird, namentlich durch die neue Stationierung<br />
nuklearer Massenvernichtungsmittel beiderseits auf deutschem Boden. Im Zusammenhang der jährlich<br />
stattfindenden Friedensdekade der Evangelischen Kirchen in der DDR haben zahlreiche Jugendliche das<br />
allabendliche Friedensgebet in der Nikolaikirche zu Leipzig mit brennenden Kerzen verlassen. Diese<br />
Hoffnungslichter sind von staatlichen Ordnungsorganen als provokativ mißverstanden <strong>und</strong> behandelt<br />
worden. Daraufhin hat sich auch unter kirchlichen Jugendlichen spontan die Idee gebildet, am Freitag,<br />
dem 18.11.83, still mit Kerzen vor dem Filmtheater „Capitol“ zu stehen, um so Öffentlichkeit<br />
herzustellen. Die kirchlichen Mitarbeiter - zu denen auch die Unterzeichnenden gehören - glauben aber, es<br />
nicht verantworten zu können, den Dingen ihren Lauf zu lassen, weil sie Angst haben müssen, daß den<br />
Jugendlichen mit unangemessener Härte begegnet wird. Sie bieten deshalb zur gleichen Zeit <strong>und</strong> als<br />
aktuelle Verlängerung der Friedensdekade, Treffpunkt <strong>und</strong> stündliches Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />
an. Mit dieser Information denken wir sowohl dem Hoffnungszeichen der Jugendlichen als auch Ihnen als<br />
möglichen Adressaten gerecht zu werden.<br />
Leipzig, am 18.11.1983<br />
Verteiler:<br />
Präsidium der D.u.K. 1983 gez. Hinze<br />
Rat der Stadt Leipzig, Abt. Inn. gez. Weißmann [Weismann]<br />
Superintendent J. Richter gez. Döring<br />
Superintendent F. Magirius gez. Rothe<br />
gez. Fischer<br />
gez. Lösche 77<br />
15 Friedensgebetstexte<br />
Kopie des Textentwurfs von L. Stellmacher zum Friedensgebet am 19.12.1983. Typoskript (ABL H 55).<br />
Wir sind zum Friedensgebet zusammengekommen <strong>und</strong> sehen das als Möglichkeit zur Besinnung. Wir<br />
hoffen, daß Ihr einen Teil eurer Zweifel <strong>und</strong> Ängste hier abladen könnt.<br />
- Musik<br />
- Was für Vorstellungen hast du vom Frieden? (Packpapier, Filzer)<br />
− Musik<br />
− Beim Nachdenken über diese Frage ist uns aufgefallen, daß (auch) uns Begriffe eingefallen sind, die<br />
76 Westliche Cineasten bildeten ein Komitee, daß gegen die Inhaftierung am 18.11.1983 protestierten <strong>und</strong><br />
organisierten ein Debatte mit dem stellvertretenden DDR-Kulturminister H. Pehnert im Leipziger Hotel „Astoria“<br />
zu dieser Verhaftung (s. Spiegel 49/1983, 52).<br />
77 ursprünglich stand hier „Marten (?)“ oder „Merten (?)“. Dies wurde handschriftlich in „Lösche“ korrigiert.<br />
61
etwas verneint <strong>und</strong> abgelehnt haben.<br />
− Musik<br />
− Wir haben überlegt, ob: Keine Armee, keine Waffen - ist das automatisch Frieden?<br />
− Reicht es aus, nur abzulehnen <strong>und</strong> zu verneinen, meine Angst, Unmut <strong>und</strong> Opposition zu äußern?<br />
− Müßte es nicht noch einen Schritt weitergehen?<br />
− Sind wir so selbstkritisch, um zu erkennen, daß wir uns oft nicht friedlich verhalten?<br />
− Bemühen wir uns, verstanden zu werden?<br />
Bemühen wir uns, den anderen zu verstehen?<br />
− Wir haben nach Begriffen gesucht, die Bausteine zum Frieden sein können: Sehen, Arbeiten, Fragen,<br />
Bewahren, Verstehen, Entscheiden, Streiten, Handeln, Vertrauen, Fühlen, Kämpfen, Lachen, Hoffen,<br />
Denken, Wachen, Wagen, Hören, Urteilen, Reden, Lernen<br />
Es ist eine Fülle von Begriffen, so, wie sich auch Frieden auf verschiedene Weise realisieren läßt. [/]<br />
Aber doch gehören sie untrennbar zusammen. Erst im Ganzen schaffen sie Frieden. [/] Vieles von<br />
diesen Begriffen machen wir schon (teils bewußt, teils unbewußt), was uns fehlt (der Rest) muß noch<br />
gelernt werden. [/] Wir geben euch einen Begriff mit nach Hause, zum drüber Nachdenken <strong>und</strong> bitten<br />
Euch, dann mit anderen ins Gespräch zu kommen. [/] (Kollekte verkehrt - ihr kriegt was mit nach<br />
Hause)<br />
− Musik<br />
− Gebet: Vater unser [...]<br />
16 Friedensgebetstexte<br />
Text des Friedensgebetes vom 11.11.1984, welches von der AG „Friedensdienst“ während der<br />
Friedensdekade gestaltet wurde. Typoskript, die Namen der Sprecher wurden mit Hand eingefügt (ABL H<br />
55).<br />
Begrüßung (einleitende Worte zur Dekade <strong>und</strong> zum heutigen Abend):<br />
Schönen guten Abend!<br />
Herzlich willkommen zu dem ersten Friedensgebet der diesjährigen Friedensdekade, die ja heute<br />
begonnen hat. Bereits am ganzen Tag fand die Friedensproblematik in besonderer Weise Aufnahme in<br />
unseren Gottesdiensten. Aber nicht nur in unserem Land, sondern auch in anderen Ländern wird in diesen<br />
Tagen Friedensdekade gehalten. Wir wissen uns also in einem großen Kreis von Christen, die aufgr<strong>und</strong><br />
ihres Glaubens sich in dieser Zeit besonders für die Friedensproblematik engagieren.<br />
Hier in der Nikolaikirche findet wieder täglich ein Friedensgebet um 18.00 Uhr statt, das von den<br />
unterschiedlichsten kirchlichen Gruppen gestaltet wird. Wir werden also ein breites Spektrum von Leuten<br />
<strong>und</strong> von deren Arbeit kennenlernen können.<br />
Diesen Abend gestalten wir als Arbeitsgruppe Friedensdienst des Jugendpfarramtes aus.<br />
Das Thema für die gesamte Dekade lautet: „Leben gegen den Tod“. Ein sehr anspruchsvolles <strong>und</strong><br />
vor allem problembeladenes Thema. Dabei soll die Sintflutgeschichte aus dem ersten Buch der Bibel, in<br />
der es um Noah <strong>und</strong> die Arche geht, den Ernst der Situation <strong>und</strong> evtl. Hoffnungen aufzeigen.<br />
Der Text für heute ist der Beginn der Sintflutgeschichte. Dieser will uns den Ernst, ja besser den<br />
Todernst unserer Lage vor Augen führen.<br />
Friedenslied (Brigitte [Moritz])<br />
Bibeltext 1. Mose 6,5+6 (Helmut N[itzsche])<br />
1. Sketch (Braunkohle) [der Text war den Herausgebern nicht verfügbar]<br />
Instrumentalmusik<br />
2. Sketch (Mutter <strong>und</strong> Sohn)<br />
S.: Mutti, kommst du mal bitte?<br />
M.: Ja, was ist denn?<br />
S.: Ich brauch’ dich hier, weil der Bagger sonst nicht arbeitet.<br />
Baggerst du bitte mal mein Auto voll?<br />
62
M.: Ach, weißt du, das geht jetzt nicht. Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, muß noch im<br />
Haushalt was machen <strong>und</strong> hab noch so viel tun. Du mußt schon alleine spielen.<br />
S.: Ja, ja. Das sagst du so oft <strong>und</strong> niemand hat Zeit für mich!<br />
(40 Jahre später am Telefon)<br />
M.: Guten Tag, Junge.<br />
S.: Guten Tag Mutter, na wie geht es dir?<br />
M.: Na ja, nicht so besonders. Ich bin den ganzen Tag so allein hier. Raus kann ich nicht mehr groß<br />
<strong>und</strong> vorbei kommt auch fast niemand.<br />
S.: Ich denke, Frau Krause kommt dich öfters besuchen?<br />
M.: Auch immer seltener. Komm du doch mal wieder her, ich möchte so gern mit dir bißchen reden.<br />
S.: Ach, weißt du, das geht jetzt nicht. Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, muß noch im<br />
Haushalt mithelfen <strong>und</strong> hab noch so viel zu tun. Du mußt schon alleine zurecht kommen.<br />
M.: Ja, ja. Das sagst du so oft <strong>und</strong> niemand hat Zeit für mich.<br />
Instrumentalmusik<br />
3. Sketch (Schießübung)<br />
Befehl: „Legt an! Feuer!“<br />
Schuß<br />
Warum schießen Sie?<br />
Ich bin Bürger eines hochindustrialisierten, demokratischen Staates <strong>und</strong> habe einen Eid geleistet, der<br />
mich zu unbedingtem <strong>und</strong> bedingungslosem Gehorsam verpflichtet.<br />
Sri Lanka - Befehl - Schuß<br />
Kennen Sie dieses Land?<br />
Nein, ich führe Befehle aus!<br />
Liechtenstein - Befehl - Schuß<br />
Haben Sie einen Fre<strong>und</strong> in diesem Land?<br />
Nein, ich führe Befehle aus!<br />
Herr X - Befehl - Schuß<br />
Kennen Sie diesen Menschen?<br />
Nein, ich führe Befehle aus!<br />
Frau Y - Befehl - Schuß<br />
Wissen Sie, ob Frau Y Kinder hat?<br />
Nein, ich führe Befehle aus!<br />
Ich - Befehl - Schuß<br />
(starr stehen bleiben, Musik)<br />
Instrumentalmusik<br />
Bibeltext 1. Mose 6, 5-7 (Helmut N.)<br />
Friedenslied (Brigitte)<br />
Gebet <strong>und</strong> Vaterunser (Helmut N.)<br />
Informationen (Paketaktion 78 u.a.) (Helmut N.)<br />
Lied „Verleih uns Frieden...“ 79<br />
17 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Abschrift eines Briefes der Arbeitsgruppe „Frauen für den Frieden“ von Anfang Februar 1985 an den Sozialethischen<br />
Ausschuß der Sächsischen Landessynode 80 . Als Unterzeichnerinnen des Briefes werden genannt:<br />
G. Heide <strong>und</strong> U. Kämpf (ABL H 2).<br />
78 In diesem Gottesdienst wurde zu Paketsendungen an eine Äthiopische Hilfsorganisation <strong>und</strong> an Schwestern der<br />
Mutter Theresa aufgerufen. Wie aus einem R<strong>und</strong>brief des Jugendpfarramtes vom 14.02.1985 zu entnehmen ist,<br />
wurden daraufhin 19 Pakete aus Leipzig nach Äthiopien gesendet (ABL H 44/1).<br />
79 Nr. 139 im Evangelischen Kirchengesangbuch<br />
80 Eine Reaktion auf diesen Brief durch die Synode gab es nicht.<br />
63
Sehr verehrte Synodale!<br />
Wir möchten uns mit unserem Brief an Sie wenden, um Sie aus nächster Nähe mit den Problemen unseres<br />
Engagements für verständnisvolles Miteinander bei den Friedensbemühungen aller bekanntzumachen.<br />
Unsere Information hierbei stützt sich auf Erkenntnisse beim Besuch verschiedenster Foren zum Thema<br />
„Friedenspolitik“ 81 , des weiteren auf Erfahrungen bei der Arbeit mit unserem Friedenskreis <strong>und</strong> unseren<br />
kirchlichen übergeordneten Stellen. Zur Untermauerung unserer Meinung schicken wir Ihnen 3 Protokolle<br />
dieser Veranstaltungen als Anlage zum Brief mit. Wir haben diese Veranstaltungen besucht, um zu hören,<br />
was unser Staat zu Themen der Friedenspolitik sagt, die auch uns berühren. Besonders interessant war für<br />
uns, daß wir als Christen dabei nicht die Zielgruppe waren, dies war besonders beim Forum über<br />
Pazifismus zu bemerken. Die Auswahl der Referenten bestätigte die Wichtigkeit, die unser Staat diesen<br />
Bemühungen beimißt. Aus den drei Veranstaltungen ergeben sich folgende Schlußfolgerungen: Um es mit<br />
den Worten aller Vortragenden zu sagen, wir befinden uns in einer Situation verschärfter Widersprüche.<br />
Das zeigt sich in der Tatsache, daß wir in keinem der Foren mit unserer Ansicht der Probleme von Krieg<br />
<strong>und</strong> Frieden aus der Sicht der Bergpredigt ein Dialogpartner waren. Nachdem wir die ersten Fragen<br />
gestellt hatten <strong>und</strong> klar war, wo wir standen, wurden wir im ersten Forum zu Staatsfeinden abgestempelt,<br />
im zweiten Forum unausgesprochen zu armen Idealisten auf verlorenem Posten herabqualifiziert, <strong>und</strong><br />
beim Staatssekretär Gysi waren wir nur noch eine kleine Gruppe von Querulanten, die sich sowohl mit<br />
dem Staat als auch mit ihrer eigenen Kirche in Schwierigkeiten bringen. Dieser uns zugewiesene Standort<br />
(extrem, aggressiv, vereinzelt, mißverstanden) steht im krassen Widerspruch zu der Wichtigkeit der<br />
Problematik.<br />
Wir möchten mit diesen Protokollen darauf hinweisen, wie sich die politische Ideologie an der Basis<br />
darstellt <strong>und</strong> wie sie dort praktiziert wird. Wir haben die große Befürchtung, daß man mit kirchlichen<br />
Amtsträgern anders spricht <strong>und</strong> damit die Spaltung von der Basis erreicht. Wir kennen aus unserem<br />
Erleben in Theorie <strong>und</strong> Praxis, daß für unsere pazifistisch-christlichen Friedensbestrebungen weder<br />
Verständnis, Platz noch Achtung erbracht werden, man wendet sich gegen unsere Friedensideale. Deshalb<br />
können wir in keinster Weise von einem gewachsenen Gr<strong>und</strong>vertrauen reden 82.<br />
Nun möchten wir Ihnen einiges schildern, was wir innerkirchlich bei unserer Arbeit erlebt haben.<br />
Unsere Gruppe ist sehr spontan im Frühjahr 1984 entstanden. Da wir eine Gruppe sind, in der keine<br />
Amtsträger eine betreuende Funktion haben, was wir sehr bedauern, fanden wir beim Jugendpfarramt<br />
fre<strong>und</strong>liche Aufnahme. Nach kurzer Zeit trübte sich das Verhältnis <strong>und</strong> es wurde uns mitgeteilt, daß wir<br />
auf Gr<strong>und</strong> unseres Durchschnittalters (30) nicht mehr tragbar für das Jupfa sind. Wir hatten uns aber von<br />
Anfang an als Frauengruppe <strong>und</strong> nicht als Jugendgruppe zusammengef<strong>und</strong>en. Auf der Suche nach einem<br />
neuen Träger mußten wir sehr enttäuschende Erfahrungen machen. Wir mußten uns gegen ausgesprochene<br />
<strong>und</strong> unausgesprochene Vorwürfe wehren, z.B. daß wir keine Extremisten, sondern Christen sind. Alle<br />
Frauen der Gruppe sind katholische <strong>und</strong> evangelische Gemeindemitglieder... Was für eine Sorte Frauen<br />
möge sich dort wohl treffen, mag sich mancher kirchliche Würdenträger gefragt haben?!... Trotz unserer<br />
zahlreichen Bemühungen haben wir bis heute noch keinen Träger gef<strong>und</strong>en. Zurzeit sind wir Gast bei der<br />
Nikolaigemeinde, wofür wir sehr dankbar sind. Es ist für uns sehr schockierend, daß wir uns bei unserer<br />
Suche nach einem Träger wie ein Hausierer mit schlechter Ware vorkommen müssen. Durch all diese<br />
Schwierigkeiten beschränkt sich unsere Arbeit nur auf gruppeninterne Dinge, so daß schon von daher kein<br />
Anlaß zu irgendwelchen Äußerungen Anstoß besteht [sic!]. Es stellt sich somit für uns die Frage, ist allein<br />
die Tatsache, daß wir uns für Frieden engagieren wollen, etwas, was kirchlicherseits Anstoß erregt. Sollte<br />
die Aussage des Staatssekretärs Gysi stimmen, daß sich die Kräfte der kirchlichen Friedensarbeit bei der<br />
Auseinandersetzung mit dem Staat <strong>und</strong> der kirchlichen Obrigkeit verbrauchen? Unsere <strong>und</strong> die<br />
Erfahrungen anderer Friedensgruppen bei der Herausgabe von Informationen, bei der Vorbereitung von<br />
81 Foren zur Friedenspolitik waren Propagandaveranstaltungen, die die „Wehrbereitschaft“ in der Bevölkerung<br />
fördern sollten <strong>und</strong> der Nachwuchsgewinnung für militärische Berufe dienten.<br />
82 Die KKL hatte in ihrem Bericht vor der B<strong>und</strong>essynode in Greifswald (1984) von einem Gr<strong>und</strong>vertrauen zwischen<br />
Staat <strong>und</strong> Kirche gesprochen. Die Mehrheit der Synodalen teilten die Einschätzung jedoch nicht. Da Bischof<br />
Hempel sich als Vorsitzender des B<strong>und</strong>es hinter diese Formulierung stellte, wurde der Begriff zu einem Reizwort<br />
zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Basis (s.a. R. Henkys, „Gr<strong>und</strong>vertrauen“ in: KiS 5/84, 7f.).<br />
64
Veranstaltungen etc. lassen uns befürchten, daß uns nicht mehr die volle Unterstützung der offiziellen<br />
Kirche bei der Friedensarbeit zuteil wird.<br />
18 Veranstaltungseinladung<br />
R<strong>und</strong>brief von J. Förster, C. Kelz, M. Lösche <strong>und</strong> U. Schreiber vom Sommer 1985 an die Leipziger<br />
Gemeinden, in dem zur Mitarbeit an den Friedensgebeten aufgerufen wurde. Der R<strong>und</strong>brief wurde mit<br />
Lizenznummer SLO 36/85/35 vervielfältigt (ABL H 35).<br />
Liebe Mitarbeiter!<br />
Am 2. September 1985 beginnt wieder regelmäßig jeden Montag um 17 Uhr das Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche. Wir bitten Sie ganz herzlich, in Ihrer Gemeinde dazu einzuladen <strong>und</strong> das kleine beigefügte<br />
Plakat gut sichtbar aufzuhängen 83 . Unser Friedensgebet ist bisher von verschiedenen Gemeinden <strong>und</strong><br />
Gruppen getragen <strong>und</strong> gestaltet worden. So soll es auch in Zukunft bleiben. Darum würden wir uns freuen,<br />
wenn Sie mit einer Gruppe aus Ihrer Gemeinde ein Friedensgebet übernehmen könnten. Denn das Gebet<br />
um den Frieden darf keine Angelegenheit von Experten werden, sondern soll seinen Platz in der Mitte<br />
unserer Stadt für alle beibehalten. Themen- <strong>und</strong> Terminvorschläge stimmen Sie bitte mit der Trägergruppe<br />
ab. Ihre Zusage übermitteln Sie bitte an die [/] Ev.-Luth. Superintendentur [/] Leipzig-Ost [/] 7010<br />
Leipzig, Nikolaikirchhof 3 [/] Tel. 28 11 80<br />
Joachim Förster, Christoph Kelz, Martin Lösche, Uwe Schreiber<br />
19 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Auszug aus der Gesamteinschätzung des Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig,<br />
Arbeitsbereich Kirchenfragen, vom 22.11.1985 über die Friedensdekade 1985 in Leipzig. Die Information<br />
wurde am 25.11.1985 an den Staatssekretär für Kirchenfragen gesandt. Das Exemplar des Leiters des<br />
Referates XX/4 der BV des MfS, K. Conrad, wurde von Jakel unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren<br />
(ABL H 53 auch: BA O-4 770).<br />
[...] Die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der Friedensdekade im Territorium des Bezirkes Leipzig durch<br />
die Kirchgemeinden beweist, daß eine rechtzeitige, kontinuierliche <strong>und</strong> konsequente Einflußnahme der<br />
staatlichen Organe zur ordnungsgemäßen Durchführung von Veranstaltungen verfassungsrechtlich<br />
gesicherter religiöser Belange <strong>und</strong> Artikulation eigenmotivierten kirchlichen Friedensengagements sich<br />
generell bewährt hat, öffentlich wirksame negative Vorkommnisse nicht aufgetreten sind. Es konnte<br />
wiederum festgestellt werden, daß die Teilnahme der Gläubigen an den Veranstaltungen der<br />
Friedensdekade eine rückläufige Tendenz aufweist. Die Ursachen für diese Einschätzung liegen u.a. darin<br />
begründet, daß bei der Erarbeitung des Vorbereitungsmaterials, welches den Kirchen als Richtlinie<br />
ausgegeben wurde, realistische Vertreter theologischen <strong>und</strong> politisch-progressiven Denkens die Linie<br />
bestimmen <strong>und</strong> eine Einordnung kirchlichen Friedenswirkens in zum Teil konstruktiven<br />
Friedensaktivitäten erreichen konnten. Mit dem Vorbereitungsmaterial konnte ohne politische Wertung,<br />
nur durch Gegenüberstellung objektiver Fakten der Nachweis für eine gerechte <strong>und</strong> kompromißlose<br />
Entwicklungshilfe der sozialistischen Staaten gegeben werden. Damit wurde gleichzeitig auch die<br />
Möglichkeit weitgehend verringert, subjektiven <strong>und</strong> negativen Interpretationen Freiräume zu verschaffen.<br />
Die Herausgabe kirchlicher Druckerzeugnisse zur Friedensdekade in Absprache mit zentralen staatlichen<br />
Dienststellen schränkte die Eigenanfertigung von Plakaten ein <strong>und</strong> ermöglichte eine Kontrolle darüber.<br />
83 Auf dem Plakat ist das Denkmal „Schwerter zu Pflugscharen“ skizziert. Darunter steht: „FRIEDENSGEBET.<br />
Montag, 17 Uhr in Nikolaikirche“ (s. Anm. 50). Daneben ist eine Grafik, die zwei stilisierte aufeinander<br />
gerichtete Panzer zeigt, zwischen denen das Wort „Frieden“ geschrieben wurde. Daneben <strong>und</strong> darunter wurde mit<br />
Hand der Text geschrieben: „Anstatt die Jungen Soldaten spielen zu lassen, sollte man die jungen Soldaten<br />
spielen lassen.“ Ein Text von S. Mrotzek, der in der DDR-Friedensbewegung öfter verwendet wurde (s. z.B.:<br />
Spiegel 27/1982, 51).<br />
65
Wiederum ist eine Reihe von Geistlichen aufgetreten, die sich in den mit ihnen geführten Gesprächen<br />
gegen ein „nur dekadenhaftes Friedensengagement“ wandte mit dem Argument, daß das gesamte Sinnen<br />
<strong>und</strong> Trachten eines evangelischen Geistlichen immer auf Frieden gerichtet ist (Pfarrer Haeffner, Leipzig,<br />
Pfarrer Schubert, Markkleeberg u.a.m.). Es konnte festgestellt werden, daß solche Positionen ebenfalls<br />
gegen spezielle ökologische Aktivitäten kirchlicher Kreise gerichtet werden, eine Dezidierung besonderer<br />
Aktivitäten durch gewisse kirchliche Kräfte von dieser Reihe der Geistlichen auch politisch abgelehnt<br />
wird. Durch die Gespräche mit kirchenleitenden Kräften, Amtsträgern <strong>und</strong> Geistlichen war zu erkennen,<br />
daß seitens der Kirchenleitungen versucht wird, auf die innerkirchliche Lage einzuwirken, um den<br />
erreichten Stand der Beziehungen von Staat <strong>und</strong> Kirche keinesfalls zu gefährden. Gleichfalls wurde aber<br />
auch deutlich, daß Auffassungen vorhanden sind, wo konfrontative Kräfte nicht erkannt werden bzw.<br />
deren Auftreten verharmlost wird.<br />
Der Verlauf der kirchlichen Veranstaltungen im Territorium des Bezirkes Leipzig zeigt, daß die<br />
inhaltliche Gestaltung der meisten Veranstaltungen ordnungsgemäß <strong>und</strong> ohne Vorkommnisse verlief; sich<br />
die Gemeinden überwiegend an die seitens des BEK gegebenen Impulse, Hinweise, Richtlinien <strong>und</strong><br />
Empfehlungen gehalten haben, negative politische Positionen nicht aufgekommen sind.<br />
Einige Aktivitäten kirchlicher Kräfte in der Stadt Leipzig müssen von dieser o.g. Einschätzung abgehoben<br />
werden <strong>und</strong> lassen sich in eine differenzierte Einschätzung zur Kräftepolarisierung innerhalb der Kirchen<br />
einordnen. Im Rahmen von Diskussionsr<strong>und</strong>en, Friedensabenden, Auftreten von Arbeitsgruppen,<br />
Seminaren, Symposien u.a. Aktivitäten in Kirchen der Stadt Leipzig wurde das gesamte Spektrum von<br />
neutralistischen, pazifistischen <strong>und</strong> auch gesellschaftsgefährdenden Stimmungen <strong>und</strong> Meinungen einiger<br />
Geistlicher, Jugendarbeiter <strong>und</strong> negativer Gruppierungen sichtbar, gleichzeitig aber auch die Tatsache, daß<br />
negative <strong>und</strong> staatsfeindliche Positionen von Besuchern der Veranstaltungen nicht unwidersprochen<br />
hingenommen werden.<br />
1. Am 13.11.1985 wurde dem Rat der Stadt Leipzig bekannt, daß in der Nikolaikirche ein Material<br />
ausliegt, wo „Frauen aus Ost <strong>und</strong> West an die Bürger Europas“ appellieren84 , u.a. gegen die<br />
Militarisierung der Gesellschaft aufzutreten <strong>und</strong> sich dagegen zu wenden, daß in Genf „über unsere<br />
Köpfe hinweg verhandelt wird“. Eine sofortige Rücksprache mit Sup. Richter ergab eine Distanzierung<br />
des Richter vom Inhalt des offenen Briefes, er verwies aber darauf, keine Maßnahmen einleiten zu<br />
können, da der zuständige Sup. Magirius auf Dienstreise in der BRD weilt, erst am 15.11. 1985<br />
zurückkomme. Am 15.11. 1985 äußerte Sup. Magirius sein Unverständnis <strong>und</strong> seinen Unwillen über<br />
das Anliegen des Staates <strong>und</strong> er erbat Bedenkzeit.<br />
Erst nach „dringender Bitte“ des OBM der Stadt Leipzig war er gewillt, das Material zu entfernen,<br />
gleichzeitig ersuchte er um ein Gespräch für sich <strong>und</strong> Sup. Richter beim OBM der Stadt Leipzig.<br />
2. In der Paul-Gerhardt-Kirche <strong>und</strong> der Nikolaikirche wurden Gesprächsr<strong>und</strong>en zur Friedenserziehung im<br />
Kindergarten durchgeführt <strong>und</strong> Aussagen gegen die staatliche Erziehungsarbeit durch die AG „Frauen<br />
für den Frieden“ initiiert:<br />
− gegen frühzeitige politische Erziehung im Kindergarten,<br />
− gegen positive Haltung zur NVA <strong>und</strong> der Partei,<br />
− Aufruf, Elternabende zu nutzen, gegen diese Erziehung aufzutreten.<br />
− man muß die Kinder dem staatlichen Einfluß entziehen, sie in den kirchlichen Kindergarten<br />
schicken, oder die Mütter sollten zuhause bleiben.<br />
(Diese Meinung ist durch Teilnehmer heftig widersprochen worden).<br />
3. Am 10.11.1985 wurde ein Symposium in der katholischen Kirche Leipzig-Grünau durchgeführt unter<br />
der Leitung des Kaplans Fischer, der wiederum an der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung der<br />
Friedensdekade beteiligt war. Bei dieser Veranstaltung stand eine Argumentationshilfe „gegen die<br />
Sprache des Hasses“ im Mittelpunkt. (siehe Anlage)<br />
84 Einige Mitglieder der „Frauen für den Frieden“ hatten eine sogenannte Ost-West-Partnerschaft initiiert, d.h., sie<br />
arbeiteten mit Frauen aus Westdeutschland zusammen <strong>und</strong> trafen sich zu „Arbeitswochen“ auf dem Lande. Über<br />
diese Begegnungen berichteten sie auf einer Schautafel in der Nikolaikirche <strong>und</strong> riefen in einem Brief dazu auf,<br />
ähnliches selber zu machen. Eigentlich sollten auch ihre westdeutschen Fre<strong>und</strong>innen eine Andacht in der FD<br />
mitgestalten, doch ihnen wurde erklärt, daß dies nicht möglich sei.<br />
66
Im Präsidium saßen neben Kaplan Fischer ein ehemaliger Bausoldat <strong>und</strong> zwei ehemals Inhaftierte<br />
wegen Wehrdienstverweigerung.<br />
4. Pfarrer Wonneberger, Lukaskirche Leipzig, äußerte im Gottesdienst am 17.11.1985,<br />
− daß man sich nicht durch Lohnstreifen vom Staat kaufen lassen dürfe.<br />
− wir erfahren durch Behörden, Schulen <strong>und</strong> Betriebe sehr viel Unrecht.<br />
− als Christ müsse man oft auf die eigene Karriere verzichten.<br />
(Pfarrer Wonneberger ist auch Mitunterzeichner eines offenen Briefes, der zum<br />
Abschlußgottesdienst am 20.11.1985 in der Nikolaikirche verteilt wurde.)<br />
(Siehe Anlage)<br />
Gemessen an diesen negativen Beispielen <strong>und</strong> der angegebenen Position des Sup. Magirius zu dem in der<br />
Nikolaikirche ausgelegten Brief der Frauen, kann eingeschätzt werden, daß Sup. Magirius in der<br />
Vorbereitung der Friedensdekade seine Hauptverantwortung wahrgenommen hat. In der Zeit der<br />
Durchführung der Dekade auf Dienstreise in der BRD war, nach kurzem Aufenthalt in Leipzig in<br />
Budapest weilte <strong>und</strong> erst zum Abschlußgottesdienst wieder in Leipzig eintraf. Anknüpfend an die<br />
positiven Erfahrungen in der Arbeit mit Sup. Magirius sind differenzierte Maßnahmen durchzuführen, die<br />
Rolle <strong>und</strong> Funktion des Sup. Magirius zu erfassen <strong>und</strong> seine Positionen im Rahmen der Friedensdekade zu<br />
ermitteln.<br />
Am 19.11.1985 informierte Pfarrer Gröger in einem Gespräch mit den leitenden Mitarbeitern für<br />
Kirchenfragen des Rates der Stadt <strong>und</strong> des Bezirkes über die Gestaltung des Gottesdienstes am<br />
20.11.1985, wobei er anführte, daß der Abschlußgottesdienst in Form eines ökumenischen Gottesdienstes<br />
durchgeführt wird, wobei ein Großteil katholischer Jugendlicher teilnehmen werde. Der Gottesdienst<br />
werde durch die zweite Ebene verantwortet, also durch ihn <strong>und</strong> den Kaplan Gerlach (katholische St.<br />
Liebfrauengemeinde). [/] Siehe Anlage [/] (Verlauf des Gottesdienstes - Informationsbericht des<br />
Stadtbezirkes Mitte).<br />
Schlußfolgerungen:<br />
1. Die Einschätzung der Friedensdekade ist mit allen Stellvertretern Inneres <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />
Kirchenfragen auszuwerten.<br />
2. Die negativen Vorkommnisse sind zu analysieren <strong>und</strong> in geeigneter Form den kirchenleitenden Kräften<br />
vorzubringen, um bekanntgewordene Konfrontationsstandpunkte zurückzudrängen.<br />
3. Zur Weiterführung der politisch-ideologischen Arbeit <strong>und</strong> zur Stabilisierung der innerkirchlichen Lage<br />
sind mit den bekanntgewordenen negativen Kräften Gr<strong>und</strong>satzgespräche zu führen. Hierzu ist es<br />
notwendig, progressive Geistliche <strong>und</strong> Laien zu mobilisieren, negative Personen innerkirchlich<br />
weitgehend zu isolieren. Dazu ist in der Berichterstattung Staatspolitik in Kirchenfragen regelmäßig zu<br />
informieren.<br />
4. In Zusammenarbeit mit der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht der SED-Bezirksleitung Leipzig sind die<br />
gegenwärtigen Einflüsse negativer Kräfte auf die Jugend zu analysieren <strong>und</strong> umfassende Mittel <strong>und</strong><br />
Methoden zur Zurückdrängung konfrontativer Personen <strong>und</strong> Gruppierungen festzulegen.<br />
[gez.] Jakel<br />
[Anlage 1] Abschrift<br />
gegen eine Sprache des Hasses - für eine friedliche Sprache<br />
Eine Argumentation - Hilfe für Eltern + Schüler, Erwachsene + Kinder; Lehrlinge + Studenten ...<br />
Bisher galt in der DDR der Gr<strong>und</strong>satz: „Friedliche Koexistenz zwischen Ost <strong>und</strong> West“ in Politik <strong>und</strong><br />
Wirtschaft: JA! „Friedliche Koexistenz“ in der geistigen (ideologischen) Auseinandersetzung: NEIN! [/]<br />
Wir meinen: die Verständigung zwischen den Völkern Europas, besonders zwischen den getrennten<br />
Deutschen fängt bei der fre<strong>und</strong>lichen <strong>und</strong> friedlichen Sprache an. [/] Wir sagen etwas gegen den<br />
ideologischen Haß, gegen die Verteufelung der sogenannten „imperialistischen Länder“. Wir sind für<br />
„ideologische Abrüstung!“<br />
Neuerdings haben wir einige Äußerungen des Generalsekretärs der KPdSU Michail Gorbatschow auf<br />
unserer Seite. Wir sollten dafür sorgen, daß sich die Ansichten Michail Gorbatschows auch auf unterster<br />
Ebene (Lehrer, Direktoren, Wandzeitungen, Reden im Betrieb etc.) herumsprechen <strong>und</strong> durchsetzen.<br />
Michail Gorbatschow: „.. leben <strong>und</strong> leben lassen. Wir nennen das friedliche Koexistenz“. (in:<br />
67
Times-Interview, ND vom 3.9.1985, S. 5) [/] „Geschimpfe kann einer guten Sache nicht helfen“. (ebd.) [/]<br />
„Wozu ohne Gr<strong>und</strong> die Muskeln spielen lassen, lärmende Shows inszenieren <strong>und</strong> die Methoden des<br />
internen politischen Kampfes auf die Beziehungen zwischen zwei Kernwaffenmächten übertragen? In<br />
ihnen ist die Sprache der Gewalt nutzlos <strong>und</strong> gefährlich“. (ebd.) [/] „... wir sind der Ansicht, daß man die<br />
Richtigkeit seiner Ideologie <strong>und</strong> die Vorzüge jener Ordnung, die jedes Volk nach eigenem Willen gewählt<br />
hat, nicht mit Waffengewalt, sondern einzig <strong>und</strong> allein durch die Kraft des Beispiels beweisen muß.“ (vor<br />
französischen Parlamentariern, ND vom 4.10.1985, S. 1) [/] „Ich denke, daß es in der gegenwärtigen<br />
Situation besonders wichtig ist, die ideologischen Differenzen nicht wie mittelalterliche Fanatiker auf die<br />
zwischenstaatlichen Beziehungen zu übertragen“. (ebd S. 2) [/] „Kein einziges Volk, kein einziger Staat<br />
ist imstande, die bestehenden Probleme im Alleingang zu lösen. Sich zusammenzuschließen aber<br />
verhindert das alte Gepäck der Uneinigkeit, der Konfrontation <strong>und</strong> des Mißtrauens ... [/] Wir alle sind<br />
Hüter des von den vorangegangenen Generationen überlieferten Feuers des Lebens“. (ebd.)<br />
[Anlage 2]<br />
VERZICHTSERKLÄRUNG<br />
Weil ich zu denen gehöre, die im Überfluß leben (<strong>und</strong> dadurch an Lebensintensität, -aktivität <strong>und</strong> -<br />
bewußtsein verloren haben), weil ich vom Elend vieler Menschen in der „3. Welt“ betroffen bin, weil ich<br />
weiß, daß ich allein niemals die Strukturen der Ungerechtigkeit zerstören kann, aber trotzdem das mir<br />
Mögliche tun muß<br />
− weil ich glaube, daß niemand auf dieser Erde das Recht hat, mehr zu beanspruchen als seine<br />
Mitmenschen<br />
− weil ich mich schuldig fühle als einer, der zu den Reichen gehört<br />
− weil ich mich dem Vorwurf, ein Mörder zu sein, so gut wie möglich entziehen will (Geht das<br />
überhaupt?)<br />
− weil ich es als meine Pflicht ansehe, zu helfen, wo ich helfen kann<br />
übernehme ich in der Hoffnung, nicht allein zu bleiben<br />
− weil ich weiß, daß ich allein schnell resignieren werde<br />
− weil ich ein Gefühl der Stärke brauche <strong>und</strong> durch Solidarität bekommen kann<br />
− weil nur wir zusammen Veränderungen im Bewußtsein <strong>und</strong> schließlich im Handeln in<br />
gesellschaftlichen Dimensionen erreichen)<br />
folgende Verpflichtungen. Ich erkläre mich bereit:<br />
− meinen Nahrungsmittelkonsum zu senken<br />
− fleischfreie Gerichte am Wochenende (nach 5 Kantinentagen)<br />
− Senken des Wurstverbrauchs um 50 %<br />
− Besuche von teuren Restaurants reduzieren<br />
− kein Einkauf in Delikatläden<br />
− Essen als notwendiger Energie- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsspender, nicht als Freizeitbeschäftigung<br />
− meinen Genußmittelkonsum zu senken<br />
− Senken des Zigarettenverbrauchs um 50 %<br />
− kein sinnloser Kaffee-, Schokoladen-, Wein-, Bierverbrauch<br />
(Überdenken der Gewohnheiten. Muß jedes Fest mit Alkohol abgesichert sein?)<br />
− auf eine kostenaufwendige Fassade zu verzichten<br />
− kein Einkauf in Exquisitläden<br />
− kein Kauf von Textilien, weil sie gerade „modern“ sind.<br />
Kauf, wenn sie zum Tragen benötigt werden (Wer ohne größere Abwechslung seiner Kleidung nicht<br />
auskommt, muß nicht sofort in den Laden rennen, sondern kann sich selbst neue bauen, alte umbauen,<br />
von <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n die Kleiderschränke mitnutzen ...)<br />
Waschen statt Deo, Verzicht auf die Chemodüfte von Luxusseifen <strong>und</strong> Weichspülern, kein Spray<br />
(Öko-Gruppen haben verschiedene Hefte über alternative Düfte, Reinigungsmittel usw.<br />
herausgegeben)<br />
− Verzicht auf teure Frisuren, teuren Schmuck<br />
68
− meinen Wasser-, Energie-, Rohstoffverbrauch zu senken<br />
− kollektive Ausnutzung von Waschmaschinen<br />
− Duschen statt Baden<br />
− in Stadtzentren zur Benutzung von Nahverkehrsmitteln, Fahrrad<br />
− Ausnutzung der vollen Kapazität von Autos (Mitnehmen von Trampern)<br />
− kein Wegwerfen von: Altstoffen, Altpapier, Verpackungsmaterialien aus Plaste, Metall<br />
− Bücher ausleihen statt Kaufen. (Logisch, daß es Bücher gibt, die man „besitzen“ muß ...)<br />
− 10% meines monatlichen Einkommens als Spende abzugeben<br />
[(] 10% sind durch Einhaltung des Katalogs geschätzte Einsparungen)<br />
− mich regelmäßig über die Situation in der sog. 3. Welt zu informieren (an Informationsmöglichkeiten<br />
mangelt es nicht).<br />
− die Ideen dieses Katalogs in meinem persönlichen Umfeld (Familie, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, Arbeitskollegen) zu<br />
verbreiten.<br />
Das aus meinem „Verzicht“ gewonnene Geld überweise ich an ein ganz bestimmtes Projekt in einem<br />
Land der sog. 3. Welt.<br />
(Andere Möglichkeiten:<br />
− Unterstützung von Studenten, Lehrlingen u.a. aus diesen Ländern, die in unserem Land leben<br />
− Überweisung des Geldes auf große Konten AfH [Arbeitsgemeinschaft für die Hungernden],<br />
INKOTA z.B.<br />
− Unterstützung der „3.-Welt-Arbeit“ in der DDR.<br />
[Anlage 3]<br />
Friedensdekade - Nikolaikirche am 20.11.1985 (Abschlußveranstaltung)<br />
Zeit: 19.30 - 21.30 Uhr<br />
Teiln.: ca. 800 Personen<br />
davon 95% Jugendliche<br />
Äußerer Rahmen: Kirche war bunt geschmückt<br />
eine Beatgruppe (die Gruppe Freilauf aus Halle) lieferte musikalische Umrahmung<br />
Ein Pfarrer der Jugendkirche begrüßte alle Anwesenden der unterschiedlichen Glaubensrichtungen sehr<br />
herzlich. [/] „genauso herzlich begrüße ich die Vertreter des Staates hier in unserem Hause“.<br />
−<br />
Daraufhin applaudierten <strong>und</strong> lachten die versammelten Jugendlichen.<br />
Er führte kurz aus, daß sie gemeinsam mit der katholischen Gemeinde die Veranstaltung vorbereitet haben<br />
<strong>und</strong> begrüßte einen Kaplan. [/] Ich möchte allen Anwesenden die herzlichen Grüße des Westberliner<br />
Altbischofs Dr. Scharf überbringen, der heute zu uns sprechen wollte, aber leider von den Behörden<br />
unseres Staates keine Einreise erhielt85 . [/] Ich hoffe, daß Ihr unser Programm nicht als Ersatz dafür<br />
anseht.<br />
− Die Jugendlichen reagierten nicht darauf.<br />
− Zu Beginn gab der Pfarrer (wahrscheinlich Pfarrer Führer) den Jugendlichen ein Wort zum<br />
Nachdenken:<br />
„Die alte Generation hat alles falsch gemacht, mit dieser Jugend heute ist kein Krieg zu gewinnen“ - na<br />
hoffentlich:<br />
Danach ging ein Jugendlicher mit Mikrofon durch den Raum <strong>und</strong> spielte einen Reporter einer<br />
renommierten Zeitung <strong>und</strong> fragte die Jugendlichen, was sie für Probleme haben.<br />
4 Jugendliche standen mit Plakaten auf 4 Säulenfüßen <strong>und</strong> stellten ihre Probleme vor:<br />
1. Plakat: „Ich will mehr Raum“<br />
− bin 21 Jahre, lebe mit meinem Bruder in einem Zimmer bei meinen Eltern, kein Stück Raum für<br />
85 Bischof Kurt Scharf war der erste DDR-Bürger, der durch die DDR-Organe nach dem Mauerbau 1961<br />
ausgewiesen wurde. Er durfte erst im Juni 1986 nach Leipzig kommen. So nahm er am Gottesdienst der AG<br />
Umweltschutz zum Weltumwelttag am 5. Juni 1986 teil <strong>und</strong> unterhielt sich im Anschluß an dem Gottesdienst mit<br />
Gruppenmitgliedern (s. Bericht in „Kontakte“ Sept. 86, 3f. - ABL H 2/Z2).<br />
69
mich - nebenan hat eine alte Frau eine 4-Zimmer-Wohnung - Ungerechtigkeit -<br />
2. Plakat: „Ich will mehr Gelegenheiten“<br />
− wenn ich am Wochenende zur Disko will, komme ich nicht rein, für uns Jugendliche wird zu wenig<br />
geboten. Man muß sich nach Karten prügeln.<br />
3. Plakat: „Ich will mehr Beziehungen“<br />
− hier in der DDR kann man nur gut leben, wenn man Westgeld <strong>und</strong> Beziehungen hat - ich habe<br />
keine.<br />
Außerdem kann ich nicht reisen, wohin ich will.<br />
4. Plakat: „Ich will weniger Bindung“<br />
− ich habe mir eine Lehrstelle gesucht, hier bekommt jeder eine, das ist richtig, aber die Betriebe<br />
nehmen lieber die Jugendlichen, die FDJ-Sekretäre waren, die gesellschaftlich aktiv waren, die<br />
anderen müssen das nehmen, was „gesellschaftlich notwendig“ ist <strong>und</strong> nicht, was sie individuell<br />
wollen.<br />
− Vor dem Altarraum war eine Waage aufgehängt, dort wurden 4 Plakate mit den Aufschriften auf die<br />
eine Waagschale gelegt, so daß sie sich nach unten neigte.<br />
− Nach der Beatgruppe war die Predigt<br />
− ein Thema der Friedensdekade - Frieden durch Gerechtigkeit<br />
− er konnte dem zentralen Anleitungsmaterial der Kirche nicht folgen, wo drin stand, daß es<br />
Ungerechtigkeit nur außerhalb des Sozialismus gäbe, daß es in der DDR Gerechtigkeit gäbe 86.<br />
− „Ihr habt es gesehen, auch wir haben unsere Ungerechtigkeiten“<br />
− Auch wenn wir hier die Ungerechtigkeiten unserer Behörden angesprochen haben, vergeßt nicht die<br />
Ungerechtigkeiten in unserer Kirche, ich weiß, wie meine katholischen Brüder <strong>und</strong> Schwestern auf die<br />
Bischöfe schimpfen, ich merke es tagtäglich, wie zerrissen unsere evangelische Kirche ist durch<br />
Besserwisserei. (Zersplitterung der Meinungen)<br />
− Frieden durch Gerechtigkeit, dafür müssen wir alle etwas tun, hier bei uns in unserem Staat.<br />
− Jugendliche traten abwechselnd ans Mikrofon <strong>und</strong> riefen zur Solidarität mit den Menschen der<br />
restlichen Welt auf, der 2/3 Welt.<br />
− sie propagierten die Aktion des Weltb<strong>und</strong>es der Kirche 87 , 2% von den Einkünften monatlich zu<br />
spenden (2%-Marke wurde ausgegeben, um sich immer daran zu erinnern) für die 2/3-Welt, für<br />
Nairobi, Kolumbien <strong>und</strong> andere Staaten.<br />
− ein Jugendlicher erklärte, daß die 2% Aktion man auch so verstehen müßte - 2% der aktiven Zeit am<br />
Tag wären 20 min.<br />
86 Das Arbeitsmaterial für die FD der evangelischen Kirchen in der DDR - 10.-20. November 1985 unter dem<br />
Thema „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“ wurde von einer Gruppe aus Vertretern der KKL, der<br />
Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen <strong>und</strong> der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Jugend erarbeitet. In der<br />
Materialsammlung wurde Gerechtigkeit unter dem Aspekt einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung behandelt.<br />
Im Einleitungstext heißt es: „Friede wächst aus Gerechtigkeit auch in unserer Gesellschaft. Gerade in einer<br />
Gesellschaft, die angetreten ist, Ungerechtigkeit strukturell <strong>und</strong> generell zu beseitigen, müssen wir darauf bedacht<br />
sein, daß wir dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es besteht immer wieder die Gefahr, daß wir hinter das<br />
schon Erreichte zurückfallen <strong>und</strong> sich alte Verhaltensweisen unversehens wieder einschleichen. Es liegt nahe, das<br />
auszusprechen, was wir als Christen in unserer Gesellschaft als Unrecht empfinden - <strong>und</strong> wir sollten es tun.<br />
Vordringlich ist es aber, danach zu fragen, wo Menschen in unserer Nähe ihr Recht zu leben <strong>und</strong> sich zu entfalten<br />
vorenthalten wird. Und das zuerst in unserer Gemeinde <strong>und</strong> dann auch in der Gesamtgesellschaft.“ (S. 6)<br />
87 Die 2%-Initiative für kirchliche Haushaltsmittel wurde 1968 auf der EKD-Synode in Spandau beschlossen<br />
(Beschluß über einen höheren kirchlichen Beitrag zur Bekämpfung der Not in der Welt, in: E. Wilkens (Hg.) Die<br />
Zukunft der Kirche <strong>und</strong> die Zukunft der Welt, München 1968, 179f.). Die Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968<br />
verabschiedete einen Appell, in dem die Kirchen aufgerufen wurden, mindestens 1% ihres Einkommens für<br />
Hilfsprojekte in Entwicklungsländern zu geben (Bericht der Sektion IV, Auf dem Wege zu Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Frieden in internationalen Angelegenheiten, in: Uppsala spricht, Genf 1968, 45-57, 54). Die B<strong>und</strong>essynode 1985<br />
in Dresden rief auch zu einer Abgabe von 2% der kirchlichen Haushalte auf, um diese den Ärmsten der Welt zur<br />
Verfügung zu stellen. Im Arbeitsmaterial für die FD 1985 der evangelischen Kirchen in der DDR: „Frieden<br />
wächst aus Gerechtigkeit“ waren 6 von 47 Seiten dieser Problematik gewidmet.<br />
70
Nehmen wir 20 min. am Tag <strong>und</strong> setzen wir uns für Frieden durch Gerechtigkeit ein.<br />
− zum Abschluß wurde das Vaterunser gebetet <strong>und</strong> eine Kollekte eingesammelt.<br />
Am Ende der Veranstaltung wurde ein offener Brief an Staatsratsvorsitzenden, Genossen Honecker <strong>und</strong><br />
B<strong>und</strong>eskanzler Kohl ausgegeben. Dieser Brief wurde von der Gemeinde Volkmarsdorf entworfen.<br />
[Absender:] Leipziger Fastenstafette „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“ 88<br />
Offener Brief<br />
An den Vorsitzenden<br />
des Staatsrates der<br />
Deutschen Demokratischen Republik<br />
Herrn Erich Honecker<br />
An den B<strong>und</strong>eskanzler<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />
Herrn Helmut Kohl<br />
Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender!<br />
Sehr geehrter Herr B<strong>und</strong>eskanzler!<br />
Während der Friedensdekade der evangelischen Kirchen, 10.-20. November 1985, sind wir in der<br />
Lukaskirche Leipzig zu einer Fastenstafette zusammengekommen. Jeder von uns hat sich in den<br />
vergangenen zehn Tagen durch ein 24stündiges Wachen, Beten <strong>und</strong> Fasten gesammelt, geprüft <strong>und</strong> darauf<br />
vorbereitet, als einzelner verantwortlich zu leben. [/] Wir haben dabei deutlicher als bisher erfahren, wie<br />
Frieden aus Gerechtigkeit wachsen kann. Dabei sind wir den Menschen in der Zweidrittel-Welt einen<br />
kleinen Schritt näher gekommen, die unseren „östlichen“ <strong>und</strong> „westlichen“ Sicherheitsinteressen täglich<br />
geopfert werden. Unser Lebensstil <strong>und</strong> seine immer kostspieliger werdende Verteidigung kostet die das<br />
Leben, die uns Schwestern <strong>und</strong> Brüder geworden sind. [/] Bei unserem Fasten ist uns deutlicher geworden,<br />
wie sehr wir selbst daran beteiligt <strong>und</strong> wie unausweichlich mitverantwortlich wir dafür sind. Diese<br />
Erkenntnis beschämt <strong>und</strong> erschüttert uns. [/] Um diesen Preis wollen wir nicht länger unseren Lebensstil<br />
<strong>und</strong> unsere Interessen verteidigen <strong>und</strong> durch neue R<strong>und</strong>en des Wettrüstens schützen lassen. Eher wollen<br />
wir auf eine vernünftige Art eingeschränkt leben, um allen Menschen Leben zu ermöglichen. [/] Mit<br />
unseren Hoffnungen <strong>und</strong> Gebeten begleiten wir das gegenwärtig in Genf stattfindende Gipfeltreffen. Die<br />
Regierungen der UdSSR <strong>und</strong> der USA haben eine große Verantwortung zu tragen. Weil aber der Friede<br />
unteilbar ist, tragen kleinere Staaten, gesellschaftliche Kräfte <strong>und</strong> einzelne Menschen dafür Verantwortung<br />
mit. [/] Sie als verantwortliche Repräsentanten unserer beiden deutschen Staaten bitten wir dringend:<br />
1. Nutzen Sie den Entscheidungsspielraum innerhalb Ihres jeweiligen Bündnisses. Entwickeln Sie eigene<br />
Initiativen zum Spannungsabbau zwischen den politischen <strong>und</strong> militärischen Blöcken in Europa (z.B.<br />
einseitige kalkulierte Abrüstungsschritte). Verdichten <strong>und</strong> konkretisieren Sie schon Begonnenes (z.B.<br />
88 Während der FD fand in der Lukaskirche r<strong>und</strong> um die Uhr eine Fastenstaffete statt. Pf. Wonneberger hatte dazu<br />
ein Thesenpapier „Warum wir fasten...“ verfaßt <strong>und</strong> vervielfältigt. Darin heißt es u.a.: „1. In der biblischen<br />
Tradition ist das Fasten Ausdruck tiefer innerer Betroffenheit <strong>und</strong> Erschütterung eines Menschen [...] 2. Von der<br />
biblischen Tradition herkommend gibt es einen engen Zusammenhang von Wachen, Beten, Fasten. Das Wachen<br />
bezeichnet seinen Anteil an einer Gesamtsituation, seine Aufmerksamkeit für das, was um mich herum passiert,<br />
meinen Versuch, die Umwelt, in der ich lebe, möglichst genau zu analysieren. Das Beten ist u.a. meine<br />
Möglichkeit, mich an gelungenem Leben zu orientieren, mich <strong>und</strong> meine Umwelt daraufhin zu befragen. Gott -<br />
die „Fülle des Lebens“ selbst - sowie Beispiele gelungenen Lebens helfen mir, für mein Denken <strong>und</strong> Handeln<br />
Ziel <strong>und</strong> Perspektive [zu] gewinnen. Das Fasten markiert meinen ganz eigenen Anteil, die Unausweichlichkeit<br />
meines Beteiligtseins <strong>und</strong> die Übernahme der Verantwortung für mein Handeln einschließlich der Bereitschaft<br />
zum Leiden. 3. Fasten ist ein zeichenhaftes Handeln in Richtung Abrüstung. [...] 4. Fasten ist ein zeichenhaftes<br />
Handeln in Richtung Gerechtigkeit. [...] 5. Fasten ist ein Handeln, dem Grenzen gesetzt sind. Es ist kein<br />
unmittelbar politisches Handeln. Es verändert zuerst einmal nichts als mich selbst <strong>und</strong> ist nicht geeignet zur<br />
unmittelbaren Einflußnahme auf meine Umwelt, auch wenn sein soziales <strong>und</strong> politisches Anliegen deutlich zu<br />
machen ist. 6. Fasten darf nicht zur Demonstration eigener Frömmigkeit (auch politischer Frömmigkeit)<br />
mißbraucht werden. Es bedarf aber der Öffentlichkeit, damit es nicht als Privatangelegenheit abgetan werden<br />
kann. 7. Eine mögliche Fasten-Erfahrung: Ich bin nicht ohnmächtig. Ich bin belastbar, nicht nur mit dem Kopf,<br />
sondern als ganzer Mensch. Ich kann etwas (er)tragen.“ (ABL H 1)<br />
71
gefechtsfeldbezogene A-Waffen/C-Waffen).<br />
2. Verzichten Sie auf eine weitere Mobilisierung aller Reserven angesichts geburtenschwacher Jahrgänge<br />
Wehrpflichtiger in beiden deutschen Staaten. Nutzen Sie vielmehr diese Gelegenheit zu einer<br />
Vereinbarung über eine Truppenreduzierung der Nationalen Volksarmee <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>eswehr. Beleben<br />
<strong>und</strong> befruchten Sie die Wiener Verhandlungen durch einen solchen Impuls.<br />
3. Nutzen Sie die so frei werdenden Mittel zur schrittweisen Erweiterung <strong>und</strong> spürbaren Verstärkung<br />
staatlicher Entwicklungshilfe für die Zweidrittel-Welt. Diese Entscheidung für mehr Gerechtigkeit<br />
kann zu mehr Frieden führen.<br />
Die Mehrzahl der Unterzeichner hat sich entschieden - dem Appell des Ökumenischen Rates der Kirchen<br />
von 1968 (Uppsala) <strong>und</strong> 1983 (Vancouver) folgend - 2% ihrer persönlichen Haushaltsmittel für die<br />
Zweidrittel-Welt zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus werden wir in Kirchgemeinden <strong>und</strong> bei<br />
Kirchenleitungen für eine solche Entscheidung werben <strong>und</strong> eintreten.<br />
Leipzig, am 20. November 1985<br />
D. Kühne, U. Wonneberger, M. Albrecht, A. Ludwig, M. Scholz, R. Marlow, M. Böhm, K. Sengewald, D.<br />
Bauer, C. Bauer, S. Wünsch, T. Woik, R. Krötzsch, M. Kämpf, A. Unger, C. Wonneberger<br />
20 Synodalausschußprotokoll<br />
Mitteilung von Pf. Berger an Sup. Magirius vom 27.02.1986, in dem über die Bildung des<br />
Bezirkssynodalausschusses berichtet wird. Vorlage ist eine Xerokopie des Typoskripts ohne Unterschrift<br />
(ABL H 35).<br />
Zur Information des Herrn Superintendenten<br />
(Besprechung der Leitung des B[ezirks]-synodalausschusses : Frau Lucke, Dr. Mühlmann, Dr. Berger<br />
89 90 )<br />
- 27.02.86<br />
1. Als Name des Ausschusses wird „Ausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ vorgeschlagen - unter<br />
diesen Begriffen ist sowohl Schutz der Natur als auch 3. Welt <strong>und</strong> event[uell] Gruppen mit sozialem<br />
Anliegen zu fassen.<br />
2. Kontakte bestehen bisher zu:<br />
− AG Frieden [AGF]<br />
− Frauen für den Frieden<br />
− Südl. Afrika (Lesotho)<br />
− IHN<br />
− Umweltgruppe Connewitz, Jugendpfarramt [AG Umweltschutz]<br />
Das Jugendpfarramt ist zur Mitarbeit im Ausschuß bereit.<br />
Kein Kontakt konnte zur Friedensgruppe der ESG hergestellt werden. Der Herr Superintendent wird<br />
gebeten, mit der ESG zu klären, ob eine Beteiligung der dortigen Friedensgruppe <strong>und</strong> auch der Gruppe<br />
für Homosexualität im Ausschuß im Blick auf eine zukünftige Absicherung aller Gruppierungen in<br />
Leipzig nicht sinnvoll wäre. In der nächsten Ausschußsitzung soll überlegt werden, ob das<br />
Friedensgebet in Nikolai organisatorisch effektiver gestaltet werden kann.<br />
3. Plakatmöglichkeiten in Nikolai <strong>und</strong> Thomas: Ergebnis des Gesprächs zwischen den Superintendenten<br />
soll abgewartet werden.<br />
4. Sollte die Gruppe „Frauen für Frieden“ bei ihrer Tagung eine Ausstellung beabsichtigen, ist diese<br />
89 s. Anhang „Bezirkssynodalausschuß“, S. 355<br />
90 Wie die Operativinformation Nr. 189/84 <strong>und</strong> 209/84 der KD Leipzig Stadt des MfS zeigt (in: Besier/Wolf 420-<br />
424), hatte Superintendent Magirius schon 1984 den Verdacht, daß Pfarrer Dr. Berger für das MfS arbeitete.<br />
OLKR Auerbach gab in einem Gespräch das Jahr 1985 als Beginn eines Verdachtes gegenüber M. Berger an (zur<br />
Tätigkeit des IMB „Carl“ siehe Besier/Wolf 420, Anm. 231). Heute ist nicht mehr nachvollziehbar, daß nicht<br />
schon eher Verdacht geschöpft wurde, da M. Berger die Möglichkeit erhielt, neben seinem Amt als<br />
Gemeindepfarrer ein Jurastudium zu absolvieren (1979-81, s. BStU Leipzig XIII 489/78 <strong>und</strong> StAL BT/RdB<br />
21405).<br />
72
vorher von der Ausschußleitung zu besichtigen <strong>und</strong> dem Superintendenten eine Stellungnahme<br />
vorzulegen.<br />
5. Ein Kurzbericht bei der Bezirkssynode 91 wird von Dr. Berger vorgelegt, event[uell] auch eine Liste mit<br />
den vertretenen Gruppierungen.<br />
6. Es wird festgestellt, daß die Gruppierungen über ihre Vorhaben den Ausschuß noch nicht von sich aus<br />
informieren. Der Vorschlag des Superintendenten, daß alle Einladungen <strong>und</strong> Drucksachen der Leitung<br />
des Ausschusses vor der Vervielfältigung zur Kenntnis gegeben werden sollten, wurde nicht beachtet<br />
(s. Anlage 92) . Die beigefügten Einladungen erhielt der Ausschuß erst nach ihrer Verteilung. Der<br />
Superintendent wird gebeten, dieses Problem mit der Vervielfältigungsstelle zu klären (Einladungen<br />
mit Zeichen SLO).<br />
21 Friedensgebetstext<br />
Zwei mit der Maschine geschriebene Blätter (A5), die als Manuskript der Rede dienten <strong>und</strong> handschriftlich<br />
überarbeitet wurden. Überschrieben wurde der Text mit: „Reflexionen zur Friedensdekade ‘86“. Die Rede<br />
wurde am Ende des Abschlußgottesdienstes der Friedensdekade 1986 am 19.11. in der Nikolaikirche<br />
gehalten 93 (beim Autor).<br />
Friede sei mit Euch94 , dieses Angebot <strong>und</strong> diesen Auftrag rufe ich Ihnen auch am letzten Abend der<br />
Friedensdekade in der Nikolaikirche zu.<br />
Ich wollte, dieses „Friede sei mit Euch“ würde genauso die 100 000 erreichen, die sich eben jetzt 3 km<br />
von hier im Zentralstadion versammeln, ebenso wie die Millionen, die sich in einer 1/2 St<strong>und</strong>e über<br />
Eurovision <strong>und</strong> Intervision dazu einschalten. - Geht es doch nicht nur im Fußball um europäische<br />
Qualifikation. - Auf dem Spiel stehen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />
Lassen Sie mich im Bild des Fußballs eine kurze Bilanz der letzten 10 Tage ziehen, in 10 Sätzen:<br />
1. Die älter gewordene <strong>und</strong> ersatzgeschwächte Stammbesetzung, vor allem aus Frauengruppe <strong>und</strong><br />
Friedensdienst95 , bewies gestalterische Kraft. Junioren wurden stärker ins Spiel einbezogen, z.B.<br />
Sellerhausen, Anger-Crottendorf, Nikolai 96.<br />
2. Weitere Vereine 97 kamen aus dem Abseits, gestalteten das Spiel farbiger <strong>und</strong> bereicherten die<br />
Mannschaft. 98<br />
3. Eine Mann-schaft gibt es nicht mehr. Frauen sind stärker ins Spiel gekommen 99.<br />
4. Innenverteidiger <strong>und</strong> Sturmspitzen hatten zwar besseren Blickkontakt [handschriftlich: „als früher“] -<br />
aber immer noch Berührungsängste. Steilpässe waren selten.<br />
91 s. Strukturplan S. 361<br />
92 Die Anlage wurde von den Herausgebern nicht gef<strong>und</strong>en.<br />
93 Der BSA hatte am 26.09.1989 beschlossen, daß Pf. Wonneberger im Abschlußgottesdienst „eine<br />
Zusammenfassung aller Friedensgebete an(bringt)“ (Protokoll von Pf. Berger - ABL H 35). Im Protokoll des<br />
BSA zur Auswertung der FD vom 23.11.1986 heißt es zur Rede Pf. Wonnebergers: „Wonnebergers 10 Punkte zu<br />
verschlüsselt. [...] Wonnebergers Zusammenfassung zu solistisch.“ (Protokoll Führer - ebenda).<br />
94 Das Motto der FD 1986 war „Friede sei mit Euch“. Für die Koordinierung <strong>und</strong> Vorbereitung der verschiedenen<br />
Veranstaltungen in Leipzig hatte der BSA Pf. Wonneberger bestimmt. In der Nikolaikirche gab es täglich ein<br />
„Friedenscafé“, eine „Antikriegsausstellung“ <strong>und</strong> eine Ausstellung der IHN. Größere Veranstaltungen fanden<br />
auch in anderen Kirchen Leipzigs statt (s. Chronik).<br />
95 Gemeint sind „Frauen für den Frieden“ <strong>und</strong> AGF.<br />
96 Am 15.11. gestaltete eine Gemeindegruppe aus Anger-Crottendorf einen Eltern-Kinder-Nachmittag („Frieden<br />
wachsen lassen“) <strong>und</strong> am 18.11. fand in Sellerhausen ein „Regionaler Kindernachmittag“ statt.<br />
97 Gruppen, die sich außerdem an der Gestaltung der FD beteiligten waren: CFK, der katholische Gesprächs- bzw.<br />
Friedenskreis Grünau-Lindenau, die Friedensgruppe <strong>und</strong> der Homosexuellenkreis der ESG, die Landeskirchliche<br />
Gemeinschaft <strong>und</strong> die IHN.<br />
98 Es folgt mit Hand: „35 Pakete sind auf d. Weg nach Ghana + Mosambique“<br />
99 Am 17.11. fand in der Peterskirche ein Frauenseminar statt, außerdem gestalteten die „Frauen für den Frieden“<br />
den „Abend für den Frieden“ mit.<br />
73
5. Das Mittelfeld stand vielfach im Abseits oder hat geschlafen. Das hemmte den Spielfluß. An vielen<br />
Gemeinden <strong>und</strong> Christen ist die Friedensdekade wieder einmal vorbeigegangen.<br />
6. Linksaußen gibt es Besetzungsschwierigkeiten. Wahrscheinlich wegen der Strafraumnähe.<br />
7. Wenn alle Funktionäre gleichzeitig auch Vorstopper spielen, kommen wir nicht über die eigene<br />
Spielhälfte hinaus. Hier hilft nur gemeinsames Training.<br />
8. Wenn weiter Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung auf dem Spiel stehen, können wir<br />
den Gegner nicht ausschalten, sondern nur zu gewinnen suchen.<br />
9. Werbeflächen müssen zum Mitspielen einladen. Zuschauer bringen nichts. Im Gegenteil: Je mehr<br />
Zuschauer, desto teurer wird uns alles zu stehen kommen.<br />
10. In 90 Minuten oder 10 Tagen ist nichts entschieden. Das Zusammenspiel hat gut angefangen. Wir<br />
fühlen uns verb<strong>und</strong>en. Wir wollen es noch verbindlicher. Gemeinsames FRIEDENSGEBET steht auf<br />
dem Trainingsprogramm.<br />
Wir pfeifen nicht ab. Wir gehen in die Verlängerung.<br />
Zum Zeichen dafür zeige ich Ihnen - - - die grüne Karte.<br />
22 Stasi-Information<br />
Auszug aus der Quartalseinschätzung IV/86 der BV für Staatssicherheit Leipzig, Abteilung XX/9 (Queitzsch)<br />
über die Gruppe „Frauen für den Frieden Leipzig“ vom 23.12.1986 (ABL H 10).<br />
1.<br />
TV 1 zum ZOV „Wespen“ - Reg.-Nr. XIII 121/86<br />
− zwei DDR-Bürgerinnen<br />
− Paragr. 100, 106 <strong>und</strong> 218 StGB<br />
− eingeführte IM - IMS „Elfi“ (Ref. XX/7)<br />
− IMS „Mario“ (Ref. XX/9)<br />
− eingesetzte IM - IMB „Carl“ (KD Leipzig-Stadt)<br />
− IMB „Junge“ (Ref. XX/4)<br />
− IMS „Fuchs“ (Ref. XX/4)<br />
− IMS „Wilhelm“ (Ref. XX/4)<br />
− gültiger Maßnahmeplan vom 09.05.1986 sowie vom 27.06.1986 (Sachstandsbericht zum TV)<br />
festgelegte Maßnahmen zur weiteren Bearbeitung des TV<br />
2.<br />
Im Berichtszeitraum richteten sich die operativ bedeutsamen Aktivitäten der bearbeitenden<br />
Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ Leipzig vor allem auf die Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung der Veranstaltungen der „Friedensdekade 1986“ sowie auf die aktive Teilnahme an den<br />
Vorbereitungsmaßnahmen zu dem geplanten „Friedensseminar - Konkret für den Frieden V“ in der Zeit<br />
vom 27.02. - 01.03.1987 in der „Paul-Gerhardt-Kirche“ Leipzig-Connewitz.<br />
Im Zusammenhang mit der „Friedensdekade“ beteiligten sich die Kämpf, Ute (TV „Wespen“, XX/9), die<br />
Moritz, Brigitte (OV „Julia“, XX/4) sowie auch die Heide, Gabriele (TV „Wespen“, XX/9) aktiv an der<br />
unmittelbaren Durchführung von Veranstaltungen. Dabei zeichnete sich erneut ab, daß insbesondere die<br />
bearbeiteten Personen Kämpf <strong>und</strong> Moritz um aktive Einflußnahme auf Verlauf <strong>und</strong> Inhalt der<br />
Veranstaltungen der „Friedensdekade“ bemüht waren <strong>und</strong> sich aus diesem Gr<strong>und</strong> regelmäßig an den<br />
Arbeitsberatungen des sogenannten Vorbereitungskreises zur „Friedensdekade 1986“ unter Leitung des<br />
evangelischen Pfarrers Führer (XX/4) beteiligten. [... Bericht über Friedensdekade]<br />
Der Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ Leipzig gestaltete zur „Friedensdekade“ gemeinsam mit anderen<br />
sogenannten „Basisgruppen“ eine „Friedensausstellung“ <strong>und</strong> beteiligte sich mit ausgewählter Literatur an<br />
der sogenannten „Friedensbibliothek“ in der Nikolaikirche Leipzig, wobei auf Initiative der feindlichnegativen<br />
Führungskräfte erneut Angriffe gegen die Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsarbeit des sozialistischen<br />
Staates ausgingen.<br />
Die feindlich-negativen Führungskräfte um die Kämpf nutzten die „Friedensdekade“ erneut, um ein<br />
74
Zusammentreffen mit den Vertretern einer sogenannten „Arche Gemeinschaft“ aus der BRD<br />
durchzuführen.<br />
Dabei handelt es sich um den bereits bekannten Personenkreis, der unter Mißbrauch des Einreiseverkehrs<br />
in die DDR an einem Treffen in Trockenborn, Krs. Stadtroda, im August diesen Jahres teilgenommen<br />
hatte. Trotz vorbeugend eingeleiteter Maßnahmen über die Hauptabteilung VI [Paßkontrolle, Tourismus,<br />
Interhotel] konnte die Einreise der BRD-Personen nicht verhindert werden.<br />
Über inoffizielle Schlüsselpositionen konnte jedoch die von der Kämpf <strong>und</strong> Moritz angeregte aktive<br />
Teilnahme in Form eigenständiger „Friedensgebete“ sowie der Durchführung eines Forums mit den BRD-<br />
Personen verhindert werden. Die Einladung <strong>und</strong> Einbeziehung der BRD-Personen in die<br />
„Friedensdekade“ 1986 sowie die durchgeführten Zusammenkünfte in der Wohnung der Kämpf sowie bei<br />
Pfarrer Wonneberger sind als weiterer Versuch zur Organisierung <strong>und</strong> Stabilisierung blockübergreifender<br />
Aktivitäten im Sinne des sogenannten „Ost-West-Dialoges“ zu werten.<br />
Damit wollen die feindlich-negativen Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ im Sinne<br />
des konziliaren Prozesses, wie er von der Moritz während der „Friedensdekade“ dargestellt wurde,<br />
wirksam werden, der alle Christen im Weltmaßstab in einem Konzil des Friedens vereinigen soll, um über<br />
ein gemeinsames Herangehen an Abrüstung, Friedensführung <strong>und</strong> Lösung des Nord-Süd-Konfliktes zu<br />
beraten. Unter Ausnutzung dieses Prozesses will man sich verstärkt mit Basisgruppen der BRD in<br />
Verbindung setzen, um von unten Druck gegen vorgesetzte Kirchenleitungen auszuüben, um die offizielle<br />
Kirchenpolitik auch in bezug auf das Verhältnis Staat/Kirche zu beeinflussen bzw. zu verändern. In<br />
diesem Zusammenhang wurden auch Bemühungen der Moritz <strong>und</strong> Kämpf bekannt, im Zeitraum vom<br />
kirchlichen Friedensseminar „Konkret für den Frieden V“ in der „Paul Gerhardt Kirche“ Leipzig, erneut<br />
ein Treffen mit diesen BRD-Personen durchzuführen, <strong>und</strong> im Sommer 1987 das Treffen in<br />
Trockenborn/Krs. Stadtroda bei dem Vikar Bächer (AOV „Zersetzer“) zu wiederholen.<br />
Nach bekanntgewordenen Einschätzungen kirchenleitender Persönlichkeiten verliefen die Veranstaltungen<br />
der „Friedensdekade“ nicht zufriedenstellend, da verschiedene Leute immer wieder auf bestimmten<br />
Problemen herumhacken, um sich selbst zu bestätigen, aber bei Veranstaltungsbesuchern nicht die<br />
erhoffte Wirkung erzielen. Damit bezieht man sich auch auf die feindlich[-]negativen Führungskräfte des<br />
Arbeitskreises „Frauen für Frieden“, wie die Kämpf, die ihre Zielstellung<br />
− Druck auf die Kirchenleitung ausüben <strong>und</strong> in Konfrontation zum Staat zu bringen,<br />
− <strong>und</strong> feindlich[-]negative Aktivitäten unter den Teilnehmern der „Friedensdekade“ auszulösen <strong>und</strong><br />
Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen<br />
nicht erreichen konnten.<br />
Es ist den feindlich-negativen Kräften nicht gelungen, den Nachweis zu erbringen, daß solche<br />
kirchenleitenden Gremien wie der Synodalausschuß der Bezirkssynode Leipzig-Ost nicht in der Lage ist<br />
[sic!], die Arbeit der sogenannten „Basisgruppen“ anzuleiten <strong>und</strong> zu koordinieren <strong>und</strong> deren Forderung<br />
nach mehr Eigenständigkeit <strong>und</strong> mehr Verantwortung Nachdruck zu verleihen.<br />
Die feindlich-negativen Führungskräfte des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ nutzten die<br />
„Friedensdekade“ zur Gewinnung neuer Mitglieder.<br />
Es zeichnet sich ab, daß der Arbeitskreis zu einer kontinuierlicheren Arbeitsweise kommen will, ohne daß<br />
dazu jedoch bereits konzeptionelle Vorstellungen vorliegen bzw. Gedanken geäußert wurden.<br />
Dieser Umstand wurde genutzt, um entsprechend getroffener operativer Festlegungen zur Gewährleistung<br />
der weiteren zielgerichteten <strong>und</strong> effektiven Vorgangsbearbeitung unter Ausnutzung der Veranstaltungen<br />
zur „Friedensdekade 1986“ die IM „Elfi“ <strong>und</strong> „Mario“ in den Arbeitskreis „Frauen für Frieden“<br />
einzuführen. Die genannten IM nahmen bereits an der ersten planmäßigen Beratung des Arbeitskreises am<br />
01.12.1986 sowie einer weiteren Zusammenkunft am 15.12.1986 teil <strong>und</strong> sind in dessen Arbeit integriert<br />
worden.<br />
Entsprechend der von dem neu eingesetzten IM getroffenen Feststellungen befindet sich der Arbeitskreis<br />
gegenwärtig aufgr<strong>und</strong> des Neuzuganges von Teilnehmern im Prozeß der Neuformierung. Eine<br />
konzeptionelle Arbeit der Gruppe ist gegenwärtig nicht zu erkennen. Durch die feindlich-negativen Kräfte<br />
Kämpf, Moritz <strong>und</strong> Heide wird die aktive Mitarbeit des Arbeitskreises in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung<br />
von „Konkret für den Frieden V“ angestrebt. In der Gruppe wurde die mögliche Durchführung eines<br />
„Abends für den Frieden“ zur Diskussion gestellt. Entsprechend inzwischen vorliegender inoffizieller<br />
75
Informationen von IM der Abteilung 26/A 100 wurde durch den Fortsetzungsausschuß für „Konkret V“<br />
sowie durch den Superintendenten Magirius diese Vorstellung abgelehnt. Durch die Kämpf <strong>und</strong> die<br />
Moritz ist in Absprache mit kirchenleitenden Personen vorgesehen, dieses „Friedensgebet“ am 06.03.1987<br />
durchzuführen. Es kann vermutet werden, daß bewußt dieser Termin ausgewählt wurde, da sich zu diesem<br />
Zeitpunkt erneut das Gespräch des Genossen Honecker mit Vertretern der Kirchenleitung jährt.<br />
Insgesamt ist im Ergebnis der durchgeführten politisch-operativen Maßnahmen einzuschätzen, daß der<br />
Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ trotz aller Bemühungen der feindlich-negativen Führungskräfte auch<br />
weiterhin sporadisch <strong>und</strong> ohne klare Zielstellung arbeitet.<br />
Die jetzt wieder begonnenen kontinuierlichen Zusammenkünfte des Arbeitskreises wurden am 15.12.1986<br />
genutzt, um die Personifizierung des Arbeitskreises, insbesondere der neuen Teilnehmer der Beratungen<br />
weiterzuführen <strong>und</strong> abzuschließen.<br />
Dazu wurden Beobachtungskräfte der Abt. VIII [Beobachtung/Ermittlung] eingesetzt, durch die die<br />
Teilnehmer der genannten Veranstaltung fotografisch dokumentiert wurden. Im Rahmen der<br />
Vorgangsbearbeitung wurden entsprechend dem Maßnahmeplan weitere Maßnahmen zur differenzierten<br />
Verunsicherung <strong>und</strong> Disziplinierung der Mitglieder des Arbeitskreises „Frauen für Frieden“ durchgeführt.<br />
3.<br />
Zur Gewährleistung der weiteren zielgerichteten <strong>und</strong> effektiven Vorgangsbearbeitung ist in Vorbereitung<br />
auf das „Friedensseminar - Konkret für den Frieden V“ 1987 ein neuer Sachstandsbericht zu erarbeiten<br />
<strong>und</strong> auf dessen Gr<strong>und</strong>lage der Maßnahmeplan zu erarbeiten. Durch den zielgerichteten Einsatz der in die<br />
Vorgangsbearbeitung einbezogenen inoffiziellen Quellen ist der ständige Überblick über die von den<br />
bearbeiteten Personen ausgehenden feindlich-negativen Pläne, Absichten sowie dabei angewandte Mittel<br />
<strong>und</strong> Methoden zu gewährleisten <strong>und</strong> offensive Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung feindlicher<br />
Angriffe insbesondere mit geplanter Öffentlichkeitswirksamkeit durchzusetzen.<br />
Die begonnenen Maßnahmen der differenzierten Verunsicherung <strong>und</strong> Disziplinierung der Mitglieder des<br />
Arbeitskreises sind zielgerichtet zur Einschränkung des Einflusses der feindlich-negativen Führungskräfte<br />
im Arbeitskreis „Frauen für Frieden“ weiterzuführen <strong>und</strong> im Zusammenhang mit „Konkret V“ zu<br />
forcieren.<br />
Die inoffizielle Absicherung des Arbeitskreises <strong>und</strong> die operative Bearbeitung der feindlich-negativen<br />
Vorgangspersonen ist durch geeignete Werbungen weiter zu verbessern.<br />
23 Stasi-Information<br />
Operativ-Information Nr. 136/86 der BV für Staatssicherheit Leipzig, Abteilung XX, Referat 4 (schä-gr) zu<br />
Pf. Wonneberger vom 30.12.1986. Die Information wurde von Tinneberg in Vertretung für Wallner<br />
unterzeichnet. Die handschriftliche Abkürzung „ZPDB“ auf der ersten Seite über dem Datum läßt vermuten,<br />
daß das Original der vom Bürgerkomitee angefertigten Kopie dort gelegen hat (ABL H 10).<br />
Durch den zielgerichteten Einsatz einer zuverlässigen Quelle unserer DE wurden zu o.g. Pfarrer folgende<br />
Hinweise erarbeitet: [/] Während eines Zusammentreffens kirchlicher „Friedenskräfte“ am 15.12.1986 in<br />
der Lukaskirche Leipzig wurde unter Leitung von Pfarrer Wonneberger im Zusammenhang mit der<br />
Vorbereitung künftig geplanter „Friedensgebete“ eine Einschätzung zum Verlauf der „Friedensdekade<br />
1986“ sowie des Abschlußgottesdienstes vorgenommen 101 . [/] W. bezeichnete die inhaltlich<br />
aufgegriffenen Problemstellungen allgemein als zu loyal <strong>und</strong> oberflächlich <strong>und</strong> von der Aussage <strong>und</strong><br />
100 Diese Formulierung verweist auf das Abhören von Telefongesprächen, wofür die Abteilung 26/A der BV des<br />
MfS zuständig war.<br />
101 Der BSA hatte am 23.11.1986 die FD ausgewertet. Im Protokoll zu dieser Sitzung von C. Führer heißt es u.a.:<br />
„D) Die laufenden Friedensgebete [/] Wonnebergers Gedanken, die Gruppen regelmäßig am Friedensgebet zu<br />
beteiligen, wird gr<strong>und</strong>sätzlich bejaht. [/] CFK, ESG, AG Friedensdienst erklären ihre Bereitschaft. [/] Grüne [AG<br />
Umweltschutz], Homos <strong>und</strong> Frauen f. d. F. sind am Überlegen bzw. wollen es noch klären.“ (ABL H 35) Die<br />
AGU erklärte auch in ihrer Informationszeitschrift „Streiflichter“ den Wunsch, die FG mitzugestalten (Nr. 37<br />
Dez. 86 - ABL Box 6)<br />
76
Wirkung zu unwirksam. Er vertrat den Standpunkt, daß von Leipzig zu wenig Aggressivität ausgeht <strong>und</strong><br />
zuviel vorhandene Einsichten in staatliche Zwänge vorhanden wären. [/] Mit Blickrichtung auf künftige<br />
Aktivitäten kirchlicher Friedensarbeit äußerte W. folgende Vorstellungen:<br />
− In Zukunft sollten engere Kontakte zu Friedenskreisen in Dresden gesucht werden, um dortige<br />
Erfahrungswerte zur Verbesserung eigener Initiativen nutzen zu können.<br />
− Auch zwischen den Friedensdekaden müssen entsprechende Aktivitäten ausgelöst werden, um die<br />
Wirksamkeit ständig zu erhöhen.<br />
− Als Schwerpunkte sollen Probleme der Menschenrechte, der allseitigen Abrüstung <strong>und</strong> Erscheinungen<br />
des sich abzeichnenden Sozialabbaus in der DDR behandelt werden.<br />
− Es muß eine hemmungslose Aufdeckung von vorhandener Schlamperei <strong>und</strong> Mißwirtschaft<br />
durchgesetzt werden, auch mit dem Risiko einer evtl. Entlassung aus dem vorhandenen<br />
Arbeitsrechtsverhältnis.<br />
− (Als Beispiel nannte W. die ständig steigenden Preise sowie mangelhafte Sozialleistung für ältere<br />
Menschen)<br />
− Christen sollten auch mit Plakaten gegen die Delikatläden auftreten <strong>und</strong> ihren Protest in der<br />
Öffentlichkeit anderweitig zum Ausdruck bringen. Dabei sollte man auch vor evtl. kurzfristigen<br />
Inhaftierungen nicht zurückschrecken.<br />
− Echte Christen sollten keine Zuschauer sein <strong>und</strong> die wahre Auffassung zur Veränderung vorhandener<br />
Mißstände offen ansprechen.<br />
− Die Kirche braucht keine Zuschauer, sondern aktive Helfer. Trotzdem sollte man gegenüber fremden<br />
Personen eine erforderliche Distanz einnehmen.<br />
− Weiterhin gab W. zu verstehen, daß er sich aufgr<strong>und</strong> seines Engagements zur Durchsetzung einer<br />
wirksamen kirchlichen Friedensarbeit bereits bei der Kirchenleitung in Mißkredit gebracht hat. Seine<br />
gemachten Fehler in Dresden waren für ihn Anlaß zum Umdenken <strong>und</strong> zugleich Lehre in bezug auf<br />
Verhaltensweisen gegen bestimmte Leute.<br />
− U.a. erklärte W., daß solche Leute wie Pfarrer [...] weggedrückt werden müssen, <strong>und</strong> er selbst über<br />
Dresden dazu seinen Beitrag leistete.<br />
− Superintendent [...] sei zu alt <strong>und</strong> verstehe die Politik nicht mehr. Er sei aus seinem Amt zwar nicht<br />
abzuschieben, müsse demzufolge ausgeklammert werden von geplanten Aktivitäten.<br />
− Die künftige Friedensarbeit muß im Rahmen der Ökumene erfolgen, um aus der einseitigen Talsohle<br />
herauszukommen.<br />
− Besonders die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, vorrangig der Liebfrauengemeinde<br />
(Oratorium), welche keine Angst vor dem Bischof hat, sollte verstärkt in Angriff genommen werden.<br />
Alles andere sei bzw. bleibe für ihn nur Mittelfeld.<br />
Die „Friedensgebete“ sollen wöchentlich durch die vorhandenen kirchlichen AK (AK<br />
„Friedensdienst“, „Frauen für den Frieden“, AG Umweltschutz, „Hoffnung Nikaragua“) gestaltet<br />
werden. Eine entsprechende Abstimmung wird jeweils einmal monatlich für den nachfolgenden Monat<br />
vorgenommen. [/] Nach Auffassung von W. sollte Leipzig künftig als Konsultationspunkt für andere<br />
Bezirke bezüglich der Durchführung solcher oder ähnlicher Veranstaltungen ausgebaut werden. [/] In<br />
diesem Falle sei auch ein allseitiger Informationsaustausch <strong>und</strong> Sichtung von entsprechender BRD-<br />
Literatur <strong>und</strong> innerkirchlicher Dok. möglich.<br />
Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der geplanten kirchlichen Veranstaltung „Konkret für den<br />
Frieden“ 102 für 1987 erklärte W., daß für die ges. Vorbereitungsphase in Leipzig der<br />
Bezirkssynodalausschuß Leipzig/Ost verantwortlich zeichnet. [/] Durch W. ist geplant, über seine Stimme<br />
den AK „Friedensdienst“ vorrangig für die Vorbereitung o.g. Veranstaltung vorzuschlagen. W.<br />
bezeichnete den o.g. Ausschuß als einmaliges Gremium in der DDR, welches man vom gegenwärtig<br />
102 „Konkret für den Frieden“ bzw. „Frieden konkret“ war ein jährliches Treffen der Vertreter politisch-alternativer<br />
Gruppen innerhalb der evangelischen Kirche der DDR. Das erste Treffen fand 1983 in Berlin statt. Beim Treffen<br />
1985 wurde eine „Fortsetzungsausschuß“ (Art Vorstand) eingesetzt. Dazu fanden alljährlich Wahlen statt.<br />
Getragen wurde die Arbeit des Fortsetzungsausschusses vor allem von H.-J. Tschiche <strong>und</strong> W. Schnur.<br />
77
vorhandenen Mittelmaß als Art Funktionalorgan der Kirche entwickeln sollte. Von W. wurde außerdem<br />
die Ansicht vertreten, daß man zur Hebung der Gesamtaktivitäten künftig auch den Aufbau kleinerer<br />
Familienkreise wieder anstreben sollte. [/] Er selbst hätte vor, einen Arbeitskreis aufzubauen, in dem<br />
Mitglieder unterschiedlicher Blockparteien (sog. Inaktive oder Mitläufer) verankert sind. [/] Am<br />
13.01.1987, 19.30 Uhr, ist ein weiteres Treffen bei Pfarrer Wonneberger geplant, wo u.a. eine<br />
Berichterstattung der einzelnen AK bezüglich des Standes ihrer Vorbereitung zur Gestaltung der<br />
Friedensgebete erfolgen soll. [/] Das Friedensgebet am 02.02.1987 soll unter Verantwortlichkeit der ESG<br />
bzw. des Oratoriums Leipzig <strong>und</strong> das Friedensgebet am 16.02.1987 vom Arbeitskreis „Friedensdienst“<br />
durchgeführt werden.<br />
Am genannten Treffen nahmen namentlich unbekannte Vertreter der ESG (2), der christlichen<br />
Friedenskonferenz (2), der katholischen Kirche (2), des AK „Homosexualität“ (1) sowie Pfarrer<br />
Wonneberger teil. [/] Der weitere Einsatz der Quelle ist gewährleistet. [/] Die Quelle berichtete bisher<br />
ehrlich <strong>und</strong> zuverlässig. [/] Es ist unbedingter Quellenschutz zu gewährleisten.<br />
24 Friedensgebetstexte<br />
Blatt 1 <strong>und</strong> Blatt 5 aus der Mappe, die Pf. Wonneberger für die Gruppen, die die Friedensgebete gestalteten,<br />
zusammenstellte (s. Dok. 25). Die Mappe hat A5-Format <strong>und</strong> war so geheftet, daß sie laufend erweitert<br />
werden konnte. Außen steht „Friedensgebet“ darauf. In der Mappe befindet sich ein Ablauf-Vorschlag, fünf<br />
verschieden Kyrie-Vorschläge (mit Noten 103) , das Friedensgebet des Franz von Assisi <strong>und</strong> Text <strong>und</strong> Noten<br />
eines „polnischen Friedensliedes“ („Unfriede herrscht auf der Erde...“). Die Texte <strong>und</strong> liturgischen Stücke<br />
waren ohne Vervielfältigungsgenehmigungsnummer im Bezirkskirchenamt xerokopiert worden (beim Autor).<br />
Friedensgebet Ablauf - Vorschlag<br />
1. Begrüßung (Vorschlag): Wir kommen aus dem Betrieb des Tages <strong>und</strong> wünschen uns ein Stück bewußt<br />
erlebte Zeit. Wir kommen aus dem Unfriede unseres Lebens <strong>und</strong> fragen, was zum Miteinander gut ist.<br />
Wir kommen aus der Friedlosigkeit unserer Welt <strong>und</strong> suchen nach dem, was zum Frieden hilft. Der<br />
Friede Gottes sei mit uns allen.<br />
2. Kyrie mit einfließenden Reflexionen der vergangenen Woche (Zeitungszitate, Erlebnisse, Erfahrungen,<br />
Gesehenes, Gehörtes usw.)<br />
3. evtl. Lied/Kanon (siehe Mappe)<br />
4. Lesung freier Text oder bibl. Text<br />
5. freie Gestaltung Meditation, Gedanken, Gespräch, Fürbitte, Selbstbesinnung, Buße, Bild, Spiel,<br />
Information o.ä.<br />
6. evtl. Lied/Kanon (siehe Mappe)<br />
7. Friedensgebet im Wechsel gesprochen (siehe Textmappe)<br />
8. Vaterunser<br />
9. Geste der Gemeinsamkeit (Vorschlag dazu):<br />
Wir ergreifen die Hände <strong>und</strong> wünschen uns Frieden. Wir ergreifen die Hand, die uns angeboten wird,<br />
damit der Friede Christi mit Händen zu greifen ist. Wir vertrauen einander, weil er uns seinen Frieden<br />
anvertraut.<br />
Der Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen <strong>und</strong> Sinne in Jesus Christus.<br />
10. Informationsaustausch Berichte/Planungen/Einladungen/Termine (auch anstelle von 5 denkbar)<br />
[Blatt 5]<br />
Friedensgebet des Franz von Assisi 104<br />
O Herr,<br />
mach mich zum Werkzeug deines Friedens,<br />
103 In den FG durchgesetzt hatte sich in der Folge ein Kyrie der Taizé-Bruderschaft.<br />
104 Dieses Gebet des Begründers des Franziskaner-Ordens sollte im Wechsel gesprochen werden. Hektographierte<br />
Blätter mit diesem Text hinterlegte Pf. Wonneberger in größerer Stückzahl beim Kirchner der Nikolaikirche, so<br />
daß sie an die FG-Gemeinde verteilt werden konnten.<br />
78
dass ich Liebe übe, wo man sich hasst,<br />
dass ich verzeihe, wo man sich beleidigt,<br />
dass ich verbinde, da, wo Streit ist,<br />
dass ich die Wahrheit sage, wo der Irrtum herrscht,<br />
dass ich den Glauben bringe, wo der Zweifel drückt,<br />
dass ich die Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält,<br />
dass ich ein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert,<br />
dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.<br />
Herr, lass mich trachten:<br />
nicht nur, dass ich getröstet werde, sondern dass ich tröste;<br />
nicht nur, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe;<br />
nicht nur, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe.<br />
Denn wer da hingibt, der empfängt;<br />
wer sich selbst vergisst, der findet;<br />
wer verzeiht, dem wird verziehen;<br />
<strong>und</strong> wer stirbt, erwacht zum ewigen Leben.<br />
Amen<br />
25 Veranstaltungseinladung<br />
Dieser Brief vom 09.01.1987 wurde per Schreibmaschinendurchschlag vervielfältigt. Das vorliegende<br />
Exemplar war an den Friedenskreis der ESG gegangen <strong>und</strong> trägt den handschriftlichen Vermerk „lesen +<br />
zurück!“ (beim Autor).<br />
Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />
Aufgr<strong>und</strong> eines Versehens überschneidet sich der mit einigen von uns vereinbarte Termin zur Weiterarbeit<br />
am „FRIEDENSGEBET 87“ mit der [Sitzung des] Synodalausschusses F-U-G am 13.1.87. Nach kurzer<br />
Rücksprache mit einigen von Euch lade ich Euch deshalb jetzt für Dienstag, 20.1.87, 19.30 Uhr zu mir<br />
ein. Bitte macht das Kommen eines Vertreters Eurer Gruppe möglich.<br />
Für die noch nicht Beteiligten:<br />
Ab 2. Febr. ‘87 beginnt als gemeinsames Unternehmen der (F)riedens- (U)mwelt- <strong>und</strong><br />
(G)erechtigkeitsgruppen in Leipzig das wöchentliche FRIEDENSGEBET, montags 17 Uhr in der<br />
Nikolaikirche. Dafür liegt ein 10-Elemente-Ablaufvorschlag vor, der den notwendigen Arbeitsaufwand<br />
der gestaltenden Gruppe in Grenzen hält (je 2 Exemplare/Gruppe am 20.1.). Danach jeweils<br />
Gesprächsmöglichkeit in der Jugendkapelle.<br />
Jeden 1. Montag/Monat Friedensgebet mit anschließendem erweiterten TREFF der FUG-Gruppen in der<br />
Jugendkapelle. Das 1. Mal am 2.2.<br />
Bitte überlegt, falls Ihr noch nicht beteiligt seid, ob <strong>und</strong> wann Ihr Euch als Gruppe in das Unternehmen<br />
noch einklinken könnt. Für alle Beteiligten würde das einen reduzierten Aufwand bedeuten. Außerdem die<br />
Vernetzung auf Stadtebene befördern.<br />
Am 20.1.: Vorbereit. Mappen-Vervollständigung [/] Werbung (bitte Plakat-Vorschläge) [/]<br />
Terminvereinbarungen ab März<br />
Herzlichen Gruß <strong>und</strong> guten Start ‘87 Euch <strong>und</strong> uns<br />
[gez.] Chr. Wonneberger<br />
26 Innerkirchliche Information<br />
Brief von Pf. Führer für den Kirchenvorstand von St. Nikolai an den Vorsitzenden des<br />
Bezirkssynodalausschusses Pf. Berger vom 06.10.1987 mit dem Briefkopf der Nikolaikirchgemeinde. Die<br />
Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />
79
Der Kirchenvorstand hat in seiner Sitzung am 5.X.1987 dem Antrag des Synodalausschusses nach einer<br />
Informationstafel 105 in St. Nikolai unter folgenden Voraussetzungen zugestimmt:<br />
1. Der Antragsteller muß gestalterisch den anderen Aufstellern passend einzufügen sein <strong>und</strong> dem<br />
Qualitätsanspruch der Kirche genügen.<br />
2. Die Informationen für diesen Aufsteller sind in der Kanzlei abzugeben, werden vom Vorsitzenden des<br />
Kirchenvorstandes abgezeichnet <strong>und</strong> von unseren Mitarbeitern angebracht.<br />
27 Stasi-Information<br />
Operativinformation 260/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />
(Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-hpl) vom 14.11.1987 an die Abt. XX <strong>und</strong> AKG der BV<br />
Leipzig zum Gespräch zwischen dem Sektorenleiter Kirchenfragen des RdS Leipzig <strong>und</strong> Sup. Magirius, in<br />
dem es um die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“ ging. Die Information ging laut Verteiler an<br />
die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV <strong>und</strong> die Referate AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD Leipzig. AKG als konkreter<br />
Adressat ist in der Vorlage unterstrichen worden. Am rechten oberen Rand der Information wurde<br />
handschriftlich „ZPDB“ vermerkt. Außerdem wurden hinter mehreren Personennamen handschriftlich die<br />
Stasi-interne Speichernummer eingetragen. Die Operativinformation wurde in: Dokumente zur Kirchenpolitik<br />
in Sachsen, herausgegeben von „IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“<br />
veröffentlicht.<br />
Verlauf der Friedensdekade - 13.11.87106 Durch die Organe des Zusammenwirkens107 unserer DE wurde bekannt, daß am 13.11.87 durch den<br />
Sektorenleiter Kirchenfragen des Rates der Stadt Leipzig ein Gespräch mit Superintendent Magirius,<br />
Friedrich [...] geführt wurde. Gegenstand des Gespräches war die durch Pfarrer Wonneberger, Christoph<br />
[...] geplante Veranstaltung „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ am 16.11.1987 in der Reformierten<br />
Kirche. Dem Superintendenten wurde zur Kenntnis gegeben, daß durch Wonneberger geplant ist, im<br />
Rahmen der Veranstaltung Unterschriften für eine Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden, Gen. Erich<br />
Honecker, zu sammeln108 . Der Superintendent reagierte darauf sichtlich betroffen <strong>und</strong> legte dar, daß er<br />
nun die Rolle des Wonnebergers immer deutlicher erkenne. Wonneberger würde keinerlei politisches<br />
Geschick besitzen <strong>und</strong> durch sein Verhalten Spannungen in das Verhältnis Staat-Kirche hineintragen. Der<br />
Superintendent wird Wonneberger eine Unterschriftensammlung untersagen. Da er selbst am 16.11.87<br />
keine Zeit habe, werde er seinen Vertreter, Pfarrer Wugk, Manfred [...] zum Besuch der Veranstaltung<br />
auffordern. Es kann eingeschätzt werden, daß durch die Gespräche mit Superintendenten Magirius <strong>und</strong> das<br />
Aufzeigen der belastenden Rolle des Pfarrers Wonneberger auf das Verhältnis Staat-Kirche der<br />
Differenzierungsprozeß im innerkirchlichen Bereich fortgesetzt wurde 109.<br />
An dem sogenannten Friedensabend der Nikolaikirche am 13.11.87 von 18.00 - 24.00 Uhr nahmen ca. 400<br />
Personen teil. 90 % davon waren Jugendliche zwischen 18 <strong>und</strong> 25 Jahren. Der Abend war in vier Teile<br />
105 Am 4.10. hatte Pf. Berger aufgr<strong>und</strong> eines Beschlusses des BSA vom 28.09.1987 um die Aufstellung von<br />
Informationstafeln in der Nikolaikirche gebeten. In dem Brief hieß es: „Auf dieser Tafel sollen die im<br />
Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen die Möglichkeiten erhalten, über ihre Veranstaltungen zu<br />
informieren. Herr Superintendent Magirius wird dem KV dazu nähere Erläuterungen geben können.“ (ABL H 35)<br />
106 Solche Berichte gab es nicht nur für diesen Tag der FD 1987. Auch die staatlichen Stellen berichteten regelmäßig<br />
„nach oben“ über Veranstaltungen im Rahmen der FD. So gibt es auch ein IN-Telegramm von H. Reitmann (i.A.<br />
Jakel) vom 16.11.1987 an das StfK über das FG am 13.11.1987 (BArch O-4 1435).<br />
107 Gemeint waren staatliche Stellen oder Organisationen, die regelmäßigen Kontakt zum MfS pflegten.<br />
108 Diese Eingabe zum SoFD wurde an verschiedene Stellen gerichtet, ohne daß es zu konstruktiven staatlichen<br />
Reaktionen kam (Briefwechsel ABL H 1). Es wurden ca. 60 Unterschriften während der Veranstaltung<br />
gesammelt.<br />
109 H. Reitmann berichtete über dieses Gespräch: „Im Gespräch mit den Staatsorganen äußerte Superintendent<br />
Magirius, daß er den Ärger mit Pfarrer Wonneberger satt habe <strong>und</strong> Maßnahmen einleiten wolle, da dieser das<br />
Verhältnis Staat-Kirche enorm gefährde. Es sei seine Absicht, zusammen mit Bischof Hempel eine Aussprache<br />
mit Wonneberger zu führen.“ (BArch O-4 1435)<br />
80
untergliedert, die durch St<strong>und</strong>engebete unterbrochen waren.<br />
Im 2. Teil [sic!] fanden in unterschiedlichen Räumen der Kirche statt:<br />
− Auftritt eines Liedermachers Kluge (weitere Angaben nicht bekannt)<br />
− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Friedensfre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Staatsgewalt“ mit einer Gruppe Jugendlicher aus der BRD<br />
(Nähe Tübingen)<br />
− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Wehrdienstverweigerung“ mit Dr. Gräber (weitere Angaben nicht bekannt)<br />
− Die Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua bot Kaffee <strong>und</strong> Kuchen zum Kauf an. Der Erlös soll für<br />
Nicaragua gespendet werden. Gleichzeitig wurde eine Paketsammlung für Mosambique durchgeführt.<br />
Im 2. Teil fand statt:<br />
− Fortsetzung der Diskussionsr<strong>und</strong>e unter Leitung der CFK mit den BRD-Bürgern<br />
− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Frauen <strong>und</strong> Gewalt“<br />
− Auftritt des Liedermachers Jankowski (weitere Angaben nicht bekannt)<br />
Im 3. Teil fand statt:<br />
− Diskussionsr<strong>und</strong>e „Amnestie - Was nun?“<br />
− Bilderdiskussion „Kerstins Bilder“<br />
− Erziehung wozu - für was?<br />
− Fortsetzung der Diskussionsr<strong>und</strong>e unter Leitung der CFK<br />
Im 4. Teil zeigte die „Michaelisspielschar“ das Pantomimenstück „Drei Tage im Leben von Charly“.<br />
Inhaltlich wurde zu den einzelnen Teilen des Friedensabends folgendes bekannt:<br />
In der Diskussionsr<strong>und</strong>e „Friedensfre<strong>und</strong>e“ <strong>und</strong> „Staatsgewalt“, in der zunächst die Tübinger Gruppe über<br />
ihre Erfahrungen mit der Polizei <strong>und</strong> den BRD-Gerichten berichtete, konzentrierte sich die Diskussion auf<br />
die Frage, wie weit man gehen könne. Der Gr<strong>und</strong>tenor beim Publikum war, daß der Staat die Hand<br />
gereicht hat <strong>und</strong> man mit dem Staat auch weiter reden will. Ein Diskussionsredner berichtete von seiner<br />
Aktion auf dem Karl-Marx-Platz mit einem Plakat zur Großk<strong>und</strong>gebung für die Opfer des Faschismus.<br />
Dieser Diskussionsbeitrag wurde durch die Diskussionsleitung nicht unterstützt <strong>und</strong> geschickt überspielt.<br />
In der weiteren Diskussion wurde die Frage des Sinns von Gewalt angesprochen. Durch einen der BRD-<br />
Jugendlichen wurde als Antwort das Beispiel von 2 Polizistenmorden in [sic!] Demonstrationen in der<br />
BRD angeführt <strong>und</strong> daß dafür jetzt die Grünen verantwortlich gemacht werden. Gewalt sei also nutzlos.<br />
Viel besser sei, dort, wo zahlenmäßige Überlegenheit besteht, wenn immer 2 Leute einen Polizisten in<br />
ablenkende Diskussionen verwickeln.<br />
Im 2. Teil der Diskussionsr<strong>und</strong>e wurde ein englischer Pfarrer vorgestellt. Die Diskussionsr<strong>und</strong>e wurde<br />
durch einen historischen Abriß der CFK eingeleitet. Über die Darstellung, daß die CFK Bausoldaten zu<br />
beeinflussen sucht, mit Waffe zu dienen, entwickelte sich eine Diskussion. Hier trat ein Matthias<br />
Hegewald (phon.) auf, der selbst, nach seinen Ausführungen, Bausoldat gewesen ist. Er beschrieb, wie<br />
schwer der Entschluß, Bausoldat zu werden, für ihn war. Durch den englischen Pfarrer wurde die Frage<br />
aufgeworfen, wie der Faschismus hätte bekämpft werden können, ohne daß Christen eine Waffe in der<br />
Hand gehabt haben. Insgesamt kann eingeschätzt werden, daß diese Diskussionen keine offenen Angriffe<br />
auf die Politik unseres Staates enthielten. In der Diskussionsr<strong>und</strong>e „Amnestie - was nun?“ berichteten 2<br />
Amnestierte über ihre Schwierigkeiten. Diese seien, nach ihrer Darstellung, vor allem die Probleme in<br />
ihren Betrieben bei der Einfügung in die Arbeitskollektive. Das durch die Spielschar der Michaeliskirche<br />
vorgeführte Pantomimenstück handelt davon, wie sich Bürger einer Stadt an eine Bombe gewöhnen. Es<br />
war in den USA angesiedelt, aber es wurden kurzzeitig Möglichkeiten suggestiert [sic!], daß es natürlich<br />
jede andere Stadt sein könne. Nachdem sich alle Bürger der Stadt an den Anblick der Bombe gewöhnt<br />
haben, explodiert diese <strong>und</strong> alle sterben. Das Pantomimenstück wurde vom Publikum begeistert<br />
aufgenommen.<br />
Außerhalb des Programmablaufes war in der Kirche eine Ausstellung aufgebaut. Hier wurden zu ca. 50 %<br />
Fotos vom Olof-Palme-Marsch 110 gezeigt. Diese Fotos waren sowohl Abbildungen der mitgeführten<br />
Losungen als auch Bilder von Sicherheitskräften.<br />
Weiterhin hing neben dieser Ausstellung eine Art Wandzeitung aus. Sie beinhaltete einen „offenen Brief“<br />
110 s. Anhang, S. 375<br />
81
an das Publikum. Sinngemäß wurde hier behauptet, jeder Bürger sei in sich gespalten. Auch der Staat<br />
wäre in sich gespalten, <strong>und</strong> deshalb gebe es kaum Identifikation mit diesem Staat. Diese Aufspaltung hätte<br />
verschiedene Phasen. Abgeleitet davon wurde die Behauptung, der Staat würde seine Bürger einmauern,<br />
im Sinne von geistig <strong>und</strong> körperlich einmauern. Es gäbe keinen freien Meinungsaustausch. In diesem<br />
Zusammenhang wird aufgefordert, daß Christen keinen Übersiedlungsantrag stellen sollen. Nur hier<br />
könnten sie etwas ändern. Andererseits soll jeder Christ Übersiedlungssuchenden helfen. Ein neues<br />
Denken sei jetzt angebracht. Weiterhin wurde in diesem „offenen Brief“ aufgefordert, viele BRD-<br />
Kontakte zu knüpfen, um der Einmauerung zu entgehen. Im Zeitraum von 18.00 - ca. 22.00 Uhr wurde an<br />
einem Stand eine Unterschriftensammlung 111 durchgeführt. Der Text dieser Unterschriftensammlung<br />
entspricht der in der Laurentiuskirche am 25.10.1987 durchgeführten (Operativinformation 238/87 112) .<br />
Die ausgelegten Blätter wurden von ca. 100 bis 150 Personen unterzeichnet. Von den anwesenden<br />
Personen konnten eindeutig identifiziert werden Wonneberger, Christoph [...] <strong>und</strong> Lux, Petra [...]. Die L.<br />
äußerte sich der Quelle gegenüber enttäuscht vom Verlauf des Friedensabends. Ergänzungen zum Inhalt<br />
<strong>und</strong> Personifizierung der Teilnehmer erfolgen noch.<br />
28 Stasi-Information<br />
Operativinformation Nr. 268/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des<br />
MfS (Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-do) vom 21.11.1987 an den 1. Stellv. des Leiters der BV<br />
Leipzig (Oberst Eppisch) <strong>und</strong> an die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig zu einem Gespräch zwischen<br />
R. Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius, in dem es erneut um die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“<br />
ging. Die Information ging laut Verteiler an Eppisch <strong>und</strong> die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV <strong>und</strong> die<br />
Referate AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD Leipzig. AKG als konkreter Adressat ist in der Vorlage unterstrichen worden.<br />
Am rechten oberen Rand der Information wurde handschriftlich „ZPDB“ vermerkt. Außerdem wurden hinter<br />
mehreren Personennamen handschriftlich die Stasi-interne Speichernummer eingetragen. Die<br />
Operativinformation wurde in: Dokumente zur Kirchenpolitik in Sachsen, herausgegeben von „IFM<br />
e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus“ veröffentlicht.<br />
Am 20.11.1987 wurde durch den 1. Stellvertreter des OBM, Genossen Sabatowska <strong>und</strong> dem<br />
Sektorenleiter Kirchenfragen beim Rat der Stadt Leipzig, in Abstimmung mit der KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong><br />
Koordinierung mit der Abteilung XX/BV Leipzig ein Gespräch mit dem Superintendenten des<br />
Kirchenbezirkes Leipzig-Ost Magirius, Friedrich [...] in Auswertung des Verlaufes der Friedensdekade im<br />
Verantwortungsbereich, insbesondere der durch den Pfarrer Wonneberger, Christoph [...] am 16.11.1987<br />
in der Reformierten Kirche initiierten Veranstaltung „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ (siehe<br />
Operativinformation 262/87 113 der KD Leipzig-Stadt) geführt114<br />
. Superintendent Magirius hatte um<br />
dieses Gespräch zur Klärung von Fragen des Baugeschehens an der Nikolaikirche ersucht. M. äußerte sich<br />
zufrieden über den Verlauf der Friedensdekade. Die Veranstaltung in der Reformierten Kirche sei jedoch<br />
aus dem Rahmen gefallen <strong>und</strong> stellt einen Tiefpunkt dar. Besonders peinlich für ihn ist, daß diese<br />
Veranstaltung nicht in einer ev.-luth. Kirche stattfand, sondern an die Reformierte Kirche vermittelt wurde<br />
<strong>und</strong> die Leitung der Reformierten Kirche nicht über den Inhalt der Veranstaltung informiert war. M.<br />
111 Der Brief an Honecker, in dem u.a. die Abschaffung des Schießbefehls an der Mauer gefordert wurde, ist<br />
abgedruckt in: „Grenzfall“ 8/87 (ABL Box 2).<br />
112 Kopie der Operativinformation 238/87 im ABL.<br />
113 Die Operativinformation 262/87 ist den Herausgebern nicht bekannt.<br />
114 Nach dem Telegramm von Reitmann (i.A. Jakel) an das StfK vom 17.11. fand die „Absprache der betreffenden<br />
Organe“ am 17.11.1987 statt. Anlaß war die Veranstaltung „Der Friede muß unbewaffnet sein“ vom 16.11.1987.<br />
Diese wurde von H. Reitmann als „politisch-konfrontativ“ eingeschätzt (BArch O-4 1435). Die Veranstaltung<br />
hatte folgenden Aufbau: 1. vom Band: Marschmusik, Sirenengeheul, startende Raketen, 2. Kästner „Land der<br />
Kanonen“, 3. Pf. Wonneberger über die Geschichte von SoFD, 4. vom Band: A. Heller „Nachbemerkungen“, 5.<br />
Ein Anspiel der AGM bei dem ein Totalverweigerer, ein Bausoldat <strong>und</strong> ein Soldat auf 3-Jahre dargestellt wurden,<br />
6. Vorstellen der Eingabe, 7. Pf. Berger - Erläuterungen zur rechtlichen Gr<strong>und</strong>lage der Eingabe, 8. mehrere<br />
Diskussionsgruppen.<br />
82
achte zum Ausdruck, daß man sich bei der „Schwesterkirche“ entschuldigen will. M. sei durch den<br />
Pfarrer Dr. Berger, Matthias [/] geb. [.../] Vorsitzender des Synodalausschusses [/] Abteilung XII erfaßt<br />
für KD Leipzig-Stadt über den Verlauf der Veranstaltung <strong>und</strong> die Vorkommnisse informiert worden. Dr.<br />
Berger besuchte die Veranstaltung im Auftrag von Superintendenten Magirius. Das Auftreten von Pfarrer<br />
Wonneberger <strong>und</strong> die initiierte Eingabenaktion wird von Magirius abgelehnt. Er schätzt ein, daß<br />
Wonneberger dadurch provozieren will <strong>und</strong> Reizpunkte im Verhältnis Staat-Kirche schafft. Mit durch<br />
Pfarrer Wonneberger organisierten Veranstaltungen wurden ohnehin nur bestimmte Leute angesprochen.<br />
Magirius drückte die Vermutung aus, daß Wonneberger in seinen Aktivitäten durch seine Verbindungen<br />
nach Berlin unterstützt wird. Mit Wonneberger sei darüber nicht zu reden, zumal Wonneberger den<br />
Magirius als Gesprächspartner nicht akzeptiert. [/] Durch den Superintendenten Magirius wurde der<br />
Landesbischof der ev.-luth. Landeskirche Sachsen Hempel, Johannes über die Vorkommnisse in der<br />
Reformierten Kirche informiert.<br />
Die Vorfälle sind der Anlaß für einen Besuch des Landesbischofs im Dezember 1987 in Leipzig, wo sich<br />
mit Pfarrer Wonneberger auseinandergesetzt werden soll. Magirius gab jedoch zu bedenken, daß man bei<br />
Wonneberger eine bewußtseinsmäßige Veränderung herbeiführen <strong>und</strong> keine administrativen Strafen<br />
anwenden will. Falls sich bei Pfarrer Wonneberger keine bewußtseinsmäßige Veränderung vollzieht, dann<br />
sei es auch in der Kirche möglich, sich von solchen Leuten zu trennen. [/] In Abstimmung zwischen der<br />
KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> dem Sektor Kirchenfragen wird ein Gespräch mit dem Pfarrer der Reformierten<br />
Kirche Sievers, Hans-Jürgen [...] vorbereitet, um diesen noch vor dem Besuch des Landesbischofs Hempel<br />
in Leipzig zu positionieren <strong>und</strong> ihn aktiv in den Auseinandersetzungsprozeß mit Pfarrer Wonneberger<br />
einzubeziehen. Der Verlauf <strong>und</strong> die Wertung der Gespräche mit Superintendent Magirius lassen die<br />
Einschätzung zu, daß die durch die KD Leipzig-Stadt in Abstimmung mit der Abteilung XX eingeleiteten<br />
Maßnahmen wesentlich den innerkirchlichen Auseinandersetzungsprozeß mit Pfarrer W. forcierten.<br />
29 Stasi-Information<br />
Operativinformation 290/87 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) des Leiters der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />
(Ref. XX/2 grie-wi) vom 15.12.1987 an Abt. XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig zum Friedensgebet am<br />
14.12.1987 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet i.V. für Oberst Schmidt unleserlich (ABL H 10).<br />
Durch zielgerichteten IM-Einsatz der KD Leipzig-Stadt konnten folgende Erkenntnisse zum sog.<br />
Friedensgebet am 14.12.87, 17.00 Uhr in der Nikolaikirche erarbeitet werden. Am Friedensgebet, welches<br />
durch die „Menschenrechtsgruppe“ des Pfarrers Wonneberger, Christoph [...] gestaltet wurde, nahmen ca.<br />
20 Personen teil. [/] Identifiziert wurde [...4 Namen] [/] Der Küster der Nikolaikirche Peterson [richtig:<br />
Petersohn115] <strong>und</strong> eine männliche Person [...] vom katholischen Friedenskreis Leipzig-Grünau. Inhaltlich<br />
beschäftigte sich das Friedensgebet mit „zwischen Mauern leben...“ Es kann eingeschätzt werden, daß<br />
Pfarrer Wonneberger versucht, sich <strong>und</strong> seine Menschenrechtsgruppen im Rahmen der Friedensgebete<br />
weiter zu profilieren. Im Rahmen des Friedensgebetes kam das sog. SoFD-Papier116, welches bereits zur<br />
Veranstaltung am 16.11.87 „Der Frieden muß unbewaffnet sein“ zur Diskussion gestellt wurde, zur<br />
Verteilung. Die Aussagen während des Friedensgebetes werden als offener Angriff auf die Politik von<br />
Partei <strong>und</strong> Regierung der DDR bewertet. Eine interne Diskussion im Anschluß an das Friedensgebet fand<br />
nicht statt. Inoffiziell wurde weiterhin bekannt, daß am 17.12.87 im Gemeindehaus der Lukaskirche ein<br />
internes Treffen des Wonneberger, Christoph [... 3 Namen von Leipziger Basisgruppenmitgliedern]<br />
stattfindet. Dabei soll ein Schreiben an die Landessynode der Ev.-luth. Kirche Sachsens mit der Forderung<br />
einer Umweltbibliothek 117 für Leipzig erstellt werden. Dieses Schreiben soll dann im Jugendpfarramt<br />
115 T. Petersohn war inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Wilhelm“, s. Besier/Wolf, 696ff.)<br />
116 Gemeint ist ein Flugblatt (Ormig-Vervielfältigung beim Jugendpfarramt) mit einem Konzept zur Einrichtung<br />
eines zivilen Ersatzdienstes (ABL H 2), welches von einer Ad-hoc-Gruppe erarbeitet worden war.<br />
117 In Leipzig gab es schon eine Umweltbibliothek (bei der AGU im Jugendpfarramt). Die von der AGM<br />
gewünschte Umweltbibliothek sollte eher eine Bibliothek zu Menschenrechtsfragen sein. Ein Jahr später wurde<br />
dies in Form einer „Gemeindebibliothek“, die die AGM <strong>und</strong> der AKG betreuten, in der Lukas-Gemeinde<br />
83
Leipzig ausgelegt werden, um weitere Personen <strong>und</strong> alternative Gruppierungen zu inspirieren, derartige<br />
Schreiben an die Landessynode zu senden.<br />
Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz zu beachten.<br />
30 SED-Information<br />
Durchschlag des chiffrierten Fernschreiben vom 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig an das Mitglied<br />
des Politbüros <strong>und</strong> Sekretär des ZK der SED H. Dohlus mit Informationen über das Friedensgebet am<br />
25.01.1988 in Leipzig vom 26.01.1988 (10.00 Uhr), unterzeichnet von H. Schumann (StAL SED A 5867).<br />
Den Sicherungsorganen des Bezirkes wurde bekannt, daß für den 25. Januar 1988 eine Gruppe von<br />
bekannten Leuten, die in Verbindung stehen mit der sogenannten Umweltbibliothek der Zionskirche<br />
Berlin, in der Nikolaikirche Leipzig eine Zusammenkunft durchführen wollten, um auch in Leipzig<br />
öffentlichkeitswirksame Maßnahmen der DDR gegen Staatsfeinde durchzuführen118. Dazu sollte das<br />
regelmäßig montags stattfindende Friedensgebet am 25.1. genutzt werden. Das Gebet findet jeden Montag<br />
17.00 Uhr für ca. 30 Minuten statt <strong>und</strong> hat in Abhängigkeit auch des Predigers geringeren oder stärkeren<br />
Zulauf. Am gestrigen Tage haben ca. 160 Personen119 das Friedensgebet besucht. Unter diesen Besuchern<br />
befanden sich bekannte Leute, die diese Beziehung zur Zionskirche haben. Nach Beendigung des Gebets<br />
gegen 17.30 Uhr fand von einer Reihe Teilnehmern des Gebets in der Kirche eine Diskussion statt, was<br />
man als Protest gegen die staatlichen Maßnahmen in Berlin machen könne. Gegen 19.00 Uhr hat sich<br />
diese Gruppe ohne eine Störung der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung aufgelöst. Es kam also zu<br />
keinerlei Vorfällen in der Öffentlichkeit. Mit den Sicherheitsorganen sind die erforderlichen Maßnahmen<br />
gegen diesen Kreis besprochen <strong>und</strong> gewährleistet.<br />
Horst Schumann [/] 1. Sekretär<br />
DH [Diensthabender] der BL [Bezirksleitung] meldet: [/] Gegen 13.00 Uhr heute wurde von einer VP<br />
[Volkspolizei]-Streife im Schaukasten der Nikolaikirche ein Aufruf des Bischofs von Berlin festgestellt.<br />
Neben anderen kirchlichen Punkten stand dort: [/] „Täglich 17.00 Uhr Friedensgebet für die Freilassung<br />
der Inhaftierten von der Demonstration am 17.1.88 in Berlin“ 120.<br />
31 Stasi-Information<br />
Durchschlag einer Information von der Abteilung XX der BV für Staatssicherheit Leipzig (Major Conrad)<br />
vom 27.01.1988 über ein Gespräch zwischen H. Reitmann, Sup. Magirius <strong>und</strong> Sup. Richter am 27.01.1988<br />
über die Ereignisse in Leipzig in Zusammenhang mit den Verhaftungen in Berlin - ohne Unterschrift aber mit<br />
Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />
Am 27.1.88 erfolgte durch den Stellvertreter Inneres beim Rat des Bezirkes Leipzig, Genossen Dr.<br />
realisiert. Sie wurde Vorläufer der Bibliothek <strong>und</strong> des Archivs der IFM in Leipzig.<br />
118 Dieser Satz wurde von H. Schumann per Hand abgeändert in: „... um auch in Leipzig öffentlichkeitswirksam<br />
gegen Maßnahmen der DDR gegen Staatsfeinde zu [... nicht zu entziffern].“<br />
119 J. Richter berichtet von 200 Teilnehmern (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 239).<br />
120 In der Erklärung des Bischofs der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Ost), G. Forck, hieß es: „1. Die<br />
Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg tritt für die Freilassung aller Inhaftierten ein, die im Zusammenhang<br />
mit der Demonstration am 17.1.1988 in Untersuchungshaft sind. [...] 6. Das Stadtjugendpfarramt ist beauftragt,<br />
bis zur Klärung der anstehenden Probleme zu Fürbittandachten einzuladen. Die Kirchenleitung wird sich daran<br />
beteiligen, die Anwälte einladen <strong>und</strong> für Gelegenheit zu Rückfragen <strong>und</strong> Aussprachen sorgen. 7. Im<br />
Einvernehmen mit dem Generalsuperintendenten von Berlin wird ein Kontaktbüro ab 22.1.1988, 8.00 Uhr,<br />
ständig unter der Telefonnummer 5592734 erreichbar sein.“ (in: „Fussnote3“, Dok. II/4). Der Berliner Bischof<br />
hatte in seiner Erklärung jedoch das Stadtjugendpfarramt von Ostberlin gemeint! Sie sandte G. Forck in einem<br />
vertraulichen Brief, in dem er sich für die Freilassung der Inhaftierten einsetzte, an E. Honecker (SAPMO-BArch<br />
IV B 2/14/57, 59)<br />
84
Reitmann, in der Zeit von 15.00 bis 16.30 Uhr im Rat des Bezirkes Leipzig eine Gesprächsführung mit<br />
den beiden Leipziger Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter121 . [/] Die Zielstellung des Gesprächs<br />
bestand darin, die staatliche Forderung nach einer verstärkten Einflußnahme beider kirchlicher Amtsträger<br />
zur Zurückdrängung politisch-negativer Aktivitäten im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen im<br />
Zusammenhang mit den Ereignissen in Berlin (Zuführungen <strong>und</strong> Festnahmen) auszusprechen, sowie die<br />
Erwartungshaltung, daß kirchliche Objekte nicht Ausgangspunkt für feindlich-negative<br />
öffentlichkeitswirksame Aktivitäten werden.<br />
Genosse Dr. R. [Reitmann], der anfangs beiden Amtsträgern zur Kenntnis gab, daß er kurz vorher mit dem<br />
Präsidenten des Landeskirchenamtes, Domsch, ein Gespräch [per Telefon] hatte <strong>und</strong> mit ihm<br />
übereinstimmte in der Wahrnehmung gemeinsamer Verantwortung zur Vermeidung von Konflikten, die<br />
das Staat-Kirche-Verhältnis belasten könnten, schilderte die bisherige Entwicklung politisch-negativer<br />
Aktivitäten in Zusammenhang mit stattgef<strong>und</strong>enen kirchlichen Veranstaltungen in der Stadt Leipzig <strong>und</strong><br />
forderte mit Nachdruck, daß die Kirche nicht Ausgangspunkt für strafbare Handlungen werden darf.<br />
Ausgehend von der aktuellen Lageeinschätzung, die Dr. R. gab, wurde durch ihn offensiv die staatliche<br />
Erwartungshaltung gegenüber den kirchlichen Verantwortungsträgern zum Ausdruck gebracht. Beide<br />
Superintendenten brachten zum Ausdruck, daß sie in der Beurteilung der Lage übereinstimmen <strong>und</strong> kein<br />
Interesse daran haben, daß es zu Konfrontationen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche komme <strong>und</strong> daß vorhandene<br />
aufgezeigte politisch-negative Aktivitäten nicht weiter eskalieren dürfen.<br />
In der nachfolgenden Diskussion brachten die beiden Superintendenten u.a. folgende<br />
Meinungen/Haltungen zum Ausdruck122: Sup. Magirius<br />
− Es herrsche Übereinstimmung darüber, daß es in unserem Staat große Schwierigkeiten mit<br />
Übersiedlungsersuchenden gibt, auch in der Kirche. Für die Lösung diese Problems habe er keine<br />
Lösung parat.<br />
− Man müsse sich staatlicherseits darüber im Klaren sein, daß Berlin eine Sogwirkung hat.<br />
− In der Kirche gäbe es neuerdings Gruppen, die unter dem Stichwort „Glasnost“ Offenheit in der Kirche<br />
suchen, weil sie das in der Gesellschaft nicht finden würden. Diese stellen jetzt Grenzen sowohl in der<br />
Gesellschaft als auch in der Kirche fest. Die Grenzen in der Kirche haben der Kirche bisher von diesen<br />
Personen viel Kritik eingebracht.<br />
− Ein Verbot derartiger Veranstaltungen würde sich gegen die Kirche selbst richten, es gelte jedoch diese<br />
stärker theologisch auszurichten.<br />
− Ausgehend davon, daß man in einem Boot sitze, gilt es beiderseits, die volle Verantwortung<br />
wahrzunehmen.<br />
Sup. Richter<br />
− In seiner 30jährigen Tätigkeit in der Kirche hat er es jetzt erstmals mit Leuten zu tun, die weder in die<br />
Kirche noch in die Gesellschaft „einpaßbar sind“.<br />
− Jeder Pfarrer müsse wissen, auf welchem Felde er sich bewegt.<br />
− Es gäbe in der DDR Probleme, die die DDR-Bürger bewegen <strong>und</strong> teilweise frustrieren. In<br />
Zusammenhang damit sprach er die Rede von Genossen Kurt Hager (ND vom ...) 123,<br />
die<br />
121 vgl. Nachschrift dieses Gespräches von J. Richter, in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 242-245. Ein Vergleich zeigt,<br />
daß der Bericht des MfS aufgr<strong>und</strong> der deutlichen Differenzen nicht protokollarisch sein kann. Er geht vermutlich<br />
auf einen Bericht des GMS „Rat“ (W. Jakel) zurück. Das MfS hatte im Januar/Februar 1988 bei der<br />
Gesprächsführung der Abteilung Innere Angelegenheiten mit Kirchenvertretern eine wichtige Funktion (s.<br />
Gesprächskonzeption den MfS vom 30.01.1988 in: Besier/Wolf, 529-532). Die zentrale Einweisung der<br />
stellvertetenden Vorsitzenden der RdB für Inneres zu diesen Gesprächen fand erst am 28.01.1988 statt (ebenda,<br />
530).<br />
122 Nach der Nachschrift von J. Richter haben die Superintendenten u.a. darauf hingewiesen, daß sie über das<br />
„Auftauchen von Ausreisekandidaten“ genauso überrascht seien wie der Staat. Weiter heißt es dort: „Wir stünden<br />
jetzt in einer nicht mit anderen Situationen vergleichbaren Situation, daß es tatsächlich Gruppen gibt, die weder<br />
mit dem Staat noch mit der Kirche etwas im Sinne hätten.“ (ebenda, 243 <strong>und</strong> 244)<br />
123 Gemeint ist die Ablehnung von Reformen (Perestroika) in der DDR mit den Worten: „Würden Sie [...] wenn Ihr<br />
85
Reiseproblematik Ungarn-CSSR124 <strong>und</strong> die Verleihung des Karl-Marx-Ordens an den Rumänischen<br />
Präsidenten 125 an.<br />
− Die Tätigkeit der Kirche sei klar umrissen vom üblichen Zeugnis her <strong>und</strong> das bildet auch den Rahmen<br />
für die Tätigkeit eines Pfarrers. Ein Pfarrer, der über die Grenzen seines Verantwortungsbereiches<br />
hinausgeht, muß wissen, was er tut <strong>und</strong> entsprechende Verantwortung tragen.<br />
− Ohne dem Staat eine Schuldzuweisung zu geben, wäre es notwendig, sich die Frage zu stellen, warum<br />
diese Leute so geworden sind. Diese Fragen solle man sich staatlicherseits intern stellen.<br />
− Die Kirche könnte es sich einfach machen <strong>und</strong> die Probleme auf den Staat zu schieben, was sie jedoch<br />
nicht mache, sondern nimmt selbst Verantwortung wahr, damit die Probleme nicht noch größer<br />
werden.<br />
− Als Aufsichtsbehörde für die Studentengemeinde müsse er Kenntnis darüber erlangen, ob z.B. während<br />
der Veranstaltungen Handzettel gefertigt wurden oder außerhalb der Kirche, um entsprechend in<br />
Aktion treten zu können.<br />
− Es sei ihm bewußt, daß es in dieser bewegten politischen Zeit sowohl „Stromschnellen“ <strong>und</strong><br />
„Untiefen“ gäbe. In der jetzigen Zeit gehe es darum, „die Kuh vom Eis zu holen“.<br />
Im Ergebnis des Gesprächs wurden folgende Punkte festgehalten:<br />
1. Die staatliche Forderung, daß innerhalb der Kirchen „keine neuen Türen aufgemacht werden“.<br />
(Offensichtlich werden die weiteren Friedensgebete in der ESG oder einer anderen Randkirche, jedoch<br />
nicht im Stadtzentrum, durchgeführt.) 126<br />
2. In den Veranstaltungen müssen die theologischen Aussagen das Primat haben.<br />
3. Ausgehend von gleichen Interessen nehmen beide Superintendenten verschärft ihre Verantwortung<br />
wahr. [/] Beide Superintendenten wollen dem nachgehen, ob ihnen genannte öffentlichkeitswirksame<br />
Aktivitäten ihren Ausgangspunkt in der Veranstaltung der ESG hatten. [/] Beide Superintendenten<br />
nehmen Einfluß darauf, daß kirchliche Mittel nicht für politisch-negative Zwecke mißbraucht werden<br />
(z.B. Vervielfältigungsgeräte).<br />
4. Die Begleitung des Studentenpfarrers Bartels soll kirchlicherseits künftig verstärkt werden.<br />
Das gesamte Gespräch verlief in einer offenen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre.<br />
32 Staatliche Einschätzung<br />
Auszug aus einer Information des Rates der Stadt Leipzig vom Stellv. des OBM für Inneres über die<br />
Staatspolitik in Kirchenfragen im Berichtszeitraum Dezember 87/Januar 1988 vom 01.02.1988. Die<br />
Information wurde von Sabatowska unterzeichnet. Reitmann unterzeichnete den Empfangsstempel (StAL<br />
BT/RdB 21396).<br />
1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />
[...]<br />
6. Fallinformation 127<br />
Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren.“<br />
(Stern 9.4.1987; ND vom 10.4.1987).<br />
124 Seit 15. Januar 1988 gab es einen Umtausch-Höchstsatz für Touristen in die CSSR <strong>und</strong> nach Ungarn, die<br />
Individualreisen nahezu ausschlossen.<br />
125 Die Verleihung eines der höchsten Auszeichnungen der DDR an Nicolea Ceausescu ist von der Opposition in der<br />
DDR sehr sensibel vermerkt worden. Sie wurde als zynische Sympathieerklärung an den Despoten <strong>und</strong> Diktator<br />
verstanden, welche die leidende Bevölkerung verhöhnte <strong>und</strong> Rückschlüsse auf mögliche Entwicklungen in der<br />
DDR nahelegte. Den Orden erhielt Ceausescu anläßlich seines 70. Geburtstages am 26.01.1988.<br />
126 In der Gegenüberlieferung heißt es: „... wir möchten darauf hinwirken, daß die Gebetsgottesdienste dieser Art<br />
nicht in die Innenstadt, sprich: Nikolaikirche zurückkehrten. Wir haben diese Bitten entgegengenommen, dabei<br />
aber auf die tatsächlichen Grenzen unserer Einflußmöglichkeiten verwiesen.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 144f.)<br />
127 Diese „Fallinformation“ wurde teilweise wörtlich in den Informationsbericht 1/88 des RdB, Kirchenfragen, vom<br />
08.02.1988 übernommen (BArch O-4 1117).<br />
86
Es wurde bekannt, daß am 22.1.1988, 20.00 Uhr im Gemeindesaal der Michaeliskirche unter der<br />
Verantwortung der Arbeitsgemeinschaft „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt Leipzig eine<br />
Veranstaltung unter dem Thema „Was geschah im November 1987 in der Zionskirche?“ stattfinden<br />
würde. Aus diesem Anlaß wurde durch den Bereich Kirchenfragen beim Rat der Stadt ein Gespräch mit<br />
dem zuständigen Jugendpfarrer Kaden durchgeführt. Dabei war zu erfahren, das Anliegen sei die<br />
Information an interessierte Jugendliche durch direkt Betroffene aus der Umweltbibliothek in Berlin. Pf.<br />
Kaden äußerte, daß es nicht um die Erzeugung von Konfrontation bei den Jugendlichen gehe, obwohl alle<br />
diese Fragen eminent politisch seien. Seine Hauptaufgabe sehe er darin, die Diskussion auf sachlicher<br />
Ebene zu führen, da überhaupt kein Interesse an einer Eskalation dieser Frage bestehe. Als Jugendpfarrer<br />
möchte Kaden ein gutes Verhältnis zum Staat. Nur im Miteinander sei eine Weiterentwicklung dieses<br />
Verhältnisses denkbar. In diesem Sinne werde er seine Verantwortung bei diesen Veranstaltungen<br />
wahrnehmen. Er rechnet mit einer Teilnehmerzahl von 70-80 Jugendlichen.<br />
An der Veranstaltung am 22.1.1988 nahmen dann aber 300-350 Interessierte teil, so daß nicht wie<br />
vorgesehen der Gemeindesaal benutzt werden konnte, sondern die Veranstaltung dann in der<br />
Michaeliskirche selbst stattfand. Unter den Teilnehmern befanden sich 4 Pfarrer (Pf. Kaden, Pf.<br />
Krumbholz, Pf. Berger <strong>und</strong> Pf. Lösche). Ein „direkt Betroffener“ aus Berlin war nicht anwesend. Ein<br />
Sprecher informierte über die Ereignisse in Berlin. In der Diskussion wurden „Protestschreiben“ einzelner<br />
Anwesender verlesen. Ein Brief der Teilnehmer der Veranstaltung wurde erarbeitet <strong>und</strong> zur Unterschrift<br />
ausgelegt128 . Die anwesenden Pfarrer (außer Pf. Lösche) bezogen öffentlich Position <strong>und</strong> distanzierten<br />
sich deutlich vor einem Mißbrauch kirchlicher Gebäude zu gesetzwidrigen Handlungen. Am Ende<br />
konstituierte sich eine „Arbeitsgruppe“ von ca. 20 Personen, deren nächste Aktion das Friedensgebet in<br />
der Nikolaikirche am 25.1.1988 war 129.<br />
Zu diesem Friedensgebet am 25.1.1988 versammelten sich ca. 200 Personen unter dem Motto „Für die<br />
Freilassung der in Berlin Verhafteten“. Unter den Teilnehmern befanden sich Superintendent Magirius,<br />
Pfarrer Führer <strong>und</strong> Pfarrer Lösche. Es wurde die Stellungnahme des Bischofs der ev. Kirche Berlin-<br />
Brandenburg, Bischof Forck, verlesen, in der er sich mit den Verhafteten solidarisierte 130 . Durch<br />
Teilnehmer <strong>und</strong> durch Mitglieder der evangelischen Studentengemeinde wurden Angriffe gegen die<br />
sächsische Kirchenleitung geführt, da sie sich nicht mit den Festgenommenen solidarisiert. Der zuständige<br />
Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pfarrer Führer bezogen eine positive Haltung. Pf. Führer, als<br />
verantwortlicher Pfarrer der Nikolaikirche, lehnte ab, die Nikolaikirche für weitere solche Veranstaltungen<br />
zur Verfügung zu stellen. Demonstrative Handlungen schlossen sich nicht an. Es wurde beschlossen, diese<br />
„Gebete“ nunmehr täglich durchzuführen.<br />
Der Raum für diese täglichen „Friedensgebete“ wird durch die evangelische Studentengemeinde in der<br />
Alfred-Kästner-Str. 11 bereitgestellt. Daraufhin wurde durch den Bereich Kirchenfragen des Rates der<br />
Stadt mit Studentenpfarrer Bartels eine Aussprache am 26.1.1988 durchgeführt. In dieser Aussprache<br />
bekannte sich Pfarrer Bartels zu seiner Verantwortung als Veranstalter, ließ aber auch eine deutliche<br />
solidarische Haltung zu Liedermacher Krawczyk u.a. erkennen.<br />
Im Verlauf des 26.1. tauchten an drei Stellen in der Stadt (Nikolaikirche, Michaeliskirche <strong>und</strong><br />
Genezarethkirche) Plakate mit Aufforderungen zur Teilnahme an den Friedensgebeten in der ev.<br />
Studentengemeinde sowie (Michaeliskirche) zur Solidarität mit Krawczyk auf.<br />
An der Veranstaltung am 26.1. zum Friedensgebet in der ev. Studentengemeinde beteiligten sich ca. 100<br />
Personen. Während dieser Zusammenkunft wurden 2 Übersichten angefertigt (auf einem Zettel sollten<br />
sich alle eintragen, die mit Sanktionen gegen sich rechnen, auf einem zweiten Zettel alle die, die bereit<br />
128 In einem Protestbrief an Honecker hieß es u.a.: „Werter Herr Staatsratsvorsitzender, setzen Sie sich für die<br />
Freilassung der Verhafteten ein <strong>und</strong> sichern Sie das Recht <strong>und</strong> den Schutz der Teilnahme an öffentlichen<br />
Demonstrationen.“ (ABL H 1)<br />
129 Aus dieser Gruppe bildete sich nach dem FG am 25.01. die Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“.<br />
130 Die Stellungnahme der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg vom 30.01.1988 ist<br />
abgedruckt in: Rein 1990, 63-65. Beim Gespräch am 02.02.1988 mit Sabatowska erklärte Sup. Magirius diese<br />
Erklärung zur Gr<strong>und</strong>lage des Agierens der Leipziger Superintendenten (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 248). Als<br />
Ephoralr<strong>und</strong>schreiben 2/88 versandte er sie am 02.02.1988 an alle Pfarrer der Superintendentur Leipzig-Ost.<br />
87
sind, an einer Mahnwache teilzunehmen). Dazu erklärten sich ca. 15 Personen bereit.<br />
In der Nacht vom 26. zum 27.1.1988 tauchten in der Stadt an mehreren Stellen Flugblätter mit dem Inhalt<br />
[/] „Freiheit für Krawczyk“ [/] „Leipziger, kämpft um Eure Menschenrechte <strong>und</strong> solidarisiert Euch mit<br />
den Berliner Inhaftierten“ [/] „Tägliche Informationen <strong>und</strong> Mahnwachen in der ev. Studentengemeinde“<br />
[/] auf.<br />
Am 28.1.1988 wurde im Schaukasten an der Markusgemeinde, Str. d Befreiung 59, folgende<br />
Veranstaltung angekündigt: [/] 2.2.1988 - 19.30 Uhr [/] „Vom Hexenprozeß zur politischen Anklage“ [/]<br />
Diese Veranstaltung findet aus aktuellem Anlaß im oberen Saal über der Markuskapelle (Str. d. Befreiung<br />
59) statt. [/] Unterschrift Pf. Turek [...]<br />
33 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 26. Sitzung des Kirchenvorstands der Nikolaikirchgemeinde<br />
vom 01.02.1988. Das Protokoll wurde von W. Hofmann angefertigt <strong>und</strong> von drei Vorstandsmitgliedern<br />
unterzeichnet (ABL H 54).<br />
[...] Zu 5.) Pf. Führer gibt einen Bericht über die Vorgänge in Berlin. Verlesung des Wortes der Kirche<br />
vom 30.1.88 (Berlin-Brandenburg) 131 . Dazu Berichte über die Durchführung der letzten Friedensgebete in<br />
der Nikolaikirche, aber auch Bedenken über die Durchführung von Veranstaltungen. Eine Aussprache des<br />
Kirchenvorstandes schließt sich an. Als Antrag liegt vor, das Friedensgebet täglich auf vier Wochen in der<br />
Nikolaikirche zu halten. Der Kirchenvorstand stimmt dem Antrag zu, das wöchentliche Friedensgebet an<br />
den Tagen Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag in der Zeit vom 2.-26. Februar 1988 zu halten. Das<br />
montäglich stattfindende Friedensgebet ist von dieser zeitlichen Begegnung nicht betroffen. [... eine Zeile<br />
geschwärzt] Dem Antrag auf Durchführung des Friedensgebetes am 13.2.1988, 19.30 Uhr mit<br />
anschließendem Lieder- <strong>und</strong> Musikprogramm der Kontaktgruppe Friedensgebet 132 wird vom KV nicht<br />
zugestimmt. [... eine Zeile geschwärzt] Im Anschreiben des KV soll die Michaelis- oder Thomaskirche<br />
vorgeschlagen werden. Der KV beschließt weiterhin, bei Ablehnung durch die dortigen KV die<br />
Nikolaikirche bereitzustellen.<br />
34 Kirchenbucheintragung<br />
Handschriftliche Eintragungen im Gästebuch III der Nikolaikirche, die zwischen dem 29.01. <strong>und</strong> 05.02.1988<br />
gemacht wurden 133 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Leistet Solidarität mit den Inhaftierten. Betet für sie, gebt ihnen Mut <strong>und</strong> Kraft. Denkt so wie sie <strong>und</strong> sagt<br />
die Wahrheit! Äußert Eure Meinungen offen! [Daneben wurde geschrieben:] Und warum sind Sie dann<br />
anonym geblieben?? 28.4.88<br />
29.1.88 Frieden der Welt. Vertraut auf Gott.<br />
Frieden daß was Gott uns gab soll erhalten bleiben Gott Amen 29.1.88 [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />
Denkt an die Inhaftierten, sie kämpfen auch für uns.<br />
Gottes Segen allen Menschen die guten Willens sind. H. Bauersfeld<br />
Wir können das Bestehende nur ändern, wenn wir dagegen ankämpfen. [... Unterschrift nicht zu<br />
entziffern]<br />
30.01.88 [/] Meine Kinder, kann mir Gott auch nicht wiedergeben [/] Chr. Jäger, [... Leipziger Adresse]<br />
Solidarität mit den Inhaftierten ? - Ja! Ich teile nicht ihre politische Ansichten - mich empört jedoch der<br />
Umgang mit politisch Andersdenkenden in diesem Staat! [/] Weg mit den „Reise-Verboten“ in der DDR.<br />
131 s. Anm. 130<br />
132 s. Anhang S. 388<br />
133 Die Rechtschreibung wurde nicht verändert. Jeder Schriftwechsel wird mit einem Absatzwechsel kenntlich<br />
gemacht.<br />
88
[/] ein Gast aus dem Norden der DDR 1/2.88<br />
Abbau von Gewalt & Feindbildern tut not. Für Solidarität mit den Verhafteten. [/] 1.2.88 J-C Böttger,<br />
Berlin-O<br />
Die schönsten Denkmäler sind <strong>und</strong> bleiben die Kirchen! [/] 1.2.88 [/ ... nicht zu entziffernde Unterschrift]<br />
Freiheit für die noch Inhaftierten vom 17. Januar! Schluß mit diesen Terrorurteilen gegen<br />
Andersdenkende. Handlungen [?] in diesem Regime die an die Praxis des Volksgerichtshofes im<br />
Naziregime erinnern!! [/] dies schrieb ein Christ [?]<br />
Freiheit für die Inhaftierten vom 17. <strong>und</strong> 25.1.88. Entgegenkommen für Andersdenkende <strong>und</strong> bitte kein<br />
Rückfall in die Stalin- <strong>und</strong> Ulbrichtzeit. [/] Alice Tante<br />
Freiheit <strong>und</strong> Frieden für alle! [/ Unterschrift nicht zu entziffern]<br />
Bin derselben Meinung. [Pfeil nach oben /] Aber ob mit Gott zu rechnen ist?! Der Mensch muß auf seine<br />
eigene Kraft bauen, sonst schaffen wir es nie!!! Katrin Schüssler [/] Petm. 1597 [Neben diesem Absatz<br />
steht mit gleicher Handschrift:] Gibt es Gott? [/] Beweise!<br />
[es folgt ebenfalls am Rand <strong>und</strong> später zwischen den beiden vorhergehenden Eintragungen als Reaktion<br />
auf die vorhergehende:] Nein aber den Glauben u. die Bibel d. frohen Botschaft! Versuch es doch mal!! [/]<br />
Natürlich müssen wir als Menschen etwas tun uns rühren für die Gerechtigkeit auf Erden (aber nur mit<br />
seiner Hilfe ist’s zu schaffen!! Dagmar Holz, Ebersbach 7231<br />
Freiheit den Inhaftierten vom 17. Januar. Solidarität mit den Andersdenkenden sowie Einhaltung der<br />
elementarsten Menschenrechte in Berufung auf die Schlußakte von Helsinki (Ausreisepraktiken in der<br />
DDR!) 2.2.88 [es folgen vier Unterschriften]<br />
Freiheit, freie Meinungsäußerung für Andersdenkende! Wohin diese Mißachtung gr<strong>und</strong>legender<br />
Menschenrechte führen kann, das wissen wir in beiden Deutschlands nur zu gut. Heinz Neumann [?]<br />
Für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> eine neue Demokratie hat Rosa Luxemburg gekämpft <strong>und</strong> ist dafür<br />
gestorben. Dieses Vermächtnis gilt es, mit Leben zu erfüllen. [Unterschrift nicht zu entziffern]<br />
− Ein Märtyrer wie Christus -<br />
− Wann befreit uns die SU das zweite mal??? M. Stephan [Kommentar daneben:]<br />
Super! Michaela Ziegst<br />
134<br />
Wehe unsern Kindern, sollten jemals Heuchler <strong>und</strong> Ignoranten über uns die Macht ergreifen - ihre<br />
Toleranz wäre Inquisition. Spätestens nach dem Mord an Rosa Luxemburg, Juden, Christen, Marxisten<br />
u.a. ist der behauptete Ausspruch „Freiheit ist die Freiheit der Andersdenkenden“ ad absurdum geführt.<br />
Hier wird eine Kirche zur politischen [später wurden hier dahinter zwei Fragezeichen gesetzt] Plattform<br />
gemacht für Menschen, die nicht unbedingt Christen, wohl aber Opositionelle [sic!] sind. Ein Januskopf<br />
für die, die „Christen im Sozialismus“ sein wollen. [/] Jörg Frensel<br />
[Kommentar zum vorhergehenden:] Nein - aber Sein Reich komme!!! dessen bin ich gewiß!<br />
Freiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit alles was uns verfassungsrechtlich zugesichert ist,<br />
müssen wir in Anspruch nehmen dürfen. Die Kirche wird zum politischen bewegt. Wir alle müssen<br />
aufwachen. [/] Roland Lampella [/] Peter Meineck [... Karl-Marx-Städter Adressen]<br />
[neben dem Vorhergehenden steht:] Wir schließen uns der Meinung an: Silke Pietsch Christiane Pilz<br />
Petra Seifert<br />
Es ist weit gekommen - die Kirche ist wieder einmal zum Podium der freien Meinungsäußerung<br />
geworden. Wo sonst kann man sagen, was man denkt. PF<br />
Freiheit den Inhaftierten des Januar 88. An diese Tage werden wir lange zurück denken können, da es nur<br />
ein kleines Flämmchen war was zu lodern begann. [/] M.G aus Leipzig<br />
Ich bin ein seltener Gast, obwohl ich denke zu euch zu gehören. Ich bin für die Freiheit der<br />
andersdenkenden deshalb bleibt die Forderung Freiheit für die Inhaftierten des Januar 88 nicht aus. [/] R.<br />
Rüdiger Lippold [... Leipziger Adresse]<br />
Mit der Inhaftierung bewies die Staatsmacht ihre Schwäche u. innere Zerrissenheit (Fäulnis!). Damit ist<br />
wieder einmal die vielgepriesene Demokratie, Achtung der Menschenwürde u. Freiheit (laut Verfassung!<br />
der DDR!) hier in diesem Land des „real existierenden“ Sozialismus vergewaltigt u. mit Füßen getreten<br />
134 Diese Eintragung wurde für das MfS zu Anlaß, Maßnahmen gegen diese beiden Jugendliche zu eröffnen (BStU<br />
Leipzig AB 1158, u.ö.)<br />
89
worden. Wer dies nicht sieht o. sehen will ist polit. blind. Neben grausamen u. finsteren Regimes wie<br />
Chile, Südafrika etc. gibt es noch die DDR die gleiches o. ähnliches praktiziert. Wer beweist mir das<br />
Gegenteil? Wer friedliche Demonstranten die für das mit [ei]nem Plakat unterstreichen wofür Rosa<br />
Luxemburg u. Karl-Liebknecht gekämpft, gelebt haben u. dafür umgebracht worden sind, verhaftet<br />
handelt würdelos. Deshalb ist diese Gesellschaft in diesem Lande für mich verlogen [später darunter<br />
gesetzt: + heuchlerisch] u. auf dem besten Wege zum Polizeistaat zu werden! [/] S. Reichel aus Böhlen [/]<br />
G. Böttger aus Leipzig<br />
Der Herr sei mit allen Unterdrückten u. Verfolgten in diesem Regime!<br />
[... es folgen eine russische, eine georgische <strong>und</strong> eine unleserliche Eintragung]<br />
Die Kirche ist <strong>und</strong> bleibt der Ort des Friedens im Innern wie im Äußeren. M.P. [/] 5.2.88<br />
Dieser Meinung schließe ich mich an. [/] K. Siech u. Kathrin Liebrenz<br />
Ich denke, es ist ein großer Beweis der Verdummung (??? Dummheit ???) in diesem Staat, alles was jetzt<br />
in Berlin geschieht <strong>und</strong> in den Zeitungen reflektiert wird. Papier ist geduldig. gerade aus dem Bewußtsein<br />
dieser Gefahr heraus ist es so wichtig zu zeigen, daß viele sich durchaus mit den Inhaftierten verb<strong>und</strong>en<br />
fühlen. Ich vermute nur, daß wir versumpfen, wenn es beim Reden bleibt. Warum bringen wir nicht den<br />
Mut auf, auf die Straße zu gehen, uns zu zeigen (auch ich nicht)? Im Friedensgebet am Montag (1.2.)<br />
wurde für mich völlig neu, aber sehr logisch das Verhalten Kains analysiert, der die negative Reaktion<br />
Gottes = NICHTACHTUNG mit einer noch negativeren Tat beantwortet = SCHWEIGEN. Der Mord an<br />
Abel ist nichts als eine Verzweiflungstat. Droht uns nicht auch ein Mord - ein Selbstmord, wenn wir<br />
schweigen, statt aus unserem guten Gewissen heraus tätig zu werden, uns zu zeigen <strong>und</strong> damit das<br />
Kartenhaus umzustoßen, das man als die Gesellschaft >>soz.
− Hervorzuheben war die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung in Form von Diskussionsbeiträgen<br />
während der Veranstaltungen<br />
− Die Ausreiseproblematik wurde von der Kirchenleitung offen als Problem anerkannt, wobei von der<br />
jetzigen Lage der Dinge hierzu neue Überlegungen erforderlich sind<br />
Im Rahmen der Friedensgebete konnte nicht erreicht werden:<br />
− Eine wirkliche <strong>und</strong> offene <strong>und</strong> effektive Zusammenarbeit außerhalb der Basisgruppen <strong>und</strong> der<br />
Vorbereitungsgruppe für die Veranstaltungen wurde kaum erreicht. Leider blieben die meisten<br />
Teilnehmer der Informationsgottesdienste nur Informationskonsumenten.<br />
− Des weiteren ist es möglich, daß es aufgr<strong>und</strong> der veränderten Rechtslage in der DDR zu einer<br />
Wiederholung dieser Situation kommt<br />
− Die von uns geforderte Entlassung der Inhaftierten in der DDR, welche die DDR nicht verlassen<br />
wollten, wurde nicht erreicht<br />
− Auch die Richtigstellung der in den Medien verbreiteten Vorwürfe gegenüber den Basisgruppen <strong>und</strong><br />
somit der Kirche wurde bis auf den heutigen Tag nicht erreicht<br />
Nach diesen nicht erreichten Veränderungen stellt sich die Frage, wie sich der Staat aus der recht heiklen<br />
Affäre gezogen hat. Wohlgemerkt, um nicht sein Gesicht zu verlieren. Wir denken, daß sich nach dem<br />
Medienspektakel in unserem Land für den „normalen“ DDR-Bürger folgendes Bild ergeben hat:<br />
− Die Kirche hat sich mit kriminellen Elementen eingelassen <strong>und</strong> wurde somit selbst zur kriminellen<br />
Vereinigung<br />
− In der Weitergabe von Informationen ist die Kirche auf westliche Medien angewiesen <strong>und</strong> nutzt diese<br />
aus<br />
− Da sich die Kirche für die Ausreise <strong>und</strong> Abschiebung in die BRD engagierte, akzeptiert sie die<br />
staatliche Praxis von Abschiebung <strong>und</strong> Menschenhandel.<br />
Um eine Verfälschung der vergangenen Ereignisse zu vermeiden, sollte so schnell wie möglich ein<br />
Informationsheft mit der genauen Geschichte, den Fakten <strong>und</strong> Hintergründen der Ereignisse in Berlin<br />
herausgegeben werden137 . Aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, daß noch geraume Zeit vergehen dürfte, bis ein von<br />
uns gefordertes Kommunikationszentrum eingerichtet wird138 , ist es unbedingt erforderlich, daß die bisher<br />
arbeitende Kontaktgruppe weiterhin besteht beziehungsweise sich eine neue Kontaktgruppe bildet. Die<br />
Gruppe müßte sich mit folgenden Problemen beschäftigen:<br />
− Die Herausgabe des bereits erwähnten Informationsheftes zu den Berliner Ereignissen<br />
− Aufbau eines Informationsnetzes in der DDR, gegen die regionale Isolierung der Basisgruppen<br />
innerhalb der Städte <strong>und</strong> Gemeinden<br />
139<br />
− Vorbereitungsarbeiten für die Einrichtung des Kommunikationszentrums<br />
Ihr seid alle ganz herzlich eingeladen weiter über dieses Themen zu diskutieren <strong>und</strong> in einer solchen<br />
Gruppe mitzuarbeiten.<br />
Frank Sellentin, Detlev Körner<br />
Eigentlich wollten wir mit dem beiliegenden Diskussionsbeitrag den Meditationsgottesdienst vom 13.02.<br />
bereichern.<br />
Da dies nicht möglich war, möchten wir mit unserem Anliegen vorerst auf diese Weise an die „Basis“<br />
137 Mitglieder der Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte gaben im Mai 1988 einen Reader („Fussnote 3 “) heraus, der<br />
sehr genau die Vorgänge Anfang 1988 dokumentiert.<br />
138 Zur Geschichte der Idee eines Kommunikationszentrums (KOZ), s. Anhang, S. 369. Die Forderung nach solchen<br />
Kommunikationszentren war zu diesem Zeitpunkt weit verbreitet. So wurde am 27.01.1988 in Zwickau anläßlich<br />
einer kirchlichen Veranstaltung die Einrichtung einer „Umweltbibliothek“ angeregt. Sie wurde im Herbst 1988<br />
eingeweiht.<br />
139 Auf der Tagung von Frieden Konkret in Cottbus Anfang Februar 1988 legte H.-J. Tschiche einen Entwurf einer<br />
Basiserklärung der politisch-alternativen Gruppen vor (Teilhabe statt Ausgrenzung. Wege zu einer solidarischen<br />
Lebens- <strong>und</strong> Weltgestaltung - ABL H 6), der ebenfalls den Versuch einer weiteren Vernetzung der Gruppen<br />
darstellte. Der erfolgreichste Versuch der Koordinierung <strong>und</strong> Zusammenfassung verschiedener Initiativen war<br />
jedoch die „Ökumenische Versammlung in der DDR“. Ihre erste Vollversammlung fand vom 12.-15.02.1988 in<br />
Dresden statt.<br />
91
treten. In diesem Sinn möchten wir Euch bitten, den Beitrag in den Gruppen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n oder auch allein<br />
durchzuarbeiten <strong>und</strong> vielleicht auch zu vervollkommnen. Um dieses Thema aktiv in die Gruppenarbeit-<br />
bzw. Zusammenarbeit einzubeziehen wäre es erforderlich, daß Mitarbeiter(innen) jeder Gruppe in Form<br />
einer Diskussionsr<strong>und</strong>e zusammentreffen. Die Diskussion soll außerhalb des Synodalausschusses geführt<br />
werden, um den darin nicht vertretenen Gruppen die Chance zuteil werden zu lassen, sich zu diesem<br />
Thema einzubringen. Als Termin schlagen wir den 21.03. nach dem Friedensgebet der IGL vor (bisher nur<br />
unverbindlich). Weiterhin sind wir der Meinung, daß es außerordentlich wichtig ist, eine<br />
Informationsveranstaltung über die Anliegen, Arbeitsweise, Zusammensetzung <strong>und</strong> Ziele aller in Leipzig<br />
arbeitenden Gruppen auszugestalten. Denn auch hierzu wurde der Meditationsgottesdienst den<br />
Anforderungen nicht gerecht.<br />
Anfragen <strong>und</strong> Ergänzungen sind zu richten an: Frank Sellentin [... Adresse]<br />
36 Stasi-Information<br />
Information vom Leiter der Bezirkskoordinierungsgruppe der BV für Staatssicherheit Leipzig (Oberstleutnant<br />
Fischer BKG/AuI/sch-hf) vom 25.02.1988 an die Kreisdienststelle Leipzig-Stadt über ein Mitglied der<br />
Gruppe „Staatsbürgerschaftsrecht“. Diese Information ist Teil der Akte des OV „Anstifter“ (ABL H 10).<br />
Inoffiziell wurde durch die Abt. XX/4 der BV Leipzig bekannt, daß der für Ihre DE erfaßte Sonntag,<br />
Frank Wolfgang [...] Teilnehmer des am 22.2.1988 in der Nikolaikirche stattgef<strong>und</strong>enen Friedensgebetes<br />
war. Nach dem offiziellen Teil des Friedensgebetes brachte S. im Rahmen der Gespräche- bzw.<br />
Diskussionsgruppen ca. 150 Exemplare eines an den Rechtsausschuß der Volkskammer gerichteten<br />
Schreibens (siehe Anlage) zur Verteilung 140 . Im Zusammenhang mit dieser Aktion kam es zwischen S.<br />
<strong>und</strong> dem anwesenden Superintendenten Magirius zu einer Kontroverse, da M. die Unterlassung derartiger<br />
Handlungen verlangte <strong>und</strong> S. zum Verlassen der Kirche aufforderte 141 . [hierauf folgt handschriftlich]<br />
kann offz. verwendet werden, da viele Pers. anwesend<br />
Darüber hinaus wurde durch eine Quelle der KD Altenburg, welche am [...] 2.1988 142 ein namentlich<br />
bekanntes Mitglied der Gruppe „Staatsbürgerschaftsrecht der DDR“ in Berlin aufsuchte, bekannt, daß sie<br />
von dieser Person an nachfolgende Kontaktadresse vermittelt wurde: [/] Arbeitsgemeinschaft [/]<br />
Staatsbürgerschaft Leipzig [/] Wolfgang Sonntag [...]<br />
Wir bitten um Kenntnisnahme <strong>und</strong> operative Einordnung in die weitere Bearbeitung des S.<br />
Leiter der BKG [/] Fischer [/] Oberstleutnant<br />
[Anlage]<br />
Volkskammer der DDR<br />
Rechtsausschuß<br />
Karl-Marx-Platz<br />
1020 Leipzig, den [Datum war offengelassen]<br />
Betr.: Gesetzliche Regelung der Ausreise<br />
Bezugnehmend auf die Meldung im ND [„Neues Deutschland“] vom 3.2.1988<br />
„Die im Zusammenhang mit ihren landesverräterischen Beziehungen inhaftierten Stefan Krafczyk [sic!]<br />
<strong>und</strong> Freya Klier haben entsprechend ihrem Antrag <strong>und</strong> unter Beachtung der erforderlichen gesetzlichen<br />
Bestimmungen am Dienstag die DDR auf dem Wege in die BRD verlassen.“ [/] <strong>und</strong> vom 6./7.2.1988<br />
„Die wegen landesverräterischen Beziehungen inhaftierten Ralf Hirsch, Wolfgang <strong>und</strong> Regina Templin,<br />
140 Am Rand wurde handschriftlich vermerkt: „Woher kennt IM die Summe?“<br />
141 Dieser Satz wurde unterstrichen. F. Sonntag behauptet dazu: „Als ich die Flugblätter verteilt habe, kam Magirius<br />
auf mich zugerannt <strong>und</strong> schrie: 'Hören Sie auf! Das ist nicht genehmigt. Steigen Sie von der Bank <strong>und</strong><br />
verschwinden Sie.' Damit hat er den anwesenden Stasi-Spitzeln gezeigt, daß die Kirche nicht hinter mir steht. Das<br />
muß ihm klar gewesen sein. Die Folgen hat er billigend in Kauf genommen.“ (Interview mit A. Teske, in:<br />
„Leipziger Morgenpost“, vom 18.10.1993) F. Sonntag wurde vor dem FG der nächsten Woche inhaftiert <strong>und</strong> erst<br />
nach internationalen Protesten 14 Tage später wieder freigelassen.<br />
142 Die ersten Ziffern des Datums fehlen auf der Kopie des BStU.<br />
92
Bärbel Bohley <strong>und</strong> Werner Fischer sind entsprechend ihrem Ersuchen <strong>und</strong> in Übereinstimmung mit den<br />
gesetzlichen Bestimmungen der DDR in die BRD ausgereist“ [/] ergeben sich für mich/uns folgende<br />
Fragen:<br />
Seit... 143 Jahren/Monaten betreibe ich/betreiben wir meine/unsere Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />
der DDR <strong>und</strong> die Übersiedlung in die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Trotz umfangreicher Bemühungen<br />
werden wir von der sich zuständig erklärenden Stelle beim Rat des Stadtbezirkes hingehalten. Wir<br />
erhalten keinerlei Auskunft über den Bearbeitungsstand <strong>und</strong> Bearbeitungsdauer. Während dieser ganzen<br />
Zeit habe ich/haben wir wie auch zuvor die Gesetze der DDR genau beachtet. Nach Lesen der obigen<br />
Zeilen im ND drängt sich die Vermutung auf, daß man sich erst „Landesverräterischer Beziehungen“ oder<br />
anderer Gesetzesübertretungen schuldig machen muß, damit der Antrag zügig bearbeitet wird <strong>und</strong> man<br />
wie gewünscht die DDR verlassen kann. Um diesen unerhörten Zustand zu beseitigen, bitte ich/bitten wir<br />
Sie deshalb dringend, Rechtssicherheit für die Ausreise aus der DDR herzustellen. Dazu ist meiner/unserer<br />
Vorstellung nach erforderlich, daß eine verbindliche rechtliche Gr<strong>und</strong>lage mit Gesetzeskraft für die<br />
Übersiedlung aus der DDR in andere Staaten in Übereinstimmung mit der internationalen<br />
Rechtssprechung geschaffen wird.<br />
Dieses Gesetz müßte folgendes festschreiben:<br />
1. Benennung der tatsächlich Entscheidung treffenden zuständigen Behörden (Verantwortlichkeit <strong>und</strong><br />
Instanzenweg)<br />
2. Einspruchsmöglichkeiten (Beschwerdeweg)<br />
3. Genaue Kriterien, wann die Ausreise in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu versagen<br />
ist, z.B. für<br />
− Antragsteller, welche mit Schulden belastet sind<br />
− Antragsteller, gegen die ein Strafverfahren läuft<br />
− Antragsteller, die Geheimnisträger sind. [/] (Die aus Geheimhaltungsgrad abgeleisteten Sperrfristen<br />
sind festzuschreiben)<br />
Mit diesem Gesetz würde auch die Voraussetzung geschaffen, daß ungerechtfertigte Behandlungen der<br />
Antragsteller durch staatliche Organe <strong>und</strong> Betriebe in Zukunft unterbleiben. Mit diesem Gesetz würde ein<br />
dringendes Problem seiner Regelung zugeführt.<br />
Verteiler: Volkskammer der DDR, Rechtsausschuß [/] der DDR, Vorsitzender [/] Absender<br />
37 SED-Information<br />
144<br />
Information zur Abforderung des Fernschreibens Nr. 32 der Bezirksleitung vom 25.2.1988 der SED-SBL<br />
Leipzig-Mitte vom 26.02.1988 unterzeichnet von H. Günther (2. Sekretär) (StAL SED IV-F-5/02/059).<br />
Sofort nach Erhalt des Fernschreibens des Gen. Erich Honecker vom 18.2.1988 wurden die Genossen des<br />
Sekretariates, die zuständigen Mitarbeiter der Abteilung Inneres des Rates des Stadtbezirkes,<br />
Parteisekretäre unserer Schwerpunktbetriebe <strong>und</strong> Einrichtungen sowie politische Mitarbeiter des<br />
Apparates durch den 1. Sekretär, Gen. Heinz Fröhlich, mit dem Inhalt vertraut gemacht <strong>und</strong> ihnen die<br />
erforderlichen Maßnahmen erläutert. [/] Darüber hinaus nutzten wir die Stadtbezirksleitungssitzung <strong>und</strong><br />
Parteiaktivtagung am 24.2.1988, um die Position, wie im Fernschreiben deutlich dargelegt, mit den<br />
Genossen zu beraten, ihnen Argumente für das gezielte Auftreten in Partei- <strong>und</strong> Arbeitskollektiven <strong>und</strong><br />
besonders unter der Jugend mit der Hauptstoßrichtung „Gebt der Kirche was der Kirche <strong>und</strong> des Staates<br />
was des Staates eigen ist“ zu geben 145 . [/] Die zuständigen Mitarbeiter des Rates des Stadtbezirkes<br />
aktivierten auftragsgemäß ihre Bemühungen zur Gesprächsführung mit kirchlichen Amtsträgern. [/]<br />
143 Hier sollte jeder seine individuelle Wartezeit einsetzen.<br />
144 Die SED-BL gab entsprechend des zentralen „Informationsbedarfs“ die Anweisung an die ihr untergebenen SED-<br />
Leitungen, bis zu einem bestimmten Termin umfassende Informationen zu konkreten Vorgängen zu übersenden.<br />
Oft waren es Reaktionen „der Bevölkerung“ auf Veröffentlichungen des Generalsekretärs E. Honecker. Die<br />
konkrete „Anforderung“ war nicht unter den Unterlagen der SED-BL zu finden.<br />
145 Protokoll der Parteiaktivtagung StAL SED N 2556<br />
93
Ausgehend von den in den letzten Wochen im Stadtbezirk Mitte verstärkten provokatorischen<br />
Veranstaltungen innerhalb von Kirchen, ausgelöst von Ereignissen in Berlin <strong>und</strong> Dresden, wurden<br />
persönliche Gespräche mit kirchlichen Würdenträgern geführt, so u.a. mit Pfarrer Führer. Deutlich wurde<br />
dabei, daß betreffende kirchliche Amtsträger nicht bereit waren, bestimmte Veranstaltungen wie die<br />
Zusammenkunft mit Antragsstellern in der Nikolaikirche abzusetzen. [/] Eine Weiterführung der<br />
Gespräche mit Pfarrer Führer wurde von diesem abgelehnt, da er erst nach Auswertung des Briefes an den<br />
B<strong>und</strong> der evangelischen Kirchen im Landeskirchenamt Dresden am 23.2.1988 sowie nach dem erfolgten<br />
Spitzengespräch zwischen Gen. Jarowinsky <strong>und</strong> Landesbischof Leich bereit sei, seine Position vor dem<br />
Staatsorgan darzulegen 146.<br />
[/] Gleiche Positionen bezogen auch Mitglieder der Kirchenvorstände.<br />
Einzelne nicht berechtigte Übersiedlungsersuchende aus unserem Stadtbezirk erklärten in geführten<br />
Gesprächen offen, daß sie sich mit Krawczyk solidarisieren <strong>und</strong> drohen mit Demonstrativhandlungen.<br />
Aktivisten des Personenkreises, der unter dem Freiraum der Kirche agiert, sind namentlich bekannt <strong>und</strong><br />
liegen dem Rat der Stadt vor. U.a. betrifft dies Hartmann, Manfred, Diplomfotografiker <strong>und</strong> Initiator für<br />
die am 22.2.1988 in der Reformierten Kirche geplante Solidaritätsveranstaltung für<br />
Übersiedlungsersuchende. Oder Dr. Kind, Steffen, Dipl. Ingenieur, beide Konsultationspartner für<br />
Übersiedlungsersuchende.<br />
Auf den Mitgliederversammlungen der Gr<strong>und</strong>organisationen mit APO legten die Parteisekretäre am 22.<br />
Februar ihre Position zum Verhalten der evangelischen Kirche bezüglich der jüngsten Ereignisse in Berlin<br />
<strong>und</strong> Dresden, analog des im Fernschreiben übermittelten Standpunktes, dar. In Reaktionen der Genossen<br />
wurde deutlich, daß dieser Standpunkt voll <strong>und</strong> ganz unterstützt wird. Diskussionen in vielen Kollektiven<br />
des Kombinates ORSTA-Hydraulik zeigen die Erwartung nach eindeutiger Klarstellung der Rolle der<br />
Kirche im Sozialismus <strong>und</strong> daß ein Abgleiten in oppositioneller Richtung durch unseren Staat nicht länger<br />
geduldet wird. Dabei werden Parallelen zur Rolle der Kirche in der VR Polen bezogen <strong>und</strong> die Meinung<br />
vertreten, daß sich eine derartige Entwicklung bei uns in keiner Weise vollziehen darf. [/] Vielfach wurde<br />
auch in den unterschiedlichsten Bereichen der Erwartung Ausdruck verliehen, daß Partei <strong>und</strong> Regierung<br />
rechtzeitiger auf solche Erscheinungen reagieren sollten. Dies bekräftigt auch die Analyse des<br />
vorliegenden Meinungsbildes aus allen Bereichen zu o.g. Ereignissen, die auf eine gewisse Unsicherheit<br />
unter den Genossen, insbesondere im Zusammenhang mit den Reaktionen unseres Staates im Nachgang<br />
zu den Verhaftungen am 17.1. in Berlin hinweist. Differenziert betrachtet, zeigen sich folgende<br />
Tendenzen: [/] Ältere Genossen verstehen nicht, warum wir nicht zur Lösung der auftretenden Probleme<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche, aber vor allem gegen Kräfte, die die Gesetze der DDR verletzen bzw. mit<br />
westlichen Geheimdiensten zusammenarbeiten, härter durchgreifen bis hin zu der Frage, warum<br />
strafrechtlich Verurteilte, wie die Wollenberger, die Möglichkeit eingeräumt bekommen, wieder in die<br />
DDR zurückzukehren. Meinungen, wir weichen dem Druck, müssen mehr Flagge zeigen, sind hier weit<br />
verbreitet. [...] Vielfach ist hier das Argument zu hören, wer nicht in der DDR leben will, soll für immer<br />
gehen, wer gegen die Gesetze verstößt, muß ins Gefängnis.<br />
Jüngere Genossen, denen die Kampferfahrungen der 50iger Jahre fehlen, treten in der Mehrheit für ein<br />
flexibles Herangehen ein, ziehen die internationale Lage, die konkrete Situation unseres Landes an der<br />
Trennlinie zweier Gesellschaftssysteme in Betracht. Sie verstehen die Verurteilung <strong>und</strong> Ausweisung der in<br />
Berlin Verhafteten auch in ihrer Differenziertheit als flexible Reaktion unseres Staates, mit der der Boden<br />
für weitere Aktivitäten solcher Gruppen entzogen werden soll. [/] Jugendliche <strong>und</strong> Schüler beziehen<br />
teilweise Haltungen, die auf eine offene Diskussion mit allen Gruppen hinzielen. [/] So bewegte u.a.<br />
Schüler der Lessing-Oberschule im Rahmen eines Jugendforums:<br />
− Warum wurde Krawczyk ausgewiesen, hatte die DDR Angst vor einem offiziellen Prozeß?<br />
− Sind da nicht auch Leute dabei, die Vernünftiges wollen?<br />
− Warum wird in unserer Presse erst lange nach westlichen Medien zu bestimmten Fragen informiert<br />
oder manche Probleme gar nicht angesprochen?<br />
Auf die durch unsere Genossen dargelegten Positionen gingen die Jugendlichen mit großer Bereitschaft<br />
ein, setzten sich mit überzeugenden Argumentationen auseinander <strong>und</strong> akzeptierten diese. Diese Foren mit<br />
Jugendlichen setzen wir verstärkt <strong>und</strong> gezielt fort.<br />
146 vgl. Dok. 40<br />
94
Abschließend können wir einschätzen, daß bei aller Differenziertheit des Meinungsbildes bezüglich des<br />
Herangehens an die Lösung der auftretenden Probleme zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong> des Umgangs mit<br />
staatsfeindlichen Kräften allen Genossen die Überlegung gemeinsam ist, daß die Parteiorganisationen <strong>und</strong><br />
alle gesellschaftlichen Kräfte weit mehr Initiativen entwickeln müssen, um alle Bürger in den<br />
gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß direkt einzubeziehen, die FDJ-Organisation wirklich zu einer<br />
politischen Heimat aller Jugendlichen zu machen, um den gegnerischen Kräften keinen Spielraum zu<br />
lassen. Dabei schließen sie die volle Ausschöpfung aller gesellschaftlichen Möglichkeiten sowie die<br />
offensive Nutzung des gesamten Instrumentariums der Agitation <strong>und</strong> Propaganda der Partei ein. [/]<br />
Ausgehend von der gegenwärtigen Situation ist die Sorge der Genossen weit verbreitet, wie geht es weiter,<br />
was wird mit dem 1. Mai? Dabei steht hier die Frage nach dem „wie“ bzw. nach konkreter Aktion im<br />
Mittelpunkt, um dem Anspruch der Rede des Generalsekretärs vor den 1. Kreissekretären - alle<br />
staatsfeindlichen Umtriebe zu unterbinden <strong>und</strong> die Staatsordnung zu sichern - gerecht zu werden.<br />
38 SED-Information<br />
Information vom 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig (J. Prag) vom 26.02.1988 über die Situation in<br />
Leipzig „auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Genossen Erich Honecker vom 18. Februar 1988“ 147<br />
(StAL SED A 5126 <strong>und</strong> N 933).<br />
Das Sekretariat der Stadtleitung hat in der Sitzung am 19.02.1988 zum Fernschreiben des Generalsekretärs<br />
des ZK unserer Partei, Genossen Erich Honecker, Stellung genommen, in Anwesenheit des Stellv. des<br />
OBM Inneres <strong>und</strong> des Leiters der Kreisdienststelle <strong>und</strong> [sic!] Maßnahmen eingeleitet, die sicherten, daß in<br />
der Stadt Leipzig bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine ernsthaften Ausschreitungen staatsfeindlicher<br />
Kräfte gegen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft auftreten. [/] Die verantwortlichen staatlichen Funktionäre wurden<br />
beauftragt, auf der Gr<strong>und</strong>lage der Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche am 06.03.1978 Gespräche<br />
mit den zuständigen kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> Mitgliedern von Kirchenvorständen zu führen <strong>und</strong> in<br />
diesen Gesprächen keinen Zweifel darüber zuzulassen, daß der Staat in keinem Augenblick zulassen wird,<br />
unter dem Schirm der Kirche staatsfeindliche Tätigkeiten auszuüben. [/] In der Stadtleitungssitzung am<br />
22. Februar 1988 wurde in dem Abschnitt der politischen Massenarbeit zu dem Inhalt <strong>und</strong> dem politischen<br />
Anliegen des Fernschreibens durch den 1. Sekretär der Stadtleitung, Genossen Joachim Prag, Stellung<br />
genommen. [/] Er unterstrich, daß unser sozialistischer Staat mit hoher Kontinuität zur Gewährleistung der<br />
Menschenrechte <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>freiheiten eintritt. [/] Im Zusammenhang mit den Staatsbesuchen des<br />
Genossen Erich Honecker in der BRD, den Niederlanden, Belgien, Schweden <strong>und</strong> in Frankreich wurde<br />
unterstrichen, daß die Dialogpolitik nicht verwechselt werden darf mit der Preisgabe der staatlichen <strong>und</strong><br />
öffentlichen Ordnung. Wir werden jeden Versuch, die Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht anzutasten, nicht<br />
zulassen. [/] Wir diskutieren mit jedem, so hob der Redner hervor, wenn es sein muß Tag <strong>und</strong> Nacht.<br />
Leute, die die sozialistische Macht in Frage stellen, von Jenseits bezahlt <strong>und</strong> ins Rennen geschickt werden,<br />
für sie gilt die Kraft unserer sozialistischen Gesetze. Alle Diskussionsredner teilten diesen Standpunkt.<br />
Genosse Harry Panzer, 1. Sekretär der Stadtbezirksleitung Südwest, teilte mit, daß zahlreiche Partei- <strong>und</strong><br />
Arbeitskollektive im Stadtbezirk zum Ausdruck bringen, daß die Ausschreitungen in der Hauptstadt <strong>und</strong><br />
in Dresden, die von reaktionären Kräften aus der BRD <strong>und</strong> Berlin (West) gesteuert <strong>und</strong> provoziert werden.<br />
Vereinzelt gibt es Unverständnis, daß trotz strafrechtlicher Verfolgung die Möglichkeit gegeben wurde,<br />
die DDR zu verlassen. Nicht wenige Bürger gibt es, die die Meinung vertreten, Provokateure müssen hart<br />
bestraft werden. [/] Diese Positionen wurden unter anderem auch von Genossen Peter Zetzsche, Genossen<br />
Dieter Pöhland <strong>und</strong> Genossen Alex Wilke vertreten.<br />
Analog der Maßnahmen des Sekretariats der Stadtleitung wurden in den Sekretariaten der<br />
Stadtbezirksleitungen Maßnahmen eingeleitet <strong>und</strong> durchgeführt. [/] In den bisher durchgeführten<br />
Stadtbezirksleitungssitzungen <strong>und</strong> Stadtbezirksparteiaktivtagungen zur Auswertung der Rede des<br />
Generalsekretärs vor den 1. Sekretären der Kreisleitungen der SED in Mitte, Nordost, West, Süd <strong>und</strong><br />
Südwest wurden in den Referaten der Sekretariate prinzipiell zu den Machenschaften der Hintermänner<br />
147 s. Anm. 154<br />
95
dieser Provokationen sowie klassenmäßige Standpunkte <strong>und</strong> überzeugende Argumente vermittelt. [/] Auf<br />
der Gr<strong>und</strong>lage der einheitlichen Information unserer Partei wurden in den letzten Tagen <strong>und</strong> Wochen<br />
durch verantwortliche Genossen des Rates der Stadt <strong>und</strong> der Räte der Stadtbezirke über 70 Gespräche mit<br />
leitenden kirchlichen Amtsträgern, Pfarrern <strong>und</strong> Theologen geführt. [/] Schwerpunkte waren dabei jene<br />
Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, wo Kräfte wirksam wurden, die versuchten, die Kirche in eine Oppositionshaltung<br />
zu unserem Staat zu bringen (Nikolaikirche, Michaeliskirche, Evangelische Studentengemeinde,<br />
Jugendpfarramt).<br />
Besonderer Wert wurde auf die Gespräche mit den Superintendenten Richter <strong>und</strong> Magirius gelegt, um zu<br />
erreichen, daß sie selbst sich an die Vereinbarungen vom 06.03.1978 halten <strong>und</strong> darüber hinaus selbst<br />
Einfluß auf alle anderen kirchlichen Amtsträger nehmen. Beide Superintendenten brachten zum Ausdruck,<br />
daß sie gewillt sind, ihre Verantwortung zur Versachlichung der Situation wahrzunehmen148 . [/] Im<br />
Gespräch mit Pfarrer Sievers zur bevorstehenden Grafik-Auktion in der Ev.-Reform. Kirche am<br />
28.02.1988 erklärte er, schon vor 5 Jahren habe es bei ihm eine derartige Veranstaltung gegeben, die sehr<br />
erfolgreich verlaufen sei. Den Vorschlag von Gemeindemitgliedern, wiederum eine Grafik-Auktion<br />
durchzuführen, habe er angesichts der gegenwärtigen Lage gern aufgegriffen. Er sei erfreut, daß sein<br />
Vorhaben unter den angesprochenen Künstlern ein solches Echo gef<strong>und</strong>en habe. Bis jetzt habe man ca. 80<br />
Arbeiten von r<strong>und</strong> 40 Künstlern, darunter 3 Nationalpreisträger, erhalten. [/] Der Erlös werde wie folgt<br />
aufgeteilt:<br />
− 1/3 für die Abdeckung der Ausgaben der ökumenischen Versammlung in Dresden<br />
− 1/3 für Unterstützung Leipziger „Basisgruppen“<br />
− 1/3 zur Unterstützung von Personen, die bei ihrer Berufsausübung eingeengt sind<br />
Von ihm war zu hören, daß er die volle Verantwortung für die Veranstaltung übernimmt. Er habe Einfluß<br />
darauf genommen, daß keine Bilder mit staatsfeindlichem Inhalt angenommen werden bzw. zur<br />
Versteigerung kommen. Er ist gewillt, keine politische Konfrontation zuzulassen. [/] Die überwiegende<br />
Mehrheit der kirchlichen evangelischen Amtsträger bekennt sich nach wie vor zur bewährten Politik des 6.<br />
3. 78. [/] Mit den Würdenträgern der katholischen Kirche gibt es keine besonderen Probleme. Sie<br />
verhalten sich sachlich <strong>und</strong> ruhig.<br />
In Abstimmung mit dem Rat der Stadt, der Räte der Stadtbezirke <strong>und</strong> den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen<br />
wurden folgende Maßnahmen festgelegt 149:<br />
− Erfassung der gesamten kirchlichen Veranstaltungstätigkeit im Territorium (Kontrolle der<br />
Schaukästen, gründliche Auswertung kirchlicher Mitteilungsblätter <strong>und</strong> Aushänge, persönliche<br />
Gespräche mit Pfarrern).<br />
− ausgehend von diesen Erkenntnissen werden zielgerichtet politische Gespräche mit ausgewählten<br />
kirchlichen Amtsträgern geführt, wobei die besondere Aufmerksamkeit den Schwerpunktkirchen in der<br />
Stadt <strong>und</strong> in den Stadtbezirken gilt. Diese Gespräche sind bis zum Beginn der Leipziger<br />
Frühjahrsmesse abzuschließen.<br />
− Unter Nutzung der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ <strong>und</strong> mit Unterstützung der <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> der CDU<br />
gilt es, die Kenntnisse über die personelle Zusammensetzung der Kirchenvorstände zu<br />
vervollkommnen. Ziel ist, eine progressive Basis in den Kirchenvorständen zu schaffen, um gestützt<br />
auf sie wirksam die politische Auseinandersetzung mit einzelnen Pfarrern zu führen.<br />
Anlage 1-3 150<br />
[gez.] Joachim Prag [/] 1. Sekretär<br />
148 Protokoll des Gesprächs zwischen Sabatowska, Richter <strong>und</strong> Magirius von J. Richter in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 247-249<br />
149 Zur engen Zusammenarbeit des MfS mit der SED <strong>und</strong> der besonderen Rolle des MfS in diesen Tagen, s. Mielke-<br />
R<strong>und</strong>schreiben 18/88, in: Besier/Wolf, 532-534. Es gab eine „kontinuierliche, wenn notwendig tägliche<br />
Abstimmung“ zwischen Rat des Bezirkes <strong>und</strong> MfS (Bericht der Leitung des BV des MfS Leipzig vom Juni 1988,<br />
ebenda 555-561, dort 558).<br />
150 Die Anlagen waren nicht in den Akten zu finden.<br />
96
39 SED-Information<br />
Information „Nr. 1“ vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 26.02.1988 zur<br />
staatlichen Kirchenpolitik. Diese Information war Teil der durch das ZK der SED <strong>und</strong> dem StfK<br />
angeforderten Berichte nach der Jarowinsky-Erklärung am 19.02.1988. Sie wurde von Reitmann<br />
unterzeichnet (StAL BT/RdB 21727).<br />
Die einheitliche Leitung der Staatspolitik in Kirchenfragen ist im Bezirk wirkungsvoll gewährleistet. [/]<br />
Es wird intensiv an der Umsetzung der Festlegungen des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED zur<br />
differenzierten Gesprächsführung mit kirchenleitenden Persönlichkeiten vom 19.2.1988 gearbeitet 151 .<br />
Unter der Leitung der 1. Sekretäre der Kreisleitungen der SED wurde die Effektivität der Maßnahmen der<br />
Staatspolitik in Kirchenfragen in den letzten Wochen eingeschätzt 152 . Es wurde dabei weiter an der<br />
differenzierten Einschätzung der kirchlichen Amtsträger gearbeitet. [/] Für das einheitliche Herangehen an<br />
die Lageeinschätzung <strong>und</strong> Aufgabenstellung wurden die durch das Sekretariat der Bezirksleitung der SED<br />
im 2. Halbjahr 1987 herausgearbeiteten Gr<strong>und</strong>sätze der Staatspolitik in Kirchenfragen im Bezirk genutzt.<br />
Im Bezirk am 23.2.1988 <strong>und</strong> differenziert in der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisen haben die „Kleinen<br />
Kollektive“ 153 Beratungen durchgeführt <strong>und</strong> das komplexe Zusammenwirken der staatlichen Organe, der<br />
Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ der Nationalen Front<br />
organisiert. Die Abstimmung mit dem Vorsitzenden des Bezirksverbandes der CDU ist erfolgt. Der Rat<br />
des Bezirkes wird am 26.2.1988 weitergehende Maßnahmen beraten. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Schreibens<br />
des Generalsekretärs der SED 154 <strong>und</strong> der Aufgabenstellung des 1. Sekretärs der SED-Bezirksleitung wird<br />
im Bezirk einheitlich an der Lösung folgender Schwerpunktaufgaben gearbeitet:<br />
1. Es darf in keinem Territorium eine weitere Eskalation der Erscheinungen zugelassen werden. Es ist zu<br />
verhindern, daß es zu einer Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche kommt. Es ist alles zu tun, damit<br />
151 Diese Festlegung ist unter den Akten der SED nicht zu finden. Am 18.02. fand eine SED-BL statt, auf der H.<br />
Schumann u.a. sagte: „Sicherung des Friedens, das bedeutet in der Beziehung zwischen der DDR <strong>und</strong> der BRD<br />
auch vor allem Anerkennung der Unverletzlichkeit der Grenzen, der territorialen Integrität <strong>und</strong> der Souveränität,<br />
die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des Anderen. Hier tun sich gewisse Kreise der BRD mehr<br />
als schwer. Das sind Kräfte, denen der ganze Kurs auf Frieden <strong>und</strong> Entspannung nicht paßt. Deshalb provozieren<br />
sie in alter Manier an den Grenzen zur DDR, verbreiten althergebrachtes nationalistisches <strong>und</strong> revanchistisches<br />
Vokabular, versuchen sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, in unserem Land eine sogenannte<br />
Opposition zu schaffen, sie von außen zu steuern <strong>und</strong> zu unterstützen. Worum geht es diesen Kräften? Sie wollen<br />
mit gezielten Provokationen ideologischer Diversion Ergebnisse sozialistischer Friedenspolitik in Frage stellen,<br />
die Dialogpolitik der DDR international in Mißkredit bringen. Ihr Ziel ist es, die führende Rolle der Partei<br />
anzugreifen <strong>und</strong> zum Widerstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR aufzuwiegeln.<br />
Offensichtlich geht es ihnen um das revanchistische Offenhalten der deutschen Frage <strong>und</strong> den Versuch, ein<br />
kapitalistisches Deutschland in den Grenzen von 1937 zu errichten. Damit stehen sie auf Kriegsfuß mit den<br />
völkerrechtlichen Verträgen.“ (Protokoll S. 9f., StAL SED A 4758) „Erstens ist der untrennbare Zusammenhang<br />
von Sozialismus <strong>und</strong> Frieden immer wieder überzeugend bewußt zu machen. Ich hätte jetzt beinahe gesagt, die<br />
Kirche kämpft seit 2000 Jahren angeblich um den ewigen Frieden. Was haben sie fertig gebracht bis jetzt? Kann<br />
man einige Pfarrer bei uns fragen.“ (ebenda S. 13)<br />
152 vgl. Dok. 38; Mielke zweifelte am Erfolg der staatlichen Drohgebärde, da die staatlichen Stellen nicht<br />
„differenziert“ genug die Konzeption durchzusetzen versuchten (Mielke am 25.2.1988, in: Besier/Wolf, 534f.,<br />
dort 535). Da die staatlichen Maßnahmen kurz nach dem Ende der 1. Vollversammlung der Ökumenischen<br />
Versammlung in Dresden (12.-15.02.1988) stattfanden, dachten einige Kirchenvertreter, dies sei auch eine<br />
Reaktion auf die Ökumenische Versammlung. Eine „Gesprächskampagne“, d.h. Einladungen an kirchliche<br />
Mitarbeiter durch staatliche Stellen, CDU bzw. Nationale Front begann in Leipzig am 02.03.1988 aufgr<strong>und</strong> einer<br />
Lageeinschätzung <strong>und</strong> Anweisung von H. Reitmann (Gesprächskonzeption - ABL H 53)<br />
153 s. Anhang S. 367<br />
154 Gemeint ist das sogenannte Jarowinsky-Papier (veröffentlicht u.a. in epd-Dok. 43/1988 (17.10.1988), S. 61-65),<br />
welches aufgr<strong>und</strong> eines Politbürobeschlusses vom 16.02.1988 von Jarowinsky, Bellmann <strong>und</strong> K. Gysi angefertigt<br />
wurde (SAPMO-BArch J IV 2/2/2260, PB-Beschluß ist abgedruckt in: Przybylski (1992), 95ff.). Am 19.02.<br />
stellte Jarowinsky dieses Papier als SED-Position Landesbischof Leich (für den BEK) vor (vgl. a. Dok. 39 <strong>und</strong><br />
Dok. 75; Besier/Wolf 532-535, 542-550).<br />
97
sich die sogenannten „emanzipatorischen“ Gruppen der Kirchen von den Ausreiseersuchenden<br />
distanzieren.<br />
2. Die bewährten Mittel der Staatspolitik in Kirchenfragen sind unter den aktuellen Erfordernissen zu<br />
aktivieren, d.h. Forcierung des Differenzierungsprozesses unter den kirchenleitenden Persönlichkeiten<br />
mit der Herausarbeitung von glaubhaften Stimmen progressiver Kirchenleute zu den Ereignissen.<br />
Unter diesem Gesichtspunkt haben alle gegenwärtig vorbereiteten Gespräche stattzufinden. Wir gehen<br />
davon aus, daß keine Aktionen organisiert werden, sondern normale geplante Gespräche stattfinden.<br />
Die Rolle der Kirchenvorstände <strong>und</strong> die Arbeit mit den Mitgliedern der Kirchenvorstände sind unter<br />
diesem Gesichtspunkt stärker zu beachten.<br />
3. Bei allen Veranstaltungen, die gegenwärtig im Umfeld von Kirchen stattfinden, ist die politische<br />
Wachsamkeit zu vergrößern <strong>und</strong> mit Sorgfalt sind Details der Vorbereitung dieser Maßnahmen zu<br />
betrachten. Es wird in den nächsten Tagen eine ganze Reihe von Einladungen aus dem alternativen<br />
Bereich der Kirchen an Vertreter des Staates geben zu Gesprächen. Unsere Linie dazu ist eindeutig,<br />
daß der Staat nicht zur Kirche geht. Gesprächsbereit für sachliche Auseinandersetzungen im<br />
innerkirchlichen Bereich sind geeignete Vertreter der befre<strong>und</strong>eten Parteien <strong>und</strong> Wissenschaftler, die<br />
über entsprechende Kenntnisse verfügen.<br />
4. Zur Erreichung der Zielstellung der Trennung von Basis- <strong>und</strong> Übersiedlungsgruppen ist es vor allen<br />
Dingen wichtig, daß sich die Basisgruppen nicht zu Reformgruppen entwickeln.<br />
5. Das Zusammenwirken mit allen Verantwortungsträgern der Staatspolitik in Kirchenfragen ist zu<br />
aktivieren.<br />
Insbesondere in den sogenannten „kleinen Kollektiven“ sind Absprachen über das konkrete Vorgehen<br />
im Einzelfall zu treffen.<br />
Die tägliche Abstimmung zwischen den Stellvertretern Inneres <strong>und</strong> den Leitern der Kreisdienststellen<br />
[der Staatssicherheit] wurde angewiesen.<br />
6. Den Arbeitsgruppen „Christliche Kreise“ ist Unterstützung bei der Durchführung von Veranstaltungen<br />
zu geben. Dabei ist zu beachten, daß aus heutiger Sicht nicht empfohlen wird, Veranstaltungen unter<br />
der Überschrift „10 Jahre 6.3.1978“ 155 durchzuführen. Natürlich ist dieser Inhalt in den<br />
Veranstaltungen zu bewältigen.<br />
Bei der Umsetzung dieser Aufgaben wurde folgender Zwischenstand erreicht:<br />
1. In der Stadt Leipzig <strong>und</strong> in den Kreisen wurden die Pläne der Gesprächsführung mit kirchenleitenden<br />
Persönlichkeiten präzisiert.<br />
Es ist in keinem Territorium zu einer „Aktion von Gesprächen“ gekommen.<br />
Besonders hervorzuheben ist die planmäßige Arbeit in der Stadt Leipzig, im Landkreis Leipzig <strong>und</strong> in<br />
anderen Territorien.<br />
2. In der gesamten Woche hat es im Bezirk eine Vielzahl von Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern<br />
gegeben. An der Spitze stehen die Gespräche des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des<br />
Bezirkes für Inneres<br />
− mit dem Präsidenten des Landeskirchenamtes Sachsens Dr. Domsch<br />
− mit dem Leiter des Landeskirchenamtes der Thüringer Kirche Oberkirchenrat Kirchner <strong>und</strong><br />
−<br />
mit den Leipziger Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter.<br />
Gespräche mit Superintendenten hat es durch den Rat der Stadt Leipzig <strong>und</strong> durch den Vorsitzenden<br />
des Rates des Kreises Oschatz am Beginn dieser Woche gegeben.<br />
Gespräche mit den Superintendenten von Wurzen <strong>und</strong> Döbeln stehen unmittelbar bevor.<br />
In Geithain wird ein großes Gruppengespräch planmäßig vorbereitet.<br />
Durch das Gespräch mit Präsident Dr. Domsch konnte maßgeblicher Einfluß auf die Unterbindung der<br />
Beratung von Antragstellern auf Übersiedlung in die BRD in der Nikolaikirche genommen werden.<br />
Durch Eingreifen des Präsidenten des Ev. Landeskirchenamtes Sachsens <strong>und</strong> der Leipziger<br />
Superintendenten wurde es möglich, die Betreuung von Ersuchstellern auf die Form individueller<br />
Seelsorge festzulegen 156.<br />
Dabei wirkte der offene Brief des Berliner Generalsuperintendenten Dr.<br />
155 s. Anhang, S. 377<br />
156 s. dazu Bericht des MfS über das FG am 22.02.1988 in: Besier/Wolf 556, Anm. 281, nach dem Sup. Magirius<br />
98
Krusche 157 zur Abgrenzung kirchlichen Handelns von konfrontativen Kräften unterstützend.<br />
Durch direkte Einflußnahme des Präsidenten Dr. Domsch sind der Leiter des Jugendpfarramtes<br />
Leipzig, der ESG-Studentenpfarrer <strong>und</strong> der Pfarramtsleiter der Nikolaikirche Leipzig am 23.2.1988<br />
zum Landeskirchenamt nach Dresden bestellt worden 158 , wo mit ihnen ein disziplinierendes Gespräch<br />
geführt wurde <strong>und</strong> somit der Versuch unterb<strong>und</strong>en ist, innerhalb der Kirche ein Büro für Ersuchsteller<br />
zu errichten 159 .<br />
Das Gespräch mit OKR Kirchner kam auf dessen Bitte in Gang (telefonisch). Er informierte im<br />
Auftrag von Bischof Dr. Leich über einen Beschluß des Landeskirchenamtes der Thüringer Kirche,<br />
wonach die Superintendenten ab sofort zu keinem Gespräch mit staatlichen Organen bereit sind 160 . Der<br />
Bischof halte es für einen großen Vertrauensbruch, auf welche Weise in Gera, Erfurt <strong>und</strong> Suhl die<br />
Superintendenten zur Stellungnahme zu dem „Ministerratspapier“ genötigt worden seien. Der Bischof<br />
wäre davon ausgegangen, daß das Gespräch mit Genossen Jarowinsky internen Charakter trage 161 . In<br />
dem Zitieren großer Abschnitte aus dem Papier sieht er das Vertrauen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche<br />
verletzt. Die Landeskirchenleitung ersucht dringend um ein neues Gespräch zwischen Jarowinsky <strong>und</strong><br />
Leich. [/] Kirchner wolle vor allem wissen, ob es im Bezirk Leipzig auch zu solchen Aktionen<br />
gegenüber den Superintendenten kommt. [/] Beide Seiten zeigten sich an einer Intensivierung der<br />
Kontakte zwischen dem Rat des Bezirkes <strong>und</strong> der Thüringer Kirche interessiert <strong>und</strong> es sollte zu einem<br />
neuen Spitzengespräch auf Bezirksebene kommen.<br />
eine „Gruppenseelsorge“ von Ausreisewilligen abgelehnt hatte. In der ZK-Informationszusammenfassung<br />
(Information über Verlauf <strong>und</strong> Ergebnisse der bisher geführten Gespräche mit Amtsträgern der Evangelischen<br />
Kirchen in der DDR auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Genossen Erich Honecker vom 18. 2. 1988 der<br />
Abt. Parteiorgane des ZK vom 29.02.1988 - BStU Ha XX/4 838, 91-98) heißt es: „Das mit ihm [Dr. Domsch] in<br />
Leipzig geführte Gespräch bewirkte, die Betreuung von Antragstellern auf die Form individueller Seelsorge zu<br />
begrenzen. Durch seinen Einfluß wurde der Versuch von Pfarrern, im Wirkungsbereich der Leipziger<br />
Nikolaikirche ein Büro für Antragsteller zu eröffnen, unterb<strong>und</strong>en.“ (dort, S. 6 bzw. 96)<br />
157 Günther Krusche hatte am 4.2.1988 im Berliner Fürbittengebet erklärt: „Die evangelische Kirche in der DDR ist<br />
keine Agentur für die Ausbürgerung aus der DDR.“ Dennoch bot er eine Beratung <strong>und</strong> seelsorgerliche Begleitung<br />
der Antragsteller in der Superintendentur von Berlin an (Die Kirche, 14.02.1988, S. 2). Dies wurde von<br />
H<strong>und</strong>erten in den nächsten Tagen in Anspruch genommen. Da in der Superintendentur die Berliner<br />
Koordinierungsgruppe für die Fürbittgebete <strong>und</strong> Solidaritätsaktionen ihr Domizil hatte, war damit deren Arbeit<br />
lahmgelegt. G. Krusche hatte mit seinem Angebot also faktisch die Ausreiseantragsteller gegen die<br />
„Basisgruppen“ ausgespielt. Am 08.02. teilte er das u.a über das Berliner SED-Organ (!) „Berliner Zeitung“ mit,<br />
daß die Betreuung der Ausreiseantragsteller durch die Generalsuperintendentur beendet sei, „weil das Büro sich<br />
vor Ausreisewilligen nicht mehr retten konnte“ (G. Thomas, in: Die Kirche, 21.02.1988, S. 1). Das Angebot der<br />
Seelsorge wurde aber erneuert. Die KKL erklärte nach ihrer Klausurtagung im März 1988: „Seelsorge kann vom<br />
Auftrag der Kirche her nicht auf bestimmte Gruppen oder Anlässe eingegrenzt werden. Besondere Kontakt- oder<br />
Seelsorgestellen für Personen, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt<br />
haben, werden deshalb nicht eingerichtet. Vielmehr kommt es darauf an, daß Menschen in dieser Lage in alle<br />
Lebensformen der Gemeinde integriert bleiben oder integriert werden.“ (abgedruckt in: KiS 2/88, 43f.; s.a. epd-<br />
Dok 9/88) Zur Auseinandersetzung zwischen Gruppen <strong>und</strong> Ausreisern in Berlin s. Rüddenklau 228-230<br />
158 s. Dok. 40<br />
159 In der ZK-Information (s. oben, Anm. 156) heißt es dazu: „In der Stadt Leipzig fanden Gespräche mit Personen<br />
statt, die sich als Ausreiseberater im Auftrag des Jugendpfarramtes in der Nikolaikirche bezeichneten. Sie wurden<br />
aufgefordert, ihre Tätigkeit einzustellen, <strong>und</strong> über die straf- <strong>und</strong> ordnungsrechtlichen Folgen ihrer Handlungen<br />
belehrt.“ (dort S. 7 bzw. 97)<br />
160 Mielke wertete diesen Schritt Bischof Leichs als „Untergrabung der Staatsautorität“ (so Dienstbesprechung am<br />
25.02.1988, in: Besier/Wolf, 535). In der ZK-Informationszusammenfassung (s. Anm. 156) heißt es jedoch: „In<br />
Leipzig informierte Oberkirchenrat Kirchner im Auftrag von Landesbischof Dr. Leich [... wörtliches Zitat aus<br />
dem dokumentierten Bericht]. Ungeachtet dessen ignorierten alle Superintendenten im Bezirk Erfurt bis auf einen<br />
das Verbot des Landesbischofs <strong>und</strong> brachten ihre Zustimmung zum Standpunkt der Staatsführung zum<br />
Ausdruck.“ (dort S. 2 bzw. 92)<br />
161 Das Papier sollte von der Kirche vertraulich behandelt werden. Von der SED wurde das Papier in Form eines<br />
„Briefes“ an die Ersten Sekretäre der Bezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen gesandt, mit der Aufforderung, „diese<br />
Darlegung des Staat-Kirche-Verhältnisses“ umzusetzen (SAPMO-BArch IV B 2/14/19, s.a. Anm. 154 <strong>und</strong> 241).<br />
99
3. Gespräche mit Pfarrern, die aktiv Bittgottesdienste <strong>und</strong> Beratungen von Ausreiseproblemen in Kirchen<br />
organisiert haben.<br />
Im Zusammenhang mit den Veranstaltungen am 19.2.1988 in der Nikolaikirche zum Thema „Leben<br />
<strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ <strong>und</strong> dem Friedensgebet am 22.2.1988 162 in der Nikolaikirche fanden<br />
Gespräche mit den Pfarrern [/] - Führer [/] - Kaden u.a. [/] statt. [/] Im Ergebnis dieser Gespräche<br />
wurde sichtbar, daß solche Pfarrer nur durch die Dienstaufsicht des Landeskirchenamtes noch<br />
disziplinierbar sind. Ebenso wurde deutlich, daß die Einbeziehung der Kirchenvorstände durch die<br />
staatlichen Organe in Logistik <strong>und</strong> Inhalt noch stärker beherrscht werden muß. Die Gespräche haben<br />
im Sinne des Differenzierungsprozesses eindeutig erbracht, daß es sich bei Führer <strong>und</strong> Barthel [richtig:<br />
Bartels] um reaktionäre Kräfte handelt, mit denen die Arbeit forciert werden muß. Disziplinierende<br />
Gespräche aus konkretem Anlaß wurden auch in Borna geführt.<br />
4. In den Räten der Stadtbezirke wurden Gespräche mit den Personen geführt, die sich als Ausreiseberater<br />
im Auftrag des Jugendpfarramtes in der Nikolaikirche vorgestellt haben. Die Gespräche wurden mit<br />
dem Ziel geführt, die Handlungen dieser Leute einzustellen <strong>und</strong> sie über die strafrechtliche <strong>und</strong><br />
ordnungsrechtliche Relevanz ihrer Handlungen zu belehren. Diese Personen stehen unter der Kontrolle<br />
der Sicherheitsorgane.<br />
Schlußfolgerung:<br />
1. Am 29.2.1988 findet eine erneute Beratung mit den Stellvertretern der Vorsitzenden für Inneres statt. In<br />
dieser Beratung werden die Ergebnisse der Gesprächsführung ausgewertet. Bereits jetzt wird sichtbar,<br />
daß es richtig war, keine „Gesprächsaktion“ herbeizuführen.<br />
2. Durch die Bereiche Inneres des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> des Rates der Stadt Leipzig wird im<br />
Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen intensiv an der Vorbereitung der Maßnahmen der<br />
Staatspolitik in Kirchenfragen im Zusammenhang mit der Leipziger Messe gearbeitet.<br />
40 Stasi-Information<br />
Operativinformation 50/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS<br />
(unterzeichnet Oberst Schmidt, wald-wl) vom 04.03.1988 über eine Beratung im Landeskirchenamt Dresden<br />
am 23.02.1988. Verteiler: 1. Stellvertreter der BV, Stellvertreter Operativ, Abt. XX, Abt. AKG <strong>und</strong> die<br />
Operative Lagegruppe der BV Leipzig zur Weiterinformation an HA XX, BV Dresden, Referate AuI <strong>und</strong><br />
XX/2 der KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> IM-Akte des IMB „Carl“. In der wiedergegebenen Vorlage wurde XX/2<br />
unterstrichen (ABL H 8).<br />
Durch zielgerichteten Einsatz eines zuverlässigen IMB unserer Diensteinheit konnten nachstehende<br />
Erkenntnisse über eine am 23.02.88 in Dresden stattgef<strong>und</strong>ene Beratung leitender kirchlicher Amtsträger<br />
der Kirchenbezirke Leipzig-Ost <strong>und</strong> West beim stellvertretenden Bischof der Landeskirche Sachsens<br />
inoffiziell erarbeitet werden. [/] Die Beratung hatte strengen internen Charakter <strong>und</strong> diente der<br />
Auswertung des am 18.02.88 stattgef<strong>und</strong>enen Spitzengespräches des Genossen Jarowinsky <strong>und</strong> des<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitung des B<strong>und</strong>es der<br />
Evangelischen Kirchen in der DDR, Landesbischof Dr. Werner Leich 163 . [/] An der Beratung in Dresden<br />
nahmen teil: [es folgen 10 Namen, u.a. Dr. K. Domsch, Fr. Magirius, Chr. Wonneberger, M. Berger]<br />
Nach Informationen des IMB „Carl“ 164 waren alle o. g. Personen auf Wunsch des Landesbischofs der<br />
Evangelischen Landeskirche Sachsens, Bischof Dr. Hempel, zu dieser Beratung persönlich geladen<br />
worden. [/] Das Anliegen der Beratung bestand darin, das am 18. 02. 88 stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch mit<br />
Vertretern der Regierung der DDR zu Problemen des Verhältnisses Staat/Kirche auszuwerten, eine<br />
Analyse der Ereignisse der vergangenen Wochen im kirchlichen Bereich Leipzig vorzunehmen <strong>und</strong><br />
gr<strong>und</strong>legende Festlegungen der innerkirchlichen Arbeit für die künftige Zeit im Bereich der Landeskirche<br />
Sachsens festzulegen. [/] Seitens der Vertreter der Kirchenleitung der Landeskirche Sachsens wurde im<br />
162 s. Anm. 156<br />
163 s. Anm. 161<br />
164 Der inoffizielle Mitarbeiter „Carl“ war Dr. Berger, s. Anm 90<br />
100
Geprächsverlauf betont, daß man bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht den vollen Umfang der<br />
Probleme <strong>und</strong> Ereignisse kirchlicher Tätigkeit in Leipzig nach den Ereignissen um die Berliner<br />
Zionskirche <strong>und</strong> dem 17. Januar 1988 in Berlin gekannt hätte. [/] Erst nach Gesprächen mit staatlichen<br />
Organen sei man jetzt zu der generellen Feststellung gekommen, daß in Leipzig nach Berlin die<br />
schwerwiegendsten <strong>und</strong> umfangreichsten Aktivitäten alternativer kirchlicher Gruppen sichtbar geworden<br />
sind.<br />
Es würde seitens der Landeskirchenleitung die Einschätzung getroffen, daß in keiner vergleichbaren Stadt<br />
der Landeskirche Sachsens - genannt wurden Dresden <strong>und</strong> Karl-Marx-Stadt, eine so große Anzahl von<br />
kirchlichen Gruppen existieren würden.<br />
Positiv werte man, daß es trotz aller Schwierigkeiten, die aus der Lage entstanden seien, in Leipzig zu<br />
keinen größeren Problemen gekommen sei, die das Verhältnis der Kirche zum Staat übergebührend<br />
belastet hätten. Dies wird als Ergebnis einer guten innerkirchlichen Arbeit, aber auch dem besonnenen<br />
Verhalten der zuständigen staatlichen Organe des Bereiches Kirchenfragen zugeschrieben, die es<br />
vermieden hätten, unnötige Reizmomente zu setzen. Durch Superintendent Magirius wurde zu dieser<br />
Problematik erklärt, daß das Umfeld dieser alternativen Gruppen seit längerer Zeit unter günstiger<br />
Beratung steht <strong>und</strong> es in Leipzig Personen gibt, die unter diesem Personenkreis auch Autorität besitzen. In<br />
Leipzig wäre insbesondere durch den Synodalausschußvorsitzenden Dr. Berger beruhigend auf diesen<br />
Personenkreis eingewirkt worden, was zu dieser positiven Entwicklung geführt hätte. Nur so wäre es<br />
möglich gewesen, daß nicht solche chaotischen Zustände wie in Berlin eingetreten sind.<br />
Durch den [A...] wurde die Auswertung des Gespräches mit Vertretern der Regierung der DDR vom<br />
18.02.88 vorgenommen, wobei betont wurde, daß man staatlicherseits im Gespräch der Kirche zu<br />
verstehen gegeben hätte, daß die Basis im Verhältnis Staat/Kirche vom 06.03.78 165 kurz vor dem<br />
Zusammenbruch stünde <strong>und</strong> bei Fortführung der in den letzten Wochen eingenommenen kirchlichen<br />
Haltungen schwerwiegende Konfrontationen im Verhältnis Kirche/Staat unvermeidbar wären. Diese<br />
Einschätzung hätte man kirchlicherseits zur Kenntnis genommen.<br />
Es wurde betont, daß man innerkirchlich eine Analyse der Vorkommnisse vorgenommen hätte, in deren<br />
Ergebnis man nachfolgende Wertung treffen kann:<br />
− Die Kirche sei schwer enttäuscht, daß ihr in einer schwierigen innenpolitischen Situation in der DDR<br />
eine falsche Rolle vom Staat zugespielt worden sei. Man vertrete die Auffassung, daß die Ursachen für<br />
diese Entwicklung im Bereich des Staates <strong>und</strong> der Partei liegen würden. Aus verschiedenen<br />
Gesprächen mit zuständigen staatlichen Organen hätte man den Eindruck gewonnen, daß es<br />
staatlicherseits auch Kräfte gibt, denen das bestehende Verhältnis Staat/Kirche nicht gefällt <strong>und</strong> die<br />
bewußt an einer Verschärfung der Lage interessiert seien. Was insbesondere die Problematik der<br />
Ausreisewilligen <strong>und</strong> deren Kontaktsuche zur Kirche betrifft, wo es zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche die<br />
größten Meinungsunterschiede gäbe, vertrete man die Auffassung, daß dieses Problem außerhalb der<br />
Kirche entstanden ist <strong>und</strong> man sich diese Leute nicht in die Kirche geholt hätte. Die Kirche habe nur<br />
versucht, in dieser schwierigen Lage zu reagieren, was vom Staat mißverstanden wurde.<br />
Aus der jetzigen vorgenommenen Analyse wurden nachfolgende kirchliche Standpunkte abgeleitet:<br />
− Es ist <strong>und</strong> bleibt stets kirchliches Anliegen, Menschen, die in Konflikt geraten sind <strong>und</strong><br />
seelsorgerischen Beistand benötigen, Unterstützung zu geben. Von diesem Selbstverständnis<br />
kirchlicher Arbeit wird man auch künftig nicht abrücken. Dabei steht auch nicht das Anliegen der<br />
Ausreise aus der DDR im Mittelpunkt kirchlicher Betreuung, sondern der Mensch mit seinen Sorgen<br />
<strong>und</strong> Nöten, die auch durch einen gestellten Ausreiseantrag entstanden sein können. Es ging <strong>und</strong> geht<br />
der Kirche nicht um die Bearbeitung <strong>und</strong> Beförderung von Ausreiseanträgen, da dies kein kirchliches<br />
Problem ist <strong>und</strong> die Kirche ja generell die Auffassung vertritt, daß der Platz eines Christen hier in der<br />
DDR ist, unabhängig bestehender Probleme. Die Kirche hätte die Erfahrung gemacht, daß eine<br />
Vielzahl von Bürgern der DDR durch ihre Ausreiseanträge in menschliche Konflikte geraten sind, um<br />
die sich auch die Kirche aufgr<strong>und</strong> ihres religiösen Auftrages kümmern muß. Der Staat hat in dieser<br />
Frage, dies wisse man, eine andere Betrachtungsweise. Auslösende Fakten für Ausreisebestrebungen<br />
<strong>und</strong> die daraus entstandenen menschlichen Konflikte sind durch den Staat in seiner Betrachtungsweise<br />
165 s. Anhang S. 377<br />
101
mit kirchlicher Tätigkeit verb<strong>und</strong>en worden, was falsch wäre <strong>und</strong> womit man der Kirche die Schuld für<br />
die entstandenen Reibungen zuschieben möchte. Dagegen verwahre man sich kirchlicherseits.<br />
− Die Kirche ist verw<strong>und</strong>ert, daß der Staat keine realistische Analyse <strong>und</strong> Kenntnis der Situation unter<br />
Ausreisewilligen hat. Die Kirche hat den Eindruck, daß der Staat ebenso wie die Kirche von den<br />
Ereignissen überrascht worden ist. Aus Gesprächen mit Antragstellern auf Übersiedlung hätte die<br />
Kirche die Überzeugung gewonnen, daß viele Übersiedlungsersuchende durch die unqualifizierte<br />
Arbeit untergeordneter Staatsorgane auf Kreis- <strong>und</strong> Stadtbezirksebene äußerst verärgert wären, da dort<br />
nicht oder ungenügend zu den Problemen gesprochen würde. Hier wird der Ausweg der<br />
Gesprächsführung in der Kirche gesucht. Begünstigend für den großen Unmut unter Ausreisewilligen<br />
sei die <strong>und</strong>urchsichtige Rechtspraxis bei Genehmigungen zur Übersiedlung. Dies bezieht sich auf<br />
territorial unterschiedlich gehandhabte Übersiedlungsverfahren, unterschiedliche Wartezeiten bei<br />
Genehmigungen bis hin zu unterschiedlichen Auskünften von Mitarbeitern der Abt. Innere<br />
Angelegenheiten zu gleichgelagerten Problemstellungen. Diese Situation, die nach Meinung der Kirche<br />
nur durch klare Rechtsgestaltung behoben werden kann, ist alleinig Aufgabe des Staates <strong>und</strong> falle nicht<br />
in den Zuständigkeitsbereich der Kirche. Man betrachte als Kirche die eingetretene Situation nicht<br />
zuallererst als Fehlentwicklung der „großen“ Politik, sondern der Fehlleistung untergeordneter<br />
örtlicher Organe, die nicht mit den Menschen arbeiten können.<br />
Aus dieser Analyse werden für die künftige Arbeit der Kirche nachfolgende Schlußfolgerungen gezogen:<br />
Die Kirche beabsichtigt nicht, sich in staatliche Angelegenheiten einzumischen. Es wird die Auffassung<br />
vertreten, daß der Staat selbst mit diesen Problemen fertig werden muß. [/] Dem Staat sollen durch die<br />
Kirche keine Fehler vorgehalten werden, man will aber mit ihm über das bestehende Problem sprechen. [/]<br />
Die Kirche ist sehr enttäuscht, daß der Staat nicht sieht <strong>und</strong> einschätzt, daß die Kirche in der<br />
gegenwärtigen Situation versucht hat, diesen Personenkreis der Übersiedlungsersuchenden zu<br />
kanalisieren. Es war Motiv dieser kirchlichen Arbeit, die entstandenen großen Emotionen dieser Personen<br />
abzubauen <strong>und</strong> nicht abzuwürgen, da man der Meinung ist, daß sonst auch öffentlichkeitswirksame<br />
unkontrollierte Handlungen größeren Ausmaßes von diesen Personengruppen der Antragsteller ausgehen<br />
könnten. Die Bereitschaft dazu, so schätzt man innerkirchlich ein, ist von seiten der Ausreisewilligen sehr<br />
groß. [/] Es wurde auch für die künftige kirchliche Arbeit die Orientierung gegeben, daß sich die Kirche in<br />
einer Vermittlerfunktion zwischen Bürger <strong>und</strong> Staat sieht. Im seelsorgerischen Gespräch mit den<br />
Antragstellern sollte erreicht werden, daß Menschen nicht durch unbedachte Schritte in Konflikt mit dem<br />
Gesetz geraten <strong>und</strong> daß es nicht zu einer Ausweitung der Probleme im internationalen ökumenischen<br />
Bereich kommt. [/] Die durch kirchliche Amtsträger vorzunehmende Arbeit mit diesem Personenkreis soll<br />
so angelegt werden, daß man diesen Personen den Rat gibt, sich nicht an Organisationen außerhalb der<br />
DDR zu wenden, um ihr Übersiedlungsersuchen durchzusetzen.<br />
Generell vertritt die Kirche die Auffassung, daß sie nicht zur Untergr<strong>und</strong>bewegung oder politischen<br />
Organisation gegen den Staat werden darf. Ein Mißbrauch der Kirche durch bestimmte Personen, die nur<br />
ihr persönliches Anliegen unter Nutzung der Kirche durchsetzen wollen, darf nicht zugelassen werden.<br />
Die Kirche versteht sich nicht als Sprachrohr dieser Personen in der Öffentlichkeit. Für den Bereich der<br />
Landeskirche Sachsens wurde festgelegt, daß es im innerkirchlichen Bereich keine Etablierung von sog.<br />
„Staatsbürgerschaftsrechtsgruppen“ 166 geben wird. In Berlin, so wertet man, sei diese Frage gegen den<br />
166 Staatsbürgerschaftsrechtsgruppen waren Gruppen, die sich um die Rechte der Ausreiseantragsteller kümmerten<br />
<strong>und</strong> gleichzeitig den Antragstellern aus der Vereinzelung halfen. In Berlin entstand solch eine Gruppe im Herbst<br />
1987. Sie veröffentlichte zum Tag der Menschenrechte, 10.12.1987, eine Erklärung, die die Rechtsverstöße der<br />
DDR-Regierung detailliert auflistete (abgedruckt u.a. in: Ost-/West-Diskussionsforum Nr. 2, 3f.). Diese Gruppe<br />
hatte im Dezember 1988 großen Zulauf. Am 6. Januar 1988 rief sie zur Teilnahme an der offiziellen Luxemburg-<br />
Liebknecht-Demonstration am 17.01.1988 mit eigenen Transparenten auf (s. Die Luxemburg-Affäre, in:<br />
„Umweltblätter“ vom 12.02.1988, Rüddenklau, 203-209 <strong>und</strong> ebenda, 122-124). Die meisten „am Rande“ der<br />
Demonstration Verhafteten <strong>und</strong> wenige Tage später gen B<strong>und</strong>esrepublik Abgeschobenen gehörten vermutlich zu<br />
dieser Gruppe bzw. waren Ausreiseantragsteller. Da die Mitarbeit in solch einer Gruppe bzw. Demonstrationen<br />
mit „Ausbürgerung belohnt“ wurden, versuchten viele Ausreiseantragsteller in der Folge eine Wiederholung. In<br />
Leipzig gab es verschiedene Versuche der Vernetzung <strong>und</strong> politischen Artikulation der Ausreiseantragsteller. Die<br />
erste Leipziger Solidaritäts- bzw. Protestveranstaltung (am 22.01.) nach den Berliner Inhaftierungen wurde u.a.<br />
102
Willen der Kirche durch andere Umstände anders entschieden worden.<br />
Für die kirchlichen Amtsträger wurden nachfolgende Arbeitsorientierungen gegeben:<br />
1. Übersiedlungsersuchende sind durch sachgemäße Information vor unüberlegten Handlungen zu<br />
bewahren. Dies ist Sinn <strong>und</strong> Zweck der Beratung.<br />
2. Die Kirche wird sich auch weiterhin darum bemühen, humanitäre <strong>und</strong> Problemfälle im sachlichen<br />
Gespräch mit dem Staat ohne große Publizität zu lösen. Hier wird auch die Bereitschaft des Staates<br />
erwartet.<br />
3. Schwerpunkt der Arbeit mit Antragstellern besteht im seelsorgerischen Gespräch nicht der<br />
Antragstellung wegen, sondern um menschliche Konfliktsituationen abzubauen.<br />
Für die praktische Umsetzung dieser Orientierung wurde durch die Vertreter der Landeskirchenleitung<br />
Sachsens betont, daß man die gespannte Lage stets realistisch einschätzen müsse <strong>und</strong> man auch<br />
Verständnis dafür aufbringt, daß es für den Staat in der gegenwärtigen Situation sehr belastend ist, wenn<br />
kirchliche Großveranstaltungen durchgeführt werden sollen. [/] Diese staatliche Sorge will man<br />
dahingehend respektieren, indem man in nächster Zeit auf derartige Großveranstaltungen im kirchlichen<br />
Bereich verzichten will. [/] Gleichfalls sollen keine kirchlichen Veranstaltungen unter dem Thema der<br />
Ausreiseproblematik durchgeführt werden. Als vorrangig wird das Einzelgespräch mit Antragstellern<br />
angesehen. Es wurde angekündigt, daß in diesem Zusammenhang eine Orientierung an alle Pfarrer der<br />
Landeskirche gegeben wird. [/] Bei in den Gemeinden stattfindenden Gesprächskreisen, wo<br />
Ausreisewillige mit anwesend sind, sollen die Gesprächskreise nicht über 40 Personen ausgedehnt<br />
werden, <strong>und</strong> das Gesprächsthema ist auf religiöse Bezugspunkte zu begrenzen. Möglichst sind nicht die<br />
Kirchen zur Durchführung von derartigen Gesprächskreisen zu nutzen, sondern die Gemeinderäume, um<br />
den Personenkreis überschaubar zu halten. [/] Es wurde betont, daß man kirchlicherseits auch Probleme<br />
sieht, die einer Normalisierung entgegenstehen oder sie zumindest erschweren. Zu diesem Punkt wurde<br />
die Berichterstattung der Pressemedien der DDR zur Rolle der Kirche bei den Ereignissen um den 17.<br />
Januar 1988 in Berlin genannt, wo nach Meinung der Kirche falsche Anschuldigungen verb<strong>und</strong>en mit<br />
einer aufheizenden Wortwahl gegen die Kirche dazu geführt haben, Stimmung zu machen.<br />
Weiterhin hat man die Aktivitäten des MfS <strong>und</strong> der Partei verfolgt, wo nach Meinung der Kirche in vielen<br />
innerkirchlichen Veranstaltungen durch „diese Mitarbeiter“ mittels Zwischenrufe <strong>und</strong> anderer Aktivitäten<br />
die Stimmung provozierend angeheizt worden sei. [/] Innerkirchlich hätte man auch weiterhin beobachtet,<br />
daß ehemalige Mitarbeiter der SED, die sich jetzt um eine Ausreise aus der DDR bemühen, den besonders<br />
aggressiven Kern der Gruppen bilden würden, mit denen die Kirche nichts zu tun haben will. An der<br />
kirchlichen Basis in den Gemeinden bestünde kein Verständnis dafür, daß sich die Kirche für diese<br />
Personen einsetzt.<br />
Eine offizielle Verlautbarung der Kirchenleitung zu o.g. Problemen soll innerkirchlich nicht erfolgen, da<br />
man einschätzt, daß 90 % der kirchlichen Amtsträger in den Gemeinden der Landeskirche gar nicht oder<br />
sehr oberflächlich über diese Probleme informiert sind <strong>und</strong> eine offizielle Verlautbarung der<br />
Kirchenleitung nur eine unbeherrschbare Diskussion im innerkirchlichen Bereich zur Folge hätte. Dies sei<br />
nicht Anliegen der gegenwärtigen Entwicklung. [/] Auch nach dem ernsten Gespräch mit dem Staat will<br />
man am kirchlichen Selbstverständnis der Arbeit festhalten. Es wurde geäußert, daß wenn der Staat von<br />
der Kirche die Aufgabe ihrer Position für alle Menschen dazusein, verlangt, man dem nicht entsprechen<br />
wird <strong>und</strong> auch alle Konsequenzen daraus tragen wird. [/] Bezogen auf das Verhältnis Staat/Kirche nach<br />
dem 06.03.78 äußerte [A...], daß „Wenn das Haus zerstört werden solle, man es nicht ändern kann.“<br />
Es wurde im Gespräch jedoch auch die Bereitschaft erklärt, das positive Verhältnis Staat/Kirche nicht zu<br />
verlassen. [/] Es bestünde vielmehr die Aufgabe, die „Reizelemente“ auf beiden Seiten abzubauen, was<br />
auch im Interesse des Staates liegen müßte. [/] Die Kirche stünde auch zukünftig allen Menschen offen,<br />
die Probleme hätten. Es wäre kirchlicherseits nicht beabsichtigt, vor Veranstaltungen die Ausweise zu<br />
kontrollieren, um zu sehen, welche Personen sich an religiösen Veranstaltungen beteiligen wollten. Als<br />
wichtig wurde betont, daß man sich an den kirchlichen Rahmen der Veranstaltung halten sollte <strong>und</strong><br />
von einem Ausreiseantragsteller organisiert. Dieser durfte/mußte aus diesem Gr<strong>und</strong> am 21.01.1988 die DDR<br />
verlassen. Im März 1988 gab es ca. 10 Ausreise(selbsthilfe)gruppen in Leipzig. Weitere wichtige Gruppen gab es<br />
zu dieser Zeit in Görlitz, Jena, Naumburg <strong>und</strong> Wismar.<br />
103
auftretende Probleme nicht hochgespielt werden.<br />
Nach Einschätzung des IMB „Carl“ zielt die gegebene Orientierung auf eine Lösung der Probleme<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche. [/] Der eingeladene Personenkreis kam nach Wertung des IM dadurch<br />
zustande, da die anwesenden kirchlichen Amtsträger aus Leipzig im wesentlichen mit dieser Problematik<br />
in der tagtäglichen Arbeit konfrontiert worden sind. Disziplinierende Momente z.B. für die Pfarrer<br />
Wonneberger oder Führer waren nicht zu erkennen. Seitens dieser beiden Personen wurde im<br />
Gesprächsverlauf keine Meinung zur Gesamtproblematik geäußert. Beide verhielten sich nach<br />
Einschätzung des IM sehr reserviert. [/] Der IMB „Carl“ wird weiter zu innerkirchlichen Reaktionen im<br />
Zusammenhang mit der Umsetzung der Orientierung der Landeskirchenleitung Sachsens im Bereich<br />
Leipzig berichten. [/] Die Information ist offiziell nicht auswertbar. Aufgr<strong>und</strong> des strengen internen<br />
Charakters der Zusammenkunft ist bei Auswertung unbedingter Quellenschutz zu gewährleisten.<br />
Um Kenntnisnahme der Information wird gebeten.<br />
41 Friedensgebetstexte<br />
Texte, die zum Friedensgebet am 14.03.1988 in der Nikolaikirche von E. Dusdal (AKSK) vorgetragen<br />
wurden. Die Texte wurden mit der Maschine geschrieben <strong>und</strong> handschriftlich überarbeitet. Xerokopie (ABL<br />
H 1).<br />
[Predigt:] Ich, Jeremia 167 , habe eigentlich Angst. Ich bin besorgt um mein Leben. Die Sicherheit meiner<br />
vier Wände - ich weiß sie zu schätzen. Ich kenne das Gefühl: Bloß nicht einmischen. Was geht mich das<br />
überhaupt an. Wer weiß, wo das noch hinführt.<br />
Und ich, Jeremia, kenne die Gesetze meines Landes: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Das Übliche tun.<br />
Das, was wir schon immer getan haben. Doch mich, Jeremia, trifft die Stimme Gottes. Sie reißt mich<br />
heraus aus dem Alltagstrott. Ich vernehme den Anspruch Gottes auf mein Leben. Ich weiß: Auch die<br />
Minister, der Staat, erheben durch ihre Gesetze Anspruch auf mein Leben. Auch sie wollen über mich,<br />
Jeremia, verfügen. Gott <strong>und</strong> König kämpfen um meine Unterordnung. Doch ich, Jeremia, muß Gott<br />
wählen. Er zwingt mich zu tun, wovor ich Angst habe. Er heißt mich aufstehen <strong>und</strong> auftreten gegen<br />
Ungerechtigkeit, Willkür <strong>und</strong> Maulkorbgesetze, wo ich sie doch zu schätzen weiß, die Ruhe <strong>und</strong><br />
Sicherheit meiner vier Wände. Ich versuchte es auch anfangs mich vor Gott <strong>und</strong> meinem Gewissen<br />
herauszureden: „Ach Jahwe, sieh ich weiß nicht zu reden, ich bin zu jung“. Doch Gott antwortete mir:<br />
„Sag nicht: Ich bin zu jung, sondern: wohin immer ich dich sende, dahin wirst du gehen <strong>und</strong> was immer<br />
ich dich heiße, das wirst du reden. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin mit dir um dich zu retten.<br />
(1,6ff) Tritt auf <strong>und</strong> sag ihnen alles, was ich dich heiße. Hab keine Angst vor ihnen damit ich dir keine<br />
Angst einjage vor ihren Augen (1,17f). Und so begab ich mich auf den Markt <strong>und</strong> vor die Tore der Stadt,<br />
wo die Richter ihre ungerechten Urteile fällen, stelle mich in den Tempel <strong>und</strong> beginne zu reden: Warum<br />
seid ihr nur so verstockt, ihr Herrschenden? Warum macht ihr euch nur so unnahbar? Wovor schützt ihr<br />
euch? Vor der Wahrheit oder vor der Veränderung? Seht ihr nicht das Volk mit seinen Nöten? Daß es<br />
gehört werden will, daß es gehört werden muß? Seht ihr nicht die vielen, die sich w<strong>und</strong>gerieben haben in<br />
ihren Bemühungen um Veränderung? Die sich Sorgen machen, um die Bewahrung der Schöpfung <strong>und</strong><br />
durch eure Gesetze daran gehindert werden? Die sich mehr Freiheit wünschen in der Gestaltung ihres<br />
Lebens? Die aufbegehren, gegen das Unrecht in unserem Land? Die keine Lust mehr haben, eine Waffe<br />
zu tragen <strong>und</strong> sinnlosen Drill zu erdulden? Die nicht mehr nur: Ja Herr Lehrer sagen wollen. Seht ihr<br />
nicht, daß sie das Land fre<strong>und</strong>licher, daß sie es fröhlicher machen wollen? Und seht ihr nicht die vielen<br />
anderen, die die bereits resigniert haben? die sich abgef<strong>und</strong>en haben, mit all dem hier, die fertig sind, die<br />
die Schnauze voll haben <strong>und</strong> sagen: Es hat ja doch alles keinen Sinn mehr hier. Die nur noch warten um<br />
weg zu können, aus welchen Gründen auch immer. Die die Resignation blind gemacht hat auf einem<br />
Auge, so daß sie nur noch Mauern um sich sehen.<br />
Und Jeremia spricht weiter: Kehrt um, ihr die ihr oben sitzt <strong>und</strong> hart seid, <strong>und</strong> ihr, die ihr verhärtet <strong>und</strong><br />
167 Gemeint ist der Prophet Jeremia. Die Rede war eine Auslegung des alttestamentlichen Berichts über die Berufung<br />
Jeremias (Jer. 1,4-10 <strong>und</strong> 17-19).<br />
104
festgefahren seid, all ihr Resignierten, die ihr die hoffnungsvollen Zeichen nicht mehr sehen wollt. Kehrt<br />
um <strong>und</strong> laßt uns alle gemeinsam nach neuen Wegen suchen.<br />
Fürbitten:<br />
I. Herr, wir haben in den letzten Monaten auf langsame Veränderungen gehofft, wir haben um<br />
Besonnenheit auf beiden Seiten gebetet. Hab Dank, daß die ersten Verhafteten entlassen sind; schenke<br />
Du uns Zuversicht <strong>und</strong> Phantasie für das Weitergehen. - Viele von uns bringt die Angst hierher <strong>und</strong> die<br />
Ungewißheit über unsere gegenwärtige Situation, manchen auch Ungeduld, Unwille, wohl auch<br />
Sensationsstimmung <strong>und</strong> berufliche Wißbegier. Die Ungewißheit über das Leben <strong>und</strong> Bleiben <strong>und</strong><br />
auch über das Verlangen der DDR lassen uns resignieren. Du Gott der Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft, gib<br />
unserer dumpfen Spannung <strong>und</strong> Unklarheit Dein einredendes Wort, gib, daß sich die Angst in<br />
Zuversicht wendet. Hilf Du denen, die bleiben wollen 168 , hilf denen, die nicht mehr bleiben können,<br />
hilf auch den Zuschauern <strong>und</strong> Beobachtern aus ihrer Not.<br />
II. Herr, wir denken an die, die noch inhaftiert sind. Wir sind betroffen über Festnahmen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlange<br />
Verhöre 169 . Lasse Du Gespräch werden, was Verhör war, gib Du denen, die Verantwortung tragen,<br />
Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> gerechte Entscheidungen. Wir denken an die Angehörigen. Gib ihnen Halt,<br />
laß sie Liebe <strong>und</strong> Güte erfahren. Wir bitten Dich für die Kinder bedrängter Eltern, daß sie keinen<br />
Schaden nehmen. Hilf jedem der Inhaftierten durch Deine Nähe <strong>und</strong> unser Eintreten. Und gib auch den<br />
Mitarbeitern des Strafvollzugs Gesten der Mitmenschlichkeit.<br />
III. Herr, wir wissen oft nicht, wie wir verantwortlich als Christen <strong>und</strong> als Kirche hier im Lande leben<br />
können. Hilf, daß wir uns nicht untereinander entzweien, daß wir redlich miteinander umgehen, hilf,<br />
daß wir an Deinem Wort bleiben <strong>und</strong> die Sinne dafür schärfen. Gib, daß wir uns immer wieder von Dir<br />
unterbrechen lassen. Laß uns erfahren, daß wir nie sicher, aber immer geborgen sind.<br />
IV. Herr, wir bringen unsere Situation vor Dich, daß Du uns hilfst <strong>und</strong> unterbrichst in unseren Gedanken.<br />
Gib uns, die wir beten, Zuversicht <strong>und</strong> Gemeinsamkeit. Segne Du alles Eintreten der Kirchenleitungen.<br />
Gib denen, die die Verhaftungen verantworten, klare Sicht <strong>und</strong> Mut zur Korrektur. Hindere Du<br />
unfruchtbare Machtbeweise, gib daß die Freiheit größer wird als die Sicherheit. Laß uns klar <strong>und</strong> fest<br />
werden gegenüber Gewalt <strong>und</strong> Provokation. Führe Du die, die ihre Meinung nicht sagen, dazu, nach<br />
ihrem Gewissen zu handeln. Herr, der Du die Welt unterbrichst, schaffe, daß wir Dir Raum lassen.<br />
42 Stasi-Information<br />
Information Nr. 143/88 des Ministers für Staatssicherheit über das Friedensgebet am 14.03.1988 in Leipzig<br />
vom 15.03.1988. Der Verteiler der Information war u.a.: Krenz, Jarowinsky, Bellmann, Gysi, Mittig, Leiter<br />
der HA XX, Leiter der BV Leipzig, HA XX/4. Die Information trägt den Aufdruck: „Streng geheim! Um<br />
Rückgabe wird gebeten!“. Als Vorlage diente das nicht weitergeleitete Exemplar 11 (BStU ZAIG 3660, 1-8).<br />
Information über ein sogenanntes Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig am 14. März 1988 mit<br />
anschließender Personenbewegung im Stadtzentrum von Leipzig 170<br />
Am 14. März 1988, 17.00 Uhr (Zeitraum der Leipziger Frühjahrsmesse) fand in der Nikolaikirche Leipzig<br />
ein traditionelles Friedensgebet statt. Unter den insgesamt ca. 800 Teilnehmern befanden sich kirchliche<br />
Amtsträger des Territoriums, Führungskräfte <strong>und</strong> Mitglieder kirchlicher Basisgruppen sowie<br />
Übersiedlungsersuchende. (Dem MfS war entsprechend vorliegenden internen Hinweisen bekannt, daß<br />
diese Veranstaltung von hinlänglich bekannten Kräften zu provokatorisch-demonstrativen Handlungen<br />
168 Ursprünglich: „Hilf Du uns, die wir bleiben wollen.“<br />
169 Im Vorfeld des Messemontags wurden eine Vielzahl Ausreisewilliger (zumindest) kurzzeitig inhaftiert <strong>und</strong> vom<br />
MfS „belehrt“, an keiner Demonstration teilzunehmen.<br />
170 Am 15.03.1988 (8.45 Uhr) bat Mielke den Leiter der BV Leipzig darum, daß H. Schumann (1. Sekretär der SED-<br />
BL) E. Honecker informiert (so Notiz Hummitzsch in: BStU Leipzig AB 3845). Die SED-Information konnten<br />
die Herausgeber in den untersuchten Akten nicht finden. Die Einschätzung der BV Leipzig der Staatssicherheit<br />
ist abgedruckt in: Besier/Wolf, 555-561, dort 556f. H. Reitmann (RdB) informierte das StfK per Telefon über die<br />
Vorgänge (Aktenvermerk Heinrich - BArch O-4 973).<br />
105
mißbraucht werden soll171 .) Den Gebetsteil der Veranstaltung, der von Mitgliedern der neu formierten<br />
Regionalgruppe Leipzig des Arbeitskreises „Solidarische Kirche“ gestaltet wurde, enthielt - ausgehend<br />
von einem biblischen Gleichnis - aktuelle Bezüge zur „Ausreiseproblematik“.<br />
Der hinlänglich bekannte Pfarrer Wonneberger/Leipzig, dessen Ausführungen mit Applaus aufgenommen<br />
wurden, hob u.a. hervor, er sehe die Gründe, die DDR zu verlassen u.a. darin, daß „eine eigene Meinung<br />
in diesem Land nicht gefragt“ sei; die Menschen hier hätten das „Gefühl der Entmündigung <strong>und</strong> der<br />
Vorenthaltung von Informationen“. Er - Wonneberger - konstatierte „Einschränkungen der persönlichen<br />
Bewegungsfreiheit <strong>und</strong> Bevorm<strong>und</strong>ung durch die Behörden“. Die Menschen in der DDR hätten das<br />
„Gefühl mangelnder Freiheit“ <strong>und</strong> würden mit der Tatsache konfrontiert, daß „Hoffnung auf<br />
Veränderungen nicht besteht“. Wege der Veränderung der Situation sehe er im offenen Dialog über die<br />
entstandenen Probleme <strong>und</strong> in der Einbeziehung aller Bürger in deren Lösung. Wonneberger erhob in<br />
diesem Zusammenhang u.a. die Forderung nach Gleichberechtigung <strong>und</strong> Toleranz sowie nach mehr<br />
Rechtssicherheit in Form von Gesetzen <strong>und</strong> Durchführungsbestimmungen, die unter Einhaltung<br />
internationaler Konventionen zu erarbeiten seien. Die von mehreren Personen vorgetragenen Fürbitten<br />
enthielten u.a. folgende beachtenswerte Aussagen: Hoffnung auf Veränderungen der gegenwärtigen<br />
Situation; Ungewißheit über die Entwicklung der Lage; Betroffenheit über Festnahmen <strong>und</strong> st<strong>und</strong>enlange<br />
Verhöre; Dank für die Freilassung von Inhaftierten172 ; Zuversicht hinsichtlich des Willens der<br />
Verantwortlichen zur Korrektur von Verhaftungen; Gemeinsamkeit mit dem Ziel, „damit die Freiheit<br />
größer werde als die Sicherheit“, Hoffnung, „daß Sicherheit wachse gegenüber Gewalt <strong>und</strong> Provokation“;<br />
Zuversicht, „daß Gott die Übersiedlungsersuchenden im Blick behalte“.<br />
In die Gestaltung der Fürbitten waren Oberkirchenrat Auerbach/Landeskirchenamt der Ev.-Luth.<br />
Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> Pfarrer Wugk/Stellvertreter des Superintendenten, einbezogen. Im Verlauf des<br />
Friedensgebetes führte der Pfarrer der Nikolaikirche, Führer, aus, die Kirche könne nur das verantworten,<br />
was unter ihrem Dach geschehe. Bezugnehmend auf die gegenwärtig stattfindende Leipziger<br />
Frühjahrsmesse betonte er, Aktionen in der Öffentlichkeit würden gegenwärtig unweigerlich zur<br />
Konfrontation mit der Polizei führen.<br />
Oberkirchenrat Auerbach empfahl den Anwesenden im Anschluß daran, einen „Mittelweg zwischen<br />
Aggression <strong>und</strong> Resignation zur Lösung der aktuellen Probleme“ zu beschreiten <strong>und</strong> formulierte: „Ich<br />
bitte Sie, besonnen zu sein <strong>und</strong> Geduld zu haben, sich untereinander anzufassen <strong>und</strong> einen gemeinsamen<br />
Weg zu gehen.“ Wie weiter festgestellt wurde, waren zum Zeitpunkt der Veranstaltung in der<br />
Nikolaikirche ca. 400 Exemplare eines im Durchschlagverfahren vervielfältigten 3seitigen Pamphlets<br />
ausgelegt worden, dessen Inhalt als „Orientierungshilfe“ für Übersiedlungsersuchende zum Verfassen von<br />
Eingaben an den Rechtsausschuß der Volkskammer dienen soll. U.a. werden darin angebliche<br />
Verletzungen der Menschenrechte in der DDR postuliert <strong>und</strong> davon ausgehend massive Forderungen zur<br />
Änderung von Rechtsvorschriften in der DDR im Zusammenhang mit der Ausreiseproblematik erhoben.<br />
Am Ende der Veranstaltung wurden nur noch wenige Exemplare festgestellt. Es ist davon auszugehen,<br />
daß dieses Pamphlet in erheblicher Stückzahl zur Verbreitung gelangte. (1 Exemplar wird als Anlage<br />
beigefügt.)<br />
Nach Abschluß der Veranstaltung - ca. 18.10.Uhr - versammelten sich ca. 100 bis 120 Personen vor der<br />
Nikolaikirche. Von dort aus begaben sie sich ohne Mitführung von Transparenten, Gegenständen oder<br />
Symbolen in Richtung Thomaskirche, wo sie sich auf dem Vorplatz der Kirche an den Händen faßten <strong>und</strong><br />
einen Kreis bildeten. Anschließend ging diese Gruppierung, aufgelöst in kleineren Gruppen, zur<br />
Nikolaikirche zurück, wobei auf dem Markt nochmals kurzzeitig eine Kreisbildung erfolgte 173.<br />
Die Personenansammlung löste sich gegen 19.00 Uhr ohne Vorkommnisse auf. Anwesend gewesene<br />
171 Das MfS wußte seit mindestens 3 Wochen zuvor, daß dieser Schweigemarsch geplant war. Unter dem 22.02.1988<br />
steht im Arbeitsbuch eines Mitarbeiters der KD des MfS: „IM teilt mit, daß Messemontag Schweigemarsch“<br />
(BStU Leipzig AB 780).<br />
172 Am 10.03. durften F.W. Sonntag <strong>und</strong> M. Kunze die Stasi-Untersuchungshaft verlassen.<br />
173 Am 16.03.1988 fragte der Stellvertretende Stasi-Minister R. Mittig beim Leiter der BV Leipzig unter Verweis auf<br />
die „Westpresse“ an, ob Lieder gesungen wurden (BStU Leipzig AB 3845).<br />
106
Sicherheitskräfte sowie gesellschaftliche Kräfte174 kamen nicht zum Einsatz 175.<br />
Internen Feststellungen zufolge setzten sich die Teilnehmer der Personenansammlung zum überwiegenden<br />
Teil aus Übersiedlungsersuchenden sowie weiteren politisch negativen Personen zusammen. Intern<br />
bekanntgewordenen Äußerungen dieses Personenkreises zufolge soll eine ähnliche Aktion, von der man<br />
sich mehr Öffentlichkeitswirksamkeit verspricht, am Montag, dem 21. März 1988 in Leipzig wiederholt<br />
werden.<br />
Westliche Korrespondenten verfolgten das Geschehen vor, während <strong>und</strong> nach dem sogenannten<br />
Friedensgebet. Erkannt wurden Korrespondenten von „ARD“, „ORF/FS“, der „Westfälischen R<strong>und</strong>schau“<br />
<strong>und</strong> des „Spiegel“. Bereits vor Veranstaltungsbeginn war ein Kamerateam des „ZDF“ am Nikolaikirchhof<br />
postiert. Die Korrespondenten begleiteten z.T. die vorgenannte Personenbewegung in der Innenstadt.<br />
Durch das MfS wurden entsprechende Maßnahmen zur vorbeugenden Verhinderung weiterer<br />
öffentlichkeitswirksamer provokatorisch-demonstrativer Aktivitäten Übersiedlungsersuchender<br />
eingeleitet.<br />
Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres führte am 15. März 1988 in<br />
Auswertung der Vorkommnisse ein Gespräch mit dem Präsidenten des Landeskirchenamtes Dresden,<br />
Domsch, <strong>und</strong> mit Superintendenten Magirius/Leipzig, in dem die provokativen Aussagen gegen die<br />
Politik von Partei <strong>und</strong> Regierung während des sogenannten Friedensgebetes, die Verteilung von<br />
Pamphleten (siehe Anlage) sowie die Sammlung von Personen vor der Kirche zum Zwecke<br />
provokatorisch-demonstrativer Handlungen zurückgewiesen wurden.<br />
Beiden kirchlichen Amtsträgern gegenüber wurde unmißverständlich die staatliche Erwartungshaltung<br />
zum Ausdruck gebracht, künftig derartige feindlich-negative Aktivitäten zu unterbinden <strong>und</strong> erklärt, daß<br />
bei Nichteinhaltung der staatlichen Auflagen keine Gesprächsbereitschaft zur weiteren Vorbereitung des<br />
im Jahre 1989 geplanten Kirchentages in Leipzig erwartet werden kann.<br />
Nachdem seitens der kirchlichen Amtsträger anfänglich versucht wurde, die Geschehnisse während <strong>und</strong><br />
nach dem sogen. Friedensgebet am 14. März 1988 zu bagatellisieren <strong>und</strong> in der Öffentlichkeit gestellte<br />
Forderungen von Übersiedlungsersuchenden zu rechtfertigen - was zurückgewiesen wurde -, sicherten sie<br />
entsprechend der staatlichen Erwartungshaltung ihre Einflußnahme - auch bezogen auf die für den 21.<br />
März 1988 vorgesehene kirchliche Veranstaltung in Leipzig - zu.<br />
Anlage zur Information Nr.143/88<br />
Volkskammer der DDR<br />
- Rechtsausschuß -<br />
Marx-Engels-Platz<br />
Berlin<br />
1020 Leipzig, im März 1988<br />
Aufgr<strong>und</strong> meiner Erfahrungen als Ausreiseantragsteller wie auch der derzeit entstandenen Turbulenzen<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche sehe ich mich veranlaßt, als Christ <strong>und</strong> Staatsbürger zu folgenden Problemen<br />
Stellung zu nehmen. [/] Im Gegensatz zu offiziellen Erklärungen von Repräsentanten der DDR-Regierung,<br />
wonach die Menschenrechte in ihrer Gesamtheit von zivilen, politischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Rechten<br />
in der DDR ihre Verwirklichung finden, komme ich zu dem Ergebnis, daß sowohl völkerrechtlich<br />
verbriefte Menschenrechte als auch innerstaatliches Recht verletzt werden. Im besonderen meine in die<br />
174 s. Anhang S. 359<br />
175 „Aufgr<strong>und</strong> der operativen Erkenntnisse, daß damit eine öffentlichkeitswirksame Provokation der<br />
Sicherheitsorgane geplant war <strong>und</strong> ein Eingreifen von den bereits in den Handlungsräumen anwesenden BRD-<br />
Fernsehteams für Hetzsendungen am gleichen Tag in westlichen Medien genutzt werden sollte, wurde das<br />
erforderliche taktische Verhalten festgelegt <strong>und</strong> eine 'medienwirksame Dokumentation' vermieden.“<br />
(Lageeinschätzung der Leitung der BV des MfS vom Juni 1988, in: Besier/Wolf 555-561, dort 557) Der Einsatz<br />
der Sicherheitskräfte wurde durch Eppisch, Schmidt <strong>und</strong> durch den Leiter der KD Leipzig-Stadt geführt. Beteiligt<br />
waren auch zentrale Einsatzkräfte des MfS (BStU Leipzig AB 1161, 13). Mielke teilte am 15.03., 7.15 Uhr, per<br />
Telefon mit (Aufzeichnung von Hummitzsch), daß die „Entscheidung, nicht einzugreifen, völlig richtig“ war<br />
(BStU Leipzig AB 3845).<br />
107
von den staatlichen Organen angewandte Rechtspraxis hinsichtlich des Genehmigungsverfahrens<br />
„Wohnsitzwechsel“, sowie die Strafgesetze der DDR.<br />
1. Obwohl die Verfassung der DDR (Art. 19/4) eindeutig festlegt, daß die Bedingungen für den Erwerb<br />
<strong>und</strong> den Verlust der Staatsbürgerschaft der DDR durch Gesetze bestimmt werden, begründen die<br />
staatlichen Organe für Innere Angelegenheiten ihre Bearbeitungsweise von Anträgen auf Zustimmung<br />
zum Wohnsitzwechsel entweder gar nicht oder mit nicht öffentlichem innerstaatlichem Recht<br />
(Dienststellenrecht, Sondergenehmigungen, Sondergesetze). Dies geschieht unter Mißachtung der<br />
allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 13/2, 15/2), der Internationalen Konvention über<br />
zivile <strong>und</strong> politische Rechte (Art. 2, 5, 12, 16, 18 <strong>und</strong> 26), der Schlußakte von Helsinki <strong>und</strong> dem<br />
abschließenden Dokument des Madrider KSZE-Folgetreffens sowie der Verfassung der DDR (Art. 4,<br />
8/1, 19, 20/1 <strong>und</strong> 89/3). [/] Mit dieser Praxis verweisen die staatlichen Organe die gesetzlich<br />
berechtigten Antragsteller in einen gesetzlosen Raum <strong>und</strong> entziehen ihnen damit die legitime<br />
Rechtsfähigkeit wie auch den garantierten Rechtsschutz (Art. 19/1). Die staatlichen Organe erklären<br />
sich in diesen Angelegenheiten für allein zuständig <strong>und</strong> verweigern jedem Antragsteller das<br />
Mitspracherecht. Die Entscheidung in Staatsbürgerschaftsangelegenheiten wird zu einer allein<br />
staatsrechtlichen Angelegenheit erklärt, d.h., ich als Staatsbürger der DDR muß mich als Eigentum des<br />
Staates verstehen. Die Praxis des Eingaberechts wird damit für mich als Rechtsmittel gegenstandslos.<br />
Vielfältige Diskriminierungen <strong>und</strong> Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Antragstellern sind die<br />
Folge:<br />
- Antragsteller müssen in der Regel jahrelang auf die Entscheidung der staatlichen Organe warten,<br />
ohne jemals konkrete Anhaltspunkte über den Stand der Bearbeitung ihres Anliegens zu erfahren.<br />
- Objektive Kriterien für die Entscheidungsfindung werden ihnen nicht mitgeteilt, auch das erfolgt<br />
ohne Benennung gesetzlicher Gr<strong>und</strong>lagen.<br />
- Die Freizügigkeit innerhalb der DDR wird eingeschränkt 176 ; Reiseverbote ins Ausland werden<br />
ausgesprochen bzw. willkürlich gehandhabt.<br />
- Die wachsende Ausweglosigkeit, in die Antragsteller mit zunehmender Wartezeit gedrängt werden,<br />
macht die meisten psychisch <strong>und</strong> physisch krank, provoziert Kurzschlußhandlungen <strong>und</strong> führt zu<br />
Rechtsverletzungen.<br />
- Gesellschaftliche Ausgrenzung <strong>und</strong> Isolation (z.B. Berufliche Benachteiligung bis hin zu<br />
Berufsverbot, Einschränkungen sozialer Leistungen, Nichtgewährung von Bildungsmöglichkeiten)<br />
verschärfen die Situation.<br />
2. Kein Bürger hat den gesetzlichen Anspruch zur freien Aus- <strong>und</strong> Einreise. Trotz der Erweiterung von<br />
Reisemöglichkeiten ist die Genehmigungspraxis weiterhin durch Privilegien, Treuebekenntnisse <strong>und</strong><br />
Verwandtschaftsnachweis gekennzeichnet. Abgelehnte Reiseanträge werden nicht begründet, auch gibt<br />
es keine gesetzlichen Festlegungen, die eine unabhängige Prüfung der Entscheidung der staatlichen<br />
Organe ermöglicht.<br />
3. Aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassene Staatsbürger, die jetzt in der BRD bzw. West-Berlin<br />
leben, dürfen in der Regel nicht mehr in die DDR einreisen. Obwohl diese Praxis eindeutig im<br />
Widerspruch zu den Menschenrechtserklärungen <strong>und</strong> den KSZE-Dokumenten von Helsinki <strong>und</strong><br />
Madrid steht, hebt die DDR-Regierung ihre ungerechtfertigten Einreiseverbote nicht auf. Diese Praxis<br />
steht den Zusicherungen des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Herrn Erich Honecker, im September<br />
1987, während seines Staatsbesuches in der BRD entgegen.<br />
4. Folgende Strafgesetze der DDR § 99, 100, 106, 107, 214, 217, 218, 219 <strong>und</strong> 220 können so interpretiert<br />
werden, daß die Inanspruchnahme ziviler <strong>und</strong> politischer Rechte weitgehend eingeschränkt wird.<br />
Deshalb ist es an der Zeit, die Legitimität dieser Strafgesetze unter dem Aspekt der in der DDR<br />
176 So erteilte die Abteilung Inneres bei den kommunalen Räten willkürlich sogenannte „Berlin-Verbote“.<br />
Vermutlich um das Aufsuchen der Ständigen Vertretung der B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> von Veranstaltungen in Berlin<br />
zu erschweren. Als Reaktion auf die Mahnwachen <strong>und</strong> Fürbittgebete im Januar/Februar 1988 wurden auch<br />
Auflagen erteilt, Kirchen nicht zu betreten. Massive Behinderungen geschahen z. B. am 06.03.1988 vor der<br />
Berliner Sophienkirche, in der sich Ausreiseantragsteller anläßlich eines Gottesdienstes treffen wollten. In den<br />
Frühjahrssynoden in Schwerin <strong>und</strong> Wittenberg wurde diese Praxis kritisiert.<br />
108
garantierten Verwirklichung aller Menschenrechte zu hinterfragen.<br />
Der Unterzeichner dieses Schreibens ist der Auffassung, daß die Menschenrechte, wie sie in der UNO-<br />
Menschenrechtserklärung vom 10.12.87 177 proklamiert wurden, zu den Gr<strong>und</strong>rechten <strong>und</strong><br />
Gr<strong>und</strong>freiheiten jedes Staatsbürgers zählen <strong>und</strong> für die Legitimität jeder Staatsordnung - einschließlich<br />
ihrer Gesetzgebung - unerläßlich sind. Die Anerkennung <strong>und</strong> Wahrung aller Menschenrechte ist die<br />
Voraussetzung für den Schutz menschlicher Würde <strong>und</strong> Freiheit des Einzelnen wie auch für das<br />
friedliche Zusammenleben der Völker.<br />
Ich appelliere daher an alle, die in diesem Land gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Verantwortung tragen,<br />
folgende Vorschläge anzuerkennen <strong>und</strong> zu unterstützen:<br />
- Enttabuisierung der Ausreiseproblematik z.B. durch öffentliche Diskussion, um ihre Ursachen zu<br />
analysieren <strong>und</strong> abzubauen.<br />
- Präzisierung des Staatsbürgerschaftsgesetzes der DDR dahingehend, daß für Anträge auf<br />
Wohnsitzwechsel neue gesetzliche Regelungen geschaffen werden, mit folgendem Inhalt:<br />
1. Benennung der tatsächlich Entscheidung treffenden zuständigen Organe (Verantwortlichkeit <strong>und</strong><br />
Instanzenweg)<br />
2. Bearbeitungsfristen<br />
3. Einspruchsmöglichkeiten <strong>und</strong> Beschwerdeweg, Revision<br />
4. Genaue Kriterien, wann die Ausreise in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht zu versagen<br />
ist, z.B. für<br />
− Antragsteller mit Schulden<br />
− Antragsteller, gegen die ein Strafverfahren läuft<br />
− Antragsteller, die Geheimnisträger sind (die aus dem Geheimhaltungsgrad abgeleiteten Sperrfristen<br />
sind festzuschreiben)<br />
− Einführung einer gesetzlichen Fristenregelung, die das Entlassungsverfahren aus der<br />
Staatsbürgerschaft der DDR für alle Antragsteller gleichberechtigt regelt.<br />
− Die Gewährung gegenseitiger Kontakt- <strong>und</strong> Besuchsmöglichkeiten von <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Verwandten.<br />
− Erarbeitung gesetzlicher Regelungen für alle DDR-Bürger unabhängig vom Alter, beruflicher<br />
Stellung, familiären Verhältnissen, einschließlich ihrer politischen <strong>und</strong> religiösen Überzeugung,<br />
sowie ihres gesellschaftlichen Engagements, Reiseverbote müssen rechtskräftig begründet werden<br />
<strong>und</strong> einklagbar sein.<br />
− Die juristische Gleichrangigkeit, damit der Staatsbürger seinen Anspruch auf alle Rechte gegenüber<br />
staatlichen Organen durchsetzen kann. Das schließt einen für den Staatsbürger überschaubaren<br />
Mechanismus zur Entscheidung bei Rechtsstreitigkeiten mit staatlichen Organen ein. Deshalb halte<br />
ich die Einführung unabhängiger Verwaltungsgerichte für dringend erforderlich.<br />
− Die Verwirklichung der Menschenrechte kann nicht nur Angelegenheit des Staates sein. Meines<br />
Erachtens gehören dazu die gleichberechtigte Mitwirkung aller Staatsbürger, das ungeschminkte<br />
Aufzeigen vorhandener Defizite, der offene Dialog mit Andersdenkenden <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />
Freiraum für die uneingeschränkte Arbeit unabhängiger Friedens- <strong>und</strong> Menschenrechtsgruppen.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichem Gruß<br />
43 Ereignisbericht<br />
Bericht über die Demonstration am 14.03.1988, welchen M. Arnold für die Samisdat-Zeitschrift „Umweltblätter“<br />
(Berlin) verfaßte. Der Artikel erschien jedoch nicht in den „Umweltblättern“ (beim Autor).<br />
Demonstration in der Messe-Metropole der DDR<br />
Nach Abschluß des Friedensgebetes in der Nikolaikirche am Montag, 14.3.1988, an dem sich ca. 900<br />
Leipziger beteiligten, versammelte sich ein Großteil der Teilnehmer auf dem Kirchhof <strong>und</strong> füllte ihn<br />
nahezu aus. Nach zwanzigminütigem Beieinanderstehen <strong>und</strong> unter fortlaufenden Diskussionen zu immer<br />
177 Gemeint vermutlich: 10.12.1948.<br />
109
noch ungeklärten Fragen, die durch das Friedensgebet zwar angesprochen wurden, doch sicher noch nicht<br />
für den Großteil verständlich genug abgeklärt wurden, begann sich eine Gruppe der Teilnehmer in<br />
Richtung Stadtzentrum in Bewegung zu setzen. Immer mehr, der auf dem Kirchhof Versammelten,<br />
schlossen sich dem Zug an, so daß ca. 400 Friedensgebetsteilnehmer begannen, in Richtung Thomas-<br />
Kirche zu laufen. Der so spontan gebildete Umzug führte vorbei an einem Spalier von zivilen<br />
Sicherheitsbeamten, Schaulustigen, Interessierten <strong>und</strong> Besuchern der Frühjahrsmesse. Eine eindrucksvolle<br />
Demonstration als Ausdruck des Protestes gegen die Inhaftierung zweier Leipziger, Karin Moran <strong>und</strong><br />
Hans-Joachim Pfeifer, aus Protest gegenüber dem „Schaufensterfrieden“ in Leipzig anläßlich der<br />
Frühjahrsmesse <strong>und</strong> um in der Öffentlichkeit auf die Ausreiseproblematik aufmerksam zu machen. Eine<br />
gewisse Ratlosigkeit von seiten der Staatssicherheit, wie man diesen Marsch zum Anhalten <strong>und</strong> Auflösen<br />
bringen könne, ohne Aufsehen <strong>und</strong> etwaigen Argwohn unter den Messebesuchern zu erregen, war nicht zu<br />
übersehen. An der Thomas-Kirche angelangt, bildeten die Demonstranten einen Kreis. Dabei wurde<br />
versucht, eine Gruppe Sicherheitsbeamter in das Kreisinnere einzuschließen. Diese ergriffen sofort die<br />
Flucht, in der weisen Ahnung, dann dem offenen Spott preisgegeben zu sein. Auch bei dem Versuch, jene<br />
Beamten in die Gemeinschaft einzubeziehen, flohen diese vor entgegengestreckten Händen. Nachdem der<br />
Kreis geschlossen wurde, in Form einer Kette, begannen die Teilnehmer des Friedensgebetes den Vers zu<br />
singen „Hewenu Schalom elächem“ (Wir bringen euch Frieden). Die Gruppe lief dann zurück zum<br />
Leipziger Markt unter fortlaufendem Gesang, bildete auch dort einen Hand-zu-Hand-Ring <strong>und</strong> lief weiter<br />
in einer Kette zurück zur Nikolai-Kirche. Auf diesem Weg, vom Markt zur Nikolai-Kirche, forderte<br />
erstmalig ein Polizei-Streifenwagen die Demonstranten auf, den Marsch aufzulösen. Ungeachtet dessen<br />
lief die Gruppe singender Demonstranten zurück zum Nikolai-Kirchhof <strong>und</strong> lösten sich erst dort nach<br />
einigen Minuten auf.<br />
Ohne einen direkten Aufruf, einfach aus einer inneren Übereinstimmung heraus gelang es seit langem, in<br />
Leipzig auch außerhalb der Kirche Gemeinschaft zu bilden <strong>und</strong> in Form des Marsches Protest zu<br />
bek<strong>und</strong>en. Am Marsch waren nicht allein Ausreisewillige beteiligt, sondern auch Vertreter der<br />
Basisgruppe Initiativgruppe Leben <strong>und</strong> weitere Menschen, die sich für die Durchsetzung der<br />
Menschenrechte in der DDR einsetzen. Eine erstes gutes Zeichen dafür, daß das Recht auf freie Wahl des<br />
Wohnsitzes nicht allein ein Problem <strong>und</strong> Aufgabe der jeweiligen Antragsteller ist, sondern, daß sich<br />
gerade auch Menschen mit den Ausreisewilligen solidarisieren, die nicht das Land verlassen wollen, wohl<br />
aber das Menschenrecht anerkennen <strong>und</strong> endlich gemeinsam mit den betreffenden Antragstellern aktiv<br />
dafür eintreten. Ein gutes Zeichen auch dafür, daß nicht mehr geduldet wird, daß Menschen, die den Sinn<br />
ihres Lebens in einem anderen Land finden wollen, nicht länger Ausgestoßene unseres Landes sein<br />
dürfen. Letztlich muß noch hervorgehoben werden, daß es dieses Mal zu keinen Ausschreitungen von<br />
seiten der Polizei als auch von den Demonstranten gekommen ist, so daß dieser Umzug einen guten<br />
Abschluß des Friedensgebets bildete. Dieses primitive Recht, solch einen friedlichen Umzug zu gestalten,<br />
daß an jenem Montag widerrechtlich zu den DDR-Gesetzen einfach in Anspruch genommen worden ist,<br />
muß Inhalt unserer weiteren Arbeit bleiben.<br />
Initiativgruppe Leben (IGL/Leipzig)<br />
44 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Referat Kirchenfragen, vom 15.03.1988 [in der Vorlage fälschlich<br />
14.03.1988] über ein Gespräch zwischen Reitmann, Dr. Domsch <strong>und</strong> Sup. Magirius, in dem es vor allem um<br />
die Demonstration nach dem Friedensgebet am 14.03.1988 ging. Zwei maschinengeschriebene Seiten mit<br />
Unterschrift Reitmanns (StAL BT/RdB 21130).<br />
Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres, Genosse Dr. Reitmann,<br />
führte am 14.3.1988 178 ein Gespräch mit dem Präsidenten des Ev.-Luth. Landeskirchenamtes Sachsens<br />
178 Wenn das Gespräch am 14.03. stattgef<strong>und</strong>en hat, dann nach 18.30 Uhr. Vermutlich fanden das Gespräch <strong>und</strong> die<br />
Abfassung des Berichts am 15.03. statt. Das MfS legte den Gesprächstermin zumindest auf den 15.03. (s. Seite<br />
107) <strong>und</strong> Heinrich (StfK) vermerkte, daß „heute, 15.03.1988, ein weiteres Gespräch mit Präsident Domsch“<br />
110
Dr. Domsch <strong>und</strong> dem Superintendenten Magirius. [/] Zielstellung des Gesprächs war es, den kirchlichen<br />
Amtsträgern das außerordentliche Befremden der Staatsorgane über das Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche am 14.3.1988 zum Ausdruck zu bringen, welches Ausgangspunkt einer „schwerwiegenden<br />
Provokation gegen gesellschaftliche Ordnung“ gebildet hat (ca. 300 Teilnehmer am Gottesdienst führten<br />
einen Marsch von der Nikolaikirche durch die Innenstadt zur Thomaskirche durch 179).<br />
Genosse Dr. Reitmann enthüllte in seinen Ausführungen den gesamten Hintergr<strong>und</strong> der gegenwärtigen<br />
Pläne <strong>und</strong> Absichten konfrontativer Kräfte, die in der Nikolaikirche Platz <strong>und</strong> Gelegenheit bekommen<br />
haben, ihre Positionen zu artikulieren. Darin sehe er ein Nichteinhalten des Versprechens, das Präsident<br />
Dr. Domsch ihm noch vor wenigen Tagen gegeben habe, einzuwirken, daß es zu keinen provokativen<br />
Handlungen im Zusammenhang mit kirchlichen Veranstaltungen kommt. [/] In seiner Entgegnung gab<br />
Domsch hierzu an, daß bei dem Friedensgebet OKR Auerbach anwesend war <strong>und</strong> versucht habe<br />
einzuwirken. „Wenn Leute von einer Kirche zur anderen gehen, kann man doch nichts machen. Es waren<br />
doch keine Kerzen <strong>und</strong> Symbole dabei. Es kann niemandem verboten werden, einen Gottesdienst<br />
aufzusuchen. Gottesdienst ist nicht illegal“. [/] Superintendent Magirius ergänzte hierzu, daß von den<br />
tausend Gottesdienstteilnehmern der größte Teil nach Abschluß weggegangen ist <strong>und</strong> dies doch eine Folge<br />
ihrer Bemühungen sei.<br />
Im weiteren Verlauf des Gesprächs gelang es, diese abschwächenden <strong>und</strong> auch abschweifenden<br />
Standpunkte, die besonders Domsch immer wieder zu artikulieren versuchte, eindeutig zurückzuweisen<br />
<strong>und</strong> ihren nicht das Problem benennenden Inhalt zu widerlegen. [/] So erhielt Domsch Einsicht in ein<br />
während des Gottesdienstes ausgelegtes Material 180 , von dessen hetzerischem Inhalt <strong>und</strong> die [sic!] Form<br />
des Auslegens sich Domsch distanzierte; Superintendent Magirius, der zum Gottesdienst anwesend war,<br />
habe es nicht bemerkt. [/] Zunehmend deutlicher war festzustellen, daß Präsident Domsch keine<br />
Argumente mehr gegenüber den Positionen des Stell. d. Vors. anbringen konnte. [/] „Es sind uns Leute<br />
zugelaufen, was sollen wir nur machen!“<br />
Domsch akzeptierte, daß ein Auftreten von OKR Auerbach theologisch gemeint, gute Absicht verfolgen<br />
wollte, aber nicht ausreichend artikuliert war <strong>und</strong> die Schlußfolgerung beinhalten müsse, so zu reden, daß<br />
es nicht mehrdeutig aufgefaßt werden kann. [/] Superintendent Magirius, der im Verlauf des Gesprächs<br />
mehrmals den Ausführungen von Gen. Dr. Reitmann zustimmte, brachte zum Ausdruck, daß unter dem<br />
Schutz der Gebete eine Formation vor sich gegangen ist, zu welcher man ein deutliches Wort sagen<br />
müsse. Er schloß sich, wie auch Domsch der Feststellung des Genossen Dr. Reitmann an, daß es höchste<br />
Zeit ist, die Kirche zu verteidigen, Anfängen zu wehren.<br />
1. Es kann eingeschätzt werden, daß dieses Gespräch sehr deutlich <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich die staatliche<br />
Position zu den gegenwärtigen Ereignissen zum Ausdruck brachte, denen keine Argumente von seiten<br />
des Präsidenten entgegengebracht werden konnten.<br />
2. Es wurde verstanden, daß unter den gegenwärtigen Umständen bei einer unentschlossenen Haltung der<br />
verantwortlichen kirchlichen Kräfte gegenüber konfrontativen Plänen <strong>und</strong> Absichten unter Ausnutzung<br />
von Kirche <strong>und</strong> Religion keine Verhandlungen zum beabsichtigten Kirchentag 181 in Leipzig mit den<br />
Staatsorganen geführt werden.<br />
3. Es wurde erreicht, die Erkenntnis zu setzen, daß ein Lösungsweg nur darin bestehen kann, die volle<br />
Verantwortung für Inhalt <strong>und</strong> Form kirchlicher Veranstaltungen zu tragen <strong>und</strong> dazu die Notwendigkeit<br />
besteht, kirchliche Kräfte zu disziplinieren <strong>und</strong> sich verbal deutlicher von Ersuchstellern abzugrenzen.<br />
4. Kulminationspunkt <strong>und</strong> Wertmaßstab für Positionierung der kirchlichen Kräfte wird das am Montag,<br />
dem 21.3.1988, stattfindende Friedensgebet in der Nikolaikirche sein.<br />
45 Stasi-Information<br />
Bericht des MfS über das Friedensgebet am 21.03.1988 <strong>und</strong> die Sicherheitsmaßnahmen der Leipziger<br />
geführt würde (BArch O-4 973).<br />
179 Das MfS 'zählte' „ca. 100 bis 120 Personen“ (Dok. 42).<br />
180 s. Dok. 42<br />
181 s. Anhang S. 362 ff.<br />
111
Sicherheitsbehörden. Der Bericht wurde von Berliner Mitarbeiter des MfS am 21.03.1988 verfaßt. Vermutlich<br />
entstand der Bericht im Zusammenhang mit einer Kontrolle der Leipziger Sicherheitsorgane 182 . Die<br />
Information wurde Ende 1989 durch das MfS „vorvernichtet“ <strong>und</strong> durch Mitarbeiter des BStU rekonstruiert<br />
(BStU HA XX/4 1608).<br />
1. Gegen 16.45 Uhr wurde die Kirche erreicht. Sie war am Eingang zur Jugendkapelle (Nikolaistraße)<br />
geöffnet. Ein Plakat an einem Bauzaun forderte zum Betreten auf: „St. Nikolai offen für alle“. Vor dem<br />
Eingang waren ca. 50 bis 60 Personen versammelt, die einzeln oder in Gruppen standen. Am<br />
Kirchturm werden gegenwärtig Bauarbeiten durchgeführt. Der Turm ist eingerüstet, es standen zwei<br />
Traktoren <strong>und</strong> 3 Anhänger vor der Kirche. Ein Bauzaun trennte die Zone der Baumaßnahmen ab. In<br />
unmittelbarer Nähe der Kirche (Schumachergasse/Ecke Nikolaistraße) war ein VW-Kleinbus einer<br />
Autovermietung abgestellt. Er hatte das amtliche BRD-Kennzeichen [/] SHG - CT 292. [/]<br />
Sicherungsmaßnahmen waren nicht erkennbar. VP war nicht aufgezogen bzw. eingesetzt.<br />
2. Gegen 16.55 Uhr wurde die Kirche betreten. Es waren schon ca. 500 Personen anwesend. Bis 17.07<br />
Uhr, dem verspäteten Beginn der Veranstaltung, kamen noch ca. 300 Personen hinzu. Die Sitzbänke im<br />
„Parkett“ waren fast sämtlich belegt, einige Gäste nahmen deshalb im „Rang“ Platz. [/] Die<br />
Anwesenden waren Personen beiderlei Geschlechts im Alter von überwiegend 20 bis 35 Jahren. Es<br />
waren auch einige Kinder <strong>und</strong> ältere Bürger (bis ca. 60 Jahre) anwesend. Dem Anschein nach waren<br />
auch ganze Familien gekommen. Mehrere Personen begrüßten sich mit Handschlag, kannten andere<br />
schon länger. Vereinzelt waren auch Bürger dabei, die allein kamen, keine Kontakte zu anderen<br />
aufnahmen. Einige kamen direkt von der Arbeit. [/] Von den Anwesenden waren 60% männliche<br />
Personen, 35 % weibliche Personen, der Rest Kinder.<br />
3. Plakate <strong>und</strong> Transparente waren nicht angebracht. Lediglich die ständig angebrachte Sichtwerbung <strong>und</strong><br />
Hinweise auf die Bauausführung <strong>und</strong> die Geschichte des Gebäudes sowie öffentliche Kirchenzeitungen<br />
waren ausgestellt. Ein handgefertigtes Plakat „Schwerter zu Pflugscharen“ informierte darüber, daß<br />
jeden Montag 17.00 Uhr das „Friedensgebet“ stattfindet 183 . [/] Ein Plakat informierte darüber, das<br />
jeden Dienstag <strong>und</strong> jeden Donnerstag 17.00 bis 19.00 Uhr Gespräche des Vertrauens stattfinden. [/]<br />
Ein Briefkasten „des Vertrauens“ ermöglicht die schriftliche Hinterlegung von Problemen. Antwort<br />
darauf kann man auf ein selbstgewähltes Kennwort nach 14 Tagen anonym abholen.<br />
3. [sic!] Um 17.07 Uhr wurde das „Friedensgebet“ eröffnet. Dazu wurde von einer Schallplatte ein Lied<br />
des St. Krawczyk abgespielt (Inhalt: Reisewunsch nach Italien, möchte deinen Stiefel küssen, vorerst<br />
aber muß ich noch die Stiefel unserer Mächtigen küssen ...; teilweise unter Verwendung von Melodien<br />
aus „Bandiere rossa“).<br />
4. Dann erfolgte die verbale Eröffnung mit Bekanntgabe des Inhaltes des heutigen Friedensgebetes. Zum<br />
einen die Problematik der Ausreisen, „... die viele der hier Anwesenden sicherlich schon über haben<br />
...“ <strong>und</strong> zum anderen die Problematik des Friedensdienstes. [/] Es wurde ausgeführt, daß die<br />
Veranstaltung von einer „Initiativgruppe Leben“, auch als IGL bezeichnet, durchgeführt wird. Es<br />
wurde auf sogenannte Basisgruppen hingewiesen, die existieren <strong>und</strong> in Verbindung mit dem<br />
Superintendenten Magirius stehen. Über diese Basisgruppen sollen alle Aktivitäten gesteuert werden.<br />
Vertreter dieser Basisgruppen wurden zu einem dem Friedensgebet nachfolgendem Gespräch mit dem<br />
Superintendenten eingeladen. [/] Der Sprecher verwies dann darauf, daß die Demonstration am<br />
vergangenen Montag nicht im Sinne der IGL war. Sie sei lediglich Ausdruck dafür gewesen, daß die<br />
Leute öffentlich für ihr Problem einstehen. Das Ergebnis habe aber mehr Schaden angerichtet. So<br />
konnte am vergangenen Mittwoch eine geplante Veranstaltung in einer anderen Kirche nicht<br />
182 Der stellvertretende Stasi-Minister R. Mittig teilte am 21.03.1988, 8.30 Uhr dem Leiter der BV Leipzig mit, daß<br />
E. Krenz keinen „Skandal“ wünscht <strong>und</strong> empfahl, keine Polizei einzusetzen (BStU Leipzig AB 3845).<br />
Entsprechend sah die Anweisung des Stellv. Leiters der BV Leipzig aus: „Ziel des Einsatzes: nichts anheizen o.<br />
provozieren, Wiederholung Montag verhindern, prov. Aktivitäten unterbinden (nach Möglichkeit ohne Einsatz<br />
VP) [/] - bei Zugang FG keine sichtbare Präsenz VP/MfS - normales Nachmesse-Montag-Stadtbild; dabei<br />
innerkirchliche Sicherungsmaßnahmen beachten [/] - Kräfte in der Tiefe, ansonsten Reserve, nach Möglichkeit<br />
kein Einsatz [...]“ (Beratung beim Oberst Eppisch am 21.03.1988 - BStU Leipzig AB 1161, 19)<br />
183 s. Anm. 50<br />
112
stattfinden. [/] Es wurde mit Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht „Wir brauchen keine Märtyrer,<br />
sondern Mitstreiter für unsere Sache“.<br />
5. Durch eine andere männliche Person, dem Anschein nach einem Kirchenmitarbeiter (Kaplan o.ä.),<br />
wurde dann zu einem Kanon aufgefordert, der gemeinsam gesungen werden sollte (Inhalt: Die Sonne<br />
geht über jedem auf ...). [/] An diesem gemeinsamen Gesang beteiligten sich, eher zurückhaltend, nur<br />
etwa 1/4 bis 1/3 der Anwesenden.<br />
6. Dann nahm ein ca. 30jähriger Mann das Wort zur Problematik der Ausreisenden bzw. Ausreisewilligen.<br />
Insgesamt wurde die Übersiedlung als Ergebnis staatlicher Fehler auf verschiedenen Gebieten<br />
angesehen. Eine Übersiedlung sei aber nach Ansicht der IGL nicht das Ziel ihrer Arbeit, die Menschen<br />
sollten hier für mehr Demokratie <strong>und</strong> Umgestaltung eintreten <strong>und</strong> wirksam werden. Bei Problemen in<br />
Zusammenhang mit Übersiedlungsersuchen sollten sich die Personen an ihre zuständigen (Gemeinde-)<br />
Pfarrer wenden. Des weiteren sollten sie durch eine aktive Mitarbeit in den Kirchengemeinden<br />
bestehende Vorurteile ihnen gegenüber abbauen. Ihrer Situation solle Verständnis gegenüber<br />
eingebracht werden, <strong>und</strong> schließlich sei die freie Wahl des Wohnsitzes legitimes Recht eines jeden<br />
Menschen. [/] Es wurde zum Ausdruck gebracht, daß man die Menschen, die in Opposition zur Staats-<br />
(innen)politik stehen, lieber in den Reihen der hiesigen Mitarbeiter der IGL <strong>und</strong> anderer<br />
Arbeitsgruppen sehen würde, daß man aber zumindest erwartet, daß sie die Zeit bis zur Ausreise aktiv<br />
zum Kampf für die Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR nutzen.<br />
7. Mit einem weiteren Lied des Krawczyk, in dem die Militärpolitik des Sozialismus verunglimpft wurde,<br />
wurde dann zum Thema „Friedensdienst“ übergeleitet. Dazu trat ein junger Mann von ca. 19 Jahren<br />
auf <strong>und</strong> forderte den Staat auf, einen zivilen Ersatzdienst für Wehrunwillige zu schaffen <strong>und</strong> damit dem<br />
Beispiel westlicher Länder zu folgen. Er führte auf, daß in der BRD 20% der Wehrpflichtigen einen<br />
solchen Dienst leisten können. In der Zeit von Abrüstungsvereinbarungen über Reduzierung <strong>und</strong><br />
Abschaffung von Rüstungen sollte auch mehr der Abrüstung des Militärpersonals das Wort geredet<br />
<strong>und</strong> entsprechend gehandelt werden. Dabei würde man auch die „harte Situation im<br />
Ges<strong>und</strong>heitswesen“ bereinigen <strong>und</strong> ausreichend Personal für Alters- <strong>und</strong> Pflegeheime haben. Der<br />
„Militarismus“ in der DDR wurde angeklagt, Kinder <strong>und</strong> Jugendliche würden durch Kindergärten,<br />
Wehrk<strong>und</strong>eunterricht, Schießübungen in der GST usw. einseitig ausgerichtet. Selbst die<br />
Zivilverteidigung wurde in diesen Kreis einbezogen. Diese Maßnahmen <strong>und</strong> „Kriegsübungen“<br />
schafften eine Atmosphäre der Angst <strong>und</strong> des Schreckens. Sie sollten den Menschen den Krieg als<br />
machbar, als möglich darstellen. Der Militärdienst erziehe zwar zu Disziplin, verhindere aber jede<br />
kreative Mitwirkung an der Friedenspolitik. Gesperrte Wälder <strong>und</strong> eine zahlenmäßig aufgeblähte<br />
Armee würden Beweis für den Militarismus in der DDR sein. Die Militärpolitik der gegnerischen Seite<br />
wurde ebenfalls kritisiert.<br />
8. Ein Mitglied der IGL (der zuvor den Kanon angestimmt hatte) verlas dann eine, offensichtlich<br />
selbstverfaßte Meditation. Deren Inhalt war recht konfus, es ging immer wieder um die aufgehende<br />
Sonne, das Licht vom Horizont usw. - dieser Beitrag wurde durch teilweisen Applaus befürwortet. [/]<br />
Daran schloß sich ein Orgelstück an.<br />
9. Mit einem Bibelpsalm wurde das Friedensgebet fortgesetzt. Gr<strong>und</strong>tenor: Gehet heim <strong>und</strong> bessert Euch,<br />
so will ich bei Euch wohnen bleiben ...<br />
10. Eine weibliche Person der IGL fordert dann zur Fürbitte auf. Diese richtete sich u.a<br />
− für die Ausreisewilligen<br />
− für die Kirchenmitarbeiter, die den Gruppen eine Unterkunft gewähren, sie seien starkem<br />
staatlichem Druck ausgesetzt <strong>und</strong> mögen durchhalten<br />
− für die noch Inhaftierten, wie besonders Hans-Joachim Pfeiffer <strong>und</strong> Karin Ma... [Moran]<br />
− für diejenigen in den Gerichten <strong>und</strong> Staatsorganen, die über die Andersdenkenden zu urteilen<br />
haben, dies möge differenziert <strong>und</strong> menschlich geschehen.<br />
11. Dann wurde aufgefordert, gemeinsam das Vaterunser zu beten. Dieser Aufforderung kam der<br />
überwiegende Teil der Anwesenden nach.<br />
12. Zuletzt nahm ein älterer Herr das Wort, der offensichtlich der bereits bezeichnete Superintendent<br />
Magirius war. Er verwies darauf, daß der „Herr“ uns Menschen das Wort gegeben habe, damit wir<br />
miteinander reden. In diesem Sinne verstehe sich die Kirche als Mittler zwischen den Menschen. [/] Er<br />
113
gab noch bekannt, daß das nächste Friedensgebet am kommenden Montag, wieder um 17.00 Uhr<br />
stattfindet. Am Ostermontag falle diese Veranstaltung wegen der „Auferstehungsgottesdienste“ aus. [/]<br />
Für die sofort anstehenden Sorgen sei die Möglichkeit gegeben, in kleineren Gesprächsgruppen (bis 20<br />
Personen) sich auszutauschen. Dafür stünden 4 Zimmer bzw. Räumlichkeiten zur Verfügung. Die<br />
Gespräche wurden durch weitere Pfarrer geführt. Dabei wurden unter anderem die Pfarrer Huck<br />
[richtig: Wuck] <strong>und</strong> Dr. Bartels benannt. Die Namen der beiden weiteren Pfarrer konnten nicht<br />
festgehalten werden. [/] Die angekündigten Gespräche finden offensichtlich großen Zuspruch. Es<br />
wurde einerseits betont, daß solche Gespräche nur im Kreis bis zu 20 Personen Sinn haben, man möge<br />
dies verstehen; zum anderen begaben sich gleich nach Bekanntgabe der Räume <strong>und</strong> der Pfarrer<br />
einzelne Personen nach dort.<br />
13. Abschließend wurden alle Anwesenden aufgefordert, sich zu erheben <strong>und</strong> den Segen Gottes zu<br />
erbitten (gemeinsames Gebet, woran sich wiederum die überwiegende Mehrzahl der Personen<br />
beteiligten).<br />
14. Die Kirche konnte dann über die Ausgänge Nikolaistraße <strong>und</strong> Kirchhof verlassen werden. Hier<br />
wurden freiwillige Spenden in Klingelbeuteln gesammelt.<br />
Die Veranstaltung war um 17.50 Uhr beendet worden.<br />
Anmerkung:<br />
− Während der Maßnahme waren keine spontanen Publikumsreaktionen festgestellt worden.<br />
Fotoaufnahmen 184,<br />
Handlungen von Korrespondenten, Befragungen usw. wurden ebenfalls nicht<br />
festgestellt. Eine anschließende Demonstration von Ausreisewilligen wurde nicht durchgeführt.<br />
− Die Tonaufnahmen der Lieder des Krawczyk wurden von einer Schallplatte 185 abgespielt. Die<br />
Qualität der Aufnahmen war sehr schlecht. Der Plattenspieler wurde von den IGL-Organisatoren<br />
−<br />
mitgeführt. Zur Übertragung wurde die Tonanlage der Kirche genutzt.<br />
Die hier in Erscheinung getretenen IGL-Mitglieder waren alles junge Leute, 4 männliche Personen,<br />
eine Frau.<br />
46 Staatliche Einschätzung<br />
Information vom Stellvertreter des OBM für Inneres des Rates der Stadt Leipzig, zur Staatspolitik in<br />
Kirchenfragen im Berichtszeitraum Februar/März 1988 (Verteiler: RdB, 1. Sekr. der SED-SL) vom<br />
29.03.1988. Mit Bearbeitungsspuren u.a. Eingangsstempel „01. März 1988 [richtig: April !]“ <strong>und</strong><br />
Gegenzeichnung von Reitmann (StAL BT/RdB 21396).<br />
1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />
Für die Entwicklung des Staat-Kirche-Verhältnisses in der Stadt Leipzig im Berichtszeitraum besaßen die<br />
Geschehnisse nach dem 17.1.1988 in Berlin erhebliches Gewicht. Das sich dabei zunehmend abhebende<br />
Thema der Übersiedlungsersuchsteller (ÜSE) <strong>und</strong> deren aggressives Auftreten zur Durchsetzung ihrer<br />
Absichten wirkte direkt in das Staat-Kirche-Verhältnis hinein. Es ist zu verzeichnen, daß sich hier in der<br />
Nähe des kirchlichen Raumes bzw. unter Nutzung dessen ein nicht zu unterschätzendes Potential von dem<br />
Staat <strong>und</strong> dem Sozialismus feindlichen Kräften formiert hat. [/] Gr<strong>und</strong>lage für die partiell entstandene<br />
Nähe von Kirche <strong>und</strong> ÜSE ist zum einen der durch die ÜSE ausgeübte Druck auf Geistliche, Amtsträger<br />
<strong>und</strong> Kirchenvorstandsmitglieder. Zum anderen ist diese im Resultat einer stark differenzierten<br />
Interpretation <strong>und</strong> Wertung der Geschehnisse durch Geistliche zu sehen. [/] Dem entspricht ein politischer<br />
Differenzierungsprozeß unter den Geistlichen <strong>und</strong> Amtsträgern, der sich in den vergangenen Wochen mit<br />
besonders hohem Tempo vollzog.<br />
Charakteristisch für die Stadt Leipzig ist, daß sich deren Geistliche <strong>und</strong> Amtsträger mehrheitlich<br />
bemühten, das Problem der Antragsteller nicht zum Thema kirchlichen Wirkens werden zu lassen. Es<br />
184 Auf der Sitzung des BSA am 29.04.1988 teilte Pf. Berger mit, daß während der FG das Fotografieren verboten<br />
sei. (Protokoll Berger - ABL H 2)<br />
185 Die Lieder wurden von einer Kassette abgespielt, die von St. Krawczyk bei seinen Konzerten 1987 in Leipzig<br />
verkauft wurden.<br />
114
lieb jedoch nicht aus, daß sich einige wenige Pfarrer an diesem Thema zu profilieren suchten <strong>und</strong> dabei<br />
mit Intension kirchliche Räume für ÜSE zur Verfügung stellten. [/] Von Gewicht für den Verlauf des<br />
Differenzierungsprozesses war die zunehmend deutlich positive öffentliche Positionierung der beiden<br />
Superintendenten in der innerkirchlichen Auseinandersetzung, mit der sie beruhigend auf die auf<br />
Konfrontation setzenden Kräfte einwirkten. Gleichzeitig ist die Widerstandskraft <strong>und</strong> -fähigkeit einzelner<br />
Pfarrer gegenüber staatlichem <strong>und</strong> innerkirchlichem Einfluß nicht zu unterschätzen.<br />
Es ist zu konstatieren, daß es durch gezielte Einflußnahme gelang, eine öffentlichkeitswirksame<br />
Verbindung von ÜSE <strong>und</strong> Kirche in der Stadt prinzipiell zu verhindern. Lediglich am 14.3.1988 kam es<br />
im Anschluß an das Friedensgebet in der Nikolaikirche zu einem Marsch von ca. 200 ÜSE durch die<br />
Leipziger Innenstadt, der ohne Zwischenfälle verlief. Nur in wenigen Gemeinden (Ev.<br />
Studentengemeinde, Nikolaikirche, Jugendpfarramt) wurde von kirchlicher Seite die Trennung Staat-<br />
Kirche nicht durchgehalten, kam es zu einer unberechtigten Beschäftigung mit den Angelegenheiten der<br />
ÜSE. Mit einem sogenannten Meditationsgottesdienst am 13.2.1988 in der Michaeliskirche am Nordplatz<br />
wurden die „aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Berlin“ täglich zunächst in der Ev. Studentengemeinde <strong>und</strong><br />
später in der Nikolaikirche durchgeführten Friedensgebete beendet. Am gleichen Tag schloß auch das aus<br />
demselben Gr<strong>und</strong> eingerichtete sogenannte Kontakttelefon (Ev. Studentengemeinde) seine Arbeit (vgl.<br />
auch Pkt. 2). Ab diesem Zeitpunkt finden die Friedensgebete wie in der Vergangenheit schon montäglich<br />
in der Nikolaikirche statt. Ihre neue politische Qualität besteht darin, daß sie für H<strong>und</strong>erte von ÜSE die<br />
Möglichkeiten bieten, Kontakte untereinander auszubauen <strong>und</strong> durch die massierten Zusammenkünfte<br />
Druck auf den Staat auszuüben. Durchschnittlich werden diese Friedensgebete z.Zt. von 600 - 800<br />
Personen besucht (früher ca. 100). [/] Nebenwirkung der Diskussion um Probleme der ÜSE war, daß<br />
politisch wichtige Fragen nicht den ihnen zukommenden Stellenwert im Dialog Staat-Kirche einnehmen<br />
konnten <strong>und</strong> ebenfalls nicht das Gewicht in der Gemeindearbeit erreichten. Davon betroffen war eine<br />
umfassende Würdigung der Ergebnisse des 6.3.1978 wie auch der mit dem Abzug von<br />
Mittelstreckenraketen aus der DDR begonnen historisch ersten Schritte der Abrüstung überhaupt.<br />
Es ist davon auszugehen, daß das Problem der ÜSE auch weiterhin in die kirchenpolitische Arbeit<br />
hineinreicht. Dabei ist der politische Differenzierungsprozeß offensiv unter Nutzung aller bewährten wie<br />
auch neuer Formen <strong>und</strong> Methoden der Arbeit mit Geistlichen <strong>und</strong> Amtsträgern zu fördern. Dabei ist bei<br />
weiterer Klärung des Prinzips der Trennung Staat-Kirche nach neuen Feldern für gemeinsames Wirken<br />
zum Wohle unserer Gesellschaft zu suchen.<br />
1.1.<br />
Von kirchlicher Seite wurde in allen Gesprächen hervorgehoben, daß die Probleme der letzten Wochen<br />
gesellschaftspolitischer Natur seien <strong>und</strong> keinen Ursprung im Dienst der Kirche hätten. Die Kirchen hätten<br />
die Auseinandersetzung zu diesen Fragen stellvertretend für Staat <strong>und</strong> Gesellschaft wahrnehmen müssen,<br />
sie hätten sich diese Rolle nicht ausgesucht. Die Tatsache, daß die Türen der Kirche für ÜSE geöffnet<br />
wurden, sei der seelischen Not dieser Personen geschuldet <strong>und</strong> hätte zugleich dazu beigetragen, sie von<br />
der Straße wegzubekommen. In der konkreten Situation habe sich gezeigt, daß die Kirche eine positive<br />
Funktion habe, indem sie einen gesellschaftspolitischen Überdruck abfangen könne. [/] Allgemein wird<br />
bedauert, daß so viele Menschen unser Land verlassen wollten. Die Kirche unterstütze alle Bemühungen,<br />
die ÜSE in ihren Vorhaben wieder umzustimmen. „Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ - das sei der<br />
Standpunkt der Kirche. [/] Nach den Worten Pf. Michaels (Pauluskirche) ist „z.Zt. das Stellen von<br />
Ersuchen zur Übersiedlung eine Seuche <strong>und</strong> alle, die mit solchen Gedanken infiziert sind, sollten dies<br />
noch einmal überdenken. Oft werden nur die Pracht, die Herrlichkeit <strong>und</strong> die Freiheit gesehen“.<br />
Zu einem Vorhaben, wonach die Pauluskirche ähnlich wie die Nikolaikirche für „Ratsuchende“ eine<br />
gezielte Verantwortung übernehmen sollte, äußerte Pf. Michael, daß nach einer Beratung mit dem<br />
Kirchenvorstand entschieden wurde, daß dafür die Pauluskirche nicht geeignet sei. Die Gründe sehe er vor<br />
allem darin, daß die gegenwärtige Situation für die Kirche nicht überschaubar wäre <strong>und</strong> die<br />
Kirchenleitung der Pauluskirche überhaupt nicht daran interessiert sei, Handlungen durchzuführen, die für<br />
das Staatsorgan geeignet wären, Mißverständnisse entstehen zu lassen. Er werde immer einen Bürger, der<br />
Hilfe braucht, anhören <strong>und</strong> ihn nicht von seiner Tür weisen. Gleichzeitig schließe er jedoch aus, daß ganze<br />
Gruppen solcher „Ratsuchender“ in das Haus der Pauluskirche Eingang finden. Das könne nicht die<br />
Aufgabe der Pauluskirche sein. Seine Verantwortung sehe er vor allem darin, Christen dahingehend zu<br />
115
estärken, „daß das gemeinsame Haus, in dem wir wohnen, so menschenfre<strong>und</strong>lich gestaltet wird, daß<br />
niemand auf den Gedanken kommt, für immer wegzuziehen“; Pf. Michael betonte: „Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>,<br />
dieses Land zu verlassen. Das ist mein Standpunkt zu diesen Fragen“.<br />
Gegenüber dem Stadtbezirk Südwest äußerte Pf. Gruender: „Das Staat-Kirche-Verhältnis kann nur so gut<br />
sein, wie der Rat des Stadtbezirkes mit seinen Gemeinden auskommt. Ich glaube, daß unser Verhältnis seit<br />
Jahren seine Tragfähigkeit bewiesen hat. So soll es bleiben“.<br />
Pf. Haeffner (Peterskirche) beobachtet mit großem Befremden, was sich in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche<br />
vollzieht. Er habe ÜSE, die sich an ihn gewandt haben, stets die Adresse des dafür zuständigen staatlichen<br />
Organs genannt, da es nicht seine Aufgabe sein könne, sich mit diesen Problemen zu beschäftigen.<br />
Ähnliche ablehnende Haltungen zu Verwischungen kirchlicher <strong>und</strong> staatlicher Befugnisse äußerten viele<br />
Pfarrer in den Gesprächen mit staatlichen Vertretern immer wieder. Es wird betont, daß individuelle<br />
Seelsorge keinesfalls ein Rütteln am Entscheidungsrecht des Staates in Staatsbürgerschaftsfragen<br />
bedeuten könne.<br />
Spekulative Handlungen lehnt auch Pf. Wugk/Christuskirche gr<strong>und</strong>sätzlich ab. In einem Gespräch vertrat<br />
er die Auffassung, der gegenwärtige Prozeß, daß ÜSE Kirchen aufsuchen in der Annahme, daß diese über<br />
ihre Genehmigung mitentscheiden, werde sich aufgr<strong>und</strong> der Handlungsweise der Kirchgemeinden, die die<br />
Trennung Staat-Kirche weitestgehend durchsetzen <strong>und</strong> diesen Bürgern gegenüber auch so auftreten,<br />
„totlaufen“. Zum Bild des Pf. Wugk in letzter Zeit gehört auch sein besonnenes <strong>und</strong> kooperatives<br />
Verhalten in der Zeit als amtierender Superintendent der Ephorie Leipzig-Ost.<br />
Unerwartet positive Reaktionen sind auch beim Pf. Lösche (Laurentiuskirche) zu verzeichnen. In einem<br />
Gespräch äußerte er, er habe sich im Nachhinein darüber geärgert, daß er den „Liedermacher“ Krawczyk<br />
in seiner Einrichtung auftreten ließ. Er sei sich bewußt, daß durch dieses Verhalten das Verhältnis zum<br />
Stadtbezirk West stark gestört wurde. Auch Bischof Hempel, zu dem er bestellt worden sei, äußerte über<br />
dieses Verhalten sein Unverständnis. Künftig werde er in Fällen, die für ihn nicht überschaubar sind, mit<br />
dem Stellv. d. SBBM f. Inneres eine Abstimmung vornehmen. Über die Entwicklung in <strong>und</strong> um die<br />
Nikolaikirche sei er beunruhigt <strong>und</strong> meinte wörtlich, „so etwas wie in der Zionskirche <strong>und</strong> Nikolaikirche<br />
wird es in der Laurentiuskirche nicht geben“.<br />
Ein Beispiel für die innerkirchliche Auseinandersetzung, die den Superintendenten Magirius zur<br />
öffentlichen Positionierung herausforderte, war die Diskussion um die vom Ehepaar Zimmer<br />
angekündigte „f<strong>und</strong>amental-theologische Beratung für Antragsteller“ 186 . [/] Sup. Magirius hat diese Idee<br />
öffentlich in der Nikolaikirche zurückgewiesen <strong>und</strong> sich von den Aktivitäten dieses Ehepaares<br />
distanziert 187 . [/] Die Ereignisse der letzten Wochen machten aber auch deutlich, daß in<br />
spannungsgeladenen Zeiten von einigen Pfarrern, zu denen Pf. Barthels [richtig: Bartels] (Ev.<br />
Studentengemeinde), Pf. Kaden (Jugendpfarramt) <strong>und</strong> Pf. Führer (Nikolaikirche) gezählt werden müssen,<br />
weder Dialogbereitschaft noch mäßigendes oder beruhigendes Handeln zu erwarten sind.<br />
So spielte sich Pf. Barthels in die Rolle eines Fürsprechers der damals wegen des begründeten Verdachts<br />
Landesverräterischer Beziehungen festgenommenen Bürger. Seine Arroganz, Überheblichkeit <strong>und</strong><br />
Selbstsicherheit gingen soweit, daß er - sich in der „Position der Stärke“ wähnend - mit dem Abbruch<br />
eines nicht nach seinen Wünschen verlaufenden Gespräches im Stadtbezirk Süd drohte.<br />
Auch Pf. Führer zeigte trotz vieler Gespräche mit staatlichen Vertretern keine Korrektur seines<br />
186 Der Theologe Chr. Zimmer leitete einen Ausreisekreis <strong>und</strong> bemühte sich darum, daß die Kirche sich des<br />
Problems der Menschenrechtsverletzungen theologisch-f<strong>und</strong>iert annimmt.<br />
187 Eine „Gruppenseelsorge“ von Ausreiseantragstellern lehnte Sup. Magirius während des FGs am 22.02.1988 ab<br />
(Besier/Wolf, 556, Anm. 281), dennoch gab es nach den FG in der Nikolaikirche Gesprächsr<strong>und</strong>en, u.a. mit dem<br />
Pf. Berger (IMB „Carl“) zu Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Übersiedlung nach Westdeutschland. Am<br />
11.04.1988 beantragten verschiedene Gruppenmitglieder beim Sozial-ethischen Ausschuß der Sächsischen<br />
Landessynode die „Einrichtung von Gesprächskreisen für Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />
der DDR...“ In der Begründung heißt es u.a.: „Solche Gesprächskreise würden eine Entlastung für kirchliche<br />
Basisgruppen darstellen, da die Basisgruppen nicht alle Antragsteller, die sich hilfesuchend an die Kirche<br />
wenden, integrieren wollen <strong>und</strong> können. Solche Gesprächskreise entsprächen nach unserer Auffassung der<br />
Botschaft <strong>und</strong> Tat Jesus von Nazareth, der in besonderer Weise auf die 'Außenseiter' der Gesellschaft<br />
zugekommen ist.“ (nicht unterzeichneter Durchschlag des Briefes - ABL H 1)<br />
116
Verhaltens. Unter dem Scheindeckmantel, die Nikolaikirche sei eine offene Stadtkirche, hat er aktiv <strong>und</strong><br />
offensiv dazu beigetragen, daß die Nikolaikirche zu einer Art Heimstatt für ÜSE wurde. Zum Zwielicht<br />
seiner Persönlichkeit gehört, daß er bei den Veranstaltungen (z.B. Friedensgebeten) nach außen hin einen<br />
beschwichtigenden <strong>und</strong> beruhigenden Einfluß zu nehmen vorgibt.<br />
Zum Pf. Kaden ist einzuschätzen, daß er seine Arbeit direkt an ÜSE ausgerichtet hat. Sein Wirken hat er<br />
gegenüber staatlichen Vertretern aber wiederholt verharmlosend <strong>und</strong> zu seinem Vorteil entstellend<br />
dargestellt.<br />
Hervorhebung verdient abschließend auch die Tatsache, daß sowohl aus den katholischen Gemeinden als<br />
auch den Religionsgemeinschaften weder eine Solidarisierungswelle im Falle Krawczyks noch besondere<br />
Aktivitäten im Zusammenhang mit Antragstellern im Berichtszeitraum zu verzeichnen waren. Viele<br />
Amtsträger dieser Konfessionen (z.B. Pf. Rachwalski/kath. St. Laurentiuspfarrei, Herr Lenk/kath.apostolische<br />
Gemeinde, Herr Schmidt/Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Priester<br />
Pohwnyj/russ.-orthodoxe Kirche) äußerten gegenüber staatlichen Vertretern ihr Unverständnis <strong>und</strong><br />
Befremden über die Rolle evangelischer Kirchen in diesem Kontext.<br />
Gegenüber dem Stellv. d. OBM für Inneres hat Propst Hanisch ausdrücklich <strong>und</strong> im Beisein des Sup.<br />
Magirius seine sofortige Gesprächsbereitschaft deutlich gemacht für den Fall, wenn im Bereich der<br />
katholischen Kirche ähnliche Probleme auftreten sollten.<br />
Lediglich in zwei Fällen wurden Meinungen zum vorzeitigen Abzug atomarer Raketen aus der DDR<br />
bekannt (Pfarrergespräch des SBBM des Stadtbezirkes Nord mit Pf. Wugk/Christuskirche). Pf. Wugk<br />
äußerte, er <strong>und</strong> seine Familie hätten mit Interesse verfolgt, daß sowjetische Raketen vorfristig abgezogen<br />
wurden. Er begrüßte das außerordentlich, da es seinen Lebensauffassungen entspreche. Pf. Wugk machte<br />
darauf aufmerksam, daß sich bei ihm immer wieder Fragen auftun würden, wenn nur die sozialistischen<br />
Länder Vorleistungen erbringen. Er hoffe, daß die andere Seite auch ihren Verpflichtungen nachkommt.<br />
1.2.<br />
„Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“<br />
Unter diesem Motto fand am 19.2.1988 in der Nikolaikirche eine Veranstaltung statt, an der ca. 1500<br />
Personen, darunter eine Vielzahl ÜSE, teilgenommen haben. Gr<strong>und</strong>lage des vom Pf. Führer gehaltenen<br />
Vortrags war ein zum gleichen Thema vom B<strong>und</strong> der ev. Kirchen in der DDR ausgearbeitetes Material aus<br />
dem Jahre 1985 188.<br />
Aus dem Gr<strong>und</strong>motiv heraus, als Kirche den ÜSE seelsorgerlich beizustehen, wurde der offene Charakter<br />
der Nikolaikirche im Zentrum der Stadt hervorgehoben. Die Widersprüchlichkeit bestand darin, daß Pf.<br />
Führer deutlich zum Hierbleiben mahnte, andererseits aber Gesprächsmöglichkeiten <strong>und</strong> Unterstützung<br />
den ÜSE anbot.<br />
Grafik-Auktion in der ev.-reformierten Kirche<br />
Diese fand am 28.2.1988 unter dem Thema „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ statt.<br />
Versteigert wurden ca. 140 Grafiken von etwa 80 Künstlern, darunter auch prominenten wie Mattheuer,<br />
Gille <strong>und</strong> Hachulla. Der Erlös aus Versteigerung <strong>und</strong> Kollekte (16 TM) soll zu je einem Drittel der<br />
Entwicklung des konziliaren Prozesses der Errichtung eines Kommunikationszentrums für kirchliche<br />
„Basisgruppen“ in Leipzig sowie Wehrdienstverweigerern <strong>und</strong> Strafentlassenen zur Verfügung gestellt<br />
werden. Die ursprünglich geplante Verwendung des Erlöses, den Inhaftierten der Ereignisse vom<br />
17.1.1988 materiell zu helfen, hat das Konsistorium dieser Kirche verworfen.<br />
2. Zur Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit<br />
In der Folge des 17.1.1988 erschienen in den Schaukästen vieler ev. Kirchen ohne staatliche<br />
Druckgenehmigung gefertigte Plakate 189 mit dem Inhalt „Aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Berlin täglich<br />
17 Uhr Friedensgebet u. Information in der .... Kontakttelefon 312966, 11.00 - 23.00 Uhr... [/] Nur für<br />
innerkirchlichen Gebrauch“.<br />
Im Gespräch äußerte Pf. Barthels (der auf den Plakaten angegebene Telefonanschluß entsprach dem der<br />
Ev. Studentengemeinde), daß die Entwicklung dieses Kontakttelefons zwei Ziele verfolge:<br />
188 epd-Dok. 41a/1985<br />
189 An dieser Stelle ist im Dokument ein handschriftlicher Vermerk: „Aushänge in Schaukästen bedürfen keiner<br />
Druckgenehmigung“<br />
117
- Informationsübermittlung an am Friedensgebet teilnehmende Personen,<br />
- Übermittlung <strong>und</strong> Weitergabe von Auskünften zu den Inhaftierungen <strong>und</strong> Verurteilungen, die er von den<br />
Anwälten <strong>und</strong> der Berlin-Brandenburgischen Kirche erhalte.<br />
Vor der Grafik-Auktion in der ev.-reformierten Kirche (vgl. auch Pkt. 1.2.) erschienen in einigen<br />
Schaukästen <strong>und</strong> sogar an der Haustafel eines GWL-Gr<strong>und</strong>stückes nur mit kirchlicher<br />
Druckgenehmigungsnummer versehene Informationsplakate. Im Gespräch bedauerte Pf. Sievers diesen<br />
Vorfall <strong>und</strong> versprach, ihn in der Helferschaft entsprechend auszuwerten, daß sich ähnliches künftig nicht<br />
wiederhole.<br />
3. entfällt<br />
4. Zur kirchlichen Tätigkeit<br />
Leipziger Frühjahrsmesse 1988<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Maßnahmeplanes des Bereiches Staatspolitik in Kirchenfragen haben die Stellv. d.<br />
SBBM für Inneres in enger Koordinierung mit dem Rat der Stadt ihre Verantwortung in Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung aller in diesem Zusammenhang stehenden Aufgaben wahrgenommen. [/] Einzuschätzen ist,<br />
daß ausgehend von der bestehenden Situation der Messeverlauf nicht spektakulär war. Dominierend war<br />
der ruhige Verlauf der zu den Leipziger Messen üblichen organisierten kirchlichen Zusammenkünfte,<br />
Messekonzerte <strong>und</strong> der Gottesdienste. [/] Eine direkte Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche ist in der<br />
Messezeit unterblieben.<br />
Die kirchliche Hauptveranstaltung war auch zu dieser Messe der bereits traditionelle Messemännerabend<br />
in der Nikolaikirche, an dem ca. 250 - 300 Personen, darunter zahlreiche Messegäste, teilgenommen<br />
haben. Der Referent, Landesbischof Stier/Mecklenburg, ging nach längeren wertfreien <strong>und</strong> theologischen<br />
Deutungen des Themas „Glauben <strong>und</strong> Umkehren - Wege der Hoffnung“ zu den Ereignissen seit dem<br />
17.1.1988 über <strong>und</strong> positionierte sich dabei wie folgt:<br />
− Zuwendung <strong>und</strong> Seelsorge sei für Antragsteller nicht nur auch, sondern gerade notwendig;<br />
− Kirche habe die entstandene Situation nicht verschuldet;<br />
− leider entstünden Anträge nicht einfach nur aus privat-egoistischen Gründen, sondern hingen bei einer<br />
Vielzahl mit negativen Erfahrungen zusammen, die Menschen in unserer Gesellschaft gemacht hätten;<br />
es seien so „nicht heilende W<strong>und</strong>en“ entstanden;<br />
− Betonung, daß sich Kirche stets für das Hierbleiben ausgesprochen habe <strong>und</strong> in diesem Sinne weiter<br />
wirken werde;<br />
− Schuldzuweisung für entstandene Situation an den Staat, welcher sich jetzt Gedanken machen müsse;<br />
− stärkere Zuwendung der Gemeinden für Antragsteller sei nötig, Kirche werde niemanden wegschicken.<br />
Als Referent für den Messemännerabend zur Herbstmesse wurde Bischof Demke angekündigt. Ein Thema<br />
wurde noch nicht genannt.<br />
Erheblich gestört wurde der sonst normale Ablauf des kirchlichen Messeprogrammes durch das am<br />
Messemontag in der Nikolaikirche stattgef<strong>und</strong>ene Friedensgebet, das geeignet war, in eine<br />
Konfrontationsveranstaltung mit Folgen umzuschlagen. Ca. 800 Personen, überwiegend ÜSE, besuchten<br />
diese Veranstaltung, die sich ausschließlich der Problematik der Ausreiseanträge widmete. In der Kirche<br />
waren westliche Journalisten anwesend, vor der Kirche war österreichisches, italienisches <strong>und</strong> BRD-<br />
Fernsehen vertreten. Nach der Veranstaltung zogen ca. 200 ÜSE in einem „Schweigemarsch“ durch die<br />
Innenstadt. Zu Zwischenfällen kam es nicht, die Gruppe löste sich an der Nikolaikirche ohne Eingreifen<br />
der Sicherheitsorgane wieder auf.<br />
[... Es folgen (5.) Informationen zu Veränderungen in „kirchlichen Leitungsfunktionen“]<br />
6. Fallinformationen<br />
− Nach dem Friedensgebet am 29. 2. 1988 in der Nikolaikirche tauchte unter den anwesenden ÜSE ein<br />
Flugblatt auf mit der Aufforderung, am 1. 5. 1988, 14.00 Uhr in Berlin vor dem Brandenburger Tor zu<br />
erscheinen, auf diesem Weg den Antrag [auf Ausreise] durchzusetzen.<br />
− Nach der Veranstaltung vom 19. 2. 1988 in der Nikolaikirche (Vgl. Pkt. 1.2.) verweigerte Pf. Führer<br />
ein Gespräch, um das ihn der amt. Stellv. d. SBBM f. Inneres des Stadtbezirkes Mitte gebeten hat.<br />
Seine Ablehnung zur Gesprächsführung werde solange gelten, solange ein Spitzengespräch mit<br />
118
Bischof Dr. Leich nicht stattgef<strong>und</strong>en hat . 190<br />
− Unter dem Eindruck einer abgelehnten Besuchsreise nach Großbritannien äußerte Pf.<br />
Böllmann/Kirchgemeinde Marienbrunn, er wisse nicht mehr, auf welcher Seite er stünde, <strong>und</strong> ob er<br />
nicht eventuell auch einen Ausreiseantrag stellen sollte. [...]<br />
7. Terminvorschau [...]<br />
8. Gespräche im Berichtszeitraum<br />
8.1. 13 Gruppengespräche mit 52 Teilnehmern<br />
8.2. 74 Einzelgespräche<br />
47 Friedensgebetstexte<br />
Text der Predigt, die J. Läßig (Arbeitskreis Gerechtigkeit) am 11.04.1988 im Friedensgebet hielt. Vorlage war<br />
Xerokopie des an OKR Auerbach gesandten Textes. Dort vermerkte J. Läßig, daß der verantwortliche Pfarrer<br />
für dieses Friedensgebet Pf. Wonneberger war (ABL H 1).<br />
Auslegung von Amos 3,9-12<br />
Im Land Samaria herrschte Frieden <strong>und</strong> Wohlstand, die Menschen lebten sorglos in den Tag. Die<br />
Machtverhältnisse im Lande waren geklärt, auch wenn einige dabei schlecht weggekommen waren. Aber<br />
ihre Stimmen wurden nicht laut. Die Verhältnisse waren scheinbar stabil, keiner, der unangenehme Fragen<br />
stellte - außer eben - dieser Amos. Seine Sprüche haben spätere Generationen aufgeschrieben, obwohl ihn<br />
zu seiner Zeit keiner hören wollte. An ihn erinnerte man sich, als sich seine Rede als wahr erwies durch<br />
den Lauf der Geschichte. Zwei wesentliche Aussagen macht dieser Amos. Er beschreibt zuerst den<br />
Zustand der Gesellschaft, die politische Situation, in der das Land sich nach seiner Sicht befindet: „Seht,<br />
welch großes Zetergeschrei <strong>und</strong> Unrecht in Samaria ist, die Herrschenden achten kein Recht <strong>und</strong> sammeln<br />
Schätze von Frevel <strong>und</strong> Raub in ihren Palästen.“ Zum zweiten sagt er etwas über die Zukunft des Landes -<br />
nichts Optimistisches: Der Untergang wird angesagt, Invasion <strong>und</strong> Plünderung. Der Landwirt Amos stand<br />
in seiner Zeit allein, andere wollten das nicht sehen, was doch eigentlich auf der Hand lag, was doch<br />
eigentlich jeder hätte feststellen können, wenn er das Unschöne, das was Schmerz <strong>und</strong> Sorge bereitet, an<br />
sich herangelassen hätte.<br />
Wir wollen aber nicht in dieser fernen Zeit verweilen, vielmehr lade ich Sie ein, mit dem Blick des Amos<br />
in unsere Zeit zu sehen, in dieses Land. Eigentlich dürfte uns das viel leichter fallen, wir sind viel besser<br />
informiert über das, was in der Welt vorgeht <strong>und</strong> was im eigenen Lande los ist. Trotzdem sind es nur<br />
wenige, die klar sehen, nur wenige, die deutlich sprechen. Freilich wissen wir alle mehr oder weniger<br />
Bescheid, aber keiner fühlt sich zuständig, die sich auftürmenden Probleme zur Diskussion zu stellen, die<br />
Gefahren, die unser Land bedrohen, zu benennen. Die Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme wird<br />
freilich anders aussehen als die des Amos. Unsere politische Führung ist ja mit dem positiven Anspruch<br />
angetreten, das große Unrecht zu beseitigen, den Unterschied zwischen arm <strong>und</strong> reich. Trotzdem stehen<br />
wir heute in einer Situation, die einen mehr als bedenklich stimmen muß. Die Herrschenden haben das<br />
Volk nicht hinter sich, zumindest nicht in ausreichendem Maße. Abwechselnd mit Zuckerbrot <strong>und</strong><br />
Peitsche versucht sich die Führung ihrer Gefolgschaft zu versichern, aber es scheint noch nicht so recht<br />
gelungen zu sein. Verantwortungslosigkeit ist die allgemeine Haltung der Verantwortlichen, Distanz zu<br />
unserem Staat <strong>und</strong> Gleichgültigkeit beherrscht den Rest.<br />
Und ihr, die ihr dieses Land verlassen wollt, steht ja nicht einmal in so starkem Gegensatz zu den Anderen<br />
[sic!], sondern ihr treibt nur etwas auf die Spitze. Ihr seid im gewissen Sinne konsequenter als die, die<br />
bleiben, aber auch nichts mehr einsetzen wollen, sich auch nicht für die Zukunft dieses Landes<br />
engagieren, eben nur ihre Ruhe <strong>und</strong> ihr privates Glück suchen. Die Situation ist besorgniserregend.<br />
Manchmal komme ich in die Versuchung, mit Schadenfreude auf die innere Bedrohung, die Aushöhlung<br />
unseres Landes zu blicken, einfach deshalb, weil ich selbst schon die Macht des Staates zu spüren<br />
bekommen habe. Stärker aber als diese Versuchung der Schadenfreude ist meine ehrliche Trauer über<br />
dieses Land, über mein Land, meine Trauer über den bisher gescheiterten Versuch des Sozialismus,<br />
190 vgl. Dok. 37 <strong>und</strong> Dok. 40<br />
119
Trauer über die mißglückte Alternative zu der alles beherrschenden Macht des Geldes. Nein, ich wünsche<br />
keine Zuspitzung der Probleme hier im Land, ich sehne keinen Zusammenbruch herbei, nach dem, so<br />
meinen vielleicht viele Illusionisten, alles anders wird. Ich erwarte keine Abdankung der Herrschenden,<br />
keine gr<strong>und</strong>sätzliche Systemänderung. Eines halte ich allerdings für unabdingbar <strong>und</strong> in einer Situation, in<br />
der unsere Zukunft verschiedenen Bedrohungen ausgesetzt ist, für völlig normal. Ich erwarte, daß wir in<br />
nächster Zeit offen über alles reden können, ich hoffe, daß unsere Medien uns nicht länger hinters Licht zu<br />
führen suchen, so daß wir uns in Zukunft auch über die eigenen Sender informieren <strong>und</strong> dort unsere<br />
Probleme zur Sprache bringen können.<br />
Ich erwarte auch, daß der Mitarbeit von kritisch eingestellten Bürgern in Zukunft nicht mehr soviel<br />
Mißtrauen entgegengebracht wird wie bisher. Der Prophet Amos hat sich in seiner Zeit damit begnügt, den<br />
Untergang, der ihm unabwendbar schien, vorauszusagen. Wir sollten weitergehend <strong>und</strong>, wie das spätere<br />
Propheten getan haben, über Umkehr nachdenken, über eine Umgestaltung, die den drohenden<br />
Zusammenbruch, den Niedergang verhindern kann. Ich glaube allerdings nicht, daß die Umkehr, die wir<br />
nötig haben, von oben verordnet werden kann. Vielmehr muß aus dem Volk heraus, aus unserer Mitte<br />
neues Leben wachsen, neue Ideen, neuer Mut. Wir müssen aufwachen <strong>und</strong> unsere Straßen, unsere Kirchen<br />
<strong>und</strong> unsere Wohnungen mit neuem Leben, mit politischem Leben füllen.<br />
Der Prophet Amos ist eigentlich ein düsterer Prophet, nach seiner Prophezeiung gibt es keinen Weg am<br />
Elend vorbei. Vielleicht deshalb, weil er allein stand in seiner Zeit, vielleicht auch deshalb, weil er sich<br />
<strong>und</strong> sein Land so dem Willen Gottes ausgeliefert sah, daß in seiner Vorstellung alles nur nach einem<br />
festen Plan ablaufen konnte. Wir sind heute nicht mehr so allein, sondern haben viele Möglichkeiten der<br />
Kommunikation. (Na ja, wenn vielleicht auch oft welcher fragwürdiger Art.) Und wir verlassen uns heute,<br />
glaube ich, nicht mehr so sehr auf die Führung Gottes, wir überlassen ihm nicht mehr das Weltgeschick,<br />
sondern versuchen selbst zu denken, selbst etwas in die Hand zu nehmen. Das, was Amos geleistet hat,<br />
bleibt uns aber nicht erspart: Die Dinge mit einem prophetischen Blick anzusehen, das heißt, mit einem<br />
tiefen, klaren Blick, der nicht am Elend vorbei sieht, der den Gefahren nicht ausweicht, der sich nicht<br />
verdunkeln läßt durch solche Beschwichtigungen wie: Es wird schon alles irgendwie weitergehen, <strong>und</strong> uns<br />
bleibt auch nichts erspart, das, was wir gesehen haben, einzubringen, zur Diskussion zu stellen, auch dann,<br />
wenn es keiner hören will. 191<br />
48 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief von OKR D. Auerbach an J. Läßig aufgr<strong>und</strong> dessen Ansprache im Friedensgebet am 11.04.1988 vom<br />
23.04.1988. Die Vorlage war eine Xerokopie (ABL H 1).<br />
Sehr geehrter Herr Läßig!<br />
191 Das FG wurde von der AKG gestaltet, an ihm nahmen ca. 600 Personen teil. Die Stasi-Einschätzung der Rede<br />
von Läßig ist im OV „Trompete“ zu finden. Dort heißt es u.a.: „Die von L. in dem von ihm realisierten Gebetsteil<br />
formulierten Angriffe auf die politischen Verhältnisse <strong>und</strong> die Aufforderung, sich dagegen aufzulehnen, wurden<br />
neben weiteren, von anderen feindlich-negativen Kräften formulierten Angriffen gegen die gesellschaftlichen<br />
Verhältnisse genutzt, um in Gesprächen mit kirchlichen Amtsträgern [...] die staatliche Erwartungshaltung zum<br />
Ausdruck zu bringen, daß im Interesse des guten Verhältnisses Staat / Kirche derartige Angriffe <strong>und</strong><br />
Einmischungen in Kompetenzen des Staates unterb<strong>und</strong>en werden. Dadurch war eine innerkirchliche<br />
Auseinandersetzung zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Basisgruppen ausgelöst worden, in deren Ergebnis die<br />
'Friedensgebete' in die Verantwortung kirchlicher Amtsträger <strong>und</strong> Mitarbeiter übertragen wurden.“ (Besier/Wolf,<br />
678) Das FG wurde vor allem von J. Läßig <strong>und</strong> T. Rudolph gestaltet, beide waren zu diesem Zeitpunkt Studenten<br />
des Theologischen Seminars. Am 20.04.1988 wurde deshalb C. Kähler, der damalige Rektor des Seminars, vom<br />
Referat Kirchenfragen auf seine „Verantwortung“ angesprochen. Besonders vorgeworfen wurde die Aussage von<br />
J. Läßig, „nicht zu sehr auf Gottes Führung zu vertrauen, sondern die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen“.<br />
Am folgenden Tag führte deshalb der Neutestamentler Kähler mit Läßig ein Gespräch, in dem er ihm vorhielt,<br />
daß seine Rede eher an die „Internationale, denn an einen christlichen Text erinnern“ würde (so Mitteilung C.<br />
Kähler vom 05.05.1994).<br />
120
Für die Übersendung Ihrer Auslegung zu Amos 3 danke ich Ihnen 192 . Es ist nötig, daß die Verantwortung<br />
für die öffentliche Verkündigung ernst genommen wird, <strong>und</strong> dies gilt natürlich unabhängig vom Ort <strong>und</strong><br />
der Zahl der Gottesdienstbesucher. So möchte ich durch Fragen <strong>und</strong> Anmerkungen in ein Gespräch mit<br />
Ihnen <strong>und</strong> den Verantwortlichen des Friedensgebets eintreten in der Hoffnung, daß uns dieses Gespräch<br />
weiterführt. Die Auslegung hat einen biblischen Bezug, geht auf die Situation der Hörer ein <strong>und</strong> faßt eine<br />
Zielvorstellung zusammen. Die Hörer haben, soweit sie überhaupt gewillt waren, das Friedensgebet<br />
mitzuvollziehen, gelauscht <strong>und</strong> die Auslegung mit Beifall quittiert.<br />
Was bedeutet der biblische Bezug? Sie schildern die Situation in Samaria im 8. Jahrh<strong>und</strong>ert. Nach S.<br />
Herrmann gehört diese Zeit in das „dunkle Jahrh<strong>und</strong>ert“ 193 der Königszeit, aus dem uns nur wenige<br />
Nachrichten überkommen sind. Die lange Regierungszeit Jerobeams II. wird von manchen Historikern als<br />
„glückliche Zeit“ angesehen. Trotz der Tribute an Assur scheint eine Situation der Entspannung<br />
dagewesen zu sein, eine Ruhe vor dem Sturm. Der F<strong>und</strong> von 63 Ostraka gibt uns Einblick in die<br />
wirtschaftliche Lage. Es handelt sich um Begleitschreiben zu Wein- <strong>und</strong> Öllieferungen aus königlichen<br />
Gütern nach Samaria. Offenbar gab es Staatsdomänen <strong>und</strong> königliche Beamte, die sich auch an<br />
Bodenspekulationen beteiligten, also ihren Besitz durch Bedrückung kleiner Bauern, Entrechtung <strong>und</strong><br />
Verschuldung vergrößerten. So wird ein „wohlhabender Mittelstand“ entstanden sein.<br />
Amos vertritt die Auffassung, daß Jahve der Gr<strong>und</strong>herr ist <strong>und</strong> der Boden unverkäuflich bleibt. Seine<br />
Botschaft wird verständlich durch die enge Bindung des Propheten an Gott, der dem Volk das Land<br />
gegeben hat. Darin liegt der Ursprung seiner Gesellschaftskritik. Die Gewißheit über Gottes Auftrag an<br />
Israel ist auch Gr<strong>und</strong>lage seines Rechtsempfindens <strong>und</strong> seiner Zukunftserwartung. Amos läßt Forderungen<br />
Jahves laut werden. Wie in einem Amphitheater sollen Unterdrücker wie die Philister <strong>und</strong> Ägypter die<br />
Gewalttaten in Samaria „sehen“. Was die Bürger Samarias durch Raub an sich gerissen haben, wird ihnen<br />
vor aller Augen wieder entrissen. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. In Samaria aber herrscht ein<br />
Durcheinander, die Verwirrung sittlicher Ansichten, ein Gegeneinander von Bedrückern <strong>und</strong> Bedrückten.<br />
„Unrecht Gut“ überschreibt Albrecht Alt den Prophetenspruch 3,9-11. „Was bleibt“ ist Überschrift über<br />
die Unheilsaussage 3, 12. Der Rest ist wie das von Wildtieren Übrigbleibende, wenn sie ein Schaf gerissen<br />
haben. Haben Sie sich nicht wesentliche Konkretionen entgehen lassen? Wenn schon<br />
Situationsschilderung des 8. Jahrh<strong>und</strong>erts, dann doch etwas sensibler. „Die Machtverhältnisse waren<br />
geklärt“ - gerade darum ging es Amos. Wem gehört das Land - Gott oder dem König? „Die Menschen<br />
lebten sorglos in den Tag“ - offensichtlich waren soziale Gegensätze so groß, daß offener Streit ausbrach.<br />
Haben sie nicht den kritischen Ansatz des Amos verschwiegen - er liegt in der Gottlosigkeit des<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzes in Israel!?<br />
Die Situation der Hörer zum Friedensgebet ist leicht zu erfassen. „Nur wenige sind es, die klar sehen“.<br />
Offensichtlich schlüpfen Sie in das prophetische Kostüm des Amos, übernehmen seinen Anspruch - aber<br />
nicht seinen Ansatz! Ihnen geht es um die Analyse unserer gesellschaftlichen Probleme. Die nun<br />
folgenden Sätze sind Behauptungen, die einer Begründung bedürfen. „Verantwortungslosigkeit“ - vor<br />
wem? Ich erlebe sehr wohl, wie sich Mitglieder der Partei verantworten müssen. Warum werden die, die<br />
sich von der Gesellschaft distanziert haben <strong>und</strong> die Ausreisekandidaten nicht auch „verantwortungslos“<br />
genannt? Die Lücken, die sie zurücklassen, können für viele Bürger in diesem Lande schlimme Folgen<br />
haben. Daß die Herrschenden das Volk nicht hinter sich haben, gilt von vielen Ländern <strong>und</strong> ist in einer<br />
Diktatur nicht das vordringliche Problem. Aber die meisten der in der Kirche Anwesenden werden bei der<br />
Wahl die Regierung bestätigt haben, obwohl sie es ohne Schaden auch hätten unterlassen können. Sie alle<br />
sind also beteiligt an der Lage, in der wir uns befinden. In den locker vorgetragenen Negationen („keine<br />
Zuspitzung der Probleme“ - keinen Zusammenbruch - „keine Schadenfreude“) werden freilich beim Hörer<br />
gerade diese Gedankengänge geweckt, die eigentlich zurückgewiesen werden. Dies ist eine tückische<br />
Redeweise. Ist es nicht eigentlich sehr billig, vor Ausreisekandidaten in dieser verschlüsselten Weise<br />
Gesellschaftskritik zu treiben? Ist Amos nicht zu schade für diesen Vorgang? Amos ist auf Widerstand<br />
gestoßen - Sie sind mit Beifall bedacht worden - sollte uns das nicht zu denken geben?<br />
Entscheidend sind für mich aber die Fragen nach der Zielvorstellung. Sie rufen zur Umkehr auf - zu<br />
192 s. Dok. 47<br />
193 vgl. S. Herrmann, Geschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Berlin 1981, S. 282-300 (Zitat, S. 282)<br />
121
neuem politischen Leben. Sie wollen selbst etwas in die Hand nehmen, überlassen Gott nicht mehr das<br />
Weltgeschick. Unsere Lage ist eine Folge des Krieges, den Deutschland verursacht hat. Eine Umkehr kann<br />
nur einsetzen bei der Erkenntnis der Schuld, die Deutsche begangen haben. Das war das Lied unserer<br />
Jugend, vor 1945: „selbst etwas in die Hand zu nehmen“. Viele der „Ausreiser“ suchen ja auch den<br />
Wohlstand, gegen den Amos gerade zu Felde zieht. Welches neue politische Leben meinen Sie, wenn Sie<br />
Gott <strong>und</strong> die Schuld ausklammern? Was soll das für eine „Umkehr“ sein? Sie schließen mit dem Satz, daß<br />
Ihre Analyse keiner hören will. Ich behaupte das Gegenteil. Etwas unscharfe, aber kritische Analyse mit<br />
heftigen Vorwürfen gegen die Regierenden - das bestimmt unseren Alltag, das ist Gr<strong>und</strong>stimmung in der<br />
DDR - da sind sich fast alle einig. Aber die Umkehr, das ist schwer. Der Beitrag von Dr. L. Drees am<br />
13.2. in Dresden 194 hat das sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Und er hat unsere Ängste analysiert.<br />
Damit hat er uns einen guten Dienst getan. Alles zwielichtige, unscharfe Reden hilft uns nicht.<br />
Ich danke Ihnen, daß Sie mich wieder mit Amos konfrontiert haben. Auch mir wäre es schwer gefallen,<br />
den Vorwurf: „unrecht Gut“ auf die Hörer <strong>und</strong> die Gesellschaft anzuwenden. Aber ich wäre der Frage<br />
nachgegangen, wo wir in unserem Leben auf Kosten Anderer [sic!] existieren, wo wir den leichten Weg<br />
gehen <strong>und</strong> welche Wirtschaftsbegleitschreiben von uns nach 3000 Jahren zu lesen sein werden. Ein weites<br />
Feld. Auch heute noch erwächst aus der Heiligen Schrift der Mut, Verantwortung in der Gesellschaft zu<br />
tragen, gerade weil unser Glaube nicht in der Gesellschaft verankert ist.<br />
Mit fre<strong>und</strong>lichem Gruß [/] [gez.] Dieter Auerbach<br />
49 Friedensgebetstexte<br />
Entwurf des Friedensgebetes, welches die Arbeitsgruppe „Ökumene <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ am 18.04.1988 in der<br />
Nikolaikirche hielt (ABL H 1).<br />
[Begrüßung]<br />
Noch etwas zum Verlauf des Gebetes: Nach einer Meditation <strong>und</strong> Textlesung wird Volker Bräutigam an<br />
der Orgel spielen.<br />
Danach wollen wir gemeinsam um Gerechtigkeit in der Welt <strong>und</strong> bei uns bitten. Die einzelnen Bitten<br />
nehmen wir auf mit dem gesungenen Kyrie eleison - Herr erbarme dich, das wir immer dreimal singen<br />
wollen. Nach Segen <strong>und</strong> Orgel wird es danach einige Ansagen geben. Wir wollen jetzt schon darauf<br />
hinweisen, daß im Anschluß an dieses Gebet das Angebot besteht, mit unseren Gästen ins Gespräch zu<br />
kommen, Fragen zu stellen, Erfahrungen auszutauschen. Zum heutigen Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />
möchte ich euch herzlich begrüßen. Dieses Friedensgebet ist von der Gruppe „Ökumene <strong>und</strong><br />
Gerechtigkeit“ vorbereitet worden. In unserer Arbeit bemühen wir uns darum, weltweite Strukturen der<br />
Ungerechtigkeit bewußt zu machen. Wir gehen davon aus, daß unser Land <strong>und</strong> auch die Kirche in dem<br />
Netz der Ungerechtigkeit mitverwoben ist. Wir fragen nach den Möglichkeiten, was wir bei uns tun<br />
können, damit die Knoten des Netzes der Ungerechtigkeit von jedem Menschen erfahren wird, egal wo er<br />
lebt.<br />
Wenn wir hier nach Gerechtigkeit fragen in unserem Land, brauchen wir den Kontakt zu Menschen, die in<br />
ihren Ländern dieselbe Frage stellen. Nur gemeinsam finden wir heraus, was Gerechtigkeit ist.<br />
Gemeinsam beten wir auch um Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Wir haben heute 4 Gäste mitgebracht, die an<br />
unserem Friedensgebet teilnehmen. Unsere Gäste sprechen Englisch. Was sie sagen, wird darum ins<br />
Deutsche übersetzt werden.<br />
1. Rev. Levi Orácion Manila Philippines Vereinigte Kirche Christi in den Philippinen Dekan des Theolog.<br />
Seminars in Manila seit 1985 Exekutivsekretär der Kommission kirchlicher Beteiligung an<br />
Entwicklung beim ÖRK/Genf. Besonders verantwortlich für das ökum. Gespräch über Ideologie u.<br />
Theologie im Kontext sozialer Bewegungen. Veranstalter der ökum. Konsultation in Buckow letzte<br />
Woche.<br />
2. Rev. Daniel Montaga. Mantanzas, Kuba Dozent für Neues Testament am Ökum. Seminar in<br />
Montanzas. Z. Zt. am Ökum. Institut Bossey <strong>und</strong> Pfarrer der spanisch-evangel. Kirche in Genf.<br />
194 Zeugnis der Betroffenheit in: epd-Dok. 21/1988<br />
122
3. Mr. Cobbi Palm New York, USA geboren in den Philippinen u. aufgewachsen, dann USA Studierte<br />
Theologie <strong>und</strong> Psychologie Graduierter Student in Bossey, ökum. Institut im letzten Wintersemester<br />
4. Pfr. Reimer u. Frau, Brasilien Haraldo Iwai<br />
Meditation 195<br />
In der nun folgenden Meditation wollen wir weder die Weltgesellschaft beschreiben, noch umfassende<br />
Lösungsvorschläge unterbreiten. Sondern, wir wollen Euch <strong>und</strong> Ihnen einen Eindruck davon vermitteln,<br />
was uns bewegt, im kirchlichen Rahmen als Christen, aktiv zu werden. Und wir wollen an einem bibl.<br />
Text veranschaulichen, woher wir unsere gr<strong>und</strong>legenden Orientierungen erhalten. Eine<br />
Übersetzungsmöglichkeit ins alltägliche Leben wollen wir dabei anbieten, aber gleichzeitig für eigenes<br />
Überlegen - für ein ganzheitliches Nachsinnen - während der Orgelmusik Raum lassen:<br />
Zwei Krankheiten, zwei Seuchen suchen heute die Welt heim.<br />
Das Leben der ganzen Menschheit ist durch sie bedroht wie nie.<br />
Ihre Opfer werden von innen her ausgehöhlt, sie sind wie leblose Schatten. Die eine Krankheit ist die<br />
Sinnlosigkeit des Lebens.<br />
Die Infektionsgefahr des Hungers ist in unseren Breiten nicht sehr groß - momentan ist sie, Gott sei Dank,<br />
überhaupt nicht gegeben. Dagegen die andere, das eigene Leben als sinnentleert, als sinnlos zu erleben,<br />
diese Seuche grassiert gerade in den wohlhabenden Ländern <strong>und</strong> so auch bei uns. Ihre Opfer sind nicht<br />
sofort zu erkennen. Durch hochmodisches Äußeres, durch zeitgemäßes out-fit wird die innere Leblosigkeit<br />
kaschiert. Nur in den Augen fehlt der Glanz der Begeisterung <strong>und</strong> der Leidenschaft - die Stumpfheit des<br />
Blickes verrät die auszehrende Krankheit. Beides scheint nichts miteinander zu tun zu haben - das eine sei<br />
ein Problem des wirtschaftlich schwachen, des armen Südens, das andere eins des reichen, übersättigten<br />
Nordens.<br />
Aber gehört nicht beides zusammen, beruhen beide nicht auf derselben Ursache? Ja, beide sind<br />
Mangelerkrankungen, beiden fehlt es an einer weltweiten Gerechtigkeit. Gerechtigkeit läßt sich<br />
buchstabieren, als ein Verhältnis von Freiheit <strong>und</strong> Ungleichheit. Meine bzw. unsere Freiheit soll in allen<br />
Lebenszusammenhängen so groß sein, wie es möglich ist. Aber meine bzw. unsere Freiheit ist nur dort in<br />
Gerechtigkeit eingebettet, wo für alle anderen - für alle nahen <strong>und</strong> fernen Menschen - die gleiche Freiheit<br />
möglich ist. Freiheit ist also keine Sache, die man besitzen kann, sondern sie kennzeichnet ein Verhältnis.<br />
Zur Gerechtigkeit gehört aber auch die Ungleichheit. Ungleichheit ist immer willkürlich, aber oft ist sie<br />
notwendig, wenn zur Erfüllung bestimmter Aufgaben besondere Rechte benötigt werden. Keiner fühlt sich<br />
allein dadurch, daß es Ungleichheit gibt, ungerecht behandelt. Sondern Ungleichheit führt erst dann zu<br />
Ungerechtigkeiten, wenn die damit verb<strong>und</strong>enen Positionen, Ämter <strong>und</strong> Privilegien nicht allen<br />
gleichermaßen zugänglich sind. Gerechtigkeit ist also untrennbar von der größtmöglichen Freiheit für alle<br />
<strong>und</strong> vom uneingeschränkten Zugang zu allen Ämtern <strong>und</strong> Privilegien.<br />
Die erreichte Gerechtigkeit in der Welt oder in einer Gesellschaft ist aber nicht abstrakt, sie existiert nicht<br />
nur in Gesetzen, sondern sie läßt sich im Alltagsleben aufspüren. Jeder Mensch verfügt über Sensoren, sie<br />
zu erfühlen. Achtung die zwischen den Menschen besteht, ist ein solch feinsinniger Gradmesser. In<br />
gerechteren Gesellschaften gibt es größere gegenseitige Achtung, als in ungerechten. Wie sieht es mit der<br />
gegenseitigen Achtung in unserer Gesellschaft aus?<br />
− wie ist es z.B., wenn wir ein Restaurant, ein Geschäft oder ein öffentliches Verkehrsmittel betreten?<br />
− wenn wir auf den Ämtern unsere Anliegen vorbringen?<br />
− oder wenn wir im Beruf unsere Meinung unterbreiten wollen?<br />
− aber auch in den Kirchen, wenn wir Gottesdienste besuchen?<br />
Da erschlägt uns oft das Gefühl, mißachtet oder überhaupt nicht beachtet zu werden. Das macht uns<br />
traurig <strong>und</strong> wütend zugleich. Aber ist es dann der richtige Weg, wenn wir an dieselben Leute oder an<br />
andere mit gleicher Münze herausgeben? Wie sehen denn wir als Gäste die Kellner, als K<strong>und</strong>en die<br />
Verkäufer, als Bürger die Beamten, als einzelne die Kollegen <strong>und</strong> als Besucher die kirchlichen<br />
Mitarbeiter?<br />
Und was für unsere Gesellschaft gilt, das trifft auch auf unsere Achtung gegenüber anderen Völkern zu.<br />
Wie sehr achten denn gerade wir in der DDR die Menschen des Ostens <strong>und</strong> des Südens? Denn - <strong>und</strong> damit<br />
195 Die Meditation wurde von H. Wagner verfaßt.<br />
123
schließt sich der Bogen zur Gerechtigkeit - denjenigen, welchen ich nicht oder welchen ich nur minder<br />
achte, den kann ich ganz leicht aus meiner Gerechtigkeit ausschließen. Gegenseitige Achtung ist somit ein<br />
Schlüssel zur weltweiten Gerechtigkeit <strong>und</strong> damit auch ein Mittel - meinethalben nur ein bescheidenes<br />
Hausmittel, aber gerade die sollten wir nicht verachten - also gegenseitige Achtung ist auch ein Mittel<br />
gegen den Hunger in der Welt <strong>und</strong> die Sinnlosigkeit in unserem Leben. Denn wie könnte ich den Hunger<br />
eines von mir geachteten Menschen ertragen? Und wie könnte ich mein Leben als sinnlos empfinden,<br />
wenn ich wüßte, wenn ich es immer wieder spürte: ich werde geachtet?<br />
Mit gegenseitiger Achtung ist vielleicht nicht die Welt zu verändern, aber mit Sicherheit Menschen!<br />
Ich lade Sie nun ein, darüber nachzudenken, was Jesus in der folgenden Erzählung beim Zöllner Zachäus<br />
erreicht hat. Zachäus gehörte als Gesinnungshilfe der römischen Besatzungsmacht zu den Verachteten, zu<br />
den Ausgeschlossenen seines Volkes. Keiner traute ihm noch etwas Gutes zu, nie wäre ein aufrechter<br />
Mann in seinem Hause eingekehrt.<br />
Lukas schreibt: [Es folgt der Bibeltext aus Lukas 19,1-10]<br />
[Orgelmusik]<br />
[Fürbitten 196]<br />
50 Feststellung des Staatssekretariats<br />
Auszug aus der Vorlage der Abteilung II des Staatssekretariats für Kirchenfragen (Gräfe <strong>und</strong> Röfke, zur<br />
Kenntnis genommen Wilke) zur Leitungsinformation 2/88 für die Dienstbesprechung des Staatssekretariats<br />
am 25.04.1988 vom 18.04.1988 (hektographierte Dienstsache, Exemplar Nr. 10 mit Bearbeitungsspuren)<br />
(BArch O-4 6137).<br />
[... Seite 4:] Am deutlichsten treten die Polarisierungsprozesse in der Frage kirchlicher Arbeit mit<br />
Übersiedlungsersuchenden in Erscheinung. Von den Kirchenleitungen <strong>und</strong> der Mehrheit der Geistlichen<br />
<strong>und</strong> Amtsträgern wird der staatliche Einspruch gegen die Einmischung kirchlicher Kreise akzeptiert. Die<br />
Orientierung der KKL (Buckow) wird umgesetzt 197 . Nach den Bezirksberichten sind gegenwärtig<br />
insgesamt noch fünf Kirchgemeinden bekannt (Leipzig, Halle, Bitterfeld, Quedlinburg, Naumburg), in<br />
denen z.T. durch politisch negative Kräfte Antragstellern die Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu<br />
versammeln. In allen Fällen sind die zuständigen kirchenleitenden Vertreter (Bischöfe Dr. Hempel, Dr.<br />
Demke, Präsident Dr. Domsch) engagiert, diese Aktivitäten systematisch einzugrenzen <strong>und</strong> ausklingen zu<br />
lassen. [...]<br />
51 Stasi-Information<br />
Operativinformation 101/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) vom Leiter der Kreisdienststelle Leipzig-<br />
Stadt (Oberst Schmidt i.V. unleserlich Ref. XX/2 grie-wl) vom 03.05.1988 an den 1. Stellvertreter des Leiters<br />
der BV Leipzig (Oberst Eppisch) <strong>und</strong> an die Abteilungen XX <strong>und</strong> AKG der BV Leipzig <strong>und</strong> an die Referate<br />
AuI <strong>und</strong> XX/2 der KD-Leipzig-Stadt über das Friedensgebet am 02.05.1988. Im Verteiler wurde AKG als<br />
Adressat unterstrichen. Die Quelle trägt eine Vielzahl an Bearbeitungsspuren. Bei den Nachnamen der<br />
196 Nach Stasi-Bericht hatten die Fürbitten folgenden Inhalt: „Fürbitten gegen ÜSE, 'Verbindung zu diesem Land'<br />
Erfahrungen von Begrenztheit 'Ohnmacht gegenüber Institutionen' hier für positive Veränderungen einsetzen<br />
Fürbitte für Einberufene an Gemeinde- oder Stadtjugendpfarrer wenden bei Schwierigkeiten [s. Anm. 200] WDV<br />
als Glaubensentscheidung [Pfeil] SoFD Erschrecken vor harter Konsequenz bei WDV Philippiner: für gerechten<br />
Frieden, leben in Frieden (Beifall) USA: betet für Leidende Cubaner: bittet für Kub. Volk zu beten, für gerechten<br />
Zuckerpreis gegen USA-Embargo für Frieden in Nicaragua Rein: Land wo Milch <strong>und</strong> Honig fließt (Brasilien)<br />
himmelschreiende Ausbeutung wenige Ausbeuter Frieden durch Gerechtigkeit weibl. Person: - zurück in DDR<br />
[Pfeil] eigene Sicherheit - Platz im Leben suchen/einnehmen - bittet um Verständnis <strong>und</strong> Fähigkeit zum<br />
gegenseitigen Zuhören evt. [... geschwärzt]: - Ifo [d.h. Informationsteil des FG] kürzer - aktuelle Ifo nächste<br />
Woche - Erklärung verlesen - Stellungnahme zu Briefen drei Gesprächskreise“ (BStU Leipzig AB 1161, 47f.)<br />
197 s. Anm 157<br />
124
Personen, über die berichtet wurde, wurde jeweils nur der ersten Buchstaben mit der Maschine geschrieben,<br />
der Rest per Hand (ABL H 15).<br />
Durch zielgerichteten Einsatz von zuverlässigen, ehrlichen IM der KD Leipzig-Stadt konnten<br />
nachfolgende Erkenntnisse zum sog. Friedensgebet am 2.5.1988, 17.00 Uhr, in der Nikolaikirche<br />
erarbeitet werden. [/] Durch die Quellen wird eingeschätzt, daß ca. 1000 Personen, (Kirche unten voll<br />
besetzt <strong>und</strong> erste Empore teilweise), anwesend waren. Eröffnet <strong>und</strong> beendet wurde das sog. Friedensgebet<br />
durch Pfarrer Dr. Dr. [sic!] Berger, Matthias [...]. B. führte aus, daß in Kirchenräumen das Fotografieren<br />
verboten sei. Dies gelte für „Hobby- <strong>und</strong> Berufsfotografen“. Wer fotografieren möchte, benötigt dazu die<br />
Genehmigung des verantwortlichen Pfarrers. B. verwies darauf, daß im Anschluß an das Gebet<br />
Gesprächsmöglichkeiten unter Leitung seiner Person, Pfarrer Wugk [...] <strong>und</strong> Pfarrer Bartels [...] bestehen,<br />
ohne ein Thema für diese Gesprächsr<strong>und</strong>en vorzugeben. Das „Friedensgebet“ <strong>und</strong> die Fürbitten wurden<br />
durch 4 Mitglieder der „Solidarischen Kirche“ gestaltet. Eine Identifizierung dieser Personen ist nach<br />
Lichtbildvorlage bei den eingesetzten IM möglich. Eine männliche Person beschäftigte sich mit dem<br />
Nichterscheinen von Kirchenzeitungen <strong>und</strong> erläuterte die Artikel, die staatlicherseits nicht erwünscht<br />
sind 198. Eine weibliche Person199<br />
, ca. 22 - 25 Jahre, lange rote Haare, untersetzte Gestalt sprach von ihren<br />
Eindrücken <strong>und</strong> Ängsten, die sich aus ihrer Arbeit, Freizeit, Wohn- <strong>und</strong> <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis ergeben. Dabei<br />
sprach sie insbesondere über die Depressionen, die sich in ihrem <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis breitmachen, unter denen,<br />
die ausreisen wollen, aber auch unter den Zurückgelassenen. Sie hofft, daß es ihren <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n in der BRD<br />
besser geht, weiß aber, daß es nicht immer so ist. Sie wird in der DDR bleiben, weiter die Hände ringen,<br />
d.h. sich mit den tagtäglichen Problemen auseinandersetzen. Ihr fällt es schwer, neue <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu finden,<br />
da viele weggehen. Ängste hat sie auch wegen ihren Wohn- <strong>und</strong> Umweltbedingungen. Diese Person<br />
bestritt den größten Teil des „Friedensgebetes“. In den Fürbitten wurde für die in die NVA eingezogenen<br />
Personen <strong>und</strong> Verweigerer200 sowie für die in die BRD übersiedelten <strong>und</strong> die ÜSE in der DDR gebetet.<br />
Eine weibliche Person sagte, „ich wünsche mir, daß nicht so viele das Land verlassen“. Umrahmt wurde<br />
das Gebet durch das jüdische Lied „evenn Schalom elechem“ (Wir wollen Frieden haben) <strong>und</strong> ein Lied<br />
mit dem Titel „Füreinander“ 201 , welches durch eine Quelle Krawczyk zugeordnet wird. Das eigentliche<br />
„Friedensgebet“ wurde ohne jegliche Bezüge zum 1. Mai in Leipzig <strong>und</strong> Berlin beendet.<br />
Öffentlichkeitswirksame Handlungen gingen vom „Friedensgebet“ nicht aus <strong>und</strong> wurden nach Kenntnis<br />
der Quelle nicht geplant.<br />
Zu den einzelnen Teilnehmern konnten folgende Erkenntnisse erarbeitet werden: Dr. [... geschwärzt]<br />
(ÜSE) [...] Um den K. sammelten sich vor Beginn des Gebetes ca. 15 Personen, um Beratung zu Fragen<br />
der Ausreise zu erhalten. Durch den K. wurde über ein Gerücht gesprochen, daß eine gesetzliche<br />
Regelung geschaffen werden soll zur Praxis der Entgegennahme von ÜSE durch staatliche Organe. Nach<br />
dieser Regelung sollen zu Personen, deren erster Antrag auf Übersiedlung abgewiesen wurde, bei<br />
198 Einige Ausgaben durften überhaupt nicht erscheinen, bei anderen durften bestimmte Artikel nicht erscheinen. So<br />
erschien „Die Kirche“ mit weißen Flächen, an den Stellen nichtgenehmigter Artikel. Am 17.04.1988 übergab das<br />
Presseamt der DDR sogar einen „Tabukatalog“ für die kirchliche Berichterstattung. Darin waren u.a. schulische<br />
Erziehung, Wehrdienstverweigerung, Energiepolitik <strong>und</strong> Menschenrechte enthalten. Im Mai-Heft der Zeitschrift<br />
der AGU „Streiflichter“ wurde über die Zensur-Maßnahmen berichtet <strong>und</strong> die Artikel, die in „Die Kirche“ im<br />
April nicht erscheinen durften, abgedruckt. Außerdem findet sich dort ein Interview mit dem damaligen<br />
Chefredakteur von „Die Kirche“, G. Thomas.<br />
199 gemeint ist B. Schade<br />
200 Auf der Dienstversammlung der BV des MfS sagte Hummitzsch, daß das MfS vorschlagen könne, wer von den<br />
Wehrpflichtigen „zuerst drankommt“ <strong>und</strong> bezeichnete die Einberufung als eine „Maßnahme um das feindliche<br />
Potential zu reduzieren“ (BStU Leipzig AB 3837, 44b+45a). Da das „feindliche Potential“ im allgemeinen den<br />
Wehrdienst verweigerte, bedeutete das eine Vielzahl von Verhaftungen. Hummitzsch rechnete mit weit über 100<br />
Wehrdienstverweigerern (WDV), die einberufen bzw. inhaftiert werden sollten. Die Einberufung wurde vor den<br />
1. Mai gelegt, um diesen „abzusichern“. Der AKG u.a. Gruppen richteten über den 1. Mai ein Kontaktbüro ein,<br />
wo die Informationen über die Inhaftierungen gesammelt wurden. Zu Verfahren gegen WDV kam es 1988 nicht,<br />
nach einigen Tagen wurden die WDV wieder freigelassen (s.a. G. Hildebrand, 130).<br />
201 Den Herausgebern ist nicht klar, welches Lied gemeint sein soll.<br />
125
Erneutstellung strafrechtliche Maßnahmen durchgeführt werden können. Dies wurde mit Empörung<br />
aufgenommen.<br />
Schwabe, Uwe [/] 04.05.1962 [/] IG „Leben“ [/] Abt. XII: erfaßt für KD Leipzig-Stadt [/] Sch. erzählte im<br />
kleinen Kreis, daß er zur Maidemonstration in Leipzig war. Er sei am 1. Mai durch die Sicherheitsorgane<br />
beobachtet wurden, habe diese jedoch abhängen können. Dazu ist einzuschätzen, daß aufgr<strong>und</strong> der<br />
Darstellung des Sch. (Personen <strong>und</strong> Fahrzeug) keine Dekonspiration der tatsächlichen Beobachtung durch<br />
die KD Leipzig-Stadt erfolgte.<br />
Zur sog. „Menschenrechtsgruppe“ des Pfarrers Wonneberger, Christoph [...] wurde bekannt, daß es 3 neue<br />
Mitglieder gibt. Einer der Neuen war Leistungssportler <strong>und</strong> ist jetzt bei der DHfK [Deutschen Hochschule<br />
für Körperkultur] Leipzig beschäftigt202 , <strong>und</strong> eine weitere Person kommt von einem Jugendklubhaus.<br />
Diesen Personen würde in der Gruppe mißtraut. Sch.[wabe]: „ich weiß auch nicht, wem man vertrauen<br />
kann.“ Am 04.05.88 findet in der Wohnung des Sch. seine Geburtstagsfeier statt, zu der Personen aus dem<br />
Umfeld des Sch. eingeladen wurden.<br />
[... geschwärzt] R. äußerte, daß wenn sein Bekannter [... geschwärzt] nicht zum „Friedensgebet“ kommt,<br />
er vermutlich wegen demonstrativen Aktionen zum 1. Mai in Haft sei. (siehe Operativinformation<br />
89/88 203 der KD Leipzig-Stadt). Von R. gingen keine negativen Aktivitäten zum 1. Mai aus.<br />
Weiter identifiziert wurden: [/] Superintendent Magirius, Friedrich [/] [...] M. äußerte am Ende des<br />
„Friedensgebetes“, „Wenigstens die Kollekte stimmt“. Damit bezog er sich auf die große Teilnehmerzahl<br />
<strong>und</strong> das unkonstruktive Ablaufen der Veranstaltung. [ ... Es folgt eine Auflistung von weiteren 11 Namen<br />
von Teilnehmern des FGes]<br />
In einem Gespräch mit Personen, welche im sog. „Offenen Keller“ der Stephanuskirche verkehren, wurde<br />
einem IM der Hinweis bekannt, daß die Gestaltung des nächsten „Friedensgebetes“ am 09. 05. 88 durch<br />
den „Offenen Kreis“ der Stephanuskirche, namentlich durch den Diakon [... geschwärzt], [... geschwärzt]<br />
<strong>und</strong> eine männliche Person mit dem Spitznamen „Sohni“ erfolgen soll.<br />
Bei Auswertung der Hinweise auf interne Gespräche ist auf unbedingten Quellenschutz zu achten.<br />
Durch die KD Leipzig-Stadt erfolgt weiterer IM-Einsatz zur Kontrolle der sog. „Friedensgebete“ <strong>und</strong><br />
Aufklärung der Pläne <strong>und</strong> Absichten des dort beteiligten Personenkreises. Über weitere identifizierte<br />
Teilnehmer erfolgt eine Ergänzungsinformation.<br />
52 Stasi-Information<br />
Information Nr. 232/88 des Ministers für Staatssicherheit an [handschriftlich] Jarowinsky, Krenz, Bellmann,<br />
Gysi, Mittig <strong>und</strong> an die Leiter der HA XX, der BV Leipzig <strong>und</strong> der HA XX/4 <strong>und</strong> Ber. 1, über das<br />
Friedensgebet am 02.05.1988 in Leipzig. Die Information trägt den Aufdruck: „Streng geheim! Um Rückgabe<br />
wird gebeten!“ Vorlage war das Exemplar Nr. 10 (BStU ZAIG 3660, 9-15).<br />
Information über [/] beachtenswerte Aspekte im Zusammenhang mit einer kirchlichen Veranstaltung am<br />
2. Mai 1988 in der Nikolaikirche in Leipzig<br />
Am 2. Mai 1988 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.30 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche ein erneutes, von<br />
Mitgliedern der „Regionalgruppe“ Leipzig des „Arbeitskreises Solidarische Kirche“ - nach vorliegenden<br />
Hinweisen alles Studenten des Theologischen Seminars Leipzig - organisiertes sogenanntes montägliches<br />
Friedensgebet statt. [/] Unter den ca. 600 Teilnehmern dieser Veranstaltung wurden Mitglieder<br />
verschiedener kirchlicher Basisgruppen sowie zahlreiche Übersiedlungsersuchende festgestellt. [/]<br />
Während der Veranstaltung informierte ein Teilnehmer unter Bezugnahme auf ein Gespräch mit dem<br />
Chefredakteur der Kirchenzeitung der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg „Die Kirche“ über<br />
Schwierigkeiten bei der Herausgabe kirchlicher Presseerzeugnisse. So seien Veröffentlichungen zu einem<br />
Interview mit Bischof Forck, zur Lage der Kirchen in der Ungarischen Volksrepublik, zu aktuellen<br />
Problemen in der SR Rumänien, zur Person des Schriftstellers Stefan Heym usw. angeblich staatlicherseits<br />
untersagt worden. Dieser staatliche Einspruch sei mit der Begründung erfolgt, daß die kirchliche Presse<br />
202 Es handelt sich dabei um B. Becker (IM „Fuchs“).<br />
203 Diese Information ist den Herausgebern nicht bekannt.<br />
126
sogenannte Tabuthemen berühre, dazu zähle auch die Wehrdienst-, Menschenrechts- <strong>und</strong><br />
Ökologieproblematik sowie das Problem der Kernenergienutzung in der DDR. In diesem Zusammenhang<br />
wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß die Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen in der DDR<br />
stark genug seien, „endlich wieder den Inhalt der Kirchenzeitungen selbst zu bestimmen“. In<br />
vordergründig erkennbarer Absicht, zu möglichen Eingaben zu inspirieren, wurde den Anwesenden die<br />
Adresse des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR bekanntgegeben. [/] Eine<br />
weibliche Person artikulierte persönliche Unzufriedenheit, Zweifel <strong>und</strong> Problemfelder „angesichts der<br />
Folgen von Tschernobyl, Umweltverschmutzung <strong>und</strong> Quälereien des täglichen Lebens“ <strong>und</strong> unterstellte<br />
der DDR eine „zensierte Kultur“. Nach ihrer Auffassung ergäbe sich daraus zwangsläufig Zynismus <strong>und</strong><br />
Resignation. Ein Verlassen der DDR stelle jedoch keine Lösung der von ihr genannten Problem- <strong>und</strong><br />
Konfliktfelder dar.<br />
In einer „Fürbitte“ äußerte man sich „bestürzt“ über die „Mächtigen“ im Staat, die angeblich ohne<br />
Bedenken ihre Macht über Menschen ausüben würden. In die „Fürbitte“ wurden Wehrdienstleistende <strong>und</strong><br />
Wehrdienstverweigerer, Inhaftierte (die nur wegen der Unfähigkeit des Staates zum Dialog strafrechtliche<br />
Konsequenzen erleiden müßten), Verwandte von Inhaftierten (die Repressalien ausgesetzt seien) sowie<br />
Übersiedlungsersuchende (die alltäglichen Erniedrigungen ausgesetzt seien, ohne sich dagegen wehren zu<br />
können) einbezogen.<br />
Im Anschluß an das sogenannte Friedensgebet wurden mit einer geringen Anzahl von Personen in<br />
mehreren Gruppen „Nachgespräche“ geführt. Übersiedlungsersuchende äußerten dabei ihre<br />
Unzufriedenheit mit der Veranstaltung, während der sie ein „deutliches kirchliches Engagement“ für ihr<br />
Anliegen erwartet hätten. Durch anwesende kirchliche Amtsträger wurde versucht, mäßigend auf diese<br />
Personen einzuwirken.<br />
Im Zeitraum des „Friedensgebetes“ wurden durch ein Mitglied der „Regionalgruppe“ Leipzig des<br />
„Arbeitskreises Solidarische Kirche“ Druckmaterialien negativen Inhalts verkauft, darunter auch eine<br />
sogenannte Erklärung des „Arbeitskreises Solidarische Kirche - Regionalgrupppe Thüringen“ zur<br />
Ausreiseproblematik. (Anlage)<br />
Das sogenannte Friedensgebet <strong>und</strong> die „Nachgespräche“ verliefen ohne Störung der öffentlichen Ordnung<br />
<strong>und</strong> Sicherheit <strong>und</strong> hatten außerhalb der Kirche keine Öffentlichkeitswirksamkeit.<br />
In der Vergangenheit wurden wegen der in regelmäßigen Abständen stattfindenden Veranstaltungen mit<br />
den kirchlichen Amtsträgern Gespräche zur Unterbindung negativer Erscheinungen geführt. [/] In<br />
Auswertung dieser Veranstaltungen wurden in Abstimmung mit der Bezirksleitung Leipzig der SED <strong>und</strong><br />
den zuständigen staatlichen Organen differenzierte Maßnahmen gegenüber kirchenleitenden Amtsträgern<br />
eingeleitet, mit dem Ziel der Unterbindung des feindlich-negativen Charakters der wöchentlich<br />
stattfindenden „Friedensgebete“. [/] Der zuständige Stellvertreter Inneres des Bezirkes Dresden führte<br />
außerdem mit dem amtierenden Präsidenten der Landeskirche Sachsens, Oberkirchenrat Schlichter, ein<br />
Gespräch <strong>und</strong> forderte, die Interessen des Staates energischer durchzusetzen.<br />
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt!<br />
Anlage zur Information 232/88<br />
Abschrift Jena, März 1988<br />
Erklärung [/] des Arbeitskreises Solidarische Kirche - Regionalgruppe Thüringen - zur<br />
Ausreiseproblematik<br />
1. Die Zahl der Ausreisewilligen DDR-Bürger nimmt seit einigen Jahren ständig zu <strong>und</strong> hat inzwischen<br />
ein drastisches Ausmaß erreicht. Mit der Zunahme der Anträge <strong>und</strong> vereinzelter spektakulärer<br />
Handlungen <strong>und</strong> Aktionen Ausreisewilliger zur Forcierung ihrer Anträge geht eine wachsende<br />
Diffamierungs- <strong>und</strong> Kriminalisierungskampagne des Staates einher, der sich auf ihre Weise leider<br />
inzwischen auch zahlreiche kirchliche <strong>und</strong> unabhängige Gruppen in Form von Ausgrenzungs- <strong>und</strong><br />
Verurteilungserklärungen angeschlossen haben. Die von allen Beteiligten häufig sehr emotional<br />
geführte Debatte macht deutlich, daß jeder von uns allen auf irgendeine Weise persönlich von diesem<br />
Problem betroffen ist.<br />
2. Die große Zahl der Anträge <strong>und</strong> häufig nicht weniger ihre Begründungen machen deutlich, daß es hier<br />
nicht mehr nur um Einzelschicksale oder Privatprobleme geht. Deshalb halten wir die Ausgrenzung<br />
127
von Ausreiseantragstellern aus der Gesellschaft <strong>und</strong> ihrem Dialogmechanismus nicht für falsch,<br />
sondern für schädlich. Sie verbietet sich schon insofern, als Ausreisewillige, solange sie hier leben -<br />
<strong>und</strong> in aller Regel auch arbeiten - sowie die DDR-Staatsbürgerschaft besitzen, auch im vollen Besitz<br />
aller staatsbürgerlichen Rechte sind <strong>und</strong> zudem einen spürbaren Anteil der Gesellschaft darstellen. Daß<br />
die Ausreiseanträge häufig auch Ausdruck individueller Krisen sind, ändert nichts daran, daß [in] ihnen<br />
letztlich nur das Symptom einer gesellschaftlichen Krise zum Ausdruck kommt, für die die<br />
Antragsteller von einigen nun zum Sündenbock der Nation gemacht werden sollen. Wir halten es für<br />
falsch, auf diese Weise eigene Frustrationen <strong>und</strong> Ängste sowie gr<strong>und</strong>sätzliche gesellschaftliche<br />
Probleme zu verdrängen oder zu sublimieren.<br />
3. Wir verstehen die große Zahl der Ausreiseanträge auch als einen bewußten oder unbewußten Hilferuf<br />
aus einer für viele offenbar ausweglos erscheinenden Situation frustrierender Unmündigkeit innerhalb<br />
unserer Gesellschaft. Auch solche Anträge, die auf vordergründigen (Konsum-)motiven beruhen,<br />
weisen letztlich auf das hin, das im Bereich der menschlichen Werte <strong>und</strong> schöpferischen<br />
Entfaltungsmöglichkeiten im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeit besteht. Die Konsumorientierung<br />
vieler DDR-Bürger (auch Nichtantragsteller) ist eine Form der Kompensation unbefriedigt bleibender<br />
individueller <strong>und</strong> gesellschaftlicher Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, deren Erfüllung das eigentliche Anliegen der<br />
sozialistischen Revolution ist. Letztlich ist diese Konsumhaltung Ausdruck menschlicher Entfremdung<br />
in vielen Arbeits- <strong>und</strong> Lebensbereichen unserer Gesellschaft.<br />
4. Wir halten die entstandene Gefahr eines neuen gesellschaftlichen Feindbildes dadurch für abwendbar,<br />
daß alle Beteiligten die Chance der gegenwärtigen Situation erkennen, die darin besteht, die sich auch<br />
in der Ausreiseproblematik ausdrückende gesellschaftliche Krise ernst zu nehmen <strong>und</strong> ihre Ursachen -<br />
gerade auch im Dialog mir den Ausreisewiligen - aufzudecken <strong>und</strong> zu beseitigen. Wir haben die<br />
Erfahrungen gemacht, daß nicht selten gerade Ausreisewillige zu diesem Dialog besonders bereit sind.<br />
Lösungen können dabei nur als Ergebnis eines langwierigen Prozesses von Kompromissen <strong>und</strong> kleinen<br />
Schritten erwartet werden. Für diesen Prozeß sind Ausdauer, Phantasie <strong>und</strong> Verantwortungsbewußtsein<br />
nötig.<br />
Auch wir selbst müssen uns immer wieder fragen lassen, zu welchen konkreten Schritten wir bereit<br />
sind <strong>und</strong> wieviel Phantasie wir wirklich aufbringen. Dabei gehen wir davon aus, daß schon das<br />
Zustandekommen eines echten gesellschaftlichen Dialogs neue Hoffnung bei manchen Antragstellern<br />
für ein Leben hier in unserem Land wecken wird, den Unentschiedenen Mut zum Hierbleiben macht<br />
<strong>und</strong> die Arbeit derer, die sich bewußt für die Auseinandersetzung mit den Gr<strong>und</strong>problemen unserer<br />
Gesellschaft entschieden haben, stärkt.<br />
5. Darum halten wir es als verkehrt, unklug <strong>und</strong> schädlich, Ausreisewillige aus der Gesellschaft<br />
auszugrenzen oder an ihren Rand abzudrängen. Vielmehr müssen auch sie in einem dringend nötigen<br />
gesellschaftlichen Dialog über die Ursachen der Krise einbezogen werden.<br />
- Auch für die Öffentlichkeit bestimmt -<br />
53 Samisdat-Veröffentlichung<br />
Leserbriefe zu den Friedensgebeten aus dem Mitteilungsblatt der Leipziger Basisgruppen „Kontakte“ (Mai<br />
1988) (ABL H 2).<br />
Leserbrief von Christoph Motzer<br />
Text: Natürlich freue ich mich, wenn ich die Besucher des Friedensgebetes immer noch nicht mehr in<br />
Zehnern, sondern in H<strong>und</strong>erten messen kann. Scheint es nur so, oder sind wir, die wir in Leipzig bzw. in<br />
der DDR bleiben wollen, in der Minderheit? Leider reichten am Montag fast beide Hände, um die Leute<br />
zu zählen, welche keinen Antrag gestellt hatten. Mahnung sollte dieses Mißverhältnis für alle sein, denen<br />
eine Weiterarbeit der Basisgruppen am Herzen liegt.<br />
Es liegt an uns, das Friedensgebet wieder zum Treff engagierter Nichtantragsteller zu machen!<br />
Die aktuelle Problematik der Ausreisewilligen darf nicht die Arbeit vorhandener Gruppen ins Abseits<br />
drängen. Auch wenn ein zentraler Treffpunkt bzw. eine Kontaktgruppe zum Reizwort für manche<br />
Amtsträger in Kirche <strong>und</strong> Staat geworden ist: Wir benötigen <strong>und</strong> fordern ein Kommunikationszentrum für<br />
128
Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />
Christoph Motzer [/] AG Menschenrechte<br />
Leserbrief von Gabriele Heide<br />
Die vielen Menschen mit Ausreiseantrag sind ein deutliches Zeichen für unfriedliche Zustände in unserem<br />
Land. Sowohl die Gründe für einen Ausreiseantrag als auch die Probleme, denen Antragsteller ausgesetzt<br />
sind, gehören deshalb schon in ein Friedensgebet, also auch am Montag in der Nikolaikirche. Die Kirche<br />
<strong>und</strong> die Basisgruppen sind sicher nicht die Verursacher dieser unfriedlichen Zustände.<br />
Aber mit unserer jahrelangen Verdrängung dieser Problematik haben wir wohl zur Verschärfung<br />
beigetragen. Also ist die Toleranz <strong>und</strong> Offenheit am Platz, wie seit Januar die Praxis jeden Montag ist.<br />
Aber Offenheit <strong>und</strong> Toleranz darf keine einseitige Sache sein. Wenn z.B. die Gruppe „Hoffnung<br />
Nikaragua“ ein Gebet für Nikaragua hält, <strong>und</strong> 90% der Besucher sind deutlich desinteressiert. Oder bei<br />
anderen Gebeten, wenn bestimmte Reizworte fallen <strong>und</strong> dann geklatscht wird, egal, ob es sich um eine<br />
Ansage, einen Teil der Verkündigung oder ein Gebet handelt. Dann frage ich mich schon, inwieweit die<br />
Antragsteller Offenheit auch über ihre eigenen Probleme hinaus <strong>und</strong> Toleranz gegenüber den Gruppen, die<br />
ihre speziellen Themen bringen wollen, geübt wird. In den Zeiten, wo wir mit 20 Leuten im Kreis saßen,<br />
gestalteten die „Frauen für den Frieden“ regelmäßig Montags-Friedensgebete. Zur Zeit fällt es uns schwer,<br />
ein Gebet zu übernehmen, weil wir die zahlreichen Besucher kaum als Gegenüber empfinden können.<br />
Sollen wir uns auf sie einstellen, damit wir sie erreichen? Aber engen wir uns damit nicht ein? Besteht<br />
nicht die Gefahr, daß andere wichtige Dinge auf der Strecke bleiben? Sollen wir das Risiko eingehen, an<br />
90% der Besucher vorbeizureden? Wenn die Situation so bleibt, müssen wir Basisgruppen bis spätestens<br />
zur Friedensdekade diese Frage klären.<br />
Gabriele Heide [/] Frauen für den Frieden<br />
Anmerkung der Redaktion: Kontakte liegt daran, daß über alles, was mit dem Friedensgebet<br />
zusammenhängt, weniger gemunkelt, mehr offen diskutiert wird. Die beiden Beiträge könnten hier einen<br />
Meinungsaustausch in Gang setzen. Schreibt uns!<br />
54 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief eines Ausreiseantragstellers vom 23.05.1988 an Pf. Führer. Vorlage war eine Xerokopie des<br />
maschinengeschriebenen Briefes mit handschriftlichen Vermerken von Pf. Führer. Darunter u.a.: „verlesen in<br />
[AK] ‘Hoffnung’, 20.VI.88“ <strong>und</strong> „21. März 1989 Bischof gelesen!“ (ABL H 1).<br />
Sehr geehrter Herr Pfarrer Führer!<br />
Diesen Brief schreibe ich Ihnen, weil ich ein wenig offener <strong>und</strong> feiger Mensch bin <strong>und</strong> weil der Mut fehlt,<br />
meine Meinung zur rechten Zeit am rechten Ort zu äußern. Ich habe dies nie fertiggebracht <strong>und</strong> bin auch<br />
jetzt nicht dazu in der Lage. Dieser sicher nicht alltägliche Brief soll ein Geständnis sein, eine Beichte<br />
gewissermaßen. Aber nicht vor Gott oder vor seinen Dienern, sondern vor einer Öffentlichkeit besonderer<br />
Art, vor einer einmaligen Zweckgemeinde, die sich allmontäglich in der Nikolaikirche zum Friedensgebet<br />
versammelt. Vor dieser Gemeinde möchte ich bekennen, <strong>und</strong> bitte Sie daher auch, diesen Brief zur<br />
Verlesung zu bringen 204 . Ich bin mir bewußt, daß viele Gründe gegen eine solche Veröffentlichung<br />
sprechen, <strong>und</strong> habe Verständnis, wenn Sie meinem Wunsch nicht nachkommen können. Ich bin mir aber<br />
auch sicher, daß all das einmal an- <strong>und</strong> ausgesprochen werden muß, <strong>und</strong> ich bin mir noch sicherer, daß ich<br />
hier unbewußt für viele schreibe <strong>und</strong> daß sich viele dieser Montagsgemeinde in meinen Worten<br />
wiederfinden werden.<br />
Gestatten Sie deshalb bitte, im Weiteren von „wir“ <strong>und</strong> „uns“ zu sprechen. Diejenigen aber, die sich von<br />
meinen Worten nicht betroffen fühlen müssen, sie können glücklich sein. Es ist wahr, wir sind keine oder<br />
nur halbherzige Christen, <strong>und</strong> wir haben uns um die christliche Gemeinde in der Vergangenheit wenig<br />
gekümmert, <strong>und</strong> wir tun dies auch in der Gegenwart nicht viel mehr. Wir können auch nicht in Anspruch<br />
nehmen, überzeugte Atheisten genannt zu werden. Für Probleme dieser Art hatten wir in der<br />
204 s. Dok. 68<br />
129
Vergangenheit wenig Zeit übrig. Wir haben uns nach den „Berliner Ereignissen“ <strong>und</strong> der unglücklichen<br />
Rolle, die die Kirche dabei spielte, in das Leipziger Friedensgebet sinngemäß „eingeschlichen“, in der<br />
Hoffnung, von gleichen oder ähnlichen Ereignissen mit aus diesem Land herausgespült zu werden. Wir<br />
sind aber Feiglinge, kleinbürgerliche Opportunisten, die selbst in der letzten Phase der<br />
Auseinandersetzung mit diesem Staat vorsichtig sind. Wir wollen nichts riskieren, wir wollen nur in der<br />
Nähe sein, wenn durch andere etwas passiert.<br />
Und so sitzen wir jeden Montag in der Nikolaikirche <strong>und</strong> hoffen auf die Anderen [sic!], die „Hierbleiber“,<br />
daß diese mit Staat <strong>und</strong> Gesellschaft ins Gericht gehen, beklatschen kindisch jede Äußerung, die uns<br />
„gewagt“ erscheint <strong>und</strong> kommen uns dabei vor wie Verschwörer. Wir staunen über Wortgewalt <strong>und</strong><br />
kritische Schärfe, belächeln stumm jene Träumer, die sich um Ausgewogenheit bemühen, <strong>und</strong> bedauern<br />
die, die glauben, in diesem materiell <strong>und</strong> staatsmoralisch 205 verwahrlosten Land noch etwas ändern zu<br />
können <strong>und</strong> denken stets nur das Eine: fort, fort, fort ...<br />
Andererseits fehlt uns jedes Verständnis für Ausgewogenheit, für Nikaragua oder Südafrika, für die Armut<br />
in den USA oder für die Probleme der Arbeitslosen in der BRD. Wir verlangen Abrechnung mit der DDR,<br />
aber bitte durch andere. Das „Friedensgebet“ soll unseren persönlichen Frieden sichern, den Frieden<br />
letzter Jahre <strong>und</strong> Tage in der DDR. Allein der in unserem Land um sich greifende Mißbrauch mit diesem<br />
Wort „Frieden“, dieses perverse Schindluder, das hiermit offiziell getrieben wird, kann uns entschuldigen,<br />
kann uns entlasten, wenn auch wir unter diesem Segel fahren.<br />
Aber wir sind Feiglinge, Anpasser in Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart. Wir engagieren uns nicht ohne<br />
Abschätzung des Risikos. Wir haben unser Leben in der DDR bisher zu unserem eigenen Nutzen<br />
optimiert <strong>und</strong> wollen auch dabei bleiben. Wir haben uns dieser schnuddeligen Jugendweihe ohne Murren<br />
unterzogen, wir haben den Platz in der Leitung stets angenommen, unabhängig von Überzeugungen, wir<br />
haben Fähnchen geschwenkt, wann immer es verlangt wurde, wir haben rote Lieder gesungen, kassiert<br />
<strong>und</strong> Wandzeitungen gestaltet. Wir haben geschossen <strong>und</strong> gelogen, gelogen vom Anfang bis zum Ende <strong>und</strong><br />
ohne die geringsten Skrupel. Wir haben die Notwendigkeit dieses absurden Bauwerks in Berlin<br />
lehrbuchmäßig begründet <strong>und</strong> kluge Arbeiten über den Sieg des Sozialismus <strong>und</strong> den Untergang des<br />
Kapitalismus geschrieben. Wir haben, wie alle, unsere wahre Gesinnung verheimlicht <strong>und</strong> mit der Lüge<br />
nicht einmal in der eigenen Familie halt gemacht. Wir haben aber nicht versucht, risikoreich über die<br />
Mauer zu klettern oder durch die Elbe zu schwimmen. Wir haben nur heimlich die Faust geballt <strong>und</strong> auf<br />
dem Klosett leise geschimpft. Wir haben uns nicht gegen den Wahnsinn der Militarisierung gewandt, wir<br />
haben dem primitiven Konsumdenken nicht widerstanden, wir haben auch nicht für einen aussichtslosen<br />
Umweltschutz gekämpft. Der Sozialismus hörte an der Wohnungstür auf, die Auseinandersetzung damit<br />
fing gar nicht erst an. Und letztlich sind wir mitverantwortlich für Wahlergebnisse, die mit 99 vor dem<br />
Komma beginnen, <strong>und</strong> wir haben dazu nicht einmal Stift <strong>und</strong> Kabine benötigt. Wir haben einer Partei die<br />
Treue geschworen <strong>und</strong> unsere Westverwandtschaft verleugnet, <strong>und</strong> wenn hier nicht mehr aufzuzählen ist,<br />
so wurde eben nicht mehr von uns verlangt.<br />
Aber wir haben es bis zum Golf gebracht, wir haben zwei Farbfernseher <strong>und</strong> waren mehrfach in Ungarn<br />
<strong>und</strong> Bulgarien. Wir haben eine Datsche, einen Arbeitsplatz auf Rentnerbasis <strong>und</strong> ein hübsches Konto.<br />
Aber wir sind nicht dem Nützlichkeitsverein beigetreten, denn wir wollten optimieren <strong>und</strong> nicht<br />
maximieren! Und nun sitzen wir hier unter dem Kreuz, erneut auf dem Wege zu einem Optimum. Doch<br />
wir haben uns verrechnet. Uns kommen Zweifel. Wird unser Opportunismus, unser Zögern bestraft?<br />
Können wir das sinkende Schiff nicht mehr rechtzeitig verlassen? Haben sich alle gegen uns<br />
verschworen? Sind wir verloren? Was können wir tun? Wir, die Macher, die Musterbeispiele der<br />
Anpassung des Individuums an die gesellschaftlichen Verhältnisse, sind am Ende. Es gibt nichts mehr zu<br />
optimieren. Wir sind ganz klein <strong>und</strong> kommen in die Kirche. Wir, die großen Opportunisten, die großen<br />
Kleinbürger, wir brauchen uns nicht mehr anzupassen. Unser Opportunismus ist nicht mehr gefragt. Wir<br />
brauchen einfach nur Hilfe. Wir sind nun bereit, sogar über Jesus Christus <strong>und</strong> dessen Art zu helfen<br />
nachzudenken. Wir wollen uns trösten lassen.<br />
Sehr geehrter Herr Pfarrer Führer!<br />
Wir brauchen diesen Montag, auch wenn diese Andacht <strong>und</strong> die Kirche solche Art von Gästen eigentlich<br />
205 handschriftlich aus „moralisch“ verbessert.<br />
130
nicht verdient haben. Wir brauchen die wenigen Geistlichen, die ohne Rücksicht auf religiöse Logik <strong>und</strong><br />
ohne Rücksicht auf kirchliche Gepflogenheiten zu uns stehen. Wir möchten bei Ihnen weiter Gastrecht<br />
genießen <strong>und</strong> sind Ihnen dafür sehr dankbar. Verzeihen sie uns, aber wir sind so geworden, ohne zu<br />
wissen wie!<br />
[gez.] Ihr [die folgende Abkürzung wurde durch Überstreichen vom Empfänger unleserlich gemacht]<br />
55 Samisdat-Veröffentlichung<br />
Leserbriefe zu den Friedensgebete aus „Kontakte“ Juni 1988 unter der Überschrift „Friedensgebet in der<br />
Diskussion“ (ABL Z 2).<br />
Leserbrief von Klaus Wirth<br />
In Kontakte 5/88 sprachen Sie davon, daß das montägliche Friedensgebet wieder zum Treff engagierter<br />
Nichtantragsteller werden muß 206 . Dafür habe ich volles Verständnis, noch dazu, da ich die Arbeit der<br />
Basisgruppen für die Kirche <strong>und</strong> dieses Land wichtig finde. Trotzdem interessiert <strong>und</strong> beschäftigt mich als<br />
Ausreise-Antragsteller auch die Frage, wo in der Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft für diese Leute Raum ist.<br />
Gesucht haben wir ihn uns in der Nikolaikirche. Zwangsläufig trat damit das Anliegen des<br />
Friedensgebetes in den Hintergr<strong>und</strong>. Da nun die Verhältnisse so sind, könnte ich mir als Lösung<br />
vorstellen, daß offiziell an einem Tag in der Woche oder aller 14 Tage ein Gottesdienst oder eine Andacht<br />
zielgerichtet für die Ausreiser gehalten wird. Damit wäre der Montag wieder für ihr Anliegen frei.<br />
Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit der zielgerichteten Missionierung der nichtchristlichen<br />
Antragsteller.<br />
Klaus Wirth<br />
Leserbrief von Lutz Hempel<br />
Das Friedensgebet in der Nikolaikirche besuche ich regelmäßig seit Januar 1988. Die große Zahl der<br />
Ausreisewilligen in unserem Land <strong>und</strong> in unserer Stadt deutet auf ein negatives Erscheinungsbild unserer<br />
Gesellschaft hin. Es bedeutet Resignation vieler Leute vor der Gegenwart, aber vor allem vor der Zukunft.<br />
In verschiedenen Gesprächen kam zum Ausdruck, daß es weniger um materielle Werte geht als vielmehr<br />
um die Öffentlichmachung der eigenen Meinung. Das ist leider im Moment nur im Rahmen der Kirche<br />
möglich. Das Desinteresse zum Beispiel beim Thema Nikaragua kann man meiner Meinung nach nur<br />
indirekt den Besuchern des Friedensgebets anlasten. Es sind viele Worte <strong>und</strong> Sätze gerade zu diesem<br />
Thema gebraucht <strong>und</strong> verbraucht worden. Der Schwerpunkt der Themen im Friedensgebet sollte im<br />
eigenen Land liegen. Hier liegt das eigentliche Defizit der Information. Ich gehöre nicht zu den<br />
Ausreisewilligen, da ich der Meinung bin, daß trotz aller Rückschläge bis jetzt kleine positive<br />
Ansatzpunkte vorhanden sind, so auch das Friedensgebet in seiner jetzigen Form. Es sollte weiterhin auf<br />
Probleme wie Umwelt, Gerechtigkeit, Friedensarbeit <strong>und</strong> Menschenrechte hingewiesen werden, vor allem<br />
in unserem Land. Die Ausreisewilligen sollten natürlich betreut, aber nicht zur Hauptsache gemacht<br />
werden.<br />
Lutz Hempel<br />
56 Innerkirchliche Information<br />
Stellungnahme der Arbeitsgruppe „Frieden“ (Leipzig-Gohlis) an den Kirchenvorstand von St. Nikolai <strong>und</strong><br />
den Bezirkssynodalausschuß vom 03.06.1988 207 . Die Stellungnahme wurde hektographiert (Lizenznummer:<br />
8511277 Frg. 20/6/88/35) (ABL H 1).<br />
206 s. Dok. 53<br />
207 Der BSA behandelte diese Erklärung am 17.06.1988 in seiner Sitzung. Im Protokoll heißt es: „Friedenskreis sieht<br />
sich nicht in der Lage Gebet durchzuführen, da Thema nicht Interessenlage der Besucher trifft [...]. Gruppe<br />
Gerechtigkeit führt Gebet am 20.6. durch - auf Pfarrerbegleitung wird ausdrücklich hingewiesen.“ (ABL H 2)<br />
131
Liebe Schwestern <strong>und</strong> Brüder!<br />
Wir wollten ursprünglich am 20.06.88 das Friedensgebet in der St. Nikolai-Kirche übernehmen. Das<br />
Thema sollte unser am Konsum orientierter Lebensstil sein. Nach einiger Vorarbeit kamen wir zu dem<br />
Entschluß, daß in der gegenwärtigen Situation ein solches Friedensgebet nicht sinnvoll ist, da für dieses<br />
Thema kaum ein entsprechendes Interesse sein dürfte. Wir entschlossen uns, das Problem der Ausreise<br />
<strong>und</strong> das Zusammenleben von Antragstellern <strong>und</strong> denjenigen, die nicht die Ausreise beantragt haben, zu<br />
thematisieren. Das schien uns wichtig zu sein, weil wir den Eindruck haben, daß es den meisten<br />
Besuchern um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR geht. Unsere Beobachtungen stützen<br />
sich auf die Gespräche vor <strong>und</strong> nach dem Gebet bzw. auf die Aussprache in den Gruppen, die die Themen<br />
des Friedensgebetes nicht wieder aufnahmen. In unserer Auffassung wurden wir durch zwei Stimmen in<br />
„Kontakte“ 208 bestärkt.<br />
Wir sind der Meinung, daß ein an Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit orientiertes Gebet Menschen zum<br />
Friedensdienst <strong>und</strong> zur Friedenshoffnung in unserer Stadt, in unserer Gesellschaft <strong>und</strong> in unserer Zeit<br />
führen soll. Dieses eigentliche Anliegen scheint uns verdrängt zu werden. In der Auffassung wurden wir<br />
z.B. auch durch den unangemessenen Besuch des Tages für den Konziliaren Prozeß am 28.05.88 bestärkt.<br />
Uns geht es um das Gespräch mit den Besuchern. Deshalb legen wir in der Anlage eine kurze Erklärung<br />
bei, die nach unseren Vorstellungen statt des Friedensgebetes vorgelesen werden könnte. [/] Wir bitten um<br />
Verständnis, daß wir aus obigen Gründen das Friedengebet zu diesem Zeitpunkt nicht durchführen<br />
können.<br />
Erklärung: Wir hatten uns als Friedensgruppe vorgenommen, das heutige Gebet zu gestalten. Dazu<br />
wollten wir den mit unserem konsumorientierten Lebensstil verb<strong>und</strong>enen Fleischverbrauch hinterfragen<br />
<strong>und</strong> auf unsere damit verb<strong>und</strong>ene Verantwortung gegenüber der Schöpfung hinweisen. Doch nach einigen<br />
miterlebten Gebeten <strong>und</strong> dem Erscheinen anderer Stellungnahmen wurde uns klar, daß unser Empfinden -<br />
nämlich die Verbindung des Friedensgebetes mit einer Treff- <strong>und</strong> Gesprächsmöglichkeit für Antragsteller<br />
- kein Einzeleindruck war. Da wir die Notwendigkeit nicht übersehen, aber auch nicht das Friedensgebet<br />
zu einem obligatorischen Rahmenprogramm degradieren wollen, fordern wir von den zuständigen<br />
kirchlichen Gremien die Schaffung von geeigneten Gelegenheiten für beide Anliegen. [/] Deshalb sehen<br />
wir von der Gestaltung des heutigen Friedensgebetes ab.<br />
Friedenskreis Gohlis<br />
57 Stasi-Notizen<br />
Handschriftliche Notizen des Leiters der BV Leipzig des MfS (Hummitzsch), die in Vorbereitung zur<br />
Bezirkseinsatzleitungssitzung am 27.06.1988 verfaßt wurden (BStU Leipzig AB 3844).<br />
Lage ÜE [Übersiedlungsersuchende] Zur BEL-Sitzung 209 am 27.6.89<br />
1988 verstärkte Aktivitäten fdl.-neg. Kräfte in Zusammenschlüssen im kirchlichen Freiraum u. unter ÜE<br />
− Ende Jan. organisiertes Vorgehen gegen staatl. Maßnahmen im Zusammenhang d. Provokation zur<br />
L.L.K<strong>und</strong>gebung 210 durch Kräfte des PUT bes. ÜE<br />
− gezielte Provokationen [/] gegen [/] LFM (Schweigemarsch) [/] 1. Mai<br />
− Sympathiebek<strong>und</strong>ung fdl. neg. Kräfte im Zusammenhang Zions-Kirche Umweltbibliothek<br />
− Konstituierung der KO [Koordinierungs]-Gruppe „Friedensgebet f. die Inhaftierten“ [ / Pfeil nach<br />
unten / ] Organisierung Friedensgebete ESG-Räume [/] Nico-Kirche [/] diente [/] zur<br />
Zusammenführung / Zusammenschluß [/] ÜE - PUT [/] bis heute<br />
− Austausch von [/] Informationen [/] Erfahrungen [/] Verhaltensweisen [/ Pfeil nach unten /]<br />
„Rechtsberatung f. ÜE“<br />
− Ziel: Ausübung [/] von [/] Druck [/] auf staatl. Organe [/] massiv, provokativ [/] (z.B. 100 Schreiben [/]<br />
208 „Kontakte“ Juni 1988 (s. Dok. 55)<br />
209 s. Anhang, S. 357<br />
210 Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17.01.1988<br />
132
gleicher Text [/] von ÜE an Rechts [/] Verfass.-Ausschuß der VK [Volkskammer] 211<br />
- nach wie vor montägl. Friedensgebete [/] Treffpunkt [/] Kommunikationsmöglichkeit f. ÜE<br />
- Zunahme an Vorsprachen bei [/] Abt. IA 212 (um 40 %) [/ Pfeil nach unten /] starker Rückgang<br />
58 Stasi-Notizen<br />
Auszug aus Aufzeichnung des Oberleutnants des MfS Rosentreter (AGL der BV Leipzig) im Arbeitsbuch zu<br />
einer „Koordinierungsbesprechung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung“ am 29.06.1988 (BStU Leipzig<br />
AB 3896).<br />
1. Auswertung der BEL-Sitzung213 27.6.88 [...]<br />
Gen. Schumann [...] keine Veranlassung, die Fragen des Feindbildes weiter zu diskutieren [...]<br />
Gen. Reitmann<br />
in 2 Stadtbezirken gegenwärtig mehr Antragsteller als 1980 im gesamten Bezirk [Leipzig]<br />
[...]<br />
− Kontakte zu feindl. Organisationen <strong>und</strong> Personen in Berlin zugenommen<br />
− begünstigende Bedingungen bei Friedensgebeten in der Nicolaikirche [sic !]<br />
− fordernder Charakter nimmt zu<br />
− Organisation der ÜSE erhöht sich<br />
Schlußfolgerungen:<br />
1. konkrete Aufgaben für Betriebe<br />
2. Einbeziehen von Personen, die von ÜSE akzeptiert [/] 3. werden<br />
4. Arbeit mit Familienangehörigen verbessern<br />
5. [Wort nicht zu entziffern] Analyse der [Wort nicht zu entziffern] <strong>und</strong> begünstigende<br />
Bedingungen<br />
− Tempo zur Entscheidung der ÜSE reicht nicht aus,<br />
Vordergr<strong>und</strong>: Abstandnahme <strong>und</strong> Disziplinierung der Bürger<br />
Leiter BV<br />
214<br />
− Nutzung des kirchlichen Freiraumes<br />
− Anfang 88 Provokationen - Anstieg<br />
− Einflußnahme westlicher Medien, Organe <strong>und</strong> Einrichtungen<br />
− Zusammenhang 17. Juni<br />
− Nicht jeder Antragsteller ist ein Feind, gehört aber zur potentiellen Reserve<br />
− 1/4 der Antragsteller - gibt es Bezugspunkte zum Reiseverkehr<br />
− Mißbrauch des Reiseverkehrs<br />
− Zunahme der Risikobereitschaft (2 Botschaftsbesetzungen)<br />
− 1 HJ 88 über 300 Personen Mißbrauch Reiseverkehr im Bezirk<br />
− 1849 ungediente Reservisten, die ÜSE sind im Bezirk<br />
− 2041 gediente Reservisten, die Antragsteller sind im Bezirk<br />
2. „Vorrecht 88“ 215 - Auswertung [...]<br />
3. Weiterbildung KEL 29./30.11.88 [...]<br />
4. Idee „Luftstrom 88“ 216 Zeitraum: 8.9.-17.9. [...]<br />
211 s. Dok. 36, Anlage<br />
212 Gemeint sind die Abteilungen für Innere Angelegenheiten bei den Räten der Kreise, Gemeinden, Stadtbezirke<br />
<strong>und</strong> der Stadt, die dienstags Sprechzeiten für Ausreiseantragsteller hatten.<br />
213 s. Anhang, S. 357<br />
214 s. Dok. 57<br />
215 Komandostabsübung der BEL<br />
216 Komplexüberprüfung einzelner Kreise durch die BEL<br />
133
59 Stasi-Notizen<br />
Aufzeichnung des Referatsleiters Zeitzschel des Referates XX/9 der BV Leipzig des MfS zu einer Beratung<br />
zwischen dem 1. Stellvertreter des Leiters der BV <strong>und</strong> den Abteilungs- bzw. Referatsleitern Fischer (BKG),<br />
Tinneberg (Stellv. Leiter Abt. XX), Brier, Conrad (XX/4) <strong>und</strong> Zeitzschel (XX/9) am 29.07.1988 (BStU<br />
Leipzig AB 1161).<br />
- Treff „Carl“ 217 : Zusammenschlüsse schwer unter Kontrolle zu halten, Problem „Öffnung der Kirche“<br />
laufend neue Gesichter, neue Probleme (Unberechenbarkeit, Ohnmacht der Kirche zur Zügelung der<br />
Leute) [/] ca. 500 Personen in Gruppen [/] Dazu Sympathisanten<br />
Gruppen sollten von KL [Kirchenleitung] Möglichkeiten zur Darstellung im KT [Kirchentag 1989]<br />
erhalten [/] Erwartung „heißer Herbst“ [/] zwielichtig Magirius<br />
Relation - Wonneberger - Kaden, Führer, Bartels<br />
SP [Schwerpunkt]: 5.9. Friedensgebet [/] geplant Gespräch Reitmann - Vertreter Domsch 218<br />
60 Samisdat-Veröffentlichung<br />
Leserbrief zu den Friedensgebeten aus „Kontakte“ (August 1988) unter der Überschrift „Friedensgebet in der<br />
Diskussion“ (ABL H 2).<br />
Zuerst möchte ich mich vorstellen: 25 Jahre, verheiratet, 1 Tochter von 5 Jahren <strong>und</strong> seit 1986<br />
sogenannter Antragsteller. Ein Gr<strong>und</strong> für die Antragstellung war unter anderem die Umweltpolitik der<br />
DDR. Meine Tochter ist anfällig im Bereich der oberen Luftwege <strong>und</strong> hatte schon mehrere Pseudokrupp-<br />
Anfälle. [/] Ich möchte reden von der Betroffenheit <strong>und</strong> bin der Meinung, daß die Kirche nicht voll ihrer<br />
Rolle gerecht wird. [/] Es ist doch offensichtlich in den Nachgesprächen (zum Friedensgebet - Anmerkung<br />
der Redaktion), daß das Angebot geringer ist als die Nachfrage. Es ist sicherlich für einen<br />
Nichtantragsteller schwer, hinter so manch ein Schicksal zu blicken oder es gar zu verstehen. Es darf<br />
niemand wegen dieses Schrittes moralisch verurteilt werden. Die gegenwärtige Krise fordert die ganze<br />
Kirche zu Zeugnis <strong>und</strong> Tat. Die Entscheidung, die wir als Antragsteller getroffen haben, wurde von uns<br />
als ein geformtes Wesen getan. In dem langen Prozeß des Lebens mit seinem ständigen Wechsel von<br />
Eindrücken, Erlebnissen, Gefühlen <strong>und</strong> Stimmungen ist dies eine Einheit, auf die wir in unserem<br />
Bewußtsein alles beziehen. Die Entscheidung, die wir jeweils selber treffen, ist somit in gewissen Umfang<br />
vorweggenommen.<br />
Mario Franke<br />
61 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief des Vorsitzenden des KV St. Nikolai, Pf. Führer, an Pf. Berger, Pf. Wonneberger <strong>und</strong> Sup. Magirius<br />
bzgl. der Abänderung der Friedensgebete vom 09.06.1988 (ABL H 35).<br />
Betr.: Friedensgebete während der Sommermonate<br />
Der Kirchenvorstand hat auf einen entsprechenden Antrag hin die Situation der Friedensgebete<br />
durchdacht 219.<br />
Folgender Beschluß ist gefaßt worden:<br />
− Das letzte Gebet vor der Sommerpause findet am 27. Juni 1988, das erste Gebet nach der<br />
Sommerpause am 29. August 1988 statt.<br />
217 Mit IMB „Carl“ ist Pf. M. Berger gemeint. Pf. Berger hatte sich am 16.06.1988 auch dem RdB (Jakel!) als<br />
Vermittler zwischen Kirchenleitung <strong>und</strong> Staat angeboten. Es wäre „doch oft besser, wenn der RdB nicht durch<br />
die Kirchenleitung auf bestimmte Problemfälle eingewiesen werde, sondern durch ihn [Berger], um gleich Luft<br />
aus den Segeln <strong>und</strong> auch im Vorfeld nehmen zu können.“ (Jakel, Information vom 17.06.1988 - ABL H 53)<br />
218 s. Dok. 65<br />
219 In den Protokollen des KV ist dieser Beschluß nicht zu finden.<br />
134
Der Kirchenvorstand empfiehlt, die mehrfach bei uns eingegangenen Äußerungen der Unzufriedenheit<br />
über den derzeitigen „Zustand“ der Friedensgebete ernsthaft zu prüfen <strong>und</strong> weiterführende Überlegungen<br />
anzustellen.<br />
62 Innerkirchliche Information<br />
Hektographierte Erklärung der Jugendkommission der Christlichen Friedenskonferenz an die Leipziger<br />
Gruppen vom 24.06.1988. Handschriftlich wurde darauf U. Mün[n]ich 220 vermerkt (ABL H 35).<br />
Position zum Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />
1. Anliegen der Friedensgebete ist die Wahrung, Sicherung <strong>und</strong> das Erreichen eines dauerhaften Friedens<br />
in der Welt <strong>und</strong> damit auch für uns. Hierbei besteht ein enger Zusammenhang zwischen Frieden,<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung. In den Friedensgebeten müssen alle<br />
Menschheitsprobleme, die die Existenz der Menschheit bedrohen, zur Sprache kommen. Das<br />
Friedensgebet ist somit Bestandteil des in Gang gekommenen konziliaren Prozesses. Das<br />
Friedensgebet ist der spezifische Beitrag <strong>und</strong> Ausdruck des Friedensengagements von Christen.<br />
2. Friedensgebete sollten von ihrem Anliegen her primär Gebete sein. Informationen, Bibelinterpretation,<br />
eigene Reflexionen zum Thema Frieden sind notwendige Bestandteile eines Friedensgebetes. Der<br />
Charakter eines Gebetes, das Vortragen von Bitte <strong>und</strong> Dank kann aber dadurch verdeckt werden. Jede<br />
Bibelinterpretation, jede Reflexion zum Thema kann nur vom eigenen Standpunkt aus erfolgen. Wir<br />
müssen deshalb in Kauf nehmen, daß nicht nur eine Interpretation biblischer Texte möglich ist. Die<br />
Ernsthaftigkeit der Bibelinterpretation muß vorhanden <strong>und</strong> unter anderem daran erkennbar sein, daß<br />
uns der Text betroffen macht angesichts unseres eigenen Versagens. Im Friedensgebet <strong>und</strong> in der<br />
Bibelinterpretation muß klar das Bestreben erkennbar sein, an der eigenen Veränderung zu arbeiten.<br />
3. Gesellschaftliche Anliegen <strong>und</strong> Probleme haben ihren Platz in einem Friedensgebet. Ziel muß dabei die<br />
Lösung gesellschaftlicher Probleme sein. Im Umgang in unserer Gesellschaft ist hierbei ein neues<br />
Denken erforderlich, daß Probleme nur noch miteinander <strong>und</strong> nicht mehr gegeneinander lösbar sind.<br />
Dies setzt zunächst voraus, zur Lösung von Problemen ein gesellschaftliches Klima zu erzeugen, das<br />
von Offenheit <strong>und</strong> Vertrauen sowie Konstruktivität gekennzeichnet ist.<br />
4. Das Friedensgebet kann nicht die Funktion einer politischen Veranstaltung haben, die irgendeiner<br />
gesellschaftlichen Gruppierung ein Podium für Öffentlichkeit bietet. Schwerpunkt bleibt auch in einem<br />
Friedensgebet die kritische Anfrage an Christen, ob sie im Kampf für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Bewahrung der Schöpfung nicht auch versagt haben. Wenn Stille <strong>und</strong> Meditation durch Applaus<br />
ersetzt wird, ist die Chance der eigenen Veränderung vertan, haben wir unser Ziel im<br />
Friedensengagement verfehlt.<br />
5. Menschen, die den Entschluß gefaßt haben, aus der DDR auszureisen, <strong>und</strong> die an den Friedensgebeten<br />
teilnehmen, sollten sich fragen lassen, ob sie damit nicht auch aus der solidarischen Gemeinschaft mit<br />
den Menschen, die täglich durch hartes Engagement Gesellschaft gestalten <strong>und</strong> verändern, ausgetreten<br />
sind. Die Solidarität derer, die ihren Platz in der Gesellschaft der DDR sehen, mit denen, die ihn<br />
außerhalb der DDR sehen, setzt voraus, daß ein kritisch-konstruktiver Dialog vorhanden ist, die<br />
Problematik der Aufgabe gesellschaftlicher Verantwortung oder der Resignation aufzuarbeiten.<br />
63 Staatliche Einschätzung<br />
Auszug aus einer Information des Stellvertreters des OBM an den RdB <strong>und</strong> die SED-Stadtleitung zur<br />
Staatspolitik in Kirchenfragen im Berichtszeitraum Juni/Juli 1988 vom 01.08.1988. Die Information wurde in<br />
Vertretung von R. Sabatowska unterzeichnet. Die Unterschrift ist für die Herausgeber nicht identifizierbar.<br />
Beim RdB ging die Information am 02.08.1988 (Eingangsstempel) ein (StAL BT/RdB 21727).<br />
220 Zu U. Münnich bzw. IMS „Physiker“ s. Besier/Wolf, 701-707<br />
135
1. Zur politischen Situation in den Kirchen<br />
[...]<br />
− In den bis Ende Juni in der Nikolaikirche fortgeführten montäglichen Friedensgebeten ist es trotz<br />
Zusagen leitender kirchlicher Amtsträger (Sup. Magirius, Pf. Führer) nicht gelungen, den<br />
eigentlichen Sinn dieser Veranstaltungen - nämlich das Gebet für den Frieden - wieder<br />
durchzusetzen. Nach wie vor ist der Hauptteil der Besucher dieser Veranstaltungen Ersuchsteller<br />
auf Übersiedlung, die hier mit Hilfe der Kirche gegenüber dem Staat ihre Anliegen durchsetzen<br />
wollen. Fast alle diese Leute interessiert die Kirche als Kirche überhaupt nicht, am Gebet während<br />
dieser Veranstaltungen beteiligen sie sich nicht. In einem Gespräch, das der SBBM des<br />
Stadtbezirkes Mitte, Gen. Setzepfandt, mit dem Pfarramtsleiter der Nikolaikirche, Pfarrer Führer,<br />
<strong>und</strong> Mitgliedern des Kirchenvorstandes zu dieser Problematik führte 221, äußerte Pf. Führer, daß sich<br />
schon Gemeindemitglieder wegen dieses Zustandes mit Eingaben an den Kirchenvorstand gewandt<br />
hätten. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e müsse man sich Gedanken über die Weiterführung dieser<br />
Veranstaltungen machen. Kirchenmusikdirektor Hofmann, der ebenfalls Mitglied des<br />
Kirchenvorstandes dieser Gemeinde ist, lehnte die Weiterführung dieser Veranstaltungen in der<br />
jetzigen Form gr<strong>und</strong>sätzlich ab. Dennoch mußte bereits eine Woche später, nach dem nächsten<br />
„Friedensgebet“ festgestellt werden, daß die Erklärungen Pf. Führers nur leere Worte waren. Er<br />
engagierte sich wiederum in der bekannten Weise für die in der Nikolaikirche versammelten<br />
Ersuchsteller. Interessant ist auch in diesem Zusammenhang, daß in einer ganzen Anzahl von<br />
Briefen von Ersuchstellern an die Regierung, das ZK, die staatlichen Organe zur Untermauerung<br />
ihrer Ersuchen auf Übersiedlung Pf. Führer als erster in dem Verteilerschlüssel dieser Schreiben<br />
angeführt ist 222 . Bei den Veranstaltungen in der Nikolaikirche tritt auch Pf. Dr. Berger immer mehr<br />
in negativer Weise in Erscheinung. Er ist derjenige, der nach den Veranstaltungen die Ersuchsteller<br />
in individuellen Gesprächen „juristisch“ berät. Es ist damit zu rechnen, daß nach der<br />
„Sommerpause“ - von Anfang Juli bis Ende August finden keine Montags-Friedensgebete in der<br />
Nikolaikirche statt - diese Friedensgebete wiederum genutzt werden, um Forderungen gegenüber<br />
dem Staat durchsetzen zu wollen <strong>und</strong> damit das Staat-Kirche-Verhältnis in negativer Form zu<br />
belasten.<br />
[...]<br />
− Zu Einzelfragen<br />
Pfarrer Fritzsche (Pauluskirche) äußerte sich besorgt über die Entwicklung in der Volksrepublik<br />
Rumänien. Nach Augenzeugenberichten aus seiner Gemeinde kompliziert sich die Lage für die<br />
Menschen in diesem Land, <strong>und</strong> es gibt kein Verständnis dafür, daß der Generalsekretär der KP<br />
Rumäniens durch unseren Staatsratsvorsitzenden mit dem Karl-Marx-Orden 223 ausgezeichnet<br />
wurde.<br />
Pf. Böllmann (Kirche Marienbrunn) äußerte im Ergebnis mehrerer abgelehnter Besuchsreisen in<br />
einem Brief an uns: „Ich fühle mich durch die beschriebenen Erfahrungen derart gedemütigt, daß<br />
ich zu einer konstruktiven Mitarbeit in unserem Land im Augenblick keine Möglichkeiten sehe.<br />
Auch mit aller Phantasie kann ich mir nicht vorstellen, wieso eine Reise von mir der DDR<br />
geschadet hätte. Mein Vertrauen ist total erschüttert. Ich kann die Maßnahmen der Organe nur als<br />
Willkür verstehen <strong>und</strong> mich nur als Gefangener betrachten. Sie werden gewiß verstehen, daß ich in<br />
dieser Stimmungslage ihre Geburtstagswünsche mißdeuten mußte. Bitte sehen sie künftig davon<br />
ab.“<br />
Von der Genezarethkirche in Paunsdorf wurden die ersten Aktivitäten in bezug auf das<br />
Neubaugebiet Paunsdorf bekannt. am 4.6.88 fand der erste Familiennachmittag für die<br />
Neupaunsdorfer Christen statt. Das nächste Neubautreffen soll am 1.10.88, 15.00 Uhr im<br />
Gemeindehaus Riesaer Str. 31 stattfinden.<br />
221 Das Gespräch fand am 20.06.1988 statt (s.a. MfS-Bericht in: Besier/Wolf 559)<br />
222 Der Absatz wurde bis „angeführt ist“ nahezu wörtlich in den Bericht des RdB vom 05.08.1988 übernommen<br />
(BArch O-4 1117).<br />
223 s. Anm. 125<br />
136
2. Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit<br />
Seit dem 30.5.88 tauchten im Stadtgebiet von Leipzig, vornehmlich im SB Süd, Flugblätter (ohne<br />
Druckgenehmigung) auf, in denen zur Teilnahme an einem sogenannten „Pleiße-Gedenkumzug“<br />
aufgefordert wurde224 . Aus dem Text ging hervor, daß an verschiedene Persönlichkeiten der Stadt, aus<br />
dem Staatsapparat <strong>und</strong> dem Bereich der Kirche Einladungen ergangen sein sollten. Ein Gespräch mit<br />
den verantwortlichen Superintendenten ergab, daß sie keine Einladungen erhielten <strong>und</strong> sich von dieser<br />
nichtgenehmigten Veranstaltung distanzierten. In Übereinstimmung mit den beiden Superintendenten<br />
wurden weitere Versuche der öffentlichen Propagierung der Veranstaltung verhindert. Am 5.6.88<br />
gegen 14.00 Uhr trafen sich dann vor dem Gelände des Sportplatzes Teichstraße ca. 80 größtenteils<br />
jugendliche Personen. Sie setzten sich als nichtgenehmigte Demonstration entlang der Pleiße in<br />
Bewegung. Die Teilnehmer trugen Stoffaufnäher mit der Aufschrift „1. Pleiße-Gedenkumzug“. Am<br />
Wehr vor der Beipertbrücke wurde ein Picknick veranstaltet, dabei gelangten drei Wandzeitungen zu<br />
Problemen des Umweltschutzes zur Aufstellung. Unter den Teilnehmern befanden sich<br />
Übersiedlungsersuchsteller. Entgegen der Versicherung der beiden Superintendenten, diese<br />
nichtgenehmigte Veranstaltung finde keine Unterstützung durch die kirchliche Seite, beteiligte sich Pf.<br />
Wonneberger (Lukaskirche Volkmarsdorf) am Umzug225 .<br />
Zu dieser Veranstaltung muß eingeschätzt werden, daß die Veranstalter offensichtlich die<br />
Provozierbarkeit der staatlichen Organe testen wollten. Dabei wurde von ihnen die Zurückhaltung<br />
staatlicher Organe falsch interpretiert, nämlich als Schwäche.<br />
[...]<br />
3. Anzahl der geführten Gespräche<br />
− 6 Gruppengespräche mit 33 Teilnehmern<br />
− 60 Einzelgespräche<br />
64 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief von Superintendent Magirius an Pf. Berger, Jugendpf. Kaden <strong>und</strong> Pf. Wonneberger vom 15.08.1988, in<br />
dem er mitteilt, daß das Friedensgebet in die Regie des Nikolaikirchenvorstands übergehen wird (Privat).<br />
An die Gruppen im Synodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ 226<br />
Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>!<br />
Die Nikolaigemeinde übernimmt nach der Sommerpause Durchführung <strong>und</strong> Verkündigung der<br />
Friedensgebete selbst 227.<br />
224 Abgedruckt in „Umweltblätter“ 8/88, 21 (ABL Box 4)<br />
225 Ein Beispiel für Versuche der Leipziger Gruppen, außerhalb des „Freiraums Kirche“ den politischen Dialog zu<br />
versuchen <strong>und</strong> Interessen, die nicht respektiert wurden, zu vertreten.<br />
226 Die Gruppenmitglieder erreichte der Brief erst am 22.08.1988 (s. Dok. 67). Pf. Wonneberger erhielt den Brief, da<br />
er bis zum 26.08.1988 im Urlaub war, erst am 27.08 (vgl. Dok. 72). B. Moritz wollte diesen Brief zusammen mit<br />
verschiedenen Erklärungen zu der Gestaltung der FG von Pf. Führer, Sup. Magirius, IGL, AKG, ASZ, AGU u.a.<br />
in „Kontakte“ veröffentlichen. Dies wurde jedoch vom Vertreter des Superintendenten, Pf. Wugk, nicht<br />
genehmigt. Pf. Berger protokollierte zur BSA-Sitzung am 19.11.1988: „Wugk, Auerbach: innerkirchl.<br />
Streitigkeiten dürfen nicht veröffentlicht werden“ (ABL H 35; s.a. Kontakte Okt. 88 - ABL H 2 <strong>und</strong> Z 2)<br />
227 1990 stellte Fr. Magirius die Entscheidung als eine Reaktion auf die nicht zu vereinenden Zuhörer<br />
(Reformgruppen versus Ausreisewillige) dar, die eine (von den Basisgruppen praktizierte) politische Konkretion<br />
biblischer Aussagen nicht zuließe (Magirius (1990b), 10). Er wollte, daß das FG nicht zu einem „Politforum“<br />
wird (Hamburger Abendblatt, 04.12.1991, S. 3). Sicher war die Auseinandersetzung um das letzte FG vor der<br />
Sommerpause am 27.06.1988 Anlaß zu diesem Ausschluß der Gruppen aus der Gestaltung der FG. In diesem FG,<br />
gestaltet von der IGL zusammen mit Pf. Wonneberger, wurde für den „Sprayer vom Leuschnerplatz“ (s. Chronik<br />
05.02. <strong>und</strong> 15.02.1988) die Kollekte gesammelt, da er eine Geldstrafe von über 4000 zahlen sollte. Der<br />
anwesende Superintendentenstellvertreter Pf. Wugk hatte sich noch während der Kollektensammlung von dieser<br />
„konkreten Fürbitte“ distanziert <strong>und</strong> behauptete, daß sie eine „illegale“ Sammlung sei. Pfarrer Wonneberger hatte<br />
sie jedoch genehmigt. Damit wurde die Frage gestellt, wer ist für die FG letztlich verantwortlich (s. Dok. 66).<br />
137
Die meisten Teilnehmer an den Zusammenkünften sind nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert an den Fragen<br />
„Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung“ im Sinne des konziliaren Prozesses, sondern<br />
erwarten von der Kirche, daß diese sich für ihre Probleme einsetzt. So wenig wir konkret helfen können,<br />
wollen wir uns doch dafür einsetzen, daß diejenigen, die einen Antrag auf Entlassung aus der<br />
Staatsbürgerschaft gestellt haben, nicht ins Abseits gedrängt werden. Doch dem Einzelnen können wir im<br />
Gr<strong>und</strong>e nur helfen mit der uns anvertrauten Botschaft des befreienden Evangeliums, das seine Gültigkeit<br />
in jeder Gesellschaft hat. Einige Gruppen haben sich seit der veränderten Situation ohnehin nicht mehr an<br />
der Gestaltung der Friedensgebete beteiligt, anderen scheint die Aufgabe belastend zu sein.<br />
So bitte ich darum, daß sich die Gruppen in der nächsten Zeit verstärkt ihren spezifischen Aufgaben<br />
zuwenden, wie sie etwa in den zwölf Themenbereichen 228 der konziliaren Versammlung aufgenommen<br />
worden sind. Ich wäre dankbar, wenn durch Gespräche <strong>und</strong> Impulse mehr die Gemeinden unserer Stadt in<br />
den Prozeß einbezogen werden könnten. Denn gemeinsam mit allen, die hier bleiben, wollen wir doch<br />
verantwortlich das Leben in unserer Gesellschaft verändern <strong>und</strong> verbessern.<br />
Als nächste Aufgaben stehen die Weiterarbeit zur ökumenischen Versammlung von Magdeburg <strong>und</strong> die<br />
Vorbereitung der Friedensdekade an.<br />
Mit besten Grüssen [/] Schalom! [/ gez.] Magirius<br />
65 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einer Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, über ein Gespräch am<br />
18.08.1988 zwischen H. Reitmann <strong>und</strong> zwei Vertretern des Landeskirchenamtes vom 19.08.1988.<br />
Unterzeichnet wurde die Information von Ebisch. Die Vorlage trägt Bearbeitungsspuren u.a. von K. Conrad<br />
(ABL H 53).<br />
[... 229 ] Genosse Dr. Reitmann führte weiter aus, daß ihm bekannt geworden sei, daß durch die<br />
Bezirkssynode 20 alternative Gruppen zugelassen worden sind 230 , man solle sich doch überlegen, wo das<br />
alles noch hinführen soll 231 . Mit dem kürzlich stattgef<strong>und</strong>enen Gespräch des Staatssekretärs Löffler mit<br />
Bischof Leich wurden im großen positive Zeichen gesetzt <strong>und</strong> man müßte sich jetzt die Frage stellen, ob<br />
die Kirche in Leipzig etwas anderes im Verhältnis Staat-Kirche wolle.<br />
[A... gemäß StUG geschwärzt] erwiderte darauf, „wir werden Ihre Sorgen übernehmen, die auch unsere<br />
Sorgen sind. Xmal wurde im Landeskirchenamt die Problematik besprochen, wir haben noch kein<br />
probates Mittel gef<strong>und</strong>en, dies zu unterbinden. Die Gruppen haben wir letztlich nicht in der Hand, können<br />
sie aber auch nicht aus dem Raum der Kirche verweisen, wir können keine Gesichtskontrolle durchführen,<br />
wir können die Kirche nicht schließen. Fast durchweg hat Herr OKR Auerbach im Auftrag des<br />
Landeskirchenamtes an den Veranstaltungen in der Nikolaikirche teilgenommen, wir schätzen seine<br />
ruhige <strong>und</strong> besonnene Art“.<br />
[B... gemäß StUG geschwärzt] bemerkte anschließend: „Wie schon [A... gemäß StUG geschwärzt] sagte -<br />
Ihre Sorgen sind unsere Sorgen, wir wollen nicht, daß die Kirche mißbraucht wird. Kirche ist aber kein<br />
staatliches Organ, wir können uns nicht verschließen. Diese Leute haben bisher keinen Kontakt zur Kirche<br />
gehabt, sind aber auf einmal da, wir haben sie nicht gerufen. Die Frage ist nur, wie gehen wir mit ihnen<br />
Auffällig ist, daß in der Debatte nicht auf den Beschluß des BSA vom 17.06.1988 verwiesen wurde. Der BSA<br />
hatte damals beschlossen, daß die Kollekte der FG für die Nikolaikirchgemeinde bestimmt sei (Protokoll Berger -<br />
ABL H 2). Vermutlich ein Hinweis auf die kirchenrechtlich schwache Position des BSA.<br />
228 s. Anhang S. 370<br />
229 Das Gespräch diente u.a. einem ersten Austausch anläßlich des für Juli 1989 geplanten Kirchentages in Leipzig.<br />
Am 31.08.1988 fand eine ganztägige Arbeitsberatung der Stellvertreter für Inneres der Räte der Kreise, Städte<br />
<strong>und</strong> Stadtbezirke des Bezirkes Leipzig mit Reitmann <strong>und</strong> Vertretern des StfK statt. Dabei wurde das Fehlen einer<br />
zentralen Vorgabe zum Kirchentag als „offenes Problem“ benannt (Dienstreisebericht Dohle vom 13.09.1988 -<br />
BArch O-4 1117).<br />
230 s. im Anhang, S. 355<br />
231 vgl. Dok. 59<br />
138
um. Wir wollen als Kirche Kirche bleiben, wollen den Menschen helfen, in ihrer Problematik, wo sie<br />
stehen. Viele Menschen wissen nicht, was sie wollen. Sie haben den Ausreiseantrag gestellt, weil es Mode<br />
war. Durch Warten monatelang, jahrelang sind sie ins Abseits gestellt beruflich <strong>und</strong> persönlich, dies führt<br />
oftmals zu Tragödien, sie sind seelisch krank, durch eigenes Verhalten haben sie sich ins Abseits gestellt.<br />
Wir haben mit ihnen viele Gespräche gehabt, können aber ihre Probleme nicht lösen. Bis jetzt war<br />
Sommerpause, aber Pfarrer Führer wird von diesen Personen bedrängt <strong>und</strong> befragt, wann es weiter geht,<br />
wann sie wieder zusammenkommen können“.<br />
[B... gemäß StUG geschwärzt] sagte weiter: „Wir initiieren keine Gruppen; sie schießen wie Pilze aus der<br />
Erde. Wer zur Kirche kommt, hat das Recht, seine Meinung zu vertreten, aber sie diskutieren anonyme<br />
Briefe, die zum Sturz der Regierung auffordern. Es kann nicht Aufgabe der Kirche sein, oppositionelle<br />
Gruppen zu unterstützen. Der Staat sollte ihnen Raum geben, wo sie diskutieren können“.<br />
Dr. Reitmann brachte zum Ausdruck, daß wir vor Jahren vor diesen Gruppen gewarnt haben. Erst waren<br />
es vier, jetzt sind es 20, wo bleibt hier die Verantwortung der Kirche. In Vorbereitung des Kirchentages<br />
sollte man sich theologisch besinnen. Er bat auch, den Bischof Dr. Hempel dahingehend zu informieren,<br />
daß er auf den Kirchenvorstand der Nikolaikirche einwirkt, um diese Montagsgottesdienste mehr zu<br />
theologisieren. Man sollte klug abwägen <strong>und</strong> diese Erscheinungen nicht wieder zulassen.<br />
[A... gemäß StUG geschwärzt] äußerte dazu, daß sie sich große Gedanken machen. Sie können nicht auf<br />
Schließung der Nikolaikirche gehen, aber in bezug auf Theologisierung sehen sie den Ansatzpunkt, wo sie<br />
verstärkt daran arbeiten. Die Manuskripte der Gottesdienstreden, die in der Nikolaikirche gehalten werden<br />
sollen, wurden bereits in der letzten Zeit vom Landeskirchenamt angefordert. [...]<br />
66 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief von Sup. Magirius an Pf. Wonneberger vom 25.08.1988, in dem ihm die weitere Organisierung der<br />
Friedensgebete entzogen wird (beim Adressaten).<br />
Lieber Bruder Wonneberger!<br />
Da Sie einschließlich Freitag, 26.8., im Urlaub sind, möchte ich mich schriftlich an Sie wenden: Wie<br />
Ihnen bekannt ist, hat mein Stellvertreter Bruder Wugk Ihnen im Zusammenhang mit dem letzten<br />
Friedensgebet vor der Sommerpause erklärt, daß Sie sich selbst durch Ihre Handlungsweise Ihrer<br />
Kompetenz für die Funktion der Koordinierung begeben haben. Wir haben unterdessen eine neue<br />
Gestaltung der Friedensgebete für die nächsten Wochen vorbereitet. Meinerseits stelle ich noch einmal<br />
fest, daß Sie damit von Ihrer bisherigen Aufgabe entb<strong>und</strong>en sind. Am Mittwoch, 31. August, um 10 Uhr,<br />
möchte ich gern zu Ihnen kommen, um das verschobene Abschlußgespräch zur Visitation zu halten.<br />
Ihr [gez.] Friedrich Magirius [/] Superintendent<br />
67 Basisgruppenerklärung<br />
Offener Brief von verschiedenen Basisgruppenmitgliedern an Sup. Magirius vom 25.08.1988. Typoskript<br />
ohne Unterschriften (ABL H 1).<br />
Protesterklärung<br />
Am 22.08.1988, eine Woche vor Beginn der Friedensgebete nach der Sommerpause, erhielten wir von<br />
Ihnen einen Brief, in dem Sie uns erklären, daß „in der nächsten Zeit“ die Basisgruppen von der<br />
Gestaltung der Friedensgebete ausgeschlossen sind. Damit beenden Sie eine Gottesdienstform, deren<br />
Ablauf <strong>und</strong> Inhalt seit 1985 durch kirchliche Basisgruppen geprägt wurde. Sie nehmen dadurch den<br />
Gruppen eine wesentliche Möglichkeit der öffentlichen Selbstdarstellung sowie eine verbindende<br />
gemeinsame Aufgabe.<br />
Im Ergebnis der Januarereignisse erhielt das Friedensgebet einen größeren Zulauf. Seit dieser Zeit wurde<br />
der Synodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ für Leipziger Basisgruppen mit der Organisation der<br />
Friedensgebete betraut. In seiner letzten Sitzung beschloß dieser Ausschuß wiederholt die unveränderte<br />
139
Weiterführung der Friedensgebete nach der Sommerpause.<br />
Ungeachtet dessen nutzen Sie Ihr Hausrecht (in Abwesenheit des zuständigen Gemeindepfarrers) <strong>und</strong><br />
stellen die Gruppen <strong>und</strong> die Gemeinde des Friedensgebetes vor vollendete Tatsachen. Sie grenzen uns aus<br />
mit der Begründung, daß wir als Gemeinde „... an den Fragen, Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der<br />
Schöpfung im Sinne des konziliaren Prozesses nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert sind...“<br />
Gegen diese Verfahrensweise protestieren wir!<br />
Allen Gruppen ist ein tiefes <strong>und</strong> ehrliches Interesse an den Friedensgebeten Selbstverständnis. Unser<br />
Anliegen ist es, in den Gebeten unseren Problemen, unseren Erwartungen an die DDR-Gesellschaft wie<br />
auch unserer Stellung zu globalen Problemen - die im konziliaren Prozeß zusammengefaßt sind -<br />
Ausdruck zu verleihen. Dies möchten wir mit unserer eigenen Sprache, unseren eigenen Gedanken, der<br />
Vielfalt unserer Meinung, der Erschütterung <strong>und</strong> Besorgtheit tun <strong>und</strong> das selbstverständlich in der uns<br />
eigenen Glaubensform.<br />
Die in den letzten Monaten vorwiegend durch Ausreiseantragsteller vergrößerte Gemeinde stellt in den<br />
Augen der Staatsorgane (für wen auch immer) eine potentielle Gefahr dar. Mit der beabsichtigten<br />
Ausgrenzung der Antragsteller stellen Sie sich auf die Seite derer, die dieser Gemeinde ein ehrliches<br />
Interesse an Inhalt <strong>und</strong> Botschaft dieser Gottesdienste absprechen. Die Gemeinde nimmt aber diszipliniert<br />
<strong>und</strong> aufmerksam an den Gottesdiensten teil <strong>und</strong> wächst mit ihnen.<br />
Ihr Urteil über „die meisten Teilnehmer“ ist eine Diffamierung!<br />
Mit Befremden stellen wir fest, daß die versammelten Teilnehmer von ihnen nicht als Gemeinde Christi<br />
angenommen werden.<br />
Wir fordern:<br />
- Offenlegung der tatsächlichen Hintergründe Ihrer uns unverständlichen Entscheidung<br />
- Wiederherstellung der Möglichkeit für die Leipziger kirchlichen Basisgruppen, die Friedensgebete in<br />
Eigenverantwortung (unzensiert) zu gestalten.<br />
68 Friedensgebetstext<br />
Mitschrift der Begrüßung von Pfarrer Führer zum Friedensgebet am 29.08.1988. Typoskript (ABL H 1).<br />
Am 27. Juni habe ich Sie zur Sommerpause verabschiedet <strong>und</strong> heute am 29. August habe ich die Freude,<br />
Sie wieder hier in unserer Kirche St. Nikolai zu begrüßen. Ich begrüße diejenigen, die heute zum ersten<br />
Mal hier sind, ich begrüße diejenigen, die schon zum wiederholten Male hier sind <strong>und</strong> ich denke an die,<br />
die jetzt nicht mehr unter uns sitzen. In der Sommerpause galt es, über Inhalt <strong>und</strong> Form unserer<br />
Zusammenkünfte nachzudenken. Unser Kirchenvorstand hat an die Vorsitzenden der Gruppen ein<br />
Schreiben gesandt mit der Bitte um entsprechendes Nachdenken 232 . Lag es nun an dem Sommer, oder<br />
woran auch immer, viel Anregungen sind nicht gekommen - genauer gesagt: gar keine. Und inzwischen<br />
war auch nicht genug Zeit, um mit den beteiligten Gruppen ausgewogen zu erörtern.<br />
So führen wir heute eine neue Ordnung ein, die sich einerseits wieder der ursprünglichen Form des<br />
Friedensgebetes annähert, die sich andererseits mit der uns möglichen Weise von Auslegung, Lied, Gebet<br />
<strong>und</strong> Segen dem besonderen Anliegen eines Großteils unserer Zuhörer widmet. Wie wichtig es ist, daß die<br />
montäglichen Zusammenkünfte, die Friedensgebete hier in St. Nikolai weitergehen, wird mir mündlich<br />
<strong>und</strong> schriftlich immer wieder zu verstehen gegeben. Da hab ich einen sehr kritischen Brief bekommen,<br />
selbstkritischen Brief, wo es am Ende heißt: „Wir brauchen diesen Montag, auch wenn diese Andacht, <strong>und</strong><br />
die Kirche solche Art von Gästen eigentlich nicht verdient haben. Wir brauchen die Geistlichen, die ohne<br />
Rücksicht auf religiöse Logik <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf kirchliche Gepflogenheiten zu uns stehen. Wir<br />
möchten bei Ihnen weiterhin Gastrecht genießen <strong>und</strong> sind Ihnen dafür sehr dankbar“ 233 . Und als ich heute<br />
morgen in unsere Nordkapelle zur Morgenandacht hineinging, war dort unter der Tür ein großer Umschlag<br />
durchgesteckt, <strong>und</strong> da war die Mitteilung zu lesen, daß ein Mann aus Verzweiflung über die endgültige<br />
232 s. Dok. 61<br />
233 vgl. Dok. 54<br />
140
Ablehnung seines Antrages in den Hungerstreik treten will, <strong>und</strong> der dies schreibt: „Bitte helfen Sie uns!<br />
Allein schaffe ich es nicht!“<br />
Angesichts dieser Situationen darf es wohl nicht um ein Teilstück, um Formen gehen. Da steht nur die<br />
eine Frage für mich: Geht das Friedensgebet weiter oder nicht? Liebe Teilnehmer! Das Friedensgebet geht<br />
weiter. (Beifall)<br />
69 Friedensgebetstext<br />
Mitschrift der Erklärung von Sup. Magirius, die er zum Schluß des Friedensgebetes am 29.08.1988 machte<br />
(ABL H 1).<br />
Wir wollen das Friedensgebet beschließen mit einigen Informationen <strong>und</strong> mit der Bitte um den Segen<br />
Gottes.<br />
Wir sind Gott dankbar, daß es in unserem Land eine klare Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche gibt. Das<br />
schafft uns einerseits Freiräume, Möglichkeiten zum Denken, zum Handeln, die wir immer wieder<br />
versucht haben, bis zum Äußersten auszuschöpfen. Das bindet uns anderseits allein an die Botschaft der<br />
Bibel <strong>und</strong> an die Gesinnung Jesu, die Maßstab <strong>und</strong> Richtschnur bleiben für unser Reden <strong>und</strong> Handeln.<br />
Was in der Kirche verkündet <strong>und</strong> gebetet wird, haben die damit beauftragten Mitarbeiter nicht vor<br />
Menschen oder Mächten, sondern allein vor dem lebendigen Gott zu verantworten. Und diese<br />
Verantwortung nimmt uns keiner ab.<br />
In unserem Friedensgebet treffen sich viele, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft<br />
gestellt haben. Da sie alle sich schon innerlich oder äußerlich aus ihrem Zusammenleben verabschiedet<br />
haben, sind sie nicht so stark an einer Erneuerung <strong>und</strong> Veränderung der Verhältnisse hierzulande<br />
interessiert wie wir, die wir hier leben <strong>und</strong> bleiben wollen. Vielmehr erwarten sie von unserer Kirche, daß<br />
wir uns für ihre Probleme einsetzen. Mit etlichen von ihnen habe ich gesprochen. So unterschiedlich ihre<br />
Schicksale auch sind, die Kirche hat sie nicht verursacht. Wir können ihnen nichts anderes bieten, als daß<br />
wir die Türen zur Begegnung offenhalten <strong>und</strong> die Botschaft weitergeben, die gerade dort ankommt <strong>und</strong><br />
trägt, wo Menschen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit stoßen <strong>und</strong> keine Hoffnung mehr haben.<br />
Da richtige Gespräche nur im kleinen Kreis möglich sind, bitten wir Sie herzlich, außer Ihrer Teilnahme<br />
am Friedensgebet, sich in Ihren Kirchgemeinden oder Nachbarschaften Menschen zu suchen, die zum<br />
gegenseitigen Austausch bereit sind. Wir werden unsererseits die Gemeinden <strong>und</strong> Pfarrer erneut darauf<br />
ansprechen, sich dieser Aufgabe zu stellen. Die Friedensgebete sind oft im kleinen Kreis <strong>und</strong> in großer<br />
Treue von Gruppen gehalten worden, die sich schon seit Jahren für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung<br />
der Schöpfung einsetzen. Das ist möglich, solange es sich um einen überschaubaren Kreis von<br />
Teilnehmern handelt. Als unser Friedensgebet größere Öffentlichkeit erlangte, haben wir darum gebeten,<br />
daß die Gruppen ihre Verkündigung <strong>und</strong> ihre Gebete verantwortlich mit einem Pfarrer vorbereiten <strong>und</strong><br />
absprechen, denn jede freie Wortverkündigung bedarf nach der Ordnung unserer Kirche einer besonderen<br />
Beauftragung. Da dieser Versuch nicht immer gelungen ist, die Teilnehmer oft mit anderen Erwartungen<br />
kamen, wie ich eben andeutete, haben wir als die Verantwortlichen unserer Nikolaikirchgemeinde für die<br />
nächste Zeit die heute vorgestellte neue Ordnung für unsere Friedensgebete beschlossen.<br />
Wem nützt es, wenn es zu einer Trennung kommt zwischen Gemeindemitgliedern <strong>und</strong> Leuten, die<br />
Verantwortung tragen in der Kirche? Wem nützt es, wenn es zu einer Spannung kommt zwischen<br />
Basisgruppen <strong>und</strong> Ortsgemeinden? Wem nützt es, wenn es zu Spannungen kommt zwischen Menschen,<br />
die hierzulande Verantwortung tragen wollen oder unser Land verlassen? Wem nützt es, wenn wir uns<br />
drängen lassen zwischen denen, die hier für dieses Gotteshaus Verantwortung tragen <strong>und</strong> die<br />
Friedensgebete weiterführen wollen, <strong>und</strong> denen, die anderer Auffassung sind? Nehmen Sie uns bitte alle<br />
ab, daß wir es uns nicht leicht gemacht haben mit dieser Entscheidung, daß sie weder eigenmächtig noch<br />
überheblich oder in irgendeiner Abhängigkeit getroffen wurde, sondern einzig <strong>und</strong> allein als eine<br />
Gewissensentscheidung in unserem Dienst als Pfarrer an dieser Gemeinde vor dem lebendigen Gott.<br />
Wir wollen zum Segen aufstehen.<br />
141
70 Friedensgebetstext<br />
Mitschrift der Intervention von Pf. Führer zur Verhinderung einer Aussprache nach dem Friedensgebet am<br />
29.08.1988 in der Nikolaikirche Leipzig 234 (ABL H 1).<br />
Liebe Zuhörer, falls Sie jetzt weiter hierbleiben, wird das bedeuten, daß das Friedensgebet nicht<br />
weitergeht.<br />
Eine Stellungnahme dieser Gruppe wird auf alle Fälle erfolgen.<br />
Es wird Herr Superintendent Magirius mit den Gruppen noch sprechen. Er hat dies auf alle Fälle zugesagt.<br />
Wenn aber die ...<br />
Uns geht es hauptsächlich darum, daß Sie weiter in unsere Nikolaikirche kommen können. Das hab’ ich<br />
am Anfang gesagt.<br />
Ihr Anliegen hierherzukommen, dann wird es eine Entscheidung geben, die Sie wahrscheinlich <strong>und</strong> uns<br />
alle betroffen macht. Deshalb bitte ich jetzt, daß wir miteinander die Kirche verlassen.<br />
(weitere Verlesung des Briefes von Magirius an die Gruppen)<br />
Sie haben mich vorhin verstanden. Das sind keine Leute von uns.<br />
Wenn Sie hier weiter bleiben, arbeiten wir nur dem Staat in die Hände, der das Friedensgebet je eher je<br />
lieber aufhören lassen will.<br />
Wenn Sie jetzt nicht die Kirche verlassen, wird das vermutlich Konsequenzen haben.<br />
71 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 42. Sitzung des KV St. Nikolai vom 29.08.1988, in dem über<br />
die neue Friedensgebetsordnung entschieden wird. Protokoll wurde von W. Hofmann angefertigt <strong>und</strong> von Pf.<br />
Führer, Sup. Magirius <strong>und</strong> einem weiteren Vorstandsmitglied unterzeichnet (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Personalangelegenheiten [/] 2. Wochenende in Potsdam [/] 3. Friedensgebet [/] 4.<br />
Anfragen [/] 5. Ausstellungskonzeption 1989 [/] 6. Etwaige weitere Gegenstände<br />
[...] Zu 3.) Bericht durch Pf. Führer über die Arbeit mit der Durchführung der Friedensgebete jeweils<br />
montags.<br />
Eine Umbesinnung auf Inhalt <strong>und</strong> Form hat während der Sommerpause stattgef<strong>und</strong>en.<br />
Das am heutigen Tage stattgef<strong>und</strong>ene Friedensgebet wird in seinem Verlauf geschildert. Die<br />
anschließenden Störungen durch einige Teilnehmer wurden benannt.<br />
Eine Aussprache schließt sich an, in der auch kontroverse Meinungen aufeinander treffen.<br />
Superintendent Magirius verliest ein Schreiben an die Gruppen des Synodalausschusses „Frieden <strong>und</strong><br />
234 Aufzeichnung von Pf. Wonneberger, die im September 1988 unter Basisgruppenmitgliedern kursierte. Sup.<br />
Magirius hatte B. Moritz (AGF) versprochen, seinen Brief vom 15.08.1988 zu verlesen. Da dies nicht geschah,<br />
versuchte J. Läßig nach dem FG den Brief in der Kirche am Mikrophon zu verlesen. Daraufhin wurde dieses<br />
abgeschaltet. Er las jedoch weiter. Nach wenigen weiteren Worten <strong>und</strong> einem Handzeichen F. Magirius'<br />
übertönte dann die Orgel J. Läßigs kräftige Stimme. Daraufhin begann es in der Kirche unruhig zu werden.<br />
Wenig später schaltete A. Radicke den Orgelmotor ab. Nun konnte der Brief <strong>und</strong> die Protesterklärung vom<br />
25.08.1988 verlesen werden. Währenddessen stieg Pf. Führer auf eine Kirchenbank <strong>und</strong> gab diese Erklärung ab,<br />
die von Pfarrer Wonneberger aufgezeichnet wurde <strong>und</strong> im September 1988 von Basisgruppenmitgliedern<br />
verbreitet wurde (vgl. Rüddenklau, 181). Anschließend unterzeichneten ca. 200 Friedensgebetsteilnehmer die<br />
Protesterklärung der Basisgruppenmitglieder. Die Leitung des Theologischen Seminars wurde aufgr<strong>und</strong> dieser<br />
Vorgänge zum 02.09. in den RdB gebeten. In Vorbereitung dieses Gespräches trafen sich der Rektor <strong>und</strong> zwei<br />
weitere Dozenten mit F. Magirius. Dort wurde das Vorgehen von J. Läßig, T. Rudolph <strong>und</strong> - von Magirius<br />
fälschlicherweise mit in Verbindung gebracht - R. Müller als „Gewaltgebrauch von Theologiestudenten im<br />
gottesdienstlichen Raum gegen das Hausrecht der Gemeindeverantwortlichen“ qualifiziert. Läßig <strong>und</strong> Rudolph<br />
erhielten am 03.09.1988 daraufhin vom amtierenden Rektor des ThSL, Kähler, einen „Verweis im Sinne einer<br />
Mahnung“ (Mitteilung C. Kähler vom 05.05.1994, s. a. U. Kühn in: Vogler et al. (1993), 45).<br />
142
Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> seine heutigen Kommentierungen dazu im Friedensgebet<br />
235 236 .<br />
Der Kirchenvorstand beschließt einstimmig die Ordnung, die ab sofort während des Friedensgebetes<br />
gelten soll.<br />
Begrüßung durch Nikolaipfarrer - Liedschriftlesung - Auslegung - Gebet/Kyrie -<br />
Information/Abkündigungen - Sendungswort - Lied.<br />
[...] Ende der Sitzung 22.25 Uhr<br />
72 Stasi-Information<br />
Treffbericht des Stasi-Leutnants Taucher der KD Leipzig-Stadt (Referat XX/2) vom 30.08.1988 über ein<br />
Treffen mit dem inoffiziellen Mitarbeiter „Sicherheit“ W. Saarstedt (IMS „Wolfgang“) (BStU Leipzig AIM<br />
1228/89 II/1, 185f.).<br />
Der IMS nahm auftragsgemäß am Friedensgebet vom 29.08.1988 in der Nikolaikirche teil. [/] Am Gebet<br />
nahmen ca. 350-400 Personen teil. Das Gebet wurde durch die Sup. Richter <strong>und</strong> Magirius sowie Pfarrer<br />
[...] gestaltet. Durch diese wurde bekanntgegeben, daß die zukünftigen Friedensgebete in Verantwortung<br />
der Nikolaikirchgemeinde gestaltet werden <strong>und</strong> eine Beteiligung der sog. Basisgruppen nicht mehr<br />
erfolgen soll. Des weiteren soll in den zukünftigen Friedensgebeten wieder das Hauptaugenmerk auf den<br />
eigentlichen Sinn der Gebete, dem Gebet für den Frieden <strong>und</strong> die Wahrung der Schöpfung gelegt werden.<br />
An die anwesenden ÜSE gerichtet wurde gesagt, daß diese sich zukünftig an die jeweiligen Gemeinden<br />
wenden sollen <strong>und</strong> diese verstärken sollen. [/] Das durch die beiden Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrer Führer<br />
gestaltete Friedensgebet trug nach Auffassung des IM einen rein religiösen Charakter, fand aber bei den<br />
Anwesenden zum überwiegenden Teil keine Zustimmung. [/] Nach Ende des eigentlichen Teiles des<br />
Friedensgebetes wurde versucht, einen Brief des Sup. Magirius an die Basisgruppen zu verlesen. Auf ein<br />
Zeichen von Sup. Magirius wurde dies vorerst durch den Einsatz der Orgel unterb<strong>und</strong>en. Durch<br />
vermutlich den [...] wurde das Orgelspiel wieder unterbrochen. Es kam im Anschluß daran zum Verlesen<br />
des genannten Briefes sowie einem Protestbrief [sic!] einer Basisgruppe. Der IM war der Auffassung, daß<br />
dieser Protestbrief durch Mitglieder der IG „Leben“ verfaßt wurde. Dazu wurde eine<br />
Unterschriftensammlung gemacht. Durch den IM konnten dabei als Teilnehmer neben dem [...], der [...]<br />
- eine männl. Person, kurzer Igelschnitt mit einem kleinen Zopf <strong>und</strong> Brille, ca. 180-185 cm <strong>und</strong> ca. 25<br />
Jahre alt, möglicherweise Mitglied der Nikolaikirche<br />
- sowie eine weibliche Person, ca. 165 cm groß, ca. 25 Jahre, langes dunkelblondes Haar festgestellt<br />
werden.<br />
Inhaltlich konnte der IMS zu beiden Schreiben keine näheren Angaben machen, da in der Kirche kaum<br />
etwas zu verstehen war. Durch Pfarrer [... Führer] wurden die Anwesenden mehrfach zum Verlassen der<br />
Kirche aufgefordert. Die Anwesenden verließen die Nikolaikirche dann mit Unmut <strong>und</strong> <strong>und</strong>iszipliniert. [/]<br />
Beim Verlassen der Kirche hörte der IMS, daß dann aufgerufen wurde, daß man sich am Sonntag, dem<br />
04.09.1988, 9.45 Uhr mit Fahrrädern vor der Nikolaikirche treffen will <strong>und</strong> nach Beucha fahren wolle. Als<br />
Kennzeichen soll ein weißes Band am Lenker des Rades befestigt werden. Angaben zur Person konnte der<br />
IMS dabei nicht machen, da das Gedränge zu groß war. [/] Anzeichen für eine geplante Besetzung der<br />
Kirche konnte der IMS nicht feststellen. Als weitere operativ-bekannte Teilnehmer waren dem IMS die<br />
Mitglieder der AG „Menschenrechte“ [... es folgen zwei Namen] bekannt.<br />
Durch den [...] erfuhr der IMS, daß die AG „Menschenrechte“ am 25.08. sich in einer nicht genannten<br />
Wohnung traf <strong>und</strong> ein Programm für dieses Friedensgebet erarbeitet hatte. Am Sonnabend, 27.08., traf<br />
sich die AG „Menschenrechte“ im Gemeindehaus des Wonneberger, Christoph/OV „Lukas“/KD Leipzig-<br />
Stadt <strong>und</strong> wollten mit diesem nochmals beraten. Durch den W. wurde ihm dabei gesagt, daß sie kein<br />
Programm erarbeiten brauchten. Er habe durch einen Anruf von Sup. Magirius erfahren, daß die<br />
Friedensgebete durch die Nikolaikirche gestaltet werden. Eine Wertung traf Pfarrer W. dabei nicht.<br />
Der IMS wird am Friedensgebet am 05.09.1988 teilnehmen sowie an der nächsten Zusammenkunft der<br />
235 s. Dok. 64<br />
236 s. Dok. 69<br />
143
AG „Menschenrechte“ <strong>und</strong> dem MA berichten.<br />
73 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief des katholischen Kaplans F. Fischer des Lindenau-Grünauer Friedenskreises vom 01.09.1988 an Sup.<br />
Magirius, in dem er gegen den Beschluß des Kirchenvorstandes der Nikolaikirchgemeinde protestiert.<br />
Vorlage ist eine Xerokopie des Durchschlages gewesen (ABL H 1).<br />
Lieber Bruder Magirius!<br />
Ich schreibe Ihnen diesen Brief aus Trauer <strong>und</strong> Bestürzung über das Vorgehen im Zusammenhang mit<br />
dem Friedensgebet in der Nikolaikirche. So weit mir von Dr. Georg Pohler, dem Vertreter unseres<br />
Lindenau-Grünauer Friedenskreises im Bezirkssynodalausschuß, bekannt ist, hat dieser auf seiner Sitzung<br />
am 29.3. mit 14 zu 3 Stimmen bei 8 Stimmenthaltungen einen verbindlichen Entschluß zur<br />
Verfahrensweise <strong>und</strong> Durchführung des Friedensgebets in der Nikolaikirche gefaßt 237 . Eine Revision<br />
dieses Beschlusses ist meines Wissens noch bis jetzt nicht erfolgt. Deshalb bin ich über das von Bruder<br />
Führer Verkündete bestürzt, da dieser Beschluß offensichtlich ohne Rücksprache mit den beteiligten<br />
Gruppen erfolgte. Jedenfalls hat unsere Gruppe solch eine briefliche Anfrage über die Weiterführung der<br />
Friedensgebete, auf die Bruder Führer am Montag Bezug nahm, nicht erhalten. Wir sind im Gegenteil<br />
nach wie vor sehr an einer Mitarbeit beim Friedensgebet interessiert.<br />
Mir hat durchaus nicht alles gefallen, was im Frühjahr als Friedensgebet ausgegeben wurde. Aber ich<br />
meine, daß solche Fragen <strong>und</strong> Probleme miteinander besprochen <strong>und</strong> im Geist der Botschaft Christi <strong>und</strong><br />
seines Auftrags an uns geklärt <strong>und</strong> nicht administrativ entschieden werden sollten. Ich würde es deshalb<br />
sehr bedauern, wenn es jetzt durch vorschnelle Aus- <strong>und</strong> Abgrenzungen zu unnötigen Spaltungen käme<br />
<strong>und</strong> wieder Emotionen an die Stelle inhaltlicher Argumentation träte. Wenn wir jetzt das Gespräch<br />
abbrechen, mit wem sollen dann wir Leipziger Delegierten [der Ökumenischen Versammlung für<br />
Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung] im November eigentlich über die Materialien der<br />
Magdeburger Versammlung reden? Wer soll dann in Leipzig den konziliaren Prozeß weiter voranbringen?<br />
Ich schlage deshalb vor, mit den bisher beteiligten Gruppen noch einmal zu reden <strong>und</strong> in aller Offenheit<br />
die anstehenden Probleme auf den Tisch zu legen 238 . Das sollte möglichst bald geschehen. Wir sind dabei<br />
gern zu einer konstruktiven Mitarbeit bereit.<br />
In Christus verb<strong>und</strong>en<br />
Schalom! Hans-Friedel Fischer<br />
74 Stasi-Notizen<br />
Aufzeichnungen vom Leiter des Referates XX/9 (Zeitzschel) der BV des MfS zu einer Beratung mit dem 1.<br />
Stellvertreter des Leiters der Leipziger BV (Eppisch) am 05.09.1988, 10.00 Uhr, zum Einsatz der<br />
Sicherheitskräfte am Abend des gleichen Tages (BStU Leipzig AB 1161).<br />
1. Zur Lage 239<br />
237 Im Protokoll der BSA-Sitzung von Pf. Kaden heißt es: „Antrag Sup. Magirius: Die Gruppen sollen in den<br />
nächsten Friedensgebeten, die den Rahmen einer Großveranstaltung angenommen haben, die Begleitung eines<br />
verantwortl. Pfarrers suchen <strong>und</strong> akzeptieren. Begründung: Öffentliche Wortverkündung nur durch von Kirche<br />
dazu Beauftragte. [/] - Kontroverse Diskussion [/] - Ergebnis Abstimmung 14 Ja / 8 Enth. / 3 Nein [/] Auflage:<br />
Nur vorübergehende Lösung bis 9. Mai [/] Nachgespräche über a) Inhalte des Friedensgebets (Gruppenthema) [/]<br />
b) über aktuelle Problematik/Anlässe [...]“ Diese Regelung wurde am 29.04.1988 <strong>und</strong> am 17.06.1988 verlängert<br />
(bis 31.10.1988) (ABL H 2)<br />
238 An diesem Donnerstag (01.09.1988) fand ein erstes „Gespräch“ zwischen Sup. Magirius, Pf. Führer <strong>und</strong> einigen<br />
Gruppenvertretern im Jugendpfarramt statt. Dabei kam es jedoch zu keiner Verständigung.<br />
239 Am Morgen des 02.09. rief Mielke bei Hummitzsch an. Hummitzsch notierte dazu: „vorbeugende Arbeit [/]<br />
Dokumentierung [/] Festnahme“ (BStU Leipzig AB 3843, 46).<br />
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denkbar: - „Kirchenbesetzung“ durch ÜSE <strong>und</strong> / oder Vertreter Basisgruppen [...]<br />
Ziel: Provokationen ohne Polizei-Aktion, politisch klug unterbinden [/] kein Futter für Westmedien<br />
liefern<br />
Idee für Einsatz:<br />
1. Zutritt zu Niko kann nicht behindert werden<br />
2. Bei Anmarsch noch keine Präsens demonstrieren<br />
3. Während FG Kräfte entfalten (mit dem Ziel der Zersetzung/Abdrängung sich bildender<br />
Formationen) zeigen von Transparenten u.ä. unterbinden<br />
− neben Kräften MfS auch gesellschaftliche Kräfte <strong>und</strong> VP in Zivil [/] „Optik“ der Westpresse<br />
beachten<br />
− unsere Gruppen 1: 10 (selbständig in kleinen Formationen handeln) [...]<br />
−<br />
[Leiter der KD Leipzig-Stadt] Schmidt [verantwortlich für] 3 Stützpunkte in der Innenstadt<br />
150 gesellschaftliche Kräfte ([SED-]Stadtleitung)<br />
HA II 5 Teams, die aktiv werden könnten [/] 5 Fotographen<br />
Mehner/“Spiegel“ sollte heute nicht in Lpz. sein<br />
75 Samisdat-Veröffentlichung<br />
„Die Kirche“ ist eine ohne Lizenz hektographierte 11-seitige engbeschriebene Dokumentation über das<br />
geheimgehaltene Staat-Kirche-Gespräch am 19.02.1988, welche vom AK „Gerechtigkeit“ Anfang August<br />
1988 hergestellt <strong>und</strong> am 5. September 1988 während des Friedensgebetes verteilt wurde (ABL Box 10).<br />
[Deckblatt:] Die Kirche, [folgende Seite:]<br />
die seit dem Februar keine Ruhe gef<strong>und</strong>en hat <strong>und</strong> sie wohl auch nicht finden kann, solange sie sich in der<br />
Spannung zwischen ihrer Unterordnung unter einen autoritären Staat <strong>und</strong> ihren ebenso konservativen<br />
eigenen Traditionen einerseits <strong>und</strong> ihrer zunehmend emanzipatorische Bedürfnisse artikulierenden <strong>und</strong> ein<br />
eigenes Verständnis vom Evangelium entwickelnden zukünftigen Basis andererseits zerreißen läßt.<br />
(Fußnote³, letzte Seite 240)<br />
„Wir schwimmen <strong>und</strong> treiben in einer Unzahl von Problemen. Schlag auf Schlag erreichen uns die<br />
Nachrichten. Hungersterben der Massen, Krieg <strong>und</strong> sinnlose Vernichtung, das Sterben der Natur,<br />
Ungerechtigkeit <strong>und</strong> Unterdrückung. Wir haben uns daran gewöhnt. Eine wirkliche Betroffenheit darüber<br />
spüre ich in mir selten. Wir sprechen über Veränderungen, aber ändern nichts. Wir handeln ständig wider<br />
besseres Wissen. Wir werden abgebrüht. Das Grauen schleift sich ab. Sind wir noch wirklich betroffen?<br />
Sloterdijk: ‘Die Spannung zwischen dem, was kritisieren will, <strong>und</strong> dem, was zu kritisieren wäre, ist so<br />
überzogen, daß unser Denken h<strong>und</strong>ertmal eher mürrisch als präzise wird. Kein Denkvermögen hält mit<br />
dem Problematischen Schritt. Daher die Selbstabdankung der Kritik. In der Wurstigkeit gegen alle<br />
Probleme liegt die letzte Vorahnung davon, wie es wäre, ihnen gewachsen zu sein. Weil alles<br />
problematisch wurde; ist auch alles irgendwo egal.’<br />
In den letzten Wochen hat uns die Wirklichkeit in unserem eigenen Lande eingeholt. Die Strukturen<br />
unserer Gesellschaft wurden wieder deutlich. Gewalt gegen Meinungsfreiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit. Da<br />
waren wir wieder betroffen. ... Verwirrt blieben wir als Zuschauer zurück, ohnmächtig, wütend. Wer rief<br />
eigentlich noch die Gerechtigkeit aus? Der Staat? Die Kirche? Die Ausgereisten? Die Gerechtigkeit blieb<br />
auf der Strecke.“<br />
Seit Ludwig Drees diese Worte auf der Ökumenischen Versammlung in Dresden sprach 241 , hat sich in<br />
diesem Lande nur Eines [sic!] verändert. Die „Gewalt gegen Meinungsfreiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ wird<br />
240 Dieser Satz, der als Titelblatt der Dokumentation verwendet wurde, war der von der IFM herausgegebenen<br />
Dokumentation um die Vorgänge nach den Inhaftierungen am 17. <strong>und</strong> 25. Januar 1988 in Berlin („fußnote³“)<br />
entnommen.<br />
241 Dieses „Zeugnis der Betroffenheit“ wurde von L. Drees auf der ersten Session der Ökumenischen Versammlung<br />
in der DDR am 13.02.1988 in Dresden vorgetragen <strong>und</strong> kursierte in verschiedenen hektographierten Fassungen in<br />
Gemeindekreisen.<br />
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jetzt verschwiegen <strong>und</strong> vertuscht. In den Augen einiger Kirchenmänner - Helfer der Opfer <strong>und</strong> Helfer der<br />
Täter - <strong>und</strong> verschiedener Leute mit Verantwortung sind die Opfer der Diktatur nur Querulanten. Die<br />
Opfer, wo sie schließlich seien, stören das Geschäft - das Geschäft verschiedener Politiker <strong>und</strong> das<br />
Geschäft verschiedener Geschäftemacher. Die Last, die auf die Brust der Opfer gelegt ist, kann<br />
unerträglich werden.<br />
Das hier vorliegende Heft will öffentlich machen, worüber zu reden nur im Flüsterton erlaubt ist.<br />
Am 19. Februar 1988 gab es eine Begegnung zwischen Dr. Jarowinsky <strong>und</strong> Landesbischof Dr. Leich im<br />
Gebäude des Staatsrates, über die weder Staat noch Kirche etwas verlautbarten242 . Die Hatz auf<br />
Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, die Ereignisse um die Sophienkirche Ende<br />
Februar <strong>und</strong> Anfang März243 , die Eingriffe des Presseamtes in die kirchliche Publizistik <strong>und</strong> das<br />
Ordnungsstrafverfahren gegen die Herausgeber des innerkirchlichen Informationsblattes „Kontext“ auf<br />
der einen Seite <strong>und</strong> die Angst kirchenleitender Persönlichkeiten vor zu deutlich innenpolitischem<br />
Engagement der kirchlichen Basisgruppen auf der anderen Seite sind zwei Seiten ein <strong>und</strong> desselben<br />
Sachverhaltes.<br />
Dieses Heft will offenlegen, was über das Gespräch von staatlicher (Dokument I/1) <strong>und</strong> kirchlicher<br />
(Dokument I/2) Seite an die „unteren Ebenen“ weitergegeben wurde.<br />
Die Herausgeber<br />
Anfang August 1988<br />
[Es folgen: die Wiedergabe des SED-Papiers „An die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen <strong>und</strong> der<br />
Kreisleitungen der SED“ vom 18.02.1988, welches Jarowinsky am 19.02.1988 dem Vorsitzenden des<br />
B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR, Landesbischof Dr. Leich, vorlas <strong>und</strong> der „Vertrauliche<br />
Vermerk“ von OKR Ziegler über dieses „Gespräch“ 244.]<br />
76 Basisgruppenerklärung<br />
Offener Brief von verschiedenen Basisgruppenmitgliedern an Bischof J. Hempel vom 05.09.1988, in dem sie<br />
gegen die Entscheidung des Kirchenvorstandes protestieren. Der Brief wurde Bischof J. Hempel am selben<br />
Abend von A. Holicki (AK „Gerechtigkeit“) in Dresden übergeben. Er wurde hektographiert <strong>und</strong> während des<br />
Friedensgebetes verteilt (ABL H 1).<br />
Offener Brief 245<br />
Sehr geehrter Herr Landesbischof Dr. Hempel!<br />
Wir, d.h. Mitglieder der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis<br />
Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe Umweltschutz, Arbeitskreis Solidarische Kirche, wenden uns auf diese<br />
ungewöhnliche Weise <strong>und</strong> direkt an Sie, da wir durch verschiedene Vorfälle in einen inzwischen sehr<br />
242 Die Jarowinsky-Rede ist veröffentlicht u.a. in: epd-Dok. 43/1988 (17.10.1988), S. 61-65. (s.a. Anm.161) Die<br />
Jarowinsky-Rede ist in Zusammenarbeit mit der HA XX/4 (Oberst Wiegand) entstanden <strong>und</strong> gibt sowohl SED-<br />
als auch die MfS-Position deutlich zu erkennen (s. Handakte Wiegand - BStU HA XX/4 838). Die Quelle des<br />
AKG war zum einen (SED-Papier) der inoffizielle Stasi-Mitarbeiter B. Becker, der dieses Papier von R. Wötzel,<br />
Sekretär der SED-BL, erhalten haben soll, <strong>und</strong> zum anderen (kirchliches Papier) die IFM, mit der der AKG eng<br />
zusammenarbeitete. Der IFM wurde das Papier von M. Stolpe „zugespielt“. Die Kriminalpolizei vermutete bzw.<br />
behauptete, daß diese Dokumentation vom BEK herausgegeben wurde (s. Dok. 79). Unter den Stasi-Unterlagen<br />
konnte von den Herausgebern kein Hinweis über die Quellen gef<strong>und</strong>en werden. Auszüge der Jarowinsky-Rede<br />
wurden u.E. erstmals am 26.09.1988 durch eine Sendung von Radio 100 einer breiten Öffentlichkeit zugänglich<br />
gemacht.<br />
243 Gemeint sind die teilweise brutalen Behinderungen von Gottesdienstbesuchen durch zivile <strong>und</strong> uniformierte<br />
„Sicherheitskräfte“, die vor allem Ausreiwilligen galten.<br />
244 Aktenzeichen A 5002-484/88 des Sekretariats des BEK. Als Verteiler waren die Mitglieder der KKL <strong>und</strong> die<br />
Mitglieder der Arbeitsgruppe Koordinierung angegeben worden.<br />
245 Als Verteiler gab A. Holicki an: OLKR Auerbach, Sup. Magirius, Pf. Führer, Pf. Berger, W. Leich, M. Stolpe<br />
(Stellvertreter des Vorsitzenden des BEK), ENA, Der Sonntag, Die Kirche sowie an die Teilnehmer des FG am<br />
05.09.1988 in der Nikolaikirche (Brief vom 17.09.1988 an J. Hempel - ABL H 1)<br />
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ernsten Konflikt mit der Superintendentur Leipzig/Ost geraten sind, der nicht mehr intern gelöst werden<br />
kann. [/] Seine letzte Zuspitzung erhielt dieser Konflikt durch die Entscheidung des Superintendenten<br />
Friedrich Magirius, das seit 1981 bestehende wöchentliche Friedensgebet der Leipziger Basisgruppen zu<br />
beenden <strong>und</strong> an seiner Stelle eine Veranstaltung der Nikolaikirchgemeinde zu setzen.<br />
Diese Entscheidung ist von Sup. Magirius administrativ getroffen worden, zwar unter späterer Mitwirkung<br />
von Pfr. Führer/Nikolai, aber ohne den Kirchenvorstand der Nikolaigemeinde oder den mit der<br />
Organisation der Friedensgebete betrauten Bezirkssynodalausschuß der Leipziger Basisgruppen<br />
einzubeziehen 246. In seinem Brief an die Gruppen247<br />
begründet Sup. Magirius seine Entscheidung damit,<br />
daß die meisten Teilnehmer an den Zusammenkünften nicht interessiert <strong>und</strong> engagiert sind an den Fragen<br />
„Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung“. Seine Begründung empfinden wir zum einen als<br />
diffamierend, zum anderen auch als unzutreffend. [/] Seine Unterstellung betrifft die gesamte Gemeinde<br />
des Friedensgebetes, die jeden Montag in großer Zahl, mit Interesse <strong>und</strong> Ausdauer die Gottesdienste<br />
besucht. Und selbst wenn die Mehrheit der Gemeinde sich nicht voll hinter den Inhalt der jeweiligen<br />
Botschaft der verschiedenen Gruppen stellen sollte, wäre das noch kein Gr<strong>und</strong>, die Verkündigung zu<br />
unterlassen. Wir müssen immer damit rechnen, daß unser von Jesus geprägtes Reden anderen als Torheit<br />
erscheint, was kein Gr<strong>und</strong> ist, nicht mit der Verkündigung fortzufahren.<br />
Sup. Magirius beteuerte der Gemeinde im Friedensgebet vom 29.08., daß seine Entscheidung „weder<br />
eigenmächtig, noch überheblich oder in irgend einer Abhängigkeit getroffen wurde, sondern einzig <strong>und</strong><br />
allein als eine Gewissensentscheidung in unserem Dienst als Pfarrer dieser Gemeinde vor dem lebendigen<br />
Gott“.<br />
Wir fühlen uns durch seinen Umgang mit uns sehr wohl eigenmächtig <strong>und</strong> überheblich übergangen.<br />
Außerdem schließen wir aus seinen widersprechenden Äußerungen, daß Sup. Magirius verschiedenen<br />
Abhängigkeiten unterliegt, die er uns nicht offenlegen will. [/] Wir haben Herrn Magirius dazu<br />
aufgefordert, sein Vorgehen in dieser Sache der Gemeinde offenzulegen <strong>und</strong> zu begründen, indem er<br />
seinen Brief verliest <strong>und</strong> seine Entscheidung zur öffentlichen Diskussion stellt. Vor dem Friedensgebet<br />
beteuerte er nochmals zwei Gruppenvertretern, daß er mit uns im Gespräch bleiben will. Auch versprach<br />
er, zumindest seinen Brief an die Gruppen im Friedensgebet am 29.08. verlesen zu wollen. [/] Dies ist<br />
nicht geschehen. [/] Der Gemeinde des Friedensgebetes ist dadurch sowohl jede Information über den<br />
tatsächlichen Sachverhalt als auch die Möglichkeit der Stellungnahme verwehrt geblieben. Um die von<br />
dem Verantwortlichen verwehrte Information <strong>und</strong> Aussprache doch noch möglich zu machen, haben wir<br />
das in der Nikolaikirche auferlegte Sprechverbot mißachtet <strong>und</strong> im Anschluß an das Friedensgebet den<br />
Versuch unternommen, uns in der Kirche mit unserem Anliegen Gehör zu verschaffen.<br />
Ergänzt sei hier noch, daß Pfarrer Führer zu Beginn des Friedensgebetes der Gemeinde eine Erklärung zur<br />
veränderten Ordnung der Veranstaltung gegeben hat, die aber auf einer falschen Voraussetzung beruhte.<br />
Nach dieser Version habe es vor der Sommerpause Unklarheiten in der Gestaltung des Friedensgebetes<br />
gegeben. Der Kirchenvorstand von Nikolai hätte deshalb an die Vorsitzenden der Gruppen ein Schreiben<br />
gesandt, mit der Bitte um ein Nachdenken über eine neue Ordnung, die mit den beteiligten Gruppen<br />
ausgewogen zu erörtern sei. [/] Dies ist unzutreffend. Ein Schreiben des Kirchenvorstandes erging, wie<br />
wir am 01.09. erfuhren, lediglich an Sup. Magirius, Pfr. Dr. Berger <strong>und</strong> Pfr. Wonneberger, in dem der<br />
Kirchenvorstand empfiehlt, „die mehrfach bei uns eingegangenen Äußerungen der Unzufriedenheit über<br />
den derzeitigen ‘Zustand’ der Friedensgebete ernsthaft zu prüfen <strong>und</strong> weiterführende Überlegungen<br />
anzustellen.“ [/] Die genannten „Äußerungen“ sind in der Zwischenzeit weder den Angeschriebenen noch<br />
gar den Gruppenvertretern zur Prüfung zugänglich gemacht worden.<br />
Durch die Art des Umgangs, die Sup. Magirius in dieser Sache als auch in verschiedenen anderen<br />
Angelegenheiten der letzten Zeit gezeigt hat, hat er unseren Respekt als kirchenleitende Persönlichkeit,<br />
unser Vertrauen auf seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong> unseren Glauben an seine moralische Integrität<br />
verloren. Seine Äußerungen vor den Gruppenvertretern widersprachen seinem Auftreten in anderen<br />
kirchlichen Gremien. Wir gewinnen den Eindruck, daß Sup. Magirius bewußt Mißverständnisse schafft<br />
246 Mit diesen Sätzen wird der Eindruck der Gruppenmitglieder wiedergegeben, der sich am 01.09. anläßlich des<br />
Gespräches mit Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pfarrer Führer einstellte.<br />
247 s. Dok. 64<br />
147
<strong>und</strong> Voreingenommenheit bei Pfarrern gegen unsere Arbeit erzeugt, um unser Engagement zu behindern.<br />
Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, ob diese Vorgehensweise wirklich einer christlichen<br />
Motivation entspringt oder ob Sup. Magirius andere Interessen vertritt.<br />
Sup. Richter legte in seiner Predigt zum Friedensgebet am 29.08. den Text von der Heilung des<br />
Gelähmten (Apg. 3) aus, indem er die Bildsprache des Textes so deutete, daß wir alle „gelähmt“ sind <strong>und</strong><br />
der Befreiung bedürfen, die allein durch das Wort Gottes möglich ist. Sup. Richter bezieht die Situation<br />
der Lähmung auf die Kirche, die er uns als eine Ohnmächtige vor Augen führte. Wenn wir den Text<br />
verfolgen, stellen wir fest, daß Petrus <strong>und</strong> Johannes in der Kraft des Evangeliums zu kompromißlosen<br />
Vertretern der Wahrheit befreit worden sind, die sie dem Volk verkünden. Dafür haben sie sich vor dem<br />
Hohen Rat zu verantworten <strong>und</strong> zwar nicht für ihre Ohnmacht, sondern für die Kraft, die sie aus dem<br />
Evangelium gewonnen haben (Apg. 4,20). Wir gewinnen aus dem Text der Apostelgeschichte die<br />
Erkenntnis, daß wir durch die befreiende Botschaft des Evangeliums nicht nur zur Verkündigung des<br />
Wortes gerufen sind, sondern daß das „steh auf <strong>und</strong> geh“ uns zum Handeln befreit <strong>und</strong> wir unsere<br />
Lähmung überwinden.<br />
In den von den Gruppen gestalteten Friedensgebeten kamen unterschiedliche Möglichkeiten des Handelns<br />
zum Ausdruck, verschiedene Versuche, sich für die Veränderung <strong>und</strong> Verbesserung der Gesellschaft zu<br />
engagieren. Um irgendeinen Erfolg unserer Arbeit zu ermöglichen, müssen wir viele Menschen erreichen<br />
<strong>und</strong> dürfen nicht ausschließlich zwischen den Gruppen oder mit Kirchenvertretern im Gespräch stehen.<br />
Wir brauchen die Öffentlichkeit. Wir sehen uns als Gruppen nun nicht mehr nur von staatlicher, sondern<br />
auch von kirchlicher Seite ins Abseits gedrängt. Es wird für uns immer schwieriger, die normalen<br />
innerkirchlichen Kommunikationsmöglichkeiten für unsere Arbeit zu nutzen.<br />
Wir bitten Sie, Herr Landesbischof Dr. Hempel, um Verständnis für unsere Situation. Wir bitten Sie, als<br />
geistliches Oberhaupt unserer Kirche ein klares Wort zum Umgang mit den Gruppen zu sprechen. Wir<br />
bitten Sie, bei Ihren Mitarbeitern Verständnis dafür zu wecken, daß ein Engagement für die Welt in den<br />
ganz verschiedenen Formen, die kirchliche Basisgruppen wahrnehmen, sehr wohl zu den Anliegen der<br />
Kirche zählt <strong>und</strong> eine Trennung zwischen denen, die das Wort Gottes zu Gehör bringen, <strong>und</strong> denen, die<br />
sich dafür einsetzen, daß dieses Wort Zeichen setzt <strong>und</strong> auch gesellschaftlich Gestalt gewinnt, weder<br />
sinnvoll noch christlich ist.<br />
Axel Holicki, Jochen Lässig, Andreas Ludwig, Rainer Müller, Gesine Oltmanns, Andreas Radicke, Uwe<br />
Schwabe, Frank Sellentin<br />
77 Basisgruppenerklärung<br />
Erklärung von Leipziger Basisgruppen, die J. Läßig am 05.09.1988 nach dem Friedensgebet vor der<br />
Nikolaikirche verlas. Typoskript (ABL H 1).<br />
Wir, d.h. einige Mitglieder der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Gerechtigkeit, Initiative Leben <strong>und</strong><br />
Solidarische Kirche, machen heute noch einmal den Versuch, uns an die Öffentlichkeit zu wenden. Bisher<br />
hatten wir die Möglichkeit, das in der Kirche zu tun. Vor zwei Wochen wurde uns die Sprecherlaubnis<br />
durch die Verantwortlichen entzogen. Entgegen den öffentlichen Beteuerungen des Superintendenten <strong>und</strong><br />
des Pfarrers dieser Kirche, daß ihre Entscheidung allein vor ihren Gewissen <strong>und</strong> vor Gott getroffen ist,<br />
wissen wir, daß massiver äußerer Druck zur Absetzung des Friedensgebetes der Gruppen geführt hat.<br />
In den Gebeten sind öfter Stimmen laut geworden, die hier im Land nicht an die Öffentlichkeit dürfen;<br />
Unzufriedenheit mit Kirche <strong>und</strong> Staat - Protest gegen Unterdrückung - Aufruf zur Solidarität. Damit soll<br />
jetzt Schluß sein!<br />
Wir empfinden die Vorgänge um die Absetzung dieser kirchlichen Veranstaltung als skandalös:<br />
− zum einen, weil hier Entscheidungen von Leuten beeinflußt werden, die über das, was in einer Kirche<br />
passiert, nichts zu befinden haben, Leute, die sowohl national als auch international das Recht der<br />
freien Meinungsäußerung <strong>und</strong> das Recht der freien Religionsausübung für ihr Land als verwirklicht<br />
erklären,<br />
− zum anderen, weil die kirchlichen Vertreter die Verschleierung der tatsächlichen Sachverhalte<br />
148
mitbetreiben, indem sie ihr eigenes Reden <strong>und</strong> das Reden anderer nach der politischen Gefälligkeit<br />
zensieren.<br />
Wenn diese Haltung in der Kirche zur Regel wird, sehen wir die Glaubwürdigkeit dieser Institution<br />
gefährdet. Wir sehen uns als Christen <strong>und</strong> als Leute, die die Wahrheit lieben, verpflichtet, hier zu<br />
protestieren. Wir rufen alle Verantwortlichen dazu auf, die wahren Hintergründe ihrer Entscheidung<br />
offenzulegen <strong>und</strong> wenigstens in ihren Räumen das Recht der freien Meinungsäußerung aufrecht zu<br />
erhalten. Wir bitten um Solidarität aller, die so empfinden wie wir. Wir bitten all jene, denen die Freiheit<br />
der Kirche <strong>und</strong> die Freiheit der Meinungsäußerung in diesem Land am Herzen liegen, sich zu Wort zu<br />
melden.<br />
78 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Auszug aus dem Durchschlag eines Briefes des Stellv. Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für<br />
Inneres, Reitmann, an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, vom 05.09.1988, in dem die Situation um<br />
die Friedensgebete geschildert wird. Der Durchschlag wurde nicht unterzeichnet. Bearbeitungsspuren zeigen,<br />
daß K. Conrad die Information am 14.09. erhalten hatte (ABL H 53).<br />
Sehr geehrter Genosse Staatssekretär!<br />
Ihre Dienstberatung vom 25. 8. 1988 wurde im Bezirk gründlich ausgewertet. So fanden bereits am 26. 8.<br />
1988 eine außerordentliche Sitzung des „Kleinen Kollektivs“ statt. Es wurde Übereinstimmung erzielt,<br />
daß die kreislichen Organe umfassend in Ihre Aufgabenstellung zur Vorbereitung des B<strong>und</strong>essynode <strong>und</strong><br />
der II. Oekumenischen Versammlung in Magdeburg eingewiesen werden. [/] Die Einweisung der<br />
Stellvertreter für Inneres <strong>und</strong> Mitarbeiter Kirchenfragen des Rates der Stadt Leipzig <strong>und</strong> der Räte der<br />
Kreise erfolgte am 31. 8. 1988 im Beisein der Genossen Prof. Dr. Horst Dohle <strong>und</strong> Dieter Wieland. Ich<br />
halte diese Form der Teilnahme an Bezirksberatungen für sinn- <strong>und</strong> wirkungsvoll. [/] Eine weitgehende<br />
Konsultation fand mit dem Vorsitzenden des Bezirksverbandes der CDU statt. [/] Im Bezirk ist somit ein<br />
gemeinsames Vorgehen der staatlichen Organe <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe „Christliche Kreise“ gesichert. [/]<br />
Zu ihrer Aufgabenstellung in bezug auf die Gesprächsführung mit den Synodalen des B<strong>und</strong>es kann ich<br />
wie folgt berichten:<br />
[...] Kennzeichnend für die kirchenpolitische Situation im Vorfeld der Synode ist das Bemühen der<br />
kirchenleitenden Persönlichkeiten in der Stadt Leipzig um eine Beruhigung der Gesamtsituation des<br />
Friedensgebetes in der Nikolaikirche. Das in den letzten Monaten zwischen staatlichen Organen <strong>und</strong><br />
kirchenleitenden Persönlichkeiten gewachsene Vertrauen kommt in eindeutigen Positionen beider<br />
Superintendenten zur Konsolidierung der Lage zum Ausdruck. [/] So hat sich Superintendent Magirius mit<br />
einem Offenen Brief an die Gruppen im Synodal-Ausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ gewandt <strong>und</strong> sie<br />
zum Einhalten der Gesetze <strong>und</strong> Bestimmungen der DDR aufgefordert 248 . [/] Beide Superintendenten<br />
haben die Friedensgebete am 29.8. <strong>und</strong> 5.9. 1988 geleitet. Insbesondere Superintendent Magirius ist<br />
wegen seiner Position umfangreichen Anfeindungen im kirchlichen Raum ausgesetzt. Am Friedensgebet<br />
am 29.08.1988 nahmen ca. 600 Personen teil. Superintendent Richter trug einen längeren, rein<br />
theologischen Text vor, an den sich Fürbitten anschlossen. [/] Ohne direkte Bezüge wurden darin die<br />
Problemkreise „Menschliche Schwächen, stärkerer Austausch der Menschen untereinander,<br />
Wohlstandsdenken <strong>und</strong> Schädigung der Umwelt“ angesprochen. Danach forderte Superintendent Magirius<br />
auf, die Friedensgebete wieder zu ihrem Traditionsgehalt, dem Frieden auf der Erde, der Umwelt <strong>und</strong> der<br />
Gerechtigkeit bzw. des konziliaren Prozesses zu machen.<br />
Superintendent Magirius hob hervor, daß es sich bei dieser Orientierung um eine wohlüberlegte,<br />
gewissenhafte Entscheidung verantwortlicher Pfarrerschaft vor Gott handle. [/] Im Anschluß an diese<br />
Worte kam es zu Protesten <strong>und</strong> konfrontativen Angriffen gegen Magirius. Diese Angriffe wurden von<br />
Studenten des Theologischen Seminars vorgebracht. [/] In mehreren Gesprächen mit Magirius <strong>und</strong> der<br />
Leitung des Theologischen Seminars gelang es, gerade diesen Punkt als Verletzung des kirchlichen<br />
Regelwerkes darzustellen. Es besteht Übereinstimmung darüber, daß es nicht zugelassen werden kann,<br />
248 vgl. Dok. 64<br />
149
daß im kirchlichen Raum Studenten des Theologischen Seminars einen Leipziger Superintendenten<br />
politisch angreifen. [/] Das Friedensgebet am 5.9.1988 zeigte, daß diese Erkenntnis durch die Leitung des<br />
Seminars nicht gradlinig gegenüber ihren Studenten umgesetzt werden kann.<br />
Am Friedensgebet am 5.9.1988 hielt Superintendent Magirius im Beisein von Superintendent Richter die<br />
Predigt. Pfarrer Führer bezog nochmals Stellung zur Haltung der Kirche gegenüber der<br />
Basisgruppenarbeit im Friedensgebet. [/] In der Predigt von Superintendent Magirius wurde Bezug<br />
genommen auf die Grenze der DDR zur Volksrepublik Polen, die als Friedensgrenze Symbol der<br />
Fre<strong>und</strong>schaft zwischen den Völkern ist. [/] Magirius verwies gleichzeitig darauf, daß durch das<br />
Überschreiten der Grenze zwischen Deutschland <strong>und</strong> Polen der 2. Weltkrieg begann. Er stellte den Bezug<br />
zum 50. Jahrestag der Progromnacht her <strong>und</strong> verblieb in seiner gesamten Predigt im theologischen Raum.<br />
Im Anschluß an das Friedensgebet, an dem 650 Personen teilnahmen, versammelten sich einige<br />
Teilnehmer in Gruppen in der Kirche. Dabei kursierte ein „Offener Brief“ 249 an den Landesbischof<br />
Hempel <strong>und</strong> ein Material, das als „Die Kirche“ 250 bezeichnet wird. Beide Materialien werden im Original<br />
als Anlage beigefügt. Bei den Unterzeichnern des Briefes handelt es sich in der Mehrzahl um Studenten<br />
des Theologischen Seminars, über deren politisches Verhalten schon mehrfach mit der Leitung des<br />
Seminars gesprochen wurde. [/] Danach kam es zu einer losen Gruppenbewegung von ca. 150 Personen,<br />
die sich zum Marktplatz begaben. Es gab mehrere Versuche, sich an Händen zu halten bzw. einen Kreis<br />
zu bilden. Losungen <strong>und</strong> andere wurden nicht mitgeführt. Ähnlich wie am 14. März 1988 zur<br />
Frühjahrsmesse war eine große Zahl von westlichen Journalisten anwesend, die auf das Eingreifen der<br />
Sicherheitsorgane warteten. [/] Es kann eingeschätzt werden, daß diese Provokationen verhindert wurden.<br />
Bei den Personen handelt es sich vorwiegend um Antragsteller, zum Teil aus anderen Bezirken.<br />
Insgesamt zeigt sich, daß im Unterschied zur Frühjahrsmesse 1988 der Verlauf der Friedensgebete in der<br />
Kirche beruhigend wirkte. Durch die Haltung der Leipziger kirchenleitenden Persönlichkeiten konnte ein<br />
Aufputschen dieser Personen verhindert werden. Die staatliche Erwartungshaltung wurde somit<br />
weitestgehend durch Superintendent Magirius, Superintendent Richter u.a. erfüllt.<br />
Aus dem beigefügten Material geht hervor, daß sich dafür jetzt Superintendent Magirius gegenüber<br />
scharfen Angriffen verteidigen muß. Es wird deutlich, daß die kirchenpolitische Zielstellung, die<br />
Antragsteller aus kirchlichen Handlungen herauszubringen, hiermit weitestgehend erfüllt worden ist. [/]<br />
Die Kirche wird sich in Zukunft auf seelsorgerische Arbeit beschränken.<br />
Mit sozialistischem Gruß [/] Dr. Reitmann<br />
79 Polizeibericht<br />
Information vom Stellvertreter des Leiters K (Kriminalpolizei) <strong>und</strong> Leiter Dezernat I der BDVP Leipzig (steiha)<br />
vom 06.09.1988 über das Friedensgebet am 05.09.1989 251 . Die Information wurde unterzeichnet von<br />
Oberstleutnant Patzer. Bearbeitungsspuren weisen darauf hin, daß der Bericht an die Leiter der AKG, der<br />
Abteilung XX, an die KD Stadt <strong>und</strong> an Oberst Eppisch ging (ABL H 10).<br />
Information [/] über das Friedensgebet in der Nikolaikirche Leipzig am 5.9.1988<br />
Am 5.9.88 gegen 17.00 Uhr wurden die 500 bis 600 Teilnehmer des Friedensgebetes durch den Pfarrer der<br />
Nikolaikirche [/] Führer, Christian [/.../] begrüßt. Er begann seine Ausführungen damit, daß der Verlauf<br />
des letzten Friedensgebetes am 29.8.88 sowohl für die Kirche als auch für die Basisgruppen unangenehm<br />
war. Führer gab die Entscheidung der Kirche bekannt, daß die Friedensgebete weiter durchgeführt<br />
werden. Im Anschluß daran sprach der Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-Ost [/] Magirius,<br />
Friedrich [/.../] M. erinnerte in seinen Ausführungen an den Beginn des 2. Weltkrieges durch den Überfall<br />
Hitler-Deutschlands auf Polen. Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion trat eine Wende im<br />
Verlauf des Krieges ein, der letztendlich zum Untergang des Naziregimes führte. Auf die Geschichte der<br />
Friedensgebete eingehend äußerte Magirius, daß sie seit dem Zeitpunkt der ungehemmten Hochrüstung in<br />
249 s. Dok. 76<br />
250 s. Dok. 75<br />
251 Die Information beruht vermutlich auf Mitteilungen inoffizieller Mitarbeiter der Kriminalpolizei.<br />
150
Ost <strong>und</strong> West unter der realen Gefahr eines neuen Weltkrieges durchgeführt wurden.<br />
Seit einiger Zeit hat sich das Ost-West-Verhältnis gebessert, <strong>und</strong> da wurden Abrüstungsschritte<br />
eingeleitet. Daher hat sich der Charakter der Friedensgebete geändert, <strong>und</strong> es wurden<br />
Menschenrechtsfragen in den Mittelpunkt gerückt. Magirius forderte gesetzlich verbriefte Menschenrechte<br />
<strong>und</strong> Transparenz in staatlichen Entscheidungen, die die Menschen in der DDR betreffen. [/] Danach führte<br />
Magirius Bibelarbeit durch, die bei den Anwesenden auf wenig Interesse stieß. Im Anschluß daran führte<br />
der Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-West [/] Richter, Johannes [/.../] die Fürbitte durch. [/]<br />
Seitens der Kirche war damit ein Ende des Friedensgebetes geplant. Durch die Basisgruppen,<br />
insbesondere die Initiativgruppe „Leben“ (IGL), wurde das Friedensgebet genutzt, um Forderungen an die<br />
Kirchenleitung sowie den Staat öffentlich zu stellen.<br />
Durch die IGL-Mitglieder [/] Schwabe, Uwe [...] [... zweiter Name geschwärzt] sowie einem „Mischa“<br />
(vermutlich handelt es sich um einen Arnold, Michael / war bei vergangenen Friedensgebeten bereits<br />
aktiv) wurden Forderungen verlesen, in denen die Kirchenleitung zu einer Stellungnahme über die weitere<br />
Arbeit der Basisgruppen <strong>und</strong> deren Einbeziehung in kirchliche Entscheidungen aufgefordert wird. Die<br />
Kirchenleitung soll veranlaßt werden, den Basisgruppen bei der Erreichung weiteren Einflusses in der<br />
Gesellschaft zu erreichen [sic!].<br />
Durch Mitglieder von Basisgruppen wurden an die Teilnehmer des Friedensgebetes zwei<br />
Vervielfältigungen verteilt. [/] In einem offenen Brief an den Landesbischof Dr. Hempel wurden die<br />
bereits genannten Forderungen formuliert <strong>und</strong> Beschwerde über die Arbeit der Superintendenten geführt.<br />
[/] Außerdem wurde eine Vervielfältigung verteilt, die über ein Treffen von Landesbischof Dr. Leich<br />
(Thüringen) mit Dr. Jarowinsky am 19. Februar 1988 im Staatsrat der DDR berichtet. Diese Schrift wurde<br />
offensichtlich von der Konferenz der ev. Kirchenleitungen (KeK) herausgegeben. Beide<br />
Vervielfältigungen liegen vor.<br />
Während des Friedensgebetes sollen Korrespondenten aus dem NSW anwesend gewesen sein. Weiterhin<br />
wurden zwei US-Amerikaner in der Kirche bemerkt, die Vervielfältigungen in Empfang nahmen. [/] Im<br />
Anschluß an die Verlesung <strong>und</strong> Verteilung der Forderungen der Basisgruppen formierte sich vor der<br />
Kirche eine Gruppierung, die im weiteren einen Schweigemarsch von der Nikolaikirche, durch die<br />
Mädlerpassage, am Capitol vorbei, um die Thomaskirche auf dem Markt durchführte.<br />
Als Organisatoren dieses Marsches wurden festgestellt: [/] die bereits genannten Personen [... geschwärzt]<br />
<strong>und</strong> Schwabe sowie der „Mischa“ [... 2 weitere Namen geschwärzt]. Am Marsch nahmen ca. 150<br />
Personen teil. Während der Kreisbildung am Markt wurde durch die Sicherheitsorgane der DDR<br />
eingeschritten <strong>und</strong> die nichtgenehmigte Veranstaltung aufgelöst 252 . Einige Teilnehmer des Marsches<br />
suchen die Konfrontation mit den Sicherheitsorganen. [/] Nach der Auflösung zerstreuten sich die<br />
Teilnehmer des Marsches von der Nikolaikirche aus. [/] Als Teilnehmer am Friedensgebet wurden<br />
weiterhin festgestellt [/ ... es folgen 6 Namen]. [/] A[...] berichtete, daß seine Ehefrau von einer<br />
genehmigten BRD-Reise nicht zurückkehrte <strong>und</strong> er deshalb einen Ausreiseantrag gestellt habe. A. zog<br />
Erk<strong>und</strong>igungen ein, in welchem Umfang er bei der Ausreise Familiengut mitnehmen kann, er versuchte<br />
entsprechende gesetzliche Vorschriften zu erfahren. A. soll von Beruf Schornsteinfeger sein. [/]<br />
Entsprechend von Gerüchten, die in der Nikolaikirche kursierten, soll beim nächsten Friedensgebet am<br />
12.9.88 wiederum ein Marsch durchgeführt werden. Dabei kann es sich aber um eine gezielt ausgestreute<br />
Information handeln.<br />
80 SED-Information<br />
Chiffriertes Fernschreiben Nr. 278 vom 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung (H. Hackenberg) an den<br />
stellvertretenden Abteilungsleiter der Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation beim ZK der SED (W.<br />
Lorenz), mit Informationen über das Friedensgebet am 05.09.1988 vom 07.09.1988 (SAPMO-BArch IV B<br />
252 Mitarbeiter des MfS setzten links neben diesen Satz ein großes Fragezeichen. Der Mielke-Stellvertreter R. Mittig<br />
hatte am 03.09.88 der BV Leipzig des MfS empfohlen, keinen „Aktionscharakter“ aufkommen zu lassen. Es<br />
sollte mit „Fingerspitzengefühl“ gearbeitet werden. Den Schwerpunkt sollte die „Dokumentation“ bilden (BStU<br />
Leipzig AB 3861).<br />
151
2/14/23).<br />
Werter Genosse Walter Lorenz!<br />
Wie gestern telefonisch abgesprochen, möchten wir dich über folgendes Vorkommnis informieren: Am<br />
05.09.1988 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.45 Uhr in der Leipziger Nikolaikirche ein „Friedensgebet“<br />
statt, an dem ca. 650 Personen teilnahmen, davon ein großer Teil Übersiedlungsersuchender <strong>und</strong><br />
Mitglieder kirchlicher Basisgruppen, darunter Personen aus anderen Bezirken (u.a. Halle, Dresden sowie<br />
Berlin). Das Friedensgebet wurde hauptsächlich von Superintendent Magirius gestaltet <strong>und</strong> hatte in<br />
Fortsetzung der festgelegten Linie des Kirchenvorstandes der Nikolaikirche ausschließlich theologischen<br />
Charakter. [/] Das Friedensgebet verlief ohne Vorkommnisse. [/] Durch Mitglieder kirchlicher<br />
Basisgruppen kam eine größere Zahl von schriftlichen Materialien zur Verteilung. Eine von namentlich<br />
nicht bekannten Personen herausgegebene Schrift mit dem Titel „Die Kirche“, in der ausgehend von den<br />
Januarereignissen auf Widerspruch im Verhältnis zwischen kirchlicher Basis <strong>und</strong> Kirchenleitung sowie<br />
auf eine angebliche Druckausübung seitens staatlicher Organe gegenüber der Kirchenleitung hingewiesen<br />
wird. Mit der Schrift wollen die Herausgeber ‘öffentlich machen, worüber zu reden nur im Flüsterton<br />
erlaubt ist’ <strong>und</strong> publizieren deshalb für die ‘unteren Ebenen’ Auszüge aus einem Schreiben des ZK der<br />
SED an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen/Kreisleitungen (ohne Datumsangabe), den Text der<br />
Erklärung, den Genosse Jarowinsky am 19.02.1988 Landesbischof Leich zur Kenntnis gab sowie einen<br />
innerkirchlichen ‘vertraulichen Vermerk’ über diese Begegnung am 19.02.1988 an die Mitglieder der<br />
Konferenz evangelischer Kirchenleitungen. 253<br />
Einen ‘Offenen Brief’ an Landesbischof Hempel vom 05.09.1988, der von bekannten Mitgliedern der<br />
kirchlichen Basisgruppen Arbeitskreis ‘Gerechtigkeit’, AG ‘Umweltschutz’, IG ‘Leben’ <strong>und</strong> Arbeitskreis<br />
‘Solidarische Kirche’ unterzeichnet ist <strong>und</strong> in dem auf Gr<strong>und</strong> der Entscheidung, die Friedensgebete auf<br />
ihren theologischen Inhalt zurückzuführen <strong>und</strong> die Basisgruppen von der Gestaltung der Friedensgebete<br />
auszuschließen, von einem ‘ernsten Konflikt’ zwischen den Basisgruppen <strong>und</strong> der Superintendentur<br />
geschrieben wird, dessen Lösung im Sinne der Basisgruppen durch Einschaltung von Landesbischof<br />
Hempel erhofft wird.<br />
Nach dem „Friedensgebet“ wurden vor der Kirche durch Vertreter kirchlicher Basisgruppen<br />
Protestschreiben verlesen, die sich gegen ihren Ausschluß aus der Gestaltung von „Friedensgebeten“<br />
richten.<br />
18.20 Uhr kam es, nachdem der größte Teil der Teilnehmer des „Friedensgebetes“ sich bereits von der<br />
Kirche entfernt hatte, zu einer Bewegung von ca. 150 Personen, die durch die Grimmaische Straße -<br />
Mädlerpassage zur Thomaskirche über den Markt zur Nikolaikirche zurück führte.<br />
Bestrebungen zur Formierung von Ketten bzw. zu Kreisen wurden durch den Einsatz gesellschaftlicher<br />
Kräfte unterb<strong>und</strong>en. Die Teilnehmer der Personenbewegung führten keine Transparente, Symbole oder<br />
andere Zeichen mit sich; es erfolgten keine anderen öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen. Durch die Bewegung kam<br />
es zu keiner Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung; sie hatte nur geringe<br />
Öffentlichkeitswirksamkeit. Wir bitten, die Abteilung für Sicherheitsfragen über dieses Fernschreiben zu<br />
informieren.<br />
Mit sozialistischen Gruß [/] H. Hackenberg [/] 2. Sekretär<br />
81 Ereignisbericht<br />
Handschriftliche Aufzeichnung von F. Kowasch nach dem Schweigemarsch am 05.09.1988. Das Blatt hatte er<br />
in seiner Wohnung versteckt. Nach seiner Verhaftung am 16.01.1989 wurde dieser Bericht bei der<br />
Wohnungsdurchsuchung durch das MfS beschlagnahmt (BStU Leipzig AU 472/89 UV, 61).<br />
Messezeit bedeutet - neben der dekadenten Selbstdarstellung - jetzt auch die Möglichkeit für<br />
253 Der Satz wurde im ZK unterstrichen. Am Rand vermerkte R. Bellmann: „Si.-Prüfg. [... nicht zu entziffern]<br />
Part.Organe [... nicht zu entziffern]“. Es ist anzunehmen, daß er eine Sicherheitsüberprüfung forderte, denn das<br />
Schreiben des ZK unterlag besonderen Geheimnisvorschriften.<br />
152
Ausreisewillige <strong>und</strong> politisch Engagierte, sich mit ihren Anliegen öffentlich zu machen. Schwerpunkt<br />
hierfür ist seit der innenpolitischen Verschärfung im Winter 1987/88 die Nikolaikirche, in der montäglich<br />
Friedensgebete abgehalten werden. Zum Ausdruck kam hier besonders das Gefühl der Ohnmächtigkeit<br />
<strong>und</strong> täglich erfahrbarer Entmündigung. Als Folge davon entstand immer stärker werdender Zorn, der sich<br />
erstmals zur Frühjahrsmesse in einem Schweigemarsch von ca. 300 Mann zeigte. Während damals - in<br />
Vertretung des Staates - die Kirche mit „Scheingesprächen“ ventilartig geballten Unmut auffing,<br />
kristallisierte sich in der Folgezeit die Ausgrenzung progressiver Basisgruppen heraus. Ein jetzt<br />
existierendes Redeverbot [der Gruppen im FG] ist der Gipfel einer machtintriganten Politik <strong>und</strong> eine<br />
Konzession an herrschende Organe. Der damit ausgelöste Unmut zeigte sich in Protesterklärungen,<br />
welche am 5. September 1988 vor der Kirche verlesen wurden. Obwohl es in Strömen regnete, harrten<br />
viele - wohl auch angesichts guter „Messeerfahrungen“ - aus. Da lange Zeit außer Diskussionen nichts<br />
geschah, entstand schließlich ein großer Kreis, aus dem heraus sich eine Kette marschartig in Bewegung<br />
setzte. Unter den Augen von Schaulustigen, Journalisten <strong>und</strong> zivilen Beobachtern schlossen sich ca. 200<br />
Mann dem schweigsamen Zug an. Von der Nikolaikirche ging es über Boulevard, Petersstraße zur<br />
Thomaskirche. Nachdem zuerst einige Windjackenträger blindbrutal seitlich in die Kette liefen,<br />
versuchten ihre Kollegen, nun schon zahlreicher, vor der Kirche den Kopf des Marsches<br />
auseinanderzunehmen. Nach Anweisungen wie „Geht nach Hause“ oder „Wir werden doch alle naß“<br />
zerrte man die ersten Teilnehmer in alle Himmelsrichtungen. Nichtsdestotrotz reaktivierte sich die Kette<br />
sofort massiver <strong>und</strong> wuchs auf dem Weg zum Markt dank der neuen Begleiter sogar erheblich an. Nach<br />
dem Versuch, dort einen Kreis zu bilden, griffen gewaltsam Stasibeamte ein. Von allen Seiten riß man die<br />
im Entstehen begriffene Kette auseinander. Viele wurden zeitweilig festgehalten oder massiv vom Markt<br />
vertrieben. Auch gab es einige ältere Leute, die sich am Ende herabließen, mit den Zivilbeamten über<br />
Ausreise zu diskutieren. Obwohl es keine Verhaftungen gab, zeigte doch das Agieren der abgerichteten<br />
H<strong>und</strong>ertschaft wieder einmal plastisch die Unmöglichkeit des Dialoges <strong>und</strong> baldiger Reformen. Es darf<br />
daher nicht verw<strong>und</strong>ern, daß sich an einer Gegenbewegung - wie beim Schweigemarsch ersichtlich - nicht<br />
nur ein Querschnitt der Bevölkerung beteiligt, sondern im zunehmenden Maße auch Leute ohne<br />
Ausreiseantrag. Denn wo persönliche Anliegen zerstört werden, hilft teilweise nur das Öffentlichmachen<br />
verallgemeinerbarer Erfahrungen zu konkreten Anlässen.<br />
82 Persönlicher Brief<br />
Brief von einem Friedensgebetsbesuchers an U. Schwabe vom 09.09.1988, in dem auf die Friedensgebete <strong>und</strong><br />
auf den Offenen Brief an Bischof J. Hempel eingegangen wurde (ABL H 1).<br />
Lieber Bruder in Jesus Christus!<br />
Seit einiger Zeit besuche ich regelmäßig das Friedensgebet in der Nikolaikirche, so auch am letzten<br />
Montag (5.9.). Vor Beginn wurden u.a. Abzüge eines Offenen Briefes an Landesbischof Dr. Hempel<br />
verteilt. Da Du Mitunterzeichner dieses Briefs bist, schreibe ich Dir. [/] Was war eigentlich der Gr<strong>und</strong> für<br />
diesen Brief? Das seit 1981 bestehende (aber erst viel später in die Hände der Basisgruppen gekommene)<br />
Friedensgebet wird fortgeführt. Verglichen mit den Friedensgebeten vor der Sommerpause hat sich in den<br />
ersten beiden Friedensgebeten im September zugegebenermaßen einiges geändert. Der theologische<br />
Gehalt ist verstärkt worden <strong>und</strong> die Sprache der Ausführenden ist friedlicher, eben einem Friedensgebet<br />
angemessener geworden. Das, was sich vor der Sommerpause Friedensgebet nannte, war doch oft mit<br />
üblen Entgleisungen gegen die staatliche Obrigkeit <strong>und</strong> gegen unsere Kirchenleitung verb<strong>und</strong>en. Frieden<br />
beginnt in den Herzen der Menschen. Ich hatte oft den Eindruck, daß viele der Schwestern <strong>und</strong> Brüder aus<br />
den Basisgruppen im Herzen (sicherlich aus guten Gründen) verbittert waren. Es konnte daher gar nicht<br />
erwartet werden, daß die bisherigen Friedensgebete wirklich ein Stück Frieden ausstrahlen würden. Im<br />
Gegenteil, da ich als Vertreter der CDU in einer FDJ-Stadtbezirksleitung ehrenamtlich tätig bin, merkte<br />
ich, daß unser Friedensgebet junge Marxisten verunsicherte <strong>und</strong> unser Friedenszeugnis, das wir als<br />
Christen verpflichtet sind abzulegen, unglaubwürdig machte. [/] In Eurem Brief sprecht Ihr von „unserm<br />
von Jesus geprägten Reden“. [/] Leider vermißte ich genau das oft genug während des Friedensgebetes<br />
<strong>und</strong> erst recht in Eurem Brief. Oder glaubt Ihr etwa, wenn Ihr Herrn Sup. Magirius bescheinigt, daß „er<br />
153
unseren Respekt als kirchenleitende Persönlichkeit, unser Vertrauen auf seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong><br />
unseren Glauben an seine moralische Integrität verloren hat“, sei das „von Jesus geprägtes Reden“. Diese<br />
Worte wären dann gerechtfertigt, wenn das Friedensgebet durch die jüngsten Veränderungen<br />
zweckentfremdet würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Eine aus guten Gründen 1981 geschaffene<br />
Veranstaltung, zwischenzeitlich herabgesunken zu einem Instrument der Ausreiseantragsteller, ist nun<br />
wieder neu belebt worden. [/] Gott gebe, daß die geistliche Belebung anhält.<br />
Lieber Bruder, es steht doch fest, auch in Zukunft wird es ein Friedensgebet geben. Ich bitte Dich, sowie<br />
alle Schwestern <strong>und</strong> Brüder aus den Basisgruppen, laßt Euch nicht in den Strudel der Verbitterung reißen.<br />
Auch ich weiß, es gibt hier in diesem Staatswesen (wie natürlich überall auf dieser Welt) viele<br />
Ungerechtigkeiten <strong>und</strong> Mißstände. [/] Wir sollten den Geist Gottes dagegen setzen, aber dieser Geist ist<br />
ein Geist des Friedens <strong>und</strong> der Liebe. Verbitterung <strong>und</strong> Haß aber sind Diener des Satans. Gerade in der<br />
schwierigen Lage, in der wir uns im Augenblick befinden, müssen wir aufpassen, daß wir uns nicht zu<br />
Sklaven des Satans machen. [/] Darum bitte ich Dich, lieber Bruder, laß Deine Seele nicht verkrampfen,<br />
öffne sie für andere Menschen, wenn es sein muß für Deine <strong>Feinde</strong>, <strong>und</strong> laß dich von Jesus Christus<br />
ständig neu zum friedensstiftenden Handeln befreien. [/] In der Verb<strong>und</strong>enheit unseres christlichen<br />
Glaubens grüßt Dich<br />
[gez.] Dirk Metzig<br />
PS. [/] Es würde mich freuen, wenn Du auf meinen Brief reagiertest254 . [/] Du erreichst mich (außer<br />
natürlich unter meiner Adresse) jeden Montag nach dem Friedensgebet beim Küster von St. Nikolai Herrn<br />
Thomas Petersohn 255.<br />
83 Staatliche Einschätzung<br />
Auszug aus einer Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres vom 12.09.1988 [in<br />
der Vorlage: 12.08.1988] über Gespräche mit Synodalen des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR.<br />
Die Information sandte Reitmann am 14.09.1988 an den Staatssekretär für Kirchenfragen. Mit<br />
Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />
Die in den letzten Tagen geführten Gespräche mit den Synodalen [... es folgen vier Namen, gemäß StUG<br />
geschwärzt] erbrachten folgende Ergebnisse 256.<br />
[...]<br />
B<strong>und</strong>essynodaler [A... gemäß StUG geschwärzt] bedauerte, daß er zur Synode fahren muß. Er habe<br />
gehofft, in der Zeit der BEK-Synode in Indien zu weilen. Diese Reise sei ihm aber nicht erlaubt worden.<br />
Er gab an, daß er sich bisher kaum mit der Situation in Leipzig, speziell den Friedensgebeten in der<br />
Nikolaikirche, befaßt habe, bis auf den Montag, d. 5.9.88, wo er selbst in der Nikolaikirche anwesend war.<br />
Er möchte sich von den Verfassern des Briefes an Landesbischof Dr. Hempel distanzieren. Er ist voll<br />
gegen Ersuchsteller257 , sieht aber ein Problem, diese Personenkreise aus der Kirche hinauszubringen. Es<br />
besteht volle Einmütigkeit, daß diese Leute in der Kirche keine Plattform für antisozialistische<br />
Beweggründe haben können. Die Kirche hat jetzt den Auftrag, notwendige Mittel <strong>und</strong> Methoden zu<br />
finden, negative Gruppen aus den Kirchen herauszubringen. Ihn beschäftige dieser Gedanke des WIE?<br />
sehr, besonders auch im Zusammenhang mit dem in Leipzig geplanten Kirchentag 1989 sehr. Ein Rezept<br />
dafür habe er aber auch nicht gef<strong>und</strong>en. Er ist der Auffassung, daß die Lage in der Vergangenheit, seit<br />
Herbst 1987, im Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche gespannt war <strong>und</strong> es absolut dringend ist, Normalität<br />
einziehen zu lassen.<br />
Der Landessynodale der sächsischen Synode, [B... gemäß StUG geschwärzt], ersuchte um ein Gespräch<br />
254 U. Schwabe hat auf diesen Brief nicht reagiert.<br />
255 T. Petersohn war inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Wilhelm“, s. Besier/Wolf, 696ff.)<br />
256 Die Gespräche fanden in „Vorbereitung“ der B<strong>und</strong>essynode 1988 statt. Diese wurden vom StfK angeleitet<br />
(Dienstberatung des Staatssekretärs mit den in den Bezirken verantwortlichen am 25.08.1988 <strong>und</strong> Einweisung der<br />
Mitarbeiter in den Referaten Kirchenfragen im Bezirk am 31.08. u.a. mit H. Dohle) <strong>und</strong> mit dem MfS abgestimmt<br />
(außerordentliche Tagung des „Kleinen Kollektivs“) (Brief Reitmann an Löffler vom 05.09.1988 - ABL H 53).<br />
257 Gemeint waren Ausreisewillige.<br />
154
<strong>und</strong> teilte mit, daß er als Synodaler am 5.9.88 auch in der Nikolaikirche Leipzig gewesen ist. Er fühlte sich<br />
aufgefordert, daß er im Bereich der Ephorie Leipzig-Ost mit den Gruppen, die eine für die Nikolaikirche<br />
belastende Situation geschaffen haben, unbedingt reden muß. Die Lage darf nicht zugespitzt werden. Er<br />
habe mit einer Reihe von Leuten, mit Antragstellern auch aus seiner Kirchgemeinde viel Gespräche<br />
geführt, wo auch manches seiner Argumente aufgenommen werden mußte. Die Herausgabe des Briefes an<br />
Landesbischof Dr. Hempel <strong>und</strong> des internen Materials aus dem Gespräch Jarowinsky - Bischof Leich258 ist s. E. ein Verstoß gegen die sogenannte Praxis „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ 259.<br />
[...]<br />
84 Stasi-Notizen<br />
Telefonprotokolle des Leiters der BV Leipzig des MfS (Hummitzsch) anläßlich des Friedensgebetes am<br />
12.09.1988 in seinem Arbeitsbuch (BStU AB 3843, 49-58).<br />
[... 260]<br />
Gen. Oberst - Mehr Aktivitäten muß BKG in Richtung Koordinierung entwickeln<br />
Eppisch am - Zusammenschlüsse<br />
10. Sept. 1988 - Friedensgebete [/] ? Ltg. Strenger261 26-Maßnahmen [/ folgender Name durchgestrichen:] Strenger/Conrad<br />
[Seite 264 50:]<br />
262 263<br />
11.9. [... es folgen drei nicht zu deutende Worte:] Larf / Connen. Holz<br />
Einsatz/Meinka (*XX/)<br />
ZKG/Niebling Abgestimmte Maßnahmen<br />
am 12.9.88 Kontrolle / PKW<br />
8.47 [... teilweise nicht zu entziffern. Es folgen Angaben über Ort - z.B.<br />
Autobahnauffahrten - an denen offensichtlich die Kontrollen stattfinden sollen]<br />
[Seite 51:]<br />
Gen. Niebling Jetzt klargestellt [/] m. VP<br />
ZKG am ca. 40 PKW Michendorf<br />
12.9.88 265 14.00<br />
258 s. Dok. 75<br />
259 Beide Publikationen waren ohne Lizenz <strong>und</strong> auch ohne kirchliche Vervielfältigungsnummer oder Aufdruck „Nur<br />
für den innerkirchlichen Gebrauch“ vervielfältigt worden!<br />
260 Den ersten Anruf Mittigs im dokumentierten Zusammenhang notierte Hummitzsch am 02.09.1988, 8.12 Uhr.<br />
Dort heißt es, daß Mittig am 03.09. in Leipzig sei, u.a. wegen „Maßnahmen nach Messe“ (BStU Leipzig AB<br />
3843, 46). Am 06.09.88, 9.47 Uhr notierte Hummitzsch zu einem Anruf Mittigs: „E.H. jetzt zugestimmt. [/]<br />
Können anfangen wegen Messe [folgendes Wort unterstrichen:] nicht Stadt/Land“ (BStU Leipzig AB 3843, 48).<br />
Aus dem Kontext ist anzunehmen, daß diese Mitteilung sich auf die VVS 62/88 des Ministers für Staatssicherheit<br />
bezieht, in der Maßnahmen gegen Ausreisewillige vorgeschrieben wurden, die auf ihren Ausreisewunsch<br />
öffentlich aufmerksam machten. Dazu gehörten z.B.: weiße Bänder an Autoantennen oder Außenspiegeln, Kreis<br />
oder ein „A“ im Wohnungs- oder Autofenster, Teilnahme an bestimmten Gottesdiensten, Treffen <strong>und</strong><br />
gemeinsame „Spaziergänge“... Die anzuwendenden Maßnahmen waren vor allem Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Entzug<br />
der Fahrerlaubnis. Die Zunahme der Ausreisewilligen wurde durch das MfS als massive Bedrohung empf<strong>und</strong>en.<br />
So wurde bei der Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig am 07.09.1988 mitgeteilt, daß<br />
zwischen Januar <strong>und</strong> August 1988 900 Personen aus Leipzig ausreisen durften <strong>und</strong> bis Dezember 1988 noch 500<br />
weitere „aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen“ würden. In einer Mitschrift der Sitzung heißt es in<br />
diesem Zusammenhang: „Genossen nicht resignieren. Appell an Genossen - Klarheit schaffen.“ (BStU Leipzig<br />
AB 1031) In den folgenden Tagen gab es jeweils morgens einen Anruf Mittigs, zu dem Hummitzsch vermerkte:<br />
„o.V. [vermutlich: ohne Vorkommnisse]“.<br />
261 stellv. Leiter der Abt. XX<br />
262 Die Abteilung 26 war für „Raumüberwachungen“, d.h. Wanzen, Richtmikrofone usw. zuständig.<br />
263 Leiter des für die Kirchen zuständigen Referates XX/4 der BV Leipzig<br />
264 Im AB sind die Angaben über Gesprächspartner <strong>und</strong> Datum stets außen.<br />
155
HA. VII 12 sind durch [/] wenn Fähnchen [/] zuführen<br />
266<br />
Schlichting Berechtigungsschein zurückweisen<br />
[Giem?], 14.35<br />
[Seite 52:]<br />
sollen die Nr. mit neue VP Hülle geben<br />
Bereich / 40 PKWs Gen[osse] [... nicht zu entziffern] stoppen [Abt.] VIII [/] KfZ-Kennzeichen<br />
[... 267]/VIII<br />
Nothing, VP.-Revier[e?] sichern<br />
ZKG Zuführungen<br />
am 12.9. Zugeführte [/] nach Berlin<br />
15.37 268<br />
3/3 Schkeuditz<br />
VP.-Rev. 151 [/] 1193 Treptow, Bulgarische Str.<br />
[Seite 53:]<br />
Nothing Nicht befragen<br />
15.55<br />
Neiber, MfS<br />
KOM [Busse] bereitstellen<br />
16.39 Lieber B 1000 [Barkas - Kleintransporter bzw. -bus]<br />
Richter [... Ortsname nicht zu entziffern] / 3<br />
16.46<br />
[Seite 54:]<br />
Engelsdorf / 3 [/] festgehalten<br />
Mittig 16.49 wollte sich nur informieren<br />
Müller, 16.45 100 / Drinnen [/] 100 / draußen 269 [groß:] ?<br />
16.55 / 350 / 100<br />
17 PKW (6/18) [/] [Autobahn-Kreuz bzw. Abfahrt] Schkeuditz<br />
ca. [ursprünglich 500, dann überschrieben:] 550 in Kirche<br />
Thomas, 17.25 22 Personen [/] zu transportieren [/] 2 PKW / 8 Personen flüchtig<br />
[Seite 55:]<br />
17.30 Predigt hält an<br />
Müller 40 [... rechtsgelegene ?]<br />
Zwischenrufe [/] weil Unzufriedenheit<br />
Mittig, 17.35 über Stand informieren<br />
Neiber, 17,40 ebenfalls informiert [/] xxx<br />
Müller Berlinerin / Frau [/] ruft zur Fürbitte auf<br />
17.48 für die nicht [... kommen?] [/] konnten<br />
weil Kontrolle [/] weil gehindert [hinter den letzten drei Zeilen groß:] Gebet<br />
[Seite 56:]<br />
noch Müller<br />
ca. 100 jetzt [/] Haufen [?] stehen<br />
18.00 Müller Kontroverse [/] Diskussionen<br />
Entführung [/] [... ?] [dahinter:] Disk. [/] über [/] Autobahn<br />
200-250 draußen<br />
100 rechte<br />
20/25 wieder rein<br />
18.16 Müller Abgang, 100/150 [/] Grimmaische Straße<br />
[Seite 57:] ca. 100/150<br />
ca. 150/ Vorplatz<br />
Thomas VIII [eingekreist:] 18 Personen [/] (5 Frauen)<br />
265 Es folgt eine durchgestrichene Zeitangabe.<br />
266 D.h. Zeichen, mit dem auf Ausreisewunsch aufmerksam gemacht wurde.<br />
267 Nicht zu entziffernder Name eines MfS-Mitarbeiters der Abteilung VIII<br />
268 Zu dieser Zeit begann die Einweisung der Stasi-Mitarbeiter für den Einsatz an bzw. in der Nikolaikirche.<br />
269 Offensichtlich in der Nikolaikirche bzw. vor der Kirche.<br />
156
18.20 13 Mann / 20 [... Abkürzung nicht zu entziffern]<br />
1 B 1000 / f[ür] Halle<br />
1 Festn[ahme] ( 3 Personen [)]<br />
1 Lotsenfahrzeug ([Abt.] VIII [)]<br />
Rev. Schkeuditz<br />
18.25 Mittig gesellschaft[liche] Kräfte ? [/] (Frage)<br />
[Seite 58:]<br />
alles Zivil habe [/] ich gesagt.<br />
18.28 Müller Kirche zu !<br />
[...?] 40 [?] vor der Kirche [/] gehen weg.<br />
18.30 Ml. Platz leer [/] alles weg !<br />
Strenger 30 Berliner [/] Richtung K[arl-]M[arx-]Platz 270<br />
18.33 vermutlich PKW 271<br />
18.35 Mittig beide informieren 272<br />
18.40 Neiber<br />
Neiber am Ist weibl. Person [/] identifiziert (rothaarig)<br />
13.9.88, 8.05 Welche weiteren Per- [/] sonen [/] PKW.-Nr. usw. [/] an [eingekreist:] ZKG<br />
melden<br />
Gen. Schönley [... zu einem anderen Thema]<br />
85 Synodalausschußprotokoll<br />
Offizielles Protokoll der BSA-Sitzung am 12.09.1988 von Pf. Berger. Das Protokoll wurde hektographiert<br />
(ABL H 2).<br />
anwesend: Sup. Magirius, Oehler, Rudolph, Radicke, Fleischhack, Hinze, Falk, Motzer, Pf. Wonneberger,<br />
Nitzsche, Münnich, Frau Schneider, Pf. Kunze, Dr. Mühlmann, Müller, Dusdal, Moosdorf, Dr. Pohler, Pf.<br />
Lippold, Wolf, Schiel, Pf. Kaden, Frau Kämpf, Frl. Müller, Dr. Berger<br />
1. Ordnung des Ausschusses<br />
Erarbeitung durch Rudolph, Dusdal, Dr. Mühlmann, Dr. Berger<br />
2. Schreiben des Superintendenten v. 15.8.<br />
Sup. Magirius erläutert Hintergründe. An dem erfolgten Verfahren in differenzierter Diskussion Kritik<br />
geübt. Die Gruppen sollen ihre Vorstellungen zum Friedensgebet in nächster Sitzung vorbringen. Bis<br />
dahin soll Stellungnahme von Pf. Führer zugänglich gemacht werden (Sup.). Danach erneute<br />
Gespräche mit KV Nikolai.<br />
3. Zukunftwerkstatt 273<br />
270 H. Reitmann behauptete, daß ca. 60-80 Teilnehmer des Friedensgebetes aus Berlin gewesen sein sollen (Brief an<br />
K. Löffler vom 14.09.1988 - ABL H 53)<br />
271 Am Karl-Marx-Platz (vor der Oper) gab es einen bewachten Parkplatz, auf den viele auswärtigen FG-Besucher<br />
ihr Auto abstellten.<br />
272 In der Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig wurde am 14.09. die Aktion ausgewertet.<br />
Dies sah nach einer Mitschrift folgendermaßen aus: „[...] aus Berlin (PKW-Corso) Zuführungen in VPKA /<br />
Rückführung nach Berlin mittels Bussen (MdI) [...] Insgesamt ca. 700 Personen in Nico [/] Superintendent<br />
Magirius, Domsch, Auerbach [/] [...] Angriffe auf Magirius von Hempel zurückgewiesen [/] Während des FG -<br />
Störungen durch Zwischenrufe (z.B. „Märtyrer“). [/] Kirchenleitungen distanzierten sich. [/] Auftreten einer<br />
Berliner ÜSE-Vertreterin (Protest gegen Polizeimaßnahmen Bln. Lpz., Willkür der Polizei usw.) Kirche<br />
unterdrückte diese Absicht [/] Bis 18.30 vor <strong>und</strong> in der Kirche Diskussionen [/] Zettelverteilung in der Kirche [/]<br />
Kindergebetchen von Ringelnatz ... (Text Schreibmaschine!) [/] Willis 1. GT [Geburtstag] findet statt am 7.<br />
Oktober 19 Uhr am Bachdenkmal [/] 200 Personen Versammlung vor Kirche [/] Protest verlesen Müller u.<br />
Oldsmann [richtig: Oltmanns]“ (BStU Leipzig AB 1031).<br />
273 Die Leipziger „Zukunftswerkstätten“ waren Veranstaltungsreihen, die durch Basisgruppen als Teil des<br />
157
Herr Radicke informiert - 28./29.9./1./2.10. in Philippus<br />
Träger: Vorbereitungsgruppe [Trägergruppe] KOZ<br />
4. Friedensdekade<br />
Geplante Veranstaltungen an Jugendpfarramt 274 - Erstellung eines Gesamtplanes<br />
Vorbereitung „Abend für den Frieden“ 19.9 - ref. Kirche 19.30 Uhr<br />
Abschluß 16.11. jüd. christl. Gottesdienst in Nikolai 19.30 Uhr<br />
„Tag für Espenhain“ am 13.11. in ref. Kirche<br />
19.11. „Konzil. Tag“ in Connewitz - Vorbereitung 26.9. 19.30 Ritterstr.<br />
Friedensgebete (jeweils 18.00 Uhr - sonntags 18,15 Uhr)6. - IGL / 7. - Solid. Kirche / 8. -<br />
Lateinamerika / 9. - Kirche <strong>und</strong> Judentum / 10. - Gerechtigkeit / 11. - Jugendkonvent / 12. - CFK / 13. -<br />
Frieden o. Grüne / 14. - Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene / 15. - Offene Arbeit [Mockau]<br />
5. Grafik 275<br />
eingegangenes Geld will ref. Kirche verwalten - Rudolph u. Radicke als Vertreter in dieses<br />
Finanzgremium<br />
6. [Bezirks-] Synode<br />
Tätigkeitsbericht für Synode durch Pf. Wonneberger, Müller, Dr. Mühlmann, Dr. Berger vorbereitet<br />
7. Info-Tafel<br />
Antrag auf Aufstellung in Thomas an Pf. Ebeling (Dr. Berger) 276<br />
8. KOZ<br />
Vertreter der Bezirkskirchenausschüsse Ost <strong>und</strong> West haben 50% Planstelle beschlossen<br />
Struktur analog einem übergemeindlichen Amt, das einem Kirchenbezirk untersteht.<br />
Vom Synodalausschuß gewähltes Vorbereitungsteam soll Gruppen vertreten - 27.9. 17.00 Uhr<br />
Superintendentur Leipzig-Ost<br />
Nächste Sitzung 30.9.88 Ritterstr. 19.30 Uhr<br />
86 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Eingabe von Ausreiseantragstellern an die Vorsitzenden der Bezirkssynode der Kirchenbezirke Leipzig-Ost<br />
<strong>und</strong> -West, an den Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses Dr. Berger, an die Superintendenten Richter<br />
<strong>und</strong> Magirius <strong>und</strong> an den Kirchenvorstand der Nikolaikirchgemeinde vom 13.09.1988, in der sie sich für die<br />
Fortführung der Friedensgebete einsetzen <strong>und</strong> um ein Gespräch bitten. Vorlage ist eine Xerokopie des<br />
Originalschreibens (ABL H 1).<br />
Seit einem dreiviertel Jahr erfreut sich das montägliche Friedensgebet in der Nikolaikirche ungeahnter<br />
Beliebtheit. Das ansonsten eher schwach besuchte Fürbittgebet wurde aufgr<strong>und</strong> der Januarereignisse in<br />
Berlin zum Zentrum für Menschen, die sich besonders für ein größeres Maß an Gerechtigkeit <strong>und</strong> Recht<br />
auch für die Menschen in der DDR einsetzen wollen. Es sind Menschen, die unter den politischen <strong>und</strong><br />
wirtschaftlichen Verhältnissen in der DDR leiden. Sicher in unterschiedlicher Form <strong>und</strong> in<br />
unterschiedlichem Maße. Dennoch hat sie die allen gemeinsame Leidenserfahrung aus der Passivität<br />
herausgebracht. Einige dieser Menschen hoffen, durch ihre Aktivitäten die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
in Richtung auf einen menschlicheren Sozialismus beeinflussen zu können. Die Mehrzahl hat allerdings<br />
diese Hoffnung verloren <strong>und</strong> klagt in der Hauptsache das eigene Recht auf eine menschenwürdige<br />
Behandlung durch Staatsvertreter, aber auch mehr Rechtssicherheit für alle Menschen ein. Ihr Wunsch,<br />
diesen Staat zu verlassen <strong>und</strong> damit alle gewachsenen Bindungen abzubrechen, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu verlieren <strong>und</strong><br />
leider auch Menschen weh zu tun, ist ihr stärkster Protest für eine menschenwürdigere Welt. Auch wir, die<br />
Unterzeichner dieses Briefes, gehören zu dieser zweiten Gruppe.<br />
„Konziliaren Prozesses“ (s. Anhang S. 370) vorbereitet wurden.<br />
274 Die Friedensdekade 1988 wurde in Verantwortung des Jugendpfarramtes durchgeführt.<br />
275 Die Grafikauktion fand am 28.02.1988 statt (s. S. 96 <strong>und</strong> 117).<br />
276 Diesen Antrag auf Möglichkeit für die Gruppen, ihre Arbeit in der Thomas-Kirche vorzustellen, hatte der KV St.<br />
Thomas nicht entsprochen (s. Brief Ebeling an Berger vom 09.12.1988 - ABL H 35)<br />
158
Bis zum 29.9.1988 war für uns <strong>und</strong> sicher auch für viele andere „Wartende“ das Friedensgebet die einzige<br />
zentrale Veranstaltung, bei der es möglich war, auch die eigene Befindlichkeit zum Ausdruck zu bringen,<br />
ein Stück Solidargemeinschaft aufzubauen, schwerwiegende Probleme Einzelner [sic!] (wie Inhaftierung)<br />
öffentlich darzustellen <strong>und</strong> überhaupt das für die gesamte Gesellschaft schwerwiegende Problem der<br />
steigenden Zahl der Ausreisewilligen in die Öffentlichkeit zu bringen. Ohne eine öffentliche <strong>und</strong> offene<br />
Diskussion wird dieses Problem nie lösbar sein. Leider mußten wir - enttäuscht <strong>und</strong> empört - zur Kenntnis<br />
nehmen, daß genau dies nicht mehr möglich ist. Natürlich sind wir uns bewußt, daß nicht die Kirchen in<br />
der DDR dafür zur Verantwortung zu ziehen sind, daß offene Diskussionen zu wichtigen Fragen des<br />
gesellschaftlichen Lebens an anderen Orten nicht geführt werden dürfen. Aber wir weisen darauf hin, daß<br />
keine Kirche es sich leisten kann, ihren wirklichen Freiraum zu verspielen.<br />
Freiraum der Kirche kann nicht allein bedeuten: Gottesdienst, verschiedene Werke, kirchlicher Unterricht<br />
<strong>und</strong> die Möglichkeit, kirchliche Nachrichtenblätter drucken zu lassen. Der Freiraum Kirche entscheidet<br />
sich im konkreten Tun für die Menschen. Frei ist Kirche in dem Maße, in dem sie ihrem Auftrag gemäß<br />
Evangelium verkündet, also Gottes Maßstäbe nicht nur im Wort übersetzt, sondern auch durch ihr<br />
Handeln die Gültigkeit göttlicher Wahrheit für die Welt unterstreicht. Diese Freiheit kann ihr niemand<br />
geben oder nehmen, sondern sie hat sie einfach von Gott her. Deshalb ist die Sorge um das Überleben der<br />
Kirche in dieser Frage fehl am Platz. Im Gegenteil: Kirche wird nie untergehen, wenn sie ihren Auftrag<br />
erfüllt (siehe Mt. 28/16-20), aber sie wird Schaden nehmen, wenn sie sich allzusehr um das eigene Wohl<br />
kümmert.<br />
Erlauben Sie uns als Betroffene, Ihnen unsere Situation einmal deutlich zu schildern. Wir sind eine<br />
Gruppe von Menschen, die zwar nicht alle der evangelischen Kirche angehören, die aber seit einem<br />
dreiviertel Jahr regelmäßig zusammenkommen, um ihre Situation im Spiegel der Botschaft der Bibel zu<br />
bedenken, miteinander zu beten <strong>und</strong> Nöte <strong>und</strong> Sorgen auszutauschen. Wenige sind jünger als 30 Jahre.<br />
Die meisten haben Familien. Keiner von uns hat leichtfertig den Entschluß zur Ausreise gefaßt. Einige<br />
warten schon über 4 Jahre. Meistens bedeutet die Antragstellung einen gleichzeitigen Rückzug in den<br />
engsten Familienkreis, was ein gewisses Maß an Isolierung zur Folge hat. Fre<strong>und</strong>schaften zerbrechen<br />
aufgr<strong>und</strong> gegenseitiger oder einseitiger Vorbehalte. Gegenüber Arbeitskollegen <strong>und</strong> Bekannten verhält<br />
man sich reserviert, weil man ja nie weiß, wer was wie <strong>und</strong> wem weitererzählt. Die permanente Präsenz<br />
des Themas Ausreise verstärkt weiter die Tendenz zur Vereinzelung. Außerdem hat jeder mit der Frage zu<br />
kämpfen, welche Taktik gegenüber Abteilung Inneres die beste ist, <strong>und</strong> wer denn nun wirklich über den<br />
Antrag zu entscheiden hat. Dies alles <strong>und</strong> die anhaltende Erfahrung der absoluten Ohnmacht, gemacht in<br />
Gesprächen mit Behörden <strong>und</strong> in der Behandlung von Briefen an diverse Dienststellen, führt zu einer<br />
überaus starken seelischen Belastung. Wer keine Gelegenheit findet, diese Belastung aufzufangen, wie es<br />
in unserer Gruppe beispielsweise möglich ist, der neigt naturgemäß zu starken <strong>und</strong> mitunter auch<br />
unbedachten Reaktionen. In der Tendenz führt das zur Kriminalisierung der eigenen Person <strong>und</strong> der<br />
Interessengruppe insgesamt. Das Friedensgebet in seiner bisherigen Form hat einer sehr großen Zahl von<br />
Ausreisewilligen die Möglichkeit gegeben, seelisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen, ein Gefühl von<br />
Solidarität zu entwickeln, Informationen auszutauschen, eigene bzw. allgemein interessierende Probleme<br />
offen zu diskutieren. Wenn dies in Zukunft nicht mehr möglich ist, werden sich viele nicht nur verraten,<br />
sondern auch in die Einzelhaft verstoßen fühlen.<br />
Auch wenn die Kirche von staatlicher Seite unter Druck geraten sein sollte, kann es keine solche Lösung<br />
geben. Solange die Kirche ihre Pforten öffnet, werden viele Menschen kommen, wie z.B. am 5.9.1988 mit<br />
ca. 1000 Besuchern des Friedensgebetes. Sup. Richter wies am 29.8.1988 auf die Möglichkeit hin, sich in<br />
Gemeindegruppen zu treffen. Dazu ist zu sagen, daß nach den bisherigen Erfahrungen, die er eigentlich<br />
kennen sollte, ein solcher Vorschlag wohl nicht ernst gemeint sein kann. Wir fragen, welche Gemeinde es<br />
sich leisten kann, in vorhandene Gemeindegruppen Menschen integrieren zu wollen, die jegliche<br />
Hoffnung für die hiesige Gesellschaft aufgegeben haben <strong>und</strong> dafür meist handfeste Gründe aufweisen<br />
können. Die andere Möglichkeit, als separate Gruppe in einer Gemeinde unterzukommen, wird nach<br />
unseren Erfahrungen in den meisten Fällen am Widerstand des Pfarrers oder der Kirchenvorsteher<br />
scheitern. Nach den bisherigen Möglichkeiten bleibt also für die Mehrzahl nur das Friedensgebet.<br />
Wir möchten Sie bitten, sich für eine Lösung einzusetzen, die allen Beteiligten gerecht wird. Für uns heißt<br />
das eine Fortführung des Friedensgebetes in einer den Bedürfnissen der überwiegenden Mehrzahl der<br />
159
Besucher entsprechenden Form. Zur Zusammenarbeit in dieser Frage <strong>und</strong> zur Mitarbeit bei der<br />
Durchführung des Friedensgebetes sind wir bereit. Deshalb bitten wir um ein Gespräch mit den<br />
Verantwortlichen des Friedensgebetes.<br />
Unterschriften: [gez.] Christfried Heinze, Sabine Heinze, Dorothea Wirth, Klaus Wirth, Thomas Hanisch,<br />
Uta Hanisch, Petra Lehns, Matthias Lehns, Steffi Mücke, Gloria Veith, Matthias Veith<br />
87 Stasi-Information<br />
Treffbericht eines Führungsoffiziers des MfS (Major Waldhelm - KD Leipzig-Stadt, Ref XX/2) zu einem<br />
Treffen mit seinem inoffiziellen Mitarbeiter (IMB „Carl“, Pf. M. Berger) vom 13.09.1988. Pf. Berger<br />
berichtete dort über kirchliche Meinungsbildungen 277 (BStU Leipzig XIII 489/78 IM „Carl“-Akte II/1).<br />
Treffbericht<br />
Treff mit: IMB „Carl“ [/] Treff am: 13.09.88, 11.00-13.00 Uhr [/] Treffort: IMK „Architekt“<br />
Die Treffdurchführung mit dem IMB „Carl“ erfolgte planmäßig. Schwerpunkte der Treffdurchführung<br />
bildeten entsprechend der erfolgten Instruierung des IM nachfolgende Probleme:<br />
− Auswertung einer internen innerkirchlichen Beratung von Mitgliedern des Synodalausschusses<br />
„Frieden, Umwelt <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ der Bezirkssynode Leipzig-Ost am 09.09.88 bei Superintendent<br />
Magirius [/] <strong>und</strong><br />
− Informationserarbeitung zum Verlauf der Synodalausschußtagung am 12.09.88.<br />
In Auswertung des Verlaufs beider Veranstaltungen wurden durch den IMB „Carl“ nachfolgende<br />
operativ bedeutsame Erkenntnisse inoffiziell bekannt.<br />
Superintendent Magirius hatte für den 9.9.88 den Vorsitzenden des Synodalausschusses Dr. Berger <strong>und</strong><br />
seinen Stellvertreter Dr. [X...] zu einer internen Beratung eingeladen. An dieser Beratung nahm gleichfalls<br />
der IMB „Carl“ teil. [/] Aus dem Verlauf <strong>und</strong> der inhaltlichen Gestaltung der Beratung schätzte der IMB<br />
„Carl“ ein, daß Superintendent Magirius sich bei den anwesenden Personen hinsichtlich der Ereignisse um<br />
die Gestaltung der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche nach der sog. „Sommerpause“ <strong>und</strong> den<br />
damit aufgetretenen Problemen zwischen kirchenleitenden Amtsträgern <strong>und</strong> den Basisgruppen<br />
„Rückendeckung“ verschaffen wollte. Dies insbesondere aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, daß der<br />
Synodalausschußvorsitzende Dr. Berger während dieser Ereignisse nicht in Leipzig anwesend war. [/]<br />
Sichtbar wurden im Gesprächsverlauf die verschiedenen Motive, die Superintendent Magirius zu seiner<br />
Entscheidung bewogen hatten, die montäglichen Friedensgebete ohne Mitwirkung der Basisgruppen<br />
fortzuführen. Es wurde nach Informationen des IMB „Carl“ bekannt, daß Superintendent Magirius seit<br />
längerer Zeit unter Kritik der Landeskirchenleitung Sachsen <strong>und</strong> auch des Superintendenten des<br />
Kirchenbezirkes Leipzig-West, Richter, stand, da diese die Auffassung vertreten haben, daß in Leipzig<br />
über einen längeren Zeitraum das innerkirchliche Prinzip der Verkündigungspflicht durch kirchliche<br />
Amtsträger verletzt worden ist. Superintendent Magirius wurde der Vorwurf gemacht, daß er durch die<br />
Duldung der Gestaltung der Friedensgebete durch Laien <strong>und</strong> Basisgruppenvertreter seiner dienstlichen<br />
Aufsichtspflicht nicht nachgekommen ist. Diesen schwerwiegenden Vorwurf an seiner kirchlichen Arbeit<br />
auszuräumen, meinte nach Einschätzung des IM u.a. seine bekannte, getroffene Entscheidung gegen die<br />
Mitwirkung der Gruppen am Friedensgebet. Weiterhin wurde in dem Gesprächsverlauf sichtbar, daß<br />
Superintendent Magirius sich innerlich über den fehlenden Kontakt zu den Basisgruppen bewußt<br />
geworden ist, dies jedoch offen nicht zugibt. Er befürchtet bei Beibehaltung des Ablaufes der<br />
Friedensgebete <strong>und</strong> der damit in Zusammenhang stehenden Probleme Kritik an seiner Person aus dem<br />
innerkirchlichen sowie [dem] staatlichen Bereich. [/] Zur konzeptionellen Arbeit mit den Gruppen äußerte<br />
sich Magirius dahingehend, daß man außer den ausschließlich kirchlich angeb<strong>und</strong>enen Gruppen (nannte<br />
„Lateinamerika“, „CFK“ <strong>und</strong> „Oekumene“), die man auch „beherrscht“, keine anderen Gruppen in die<br />
innerkirchliche Arbeit einbeziehen sollte. Die „Problemgruppen“ sollten ihre Aktivitäten außerhalb der<br />
Kirche entwickeln, womit man jeder Verantwortung befreit wäre. Beispielhaft führte Superintendent<br />
277 Der Teil II der IM-Akte wurde durch das MfS vernichtet, dieser Bericht wurde jedoch von Mitarbeitern des BStU<br />
unter anderen Akten gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> der IM-Akte angefügt<br />
160
Magirius den sog. „1. Pleißegedenkmarsch“ an, wo man auch nicht über die Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung informiert war <strong>und</strong> damit „staatliche Auflagen“ gegenüber der Kirche nicht wirksam<br />
geworden wären. Er äußerte die Auffassung, daß die Verfahrungsweisen in Ungarn <strong>und</strong> Polen<br />
beispielgebend wären, wo sich Gruppen auch außerhalb der Kirche organisieren würden. Die Anfrage von<br />
Ausschußvorsitzenden Dr. Berger <strong>und</strong> Dr. [X...], wie man sich dann verhalten solle, wenn es zu<br />
Problemen mit kirchlich geb<strong>und</strong>enen Personen kommt, die in die Arbeit dieser Gruppen aufgr<strong>und</strong> der<br />
bereits erfolgten Vernetzung integriert seien, beantwortete Superintendent Magirius dahingehend, daß<br />
man sich natürlich kirchlicherseits für Problemfälle immer einsetzen müsse. Gleiche Auffassungen vertrat<br />
Magirius zur Problematik der Übersiedlungsersuchenden, die den Kontakt zur Kirche gesucht haben. Hier<br />
müßten nach seiner Meinung die einzelnen Kirchgemeinden diese „Betreuung“ übernehmen. Nach<br />
Kenntnis des IMB „Carl“ spielten beim Auftreten der Personen Magirius <strong>und</strong> Pf. Führer während des<br />
Friedensgebetes am 29.08.88 auch innerkirchliche „Machtkämpfe“ eine nicht zu unterschätzende Rolle.<br />
Dies wurde in der internen Absprache deutlich. Magirius hatte versucht, ohne Konsultation mit dem<br />
Kirchenvorstand der Nikolaikirche <strong>und</strong> unter Beisein des Kirchenvorstandsvorsitzenden Pf. Führer seine<br />
Entscheidung zum Verlauf der Friedensgebete in der Nikolaikirche durchzusetzen, was kirchenintern<br />
einen „Angriff“ auf die Stellung von Pf. Führer bedeutete. Um seine Stellung im Kirchenvorstand zu<br />
behaupten, mußte nach Einschätzung des IMB „Carl“ Pf. Führer in dieser Situation aktiv werden. In<br />
diesem Zusammenhang ist nach Meinung des IM auch die Haltung des Führer beim Friedensgebet am<br />
29.08.88 zu bewerten. Zwischen beiden bestehen weiterhin ernsthafte Differenzen im internen<br />
Arbeitsbereich. [/] Während der Beratung am 09.09.88 wurde durch Superintendent Magirius <strong>und</strong> Pf.<br />
[X...] die Auffassung vertreten, daß man sich gegenüber den Gruppenvertretern der Basisgruppen<br />
nochmals zur Problematik der Friedensgebetsgestaltung äußern sollte, da es zu Differenzen gekommen<br />
war. Gegen diese Auffassung wandte sich Pf. Dr. Berger, der die Meinung vertrat, daß kirchlicherseits<br />
eine richtige Entscheidung getroffen wurde, die man gegenüber den Gruppenvertretern nicht zu<br />
rechtfertigen brauche. Durch eine nochmalige Diskussion würde lediglich das Ansehen der<br />
kirchenleitenden Personen untergraben. Man einigte sich nach Einschätzung des IMB „Carl“ letztendlich<br />
darüber, daß man während der Beratung des Synodalausschusses nicht nochmal zu dieser Problematik<br />
Stellung nimmt.<br />
Zum Verlauf des Friedensgebets am 05.09.88 wurden durch den IMB „Carl“ noch nachfolgende<br />
Hintergr<strong>und</strong>informationen aus dem innerkirchlichen Bereich bekannt. [/] Mit der Teilnahme des<br />
Gebietsdezernenten Oberkirchenrat Auerbach von der Landeskirchenleitung Sachsen <strong>und</strong> seinem<br />
Auftreten während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche sollte von seiten der Landeskirchenleitung<br />
der Nachweis erbracht werden, daß man die Gestaltung des Friedensgebetes auch ohne die Mitwirkung<br />
der Basisgruppen als Amtsträger fest im Griff haben kann. Nach dem Verlauf des Friedensgebetes <strong>und</strong> der<br />
dort eingetretenen Störungen durch Teilnehmer am Friedensgebet wurde innerkirchlich eingeschätzt, daß<br />
es OKR Auerbach nicht gelungen ist, beruhigend Einfluß zu nehmen. OKR Auerbach soll sich nach<br />
Kenntnis des IMB „Carl“ nach der Veranstaltung über deren Verlauf sehr verärgert gezeigt haben. Von<br />
Superintendent Magirius wurde die Genugtuung darüber geäußert, daß auch die „vorgesetzte“ Behörde<br />
nur klug reden könne, selbst aber nicht mit dem Problem fertig werden würde. [/] Dem IM wurde bekannt,<br />
daß ca. 1 St<strong>und</strong>e nach dem Friedensgebet den Basisgruppenvertretern eine schriftliche Mitteilung über die<br />
Stellungnahme des OKR Auerbach zu Fragen der kirchlichen Arbeit, wie er sie während des<br />
Friedensgebetes abgegeben hatte, vorgelegen hat. Diese Stellungnahme wurde vermutlich anhand eines<br />
Mitschnittes des Friedensgebetes gefertigt. Es handelt sich um ein mit Schreibmaschine gefertigtes Papier<br />
(Umfang ca. 3/4 A4 Seite) 278 . Dem IM ist bisher nicht bekannt, wer diese Vervielfältigung initiiert <strong>und</strong><br />
vorgenommen hat. Gleichfalls ist dem IMB „Carl“ bekannt, daß der Superintendent Magirius Kenntnis<br />
von dem offenen Brief der Basisgruppen an Landesbischof Dr. Hempel hat. Eine Wertung dieses Briefes<br />
hat bisher Superintendent Magirius im innerkirchlichen Bereich nicht vorgenommen.<br />
Zum Verlauf der Synodalausschußtagung am Montag, dem 12.09.88 wurden durch den IMB „Carl“<br />
278 Die Herausgeber kennen nur die Erklärungen von Pf. Führer <strong>und</strong> Sup. Magirius, die in dieser Dokumentation<br />
wiedergegeben wurden.<br />
161
nachfolgende Informationen bekannt279 : Die Beratung fand in der Zeit von 19.30-23.30 Uhr im<br />
Gemeindesaal der Nikolaikirchgemeinde, 7010, Ritterstr. 5 statt. Teilnehmer der Beratung waren: [...<br />
Namen geschwärzt]<br />
Zum Verlauf <strong>und</strong> dem Inhalt der Ausschußsitzung gab der IMB „Carl“ nachfolgende Einschätzung: [/]<br />
Zuerst wurde im Ausschuß über die Ausarbeitung einer Abstimmungsordnung für den Ausschuß beraten.<br />
Unter dem Vorsitz von Dr. [X...] wurden die Ausschußmitglieder Dr. Berger <strong>und</strong> [A...] beauftragt, eine<br />
entsprechende Vorlage für den Ausschuß zu erarbeiten. Diese Abstimmungsordnung soll auf einer der<br />
nächsten Ausschußsitzungen diskutiert <strong>und</strong> beschlossen werden. [/] Im Anschluß an diese<br />
verfahrenstechnische Frage wurde durch den Gruppenvertreter [B...] an den Superintendenten Magirius<br />
die Frage gestellt, was er mit dem Brief an die Basisgruppen zur Veränderung des Ablaufs der<br />
Friedensgebete beabsichtigen wollte. Entgegen der Vorabsprache ließ sich Superintendent Magirius nach<br />
Information des IMB „Carl“ [auf] eine Diskussion mit den Gruppenvertretern ein. Er erklärte, daß er froh<br />
ist, darüber mit den Gruppen sprechen zu können, da es in letzter Zeit zu einigen Mißverständnissen<br />
gekommen ist. Durch Magirius wurde betont, daß man sich über den weiteren Verfahrensweg einigen<br />
müßte <strong>und</strong> die jetzige Situation von ihm als „Übergangslösung“ bewertet wird. Superintendent Magirius<br />
brachte in die Diskussion seine Argumente ein, die darin bestanden:<br />
− in einer Absprache mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche die Entscheidung getroffen zu haben<br />
− der Tatsache, daß er sich von einigen Gruppen übergangen fühlt;<br />
− er nicht über Sammlungen in der Kirche informiert worden wäre 280 [/] <strong>und</strong><br />
− er ungenügend über die Vorbereitung inhaltlicher Fragen durch den Vorbereitungskreis der<br />
Friedensgebete informiert worden ist.<br />
Diesen Argumenten wurde durch einen Teil der Gruppenvertreter heftig widersprochen. Durch die Person<br />
[C...] wurde dargelegt, daß ihm über Pf. Führer bekannt sei, daß Superintendent Magirius nicht den<br />
Kirchenvorstand der Nikolaikirche über sein Vorhaben informiert hätte. Gleichfalls soll nach Äußerungen<br />
von [C...] Pf. Führer auch eine andere Meinung zur Fortführung der Friedensgebete haben. Es wurde<br />
gefordert, daß Pf. Führer zur Problematik Kirchenvorstand der Nikolaikirche in der nächsten<br />
Ausschußsitzung (Oktober) eine Stellungnahme abgibt. Superintendent Magirius äußerte sich nicht zu den<br />
Vorwürfen des [C...]. Durch den [D...] wurde Superintendent Magirius aufgefordert, die Gruppen zu<br />
nennen, mit deren Arbeitsweise er nicht einverstanden ist bzw. die ihn hintergangen hätten.<br />
Superintendent Magirius war dazu nicht bereit, obwohl er mehrfach durch verschiedene Gruppenvertreter<br />
aufgefordert wurde. Nach Einschätzung des IMB „Carl“ sprachen alle Gruppenvertreter ihm das<br />
Mißtrauen aus. Durch Pf. Wonneberger wurde die Frage der Sammlung in der Kirche <strong>und</strong> der<br />
Vorinformation zum Friedensgebet angesprochen. Pf. Wonneberger legte dar, daß er kirchenrechtlich<br />
nicht verpflichtet ist, Sammlungen bei ihm anzumelden bzw. abzurechnen. Die „Finanzhoheit“ liegt laut<br />
Kirchenrecht beim jeweiligen Kirchenvorstand, wo auch die Abrechnung erfolgt. Hinsichtlich der<br />
angesprochenen mangelnden Vorinformation zum Inhalt des Friedensgebetes widerlegte Pf. Wonneberger<br />
die von Magirius getroffene Einschätzung durch seine Teilnahme am Vorbereitungsausschuß bzw.<br />
gezeigtem Desinteresse des Magirius, an der Vorbereitung der Friedensgebete aktiv teilzunehmen. [/] Zur<br />
erfolgten Diskussion schätzt der IMB „Carl“ ein, daß sich Superintendent Magirius mit seinem Auftreten<br />
selbst sehr geschadet hat. Er wirkte bei der Aussprache, die zum wesentlichen Inhalt der Ausschußtagung<br />
wurde, sehr unsicher <strong>und</strong> unglaubwürdig. [/] Superintendent [sic!] brachte den Vorschlag ein, in der<br />
nächsten Ausschußsitzung über Fragen des „politischen“ Mandates der Kirche zu diskutieren.<br />
Superintendent Magirius will dort den Gruppen verdeutlichen, was die Kirche kann <strong>und</strong> was nicht. Durch<br />
die Gruppenvertreter wurde in diesem Zusammenhang bereits jetzt die Meinung vertreten, daß man<br />
christliches <strong>und</strong> staatsbürgerliches Handeln der Gruppen <strong>und</strong> ihrer Einzelmitglieder nicht trennen könne.<br />
Durch den Ausschluß einzelner Gruppen, wie es Magirius beabsichtige, werde aber eine derartige<br />
Trennung vorgenommen. Weiterhin regte Superintendent Magirius an, daß die Gruppen zur nächsten<br />
Ausschußtagung ihre Vorschläge zur Fortführung der Friedensgebete machen sollten. Damit begab sich<br />
Magirius in eine defensive Position. [/] Nach Einschätzung des IMB „Carl“ war Superintendent Magirius<br />
279 Vgl. das Protokoll der BSA-Sitzung, welches Pf. Berger anfertigte (Dok. 85).<br />
280 s. Anm. 227<br />
162
über den Verlauf der Diskussion sehr enttäuscht, da er das Vertrauen keiner Gruppe gewonnen hat, was<br />
ihm persönlich klar ist.<br />
Als weiterer Tagesordnungspunkt wurde die Vorbereitung der Friedensdekade 1989 [richtig: 1988]<br />
behandelt. Als Veranstaltungsschwerpunkte <strong>und</strong> Termine wurden bekanntgegeben:<br />
11.11.88 „Abend für den Frieden“ in der Nikolaikirche, verantwortlich Jugendpfarramt Leipzig<br />
13.11.88 „Tag für Espenhain“ in der Reformierten Kirche, verantwortlich die<br />
Umweltschutzgruppen, eventuell Mitarbeit von Pf. Steinbach/Rötha<br />
16.11.88 „Abschlußveranstaltung“ gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde Leipzig, zum Jahrestag<br />
der Progromnacht; Vorbereitung evang. Kirche <strong>und</strong> Arbeitsgemeinschaft Christen <strong>und</strong><br />
Judentum<br />
19.11. (nach der Friedensdekade) soll in Connewitz ein „Konziliarer Tag“ durchgeführt werden;<br />
Verantwortung für die Vorbereitung[:] Dr. Mühlmann <strong>und</strong> Herr Münnich, „CFK“<br />
Für die täglichen Friedensgebete während der Friedensdekade in der Nikolaikirche wurden folgende<br />
Verantwortlichen festgelegt:<br />
6.11. „Initiativgruppe Leben“ (IGL)<br />
7.11. „Arbeitskreis Solidarische Kirche“ (AKSK)<br />
8.11. „Lateinamerika“<br />
9.11. „AG Kirche <strong>und</strong> Judentum“<br />
10.11. „Gerechtigkeit“<br />
11.11. Jugendkonvent - kirchliche Mitarbeiter des Jugendpfarramtes<br />
12.11. „Christliche Friedenskonferenz“ (CFK)<br />
13.11. AK „Friedensdienst“ oder „Grünen“ [sic!]<br />
14.11. „Gerechtigkeit <strong>und</strong> Oekumene“<br />
15.11. „Sozialdiakonische Arbeit“<br />
Die einzelnen Gruppen beabsichtigen, o.g. Friedensgebete eigenverantwortlich inhaltlich vorzubereiten.<br />
[/] Im weiteren Tagungsverlauf informierte der Leiter des Jugendpfarramtes, Pf. Kaden, daß der<br />
Bezirkskirchenausschuß der Ephorien Ost <strong>und</strong> West über die geplante Einrichtung des sog.<br />
„Kommunikationszentrums“ (KOZ) beraten <strong>und</strong> entschieden hat. Für die Einrichtung des Zentrums soll<br />
eine 50%ige Stelle eines hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiters bereitgestellt werden. Das KOZ soll<br />
übergemeindlich arbeiten <strong>und</strong> als Nachfolgeeinrichtung des Jugendpfarramtes betrachtet werden.<br />
Technische Fragen zur Einrichtung des Zentrums, wie Räumlichkeiten, Finanzierung <strong>und</strong> personelle<br />
Fragen sind bisher noch ungeklärt. [/] Der IMB „Carl“ wertet den Verlauf des Ausschußtagung als<br />
„Waffenstillstand“ zwischen den Basisgruppen <strong>und</strong> Superintendent Magirius, wobei die Fragen der<br />
Friedensgebete schon scheinbar nicht mehr im Mittelpunkt der Diskussionen in den Gruppen stehen.<br />
Ersichtlich ist bei der Gruppenarbeit, daß es zwischen den Gruppen ein gut abgestimmtes<br />
Informationssystem gibt. Einzuschätzen ist nach Meinung des IM, daß der sog. „Gruppentreff“ 281 bei<br />
Pfarrer Wonneberger immer mehr den Charakter eines „zweiten Ausschusses“ ohne Beteiligung<br />
kirchenleitender Personen annimmt. Die Hoffnung der Basisgruppen zielt auf die Einrichtung des<br />
geplanten Kommunikationszentrums, was z.Z. auch durch Superintendent Magirius angestrebt wird.<br />
Bei Auswertung der Information ist Quellenschutz zu gewährleisten.<br />
Maßnahmen:<br />
− Fortsetzung des IM-Einsatzes IMB „Carl“ zur Unterstützung der Linie von Superintendent Magirius<br />
− Kontaktaufrechterhaltung zu den Basisgruppen durch den IMB „Carl“ (ist gleichzeitig geäußerte Bitte<br />
von Superintendent Magirius gegenüber dem IM)<br />
− Auswertung der Information über Leiter der DE an 1. Stellv. Oberst Eppisch.<br />
− Information an Ref. XX/2 KD Stadt<br />
281 Der „Gruppentreff“ wurde von Pf. Wonneberger eingeführt, als er die Organisation der FG übernahm (s. Dok.<br />
25). Zum 27.06.1988 hatten Pf. Wonneberger <strong>und</strong> Pf. Wugk per Brief zu einem „Gruppentreff“ eingeladen, bei<br />
dem es u.a. um die INFO-Tafel in der Nikolai-Kirche, die geplante „Werkstatt“ (28.9.-2.10.88), das KOZ,<br />
Nachgespräche <strong>und</strong> Schlußfolgerungen aus dem Pleiße-Gedenkumzug <strong>und</strong> um das „Profil <strong>und</strong> Zielsetzung des<br />
Friedensgebetes“ ging. Dies waren alles Themen, die auch im BSA verhandelt wurden.<br />
163
[gez.] Waldhelm, Major<br />
88 Basisgruppenerklärung<br />
Notizen von G. Oltmanns <strong>und</strong> A. Radicke mit der handschriftlichen Überschrift „Auswertung zu Gespräch<br />
mit Hempel 5.9.88“. Diese Notizen entstanden in Vorbereitung auf ein Gespräch mit Bischof J. Hempel<br />
aufgr<strong>und</strong> ihres Offenen Briefes vom 05.09.1988 <strong>und</strong> dem Gespräch von A. Holicki mit dem Bischof. Nach<br />
eigenen Angaben <strong>und</strong> handschriftlichem Vermerk entstand der Text am 18.09.1988. Diese persönlichen<br />
Notizen dienten allein der Selbstverständigung. Sie wurden mit Maschine geschrieben <strong>und</strong> per Hand<br />
überarbeitet (ABL H 1).<br />
Die Motivation unseres Engagements erwächst282 der Betroffenheit des alltäglichen Erlebens einer<br />
komplexen Wirklichkeit, die wir mit den meisten Menschen in diesem Land teilen. Eine<br />
Industriegroßstadt wie Leipzig rückt durch ihre Verdichtung die Gegensätze dieser Gesellschaft verschärft<br />
ins Blickfeld. Wir erleben uns durch den Widerspruch zwischen doktrinierten Ansprüchen, wie<br />
Konsumzwang <strong>und</strong> Wahrheitsmonopol, <strong>und</strong> zunehmender menschlicher Entfremdung, Aggressivität <strong>und</strong><br />
Flucht in Irrationalismus sowie Drogenmißbrauch in eine Lage gedrängt, in der wir nach den Ursachen<br />
dieser unmenschlichen Situation fragen. Wir sehen, daß der größte Teil der Bürger unseres Landes diese<br />
Situation ausschließlich in seinen Auswirkungen, wie soziales Gefälle, Isolation, Kriminalität,<br />
Gewaltverbrechen <strong>und</strong> Alkoholismus erlebt. Wir glauben im Falle Leipzigs von einer beginnenden<br />
Verslumung mancher Stadtgebiete sprechen zu können. Die Menschen unseres Landes leiden unter diesen<br />
Auswirkungen, aber durchschauen die Komplexität der ökonomischen, sozialen, politischen <strong>und</strong><br />
psychischen Realität zum überwiegenden Teil nicht.<br />
Wir sind der Meinung, daß das die Folge einer von den Machthabern dieses Landes durch<br />
Medienmanipulation <strong>und</strong> das Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem bewußt erzeugten Unmündigkeit ist. [/]<br />
Dadurch entsteht eine sich ausbreitende Hoffnungslosigkeit <strong>und</strong> Apathie, die uns durch ihre<br />
Wahrhaftigkeit <strong>und</strong> Irreversibilität bestürzt. [/] Unser Engagement findet durch diese Erkenntnisse seine<br />
politische Zielrichtung.<br />
Die Kirche bekennt sich zu einem auf den Menschen ausgerichtetes Handeln. Dabei berührt sie lediglich<br />
die sozialen Auswirkungen, läßt jedoch klare Stellungnahme zu den obengenannten komplexen Ursachen<br />
vermissen. [/] Diese Stellungnahme wird ersetzt durch ständige Bezugnahme auf die Befreiung des<br />
Menschen durch das Kreuz Christi. [/] Das erzeugt oft einen Gewissenskonflikt, der darin besteht, daß<br />
sich Christen zum einen des mangelnden Vertrauens gegenüber Jesus Christus schuldig fühlen, zum<br />
anderen, daß sie ohne klares politisches Bekenntnis an der gesellschaftlichen Wirklichkeit schuldig<br />
werden, weil sie die Lüge dieses Landes mittragen. [/] Wenn die heilsgeschichtliche Bedeutung des<br />
Kreuzes Christi benutzt wird, am Menschen die Empfindung des Schuldigseins zu erzeugen, verkehrt sich<br />
die befreiende Kraft Christi ins Gegenteil. [/] Das macht Kirche zum „Opium für das Volk“ (Marx 283).<br />
Wir halten dies für nicht zeitgemäß <strong>und</strong> erleben, daß die Kirche dadurch zunehmend an Glaubwürdigkeit<br />
verliert. [/] Wenn es zu keiner Veränderung dieser Entwicklung kommt, sehen wir für die Kirche in der<br />
DDR keine Zukunft.<br />
89 Samisdat-Veröffentlichung<br />
Artikel aus der Samisdat-Zeitschrift „Umweltblätter“, herausgegeben von der Berliner Umweltbibliothek<br />
(Oktober 1988) mit dem Titel: „Leipziger Friedensgebet abgewürgt“ (ABL Box 4).<br />
In Berlin-Brandenburger Kirchenkreisen wurde bereits die Information gehandelt, daß der Staat die<br />
Dresdner Kirchenleitung aufgefordert habe, das Friedensgebet einzustellen, wenn sie im nächsten Jahr in<br />
282 Ursprünglich: „Unsere Betroffenheit als Motivation zum Engagement erwächst aus dem alltäglichen Erleben...“<br />
283 Bei K. Marx heißt es: „Sie [die Religion] ist das Opium des Volkes.“ (Zur Kritik der Hegelschen<br />
Rechtsphilosophie. Einleitung) Die zitierte Position wurde von Lenin vertreten.<br />
164
Leipzig einen Kirchentag abhalten wolle. Natürlich will niemand von den Dresdner <strong>und</strong> Leipziger<br />
Kirchenoberen zugeben, daß aus diesem Gr<strong>und</strong>e in den letzten Wochen gegen das Friedensgebet<br />
vorgegangen wird. [/] Eine Woche vor der Wiederaufnahme der Friedensgebete nach der Sommerpause<br />
ging den Leipziger Basisgruppen eine kurze Nachricht zu. Auf Beschluß des Gemeindekirchenrates der<br />
Nikolaikirche sollen die Andachten in Zukunft nicht mehr von den Gruppen, sondern von der<br />
Nikolaigemeinde gemacht werden. [/] Tatsächlich wurde das erste Friedensgebet nach der Sommerpause<br />
von Pfarrer Führer gemacht. Vertreter der Leipziger Basisgruppen saßen dabei <strong>und</strong> wollten zum Schluß<br />
der Andacht ein Gespräch durchführen. Pfarrer Führer weigerte sich. Auf sein Zeichen hin begann die<br />
Orgel zu spielen <strong>und</strong> übertönte das weitere. Als ein Mitglied der Gruppen die Orgel ausgeschaltet hatte,<br />
waren die Besucher leider schon im Gehen <strong>und</strong> es kam nur zu einer wechselseitigen Beschimpfung. [/]<br />
Am Donnerstag darauf kam es dann im Leipziger Stadtjugendpfarramt zu einem Gespräch zwischen<br />
Basisgruppenvertretern <strong>und</strong> Jugendpfarrer Kaden. Nach einem Anruf erschienen auch Pfarrer Führer <strong>und</strong><br />
Superintendent Magirius. Magirius behauptete, es habe weder von staatlicher noch von kirchlicher Seite<br />
Druck gegeben. Vielmehr sei die Entscheidung „seine Verantwortung vor Gott“ gewesen (ziemlich alte<br />
Ausrede, auch die russischen Zaren <strong>und</strong> Kaiser Wilhelm behaupteten ja, daß sie allein vor Gott <strong>und</strong> nicht<br />
vor ihrem Volk verantwortlich seien. D. Red.) Im übrigen hieß es, die Gruppen seien über das Ziel<br />
hinausgeschossen <strong>und</strong> ließen christliche Verantwortung fehlen. Es seien zuviel Ausreiser bei den<br />
Andachten anwesend. Besonders wurde den Basisgruppen eine Kollektensammlung für einen<br />
Graffitischreiber angekreidet („Gorbatschow“ u.ä.), der insgesamt etwa 6.000,-M Ordnungsstrafe<br />
bezahlen muß. Dieser sei kein Kirchenmitglied <strong>und</strong> deshalb sei die Kollekte nicht legitim gewesen.<br />
Im nächsten Friedensgebet verteilten die Basisgruppen einen Offenen Brief. In einer neueren Erklärung<br />
heißt es unter anderem: „... Wir empfinden die Vorgänge [... Zitat des Schlusses aus der Rede J. Läßigs am<br />
05.09.1988 (s. oben Dok. 77)]<br />
90 Stasi-Information<br />
Operativinformation (Nr. 82/88) der Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS (BV Leipzig) vom 20.01.1988 an<br />
die KD Leipzig-Stadt. Unterzeichnet wurde die Information von OSL Gieck (BStU Leipzig AOPK 1436/89,<br />
277f.).<br />
Im Rahmen der politisch-operativen Sicherung des „Friedensgebetes“ in der Nikolaikirche Leipzig am<br />
19.09.1988 <strong>und</strong> der sich daran anschließenden Ansammlung von Übersiedlungsersuchenden auf dem<br />
Kirchvorplatz wurde durch Sicherheitskräfte festgestellt, daß der durch Ihre Diensteinheit unter OPK<br />
stehende Übersiedlungsersuchende [/] Kowasch, Fred [handschriftlich: OPK „Dunkel“ es folgen<br />
Geburtsdatum <strong>und</strong> Anschrift], ÜSE seit 11/87, [/] <strong>und</strong> der [... gemäß StUG geschwärzt], Teilnehmer an<br />
Personenbewegung nach dem „Friedensgebet“ am 05.09.1988, [/] in provozierender Art <strong>und</strong> Weise<br />
Fotoaufnahmen von den eingesetzten Sicherungskräften fertigten. Zu diesem Zweck lösten sich beide<br />
Personen kurzzeitig aus der Personenkonzentration, fertigten besagte Fotoaufnahmen <strong>und</strong> begaben sich<br />
danach zurück zu den Personengruppierungen 284 . Nach Auflösung der Personenkonzentration erfolgte<br />
durch Sicherungskräfte die Personifizierung beider Personen <strong>und</strong> die Einziehung der Filme, welche sich<br />
bei der AG Aktionen <strong>und</strong> Einsätze befinden 285 . [Es folgen Informationen, die die BKG über F. Kowasch<br />
gesammelt hatte]<br />
284 In Leipzig gab es 1988/89 verschiedene Versuche, die Arbeit des MfS bzw. des Sicherheitskartells zu<br />
dokumentieren <strong>und</strong> damit zu konterkarieren. Das MfS versuchte stets, an die Filme <strong>und</strong> Fotos zu kommen,<br />
weshalb es öfter zu Verfolgungsjagden kam. Einige der Fotos wurden beim „Statt Kirchentag“ im Juli 1989<br />
gezeigt. Diese Ausstellung beschlagnahmte das MfS noch im September 1989, als sie nach Zwickau gebracht<br />
wurde. Andere Fotos wurden in der Dokumentation zum Straßenmusikfestival im August 1989 verbreitet (s.<br />
Lieberwirth 172-178).<br />
285 Ein Protest gegen die Entwendung des Filmes von F. Kowasch (vom 26.10.1988) blieb unbeantwortet.<br />
165
91 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einer Information vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres<br />
vom 23.09.1988 über ein Gespräch zwischen H. Reitmann, R. Sabatowska, A. Müller <strong>und</strong> J. Cieslak, OLKR<br />
Schlichter <strong>und</strong> Kahle in Vorbereitung des Kirchentages 1989 in Leipzig. Das Exemplar trägt den Stempel<br />
„Dienstsache Expl. Nr. 18/88/02“ <strong>und</strong> wurde von Reitmann unterzeichnet 286 (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in:<br />
ABL H 53).<br />
Zu Beginn des Gesprächs verwies der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres auf das im<br />
Jahr 1988 stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> dem<br />
Landesbischof der Landeskirche Sachsens, Herrn Dr. Hempel, in dem seinerseits durch Herrn Opitz die<br />
Zusage für eine staatliche Unterstützung in Vorbereitung des Kirchentages der Landeskirche Sachsens<br />
1989 in Leipzig gegeben wurde <strong>und</strong> andererseits weiterführende Gespräche zwischen dem Stellv. des<br />
Vors. d. Rates für Inneres <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des Landesausschusses für Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />
vereinbart wurden.<br />
Der stattgef<strong>und</strong>ene Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> dem<br />
Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag sowie den im Vorfeld stattgef<strong>und</strong>enen<br />
Gesprächen zwischen Dr. Reitmann <strong>und</strong> Herrn Cieslak, in denen die Vorstellungen des<br />
Landesausschusses an den Rat des Bezirkes herangetragen wurden, bieten jetzt die Gr<strong>und</strong>lage der<br />
gemeinsamen Standpunktbildung.<br />
In diesem Zusammenhang wurde staatlicherseits hervorgehoben, daß die eingetretene Beruhigung in der<br />
Nikolaikirche <strong>und</strong> die klare Haltung der Superintendenten <strong>und</strong> des LKA [Landeskirchenamt] wesentlich<br />
mit war, daß das heutige Gespräch durchgeführt werden kann. Dr. Reitmann hob hervor, daß an dem<br />
theologischen Inhalt der Friedensgebete konsequent festgehalten werden muß bzw. dieser noch stärker in<br />
den Mittelpunkt zu stellen ist, weil die weitere Versachlichung der Friedensgebete in der Nikolaikirche<br />
mit eine wichtige Gr<strong>und</strong>lage für die noch bevorstehenden Gespräche in Vorbereitung des Kirchentages<br />
darstellen. Gleichzeitig wurde der Wunsch unterstrichen, daß die weiteren Gespräche von Offenheit,<br />
Vertrauen <strong>und</strong> Konstruktivität getragen werden sollten.<br />
Zu den Problemen der Struktur der Leitung <strong>und</strong> der inhaltlichen Gestaltung des Kirchentages wurden<br />
seitens der staatlichen Vertreter folgende Prämissen hervorgehoben: [...]<br />
Dr. Reitmann unterstrich mit Nachdruck, daß die Ereignisse um die Zionskirche, aber auch in der<br />
Nikolaikirche, die Gefährlichkeit einiger alternativer Gruppen im innerkirchlichen Raum unterstreicht. Es<br />
bedarf hier ein strenges kirchliches Regime [sic!], um diese Gruppen in ihre Schranken zu verweisen. [...]<br />
92 Basisgruppenerklärung<br />
Erklärung der Arbeitsgruppe „Umweltschutz“ beim Jugendpfarramt Leipzig vom 26.09.1988, die an Bischof<br />
Hempel, Sup. Magirius, Sup. Richter, den Kirchenvorstand St. Nikolai <strong>und</strong> den Bezirkssynodalausschuß<br />
Leipzig-Ost geschickt wurde 287 (ABL H 1).<br />
Seit 1981 gibt es in Leipzig das wöchentliche Friedensgebet, seit 1987 befindet es sich in der<br />
Verantwortung der Leipziger kirchlichen Basisgruppen. Für uns, die Arbeitsgruppe Umweltschutz (als<br />
eine dieser Gruppen), war dies eine gute Möglichkeit, unsere Anliegen mit der Gemeinde des<br />
Friedensgebetes vor Gott zu bringen.<br />
Für eine Gruppe von Engagierten am Thema Bewahrung der Schöpfung ist es besonders wichtig, daß ihre<br />
Betroffenheit nicht nur im kleinen Kreis von Interessierten diskutiert wird, sondern eine breite<br />
Öffentlichkeit findet. Wir wollen Christen bewußt machen, von welcher Wichtigkeit die Erhaltung des<br />
Lebensraumes für Mensch, Tier <strong>und</strong> Pflanze ist, <strong>und</strong> sie zu eigenem Engagement anregen. In unserem<br />
286 Dieses Protokoll wurde am 04.10.1988 dem Vorsitzenden des RdB übergeben.<br />
287 Ähnliche Erklärungen wurden auch von folgenden Gruppen abgegeben: ASZ, AKG, AGF, AK Hoffnung, AGM,<br />
AKSK (ABL H 1 <strong>und</strong> 2)<br />
166
Glauben haben wir den Auftrag, in Frieden mit unserer Umwelt zu leben <strong>und</strong> sie unseren Nachkommen zu<br />
erhalten. Durch den Konziliaren Prozeß 288 sehen wir uns in unserer Arbeit unterstützt <strong>und</strong> bekräftigt.<br />
Unerklärlich ist es uns nun, daß die Gruppen seit dem 29. Aug. 1988 aufgr<strong>und</strong> einer autoritären <strong>und</strong><br />
administrativen Entscheidung des Superintendenten Friedrich Magirius von der Gestaltung der<br />
Friedensgebete ausgeschlossen sind. Autoritär <strong>und</strong> administrativ deshalb, weil er sich damit über den<br />
Beschluß des Synodalausschusses Leipzig-Ost „Für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ hinwegsetzte, wonach die<br />
Friedensgebete bis mindestens 31. Oktober 1988 in der ursprünglichen Form erhalten bleiben sollen. Auch<br />
den Kirchenvorstand von St. Nikolai hatte Sup. Magirius nicht gefragt, der tagte erst nachträglich.<br />
Wir sind mit dieser Art <strong>und</strong> Weise des Vorgehens nicht einverstanden! Wir wollen, daß uns die<br />
Ausgestaltung der Friedensgebete wieder möglich wird!<br />
Leider sehen wir, auch infolge des Gespräches von Vertreter/innen verschiedener Gruppen mit Sup.<br />
Magirius <strong>und</strong> Pfr. Führer am 1. Sept. im Jugendpfarramt, von seiten der Leipziger Kirchenleitung kaum<br />
Bemühungen, dem Anliegen der Gruppen entgegenzukommen. Deshalb begrüßen wir, daß sich Mitglieder<br />
der Leipziger kirchlichen Basisgruppen Initiativgruppe Leben, Arbeitskreis Gerechtigkeit, Arbeitsgruppe<br />
Umweltschutz <strong>und</strong> Arbeitskreis Solidarische Kirche an Bischof Dr. Hempel gewandt haben.<br />
[gez.] Kathrin Walther [/] i. A. der Arbeitsgruppe [/] Umweltschutz<br />
93 Synodalausschußprotokoll<br />
Sitzungsprotokoll des BSA vom 30.09.1988 von Pf. Berger. Protokoll wurde hektographiert (ABL H 35).<br />
anwesend:<br />
Sup. Magirius, Rudolph, Dusdal, Motzer, Körner, Kämpf, Feydt, Schneider, Hansmann, Dr. Mühlmann,<br />
Münnich, Bo[o]tz, Wolff, Lucke, Schiel, Findeis, Wonneberger, Rasch, Dr. Pohler, Herwig, Wolf, Dr.<br />
Berger<br />
1. Friedensgebet<br />
Brief von Herrn Heinze wird verlesen 289<br />
Der Ausschuß beschließt, einen Antrag an den KV Nikolai zu richten, vom Ausschuß benannte Vertreter<br />
in den KV zu Gesprächen über die Fortführung des Friedensgebetes einzuladen.<br />
In diese Verhandlung sollen folgende mehrheitlich beschlossene Standpunkte eingebracht werden:<br />
− Gestaltung von Gruppen unter Verantwortung eines von ihnen gesuchten Pfarrers mit einem eigenen<br />
Informationsteil<br />
− biblische Texte nach eigener Wahl mit dem Ziel der Verarbeitung gesellsch. Wirklichkeit in religiöser<br />
Weise<br />
− Fürbitte mit konkreter Benennung von Sachverhalten<br />
− Wiederbelebung des Nachgesprächs - Gruppe steht dazu zur Verfügung. Leitung muß geklärt werden.<br />
Nächste Sitzung 27.10.88 19.30 Uhr<br />
94 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief des BSA an den KV St. Nikolai vom 02.10.1988, in dem die Gruppen dem Kirchenvorstand ein<br />
Gespräch über die weitere Durchführung der Friedensgebete anbieten, von Dr. Berger unterzeichnet. Vorlage<br />
ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />
Betr.: Friedensgebet<br />
In seiner Sitzung vom 30.09.88 hat der Synodalausschuß beschlossen, den Kirchenvorstand von St.<br />
Nikolai um ein Gespräch über die Fortführung der montäglichen Friedensgebete zu bitten. Die jetzige<br />
Form kann nicht als Friedensgebet im ursprünglichen Sinn angesehen werden. Die Gruppen möchten die<br />
288 s. Anhang S. 370<br />
289 s. Dok. 121<br />
167
Auslegung eines biblischen Textes nach eigener Wahl mit der Zielstellung der Verarbeitung der<br />
gesellschaftlichen Wirklichkeit in religiöser Weise unter Verantwortung eines Pfarrers. Das Friedensgebet<br />
sollte wieder konkrete Fürbitten enthalten <strong>und</strong> den Gruppen Möglichkeit für Informationen <strong>und</strong> einem<br />
Nachgespräch mit Besuchern geben.<br />
Sollte der Kirchenvorstand zu einem Gespräch darüber bereit sein, bittet der Ausschuß um einen Termin,<br />
zu dem er seine Vertreter entsenden kann.<br />
[gez.] M. Berger [/] Vorsitzender<br />
95 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 43. Sitzung des KV St. Nikolai vom 03.10.1988 von W.<br />
Hofmann. In der Sitzung wurde über den Brief des Bezirkssynodalausschusses beraten (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Information über Tagung „Absage an Prinzip <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“ [...]<br />
Zu 1.) Herr Grötzsch berichtet über Inhalte <strong>und</strong> Eindrücke von einer Tagung, die in Oranienburg stattfand.<br />
Eine lange Aussprache schließt sich an. [... zwei Zeilen geschwärzt] Sup. Magirius formuliert ein<br />
Resümee zu der jetzt geübten Ordnung des Friedensgebetes <strong>und</strong> die Vorgänge, die seit dem Wiederbeginn<br />
Ende August 1988 zu verzeichnen waren. Ein Brief an den Kirchenvorstand, übermittelt durch Herrn<br />
Christfried Heinze290 mit mehreren Unterschriften, dessen Inhalt zur Problematik des Friedensgebetes<br />
Stellung nimmt, wird von den Mitgliedern des KV zur Kenntnis genommen. Der Bitte des<br />
Synodalauschusses für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit um ein Gespräch, die Inhalte <strong>und</strong> die Form des<br />
Friedensgebetes betreffend, wird durch den KV einstimmig entsprochen. Für den 21.11.1988, 18.00 Uhr<br />
wird im kleinen Saal mit den Mitgliedern des Kirchenvorstandes (Magirius, Ramson, Pester, Lehnert,<br />
Eichelbaum, Grötzsch, Führer) ein Termin angeboten. Vom Synodalausschuß werden 7<br />
Gesprächsteilnehmer erwartet 291.<br />
[...]<br />
96 Friedensgebetstexte<br />
Text der Predigt, die Kaplan Fischer während des Friedensgebetes am 24.10.1988 hielt <strong>und</strong> Fürbitten aus<br />
diesem Friedensgebet. Xerokopie des Redekonzeptes (ABL H 1).<br />
Seit 1981 wird in dieser Kirche montags um 17 Uhr für den Frieden gebetet. Dieses Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche, das in seiner Art hier in Sachsen das einzige ist, das über solch lange Zeit lebendig<br />
geblieben ist, hat Höhen <strong>und</strong> Tiefen erlebt. Höhen <strong>und</strong> Tiefen, was das Engagement bei der Gestaltung des<br />
Friedensgebets angeht, aber auch was die Teilnehmerzahl an diesem Gebet betrifft. Ich kann mich noch<br />
gut an gar nicht soweit zurückliegende Zeiten erinnern, als wir als verlorenes Häufchen in der Sakristei<br />
gebetet haben. Das ist erfreulich <strong>und</strong> erfrischend, jetzt eine volle Kirche zu sehen. Diese Freude über die<br />
volle Kirche beim Friedensgebet läßt mich aber trotzdem nüchtern bleiben. Denn ich bin mir bewußt, daß<br />
wir, die wir jetzt hier zusammengekommen sind, sehr unterschiedliche Motive für unser Hiersein haben.<br />
Ich bin mir bewußt, daß es nicht mehr der Glaube an unseren einen <strong>und</strong> einzigen Herrn Jesus Christ ist,<br />
der uns hier zusammengeführt hat. Nicht wenige unter uns sind hier, weil sie enttäuscht sind, weil sie<br />
durch das Erleben erfahrener Ohnmacht entmutigt <strong>und</strong> verbittert sind oder weil sie sich entmündigt fühlen.<br />
Nicht wenige unter uns sind hier, weil sie den Eindruck haben, daß in unserem Land eine Öffentlichkeit<br />
fehlt, in der die Probleme, vor denen wir stehen, <strong>und</strong> ihre Lösungsmöglichkeiten in einem umfassenden<br />
Dialog von Politikern, Fachleuten <strong>und</strong> Betroffenen ehrlich besprochen werden können. Ich beklage es, daß<br />
es in diesem unseren Land so wenig Bereitschaft zu einem echten Dialog gibt. Ich beklage die Ratlosigkeit<br />
<strong>und</strong> Hoffnungslosigkeit, auf die ich so häufig auch in unseren Kirchen stoße.<br />
Wir erleben, wie schnell wir vor der Fülle der Probleme kapitulieren, wie leicht wir aufgeben, unser Licht<br />
290 s. Dok. 86<br />
291 Dieses Angebot wurde am 05.10.1988 in einem Brief an Pf. Berger durch Pf. Führer unterbreitet (ABL H 35).<br />
168
unter den Scheffel der Resignation stellen, wie tief Ohnmachtserfahrung <strong>und</strong> Ohnmachtsgefühle uns<br />
lähmen. Ich meine, daß es gefährlich ist, in solch einer Situation Trost in Jenseitshoffnungen anzubieten<br />
oder suchen zu wollen. Egal ob dieses Jenseits die neue, von Gott geschaffene künftige Welt oder die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland sein sollte. Wir sind hier aus Liebe zum Leben <strong>und</strong> aus Sorge um das Leben,<br />
aus Verantwortung für das Leben. Deshalb versuchen wir, so offen <strong>und</strong> ehrlich uns das möglich ist,<br />
Rechenschaft zu geben von unserer Ratlosigkeit <strong>und</strong> Mitschuld, aber auch von unserer Hoffnung <strong>und</strong><br />
unserer Verantwortung. Dazu gehört für mich auch, daß wir offen <strong>und</strong> ehrlich im Umgang miteinander<br />
sind, daß wir nun nicht auch noch unter uns selber Abgrenzung <strong>und</strong> Ausgrenzung praktizieren. Ich sage<br />
dies auch deswegen, weil ich bestürzt bin über das Gerangel um dieses Friedensgebet. Es macht mich tief<br />
traurig, daß ein sachliches Gespräch zur Klärung dieses Konflikts anscheinend von einigen daran<br />
Beteiligten nicht mehr für möglich gehalten wird. Ich finde es schlimm, daß es manchen von uns so<br />
schwer fällt eigene Fehler zuzugeben, um Verzeihung für eigenes Versagen zu bitten <strong>und</strong> dem anderen<br />
Verzeihung zuzusprechen. Um es klar <strong>und</strong> deutlich zu sagen: Auch ich halte den Entschluß, das<br />
Friedensgebet der bisherigen Trägerschaft zu entziehen <strong>und</strong> allein dem KV der Nikolaigemeinde zu<br />
übertragen, für eine verhängnisvolle Fehlentscheidung, weil dieser Entschluß in seiner Begründung von<br />
falschen Voraussetzungen ausgeht, die offensichtlich auf Informationsstörungen beruhen. Deshalb meine<br />
ich, daß es dringend notwendig ist, über diese Dinge ehrlich miteinander zu reden, um wieder in einen<br />
Dialog miteinander zu kommen. Wem sollen denn solche einseitigen Schuldzuweisungen helfen, wie sie<br />
im offenen Brief an den Landesbischof vom 5. September 292 standen? Ich empfinde es als ungeheuerlich,<br />
wenn jemand - wie in diesem Brief geschehen - seine geistliche Kompetenz <strong>und</strong> moralische Integrität<br />
abgesprochen wird, ohne daß dafür auch nur halbwegs schlüssige Beweise für solche Unterstellungen<br />
vorgelegt werden können. Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> 293 , das ist ein Stil, der nicht nur unwahrhaftig <strong>und</strong> unfriedfertig,<br />
sondern auch gegen den Geist der frohen <strong>und</strong> freimachenden Botschaft Herrn Christi gerichtet ist. Ich<br />
meine, daß wir alle uns unter das vorhin gehörte Wort aus dem Eph.[eser]brief stellen sollten, wo uns klar<br />
gesagt wird, wie wir untereinander <strong>und</strong> miteinander umgehen sollen. Dialogverweigerer gibt es in diesem<br />
Land genug. Da müssen wir diese Zahl nicht noch größer machen. Der Dialog ist die einzige Existenzform<br />
der Wahrheit, die wirklich frei macht. Ich fordere deswegen alle an diesem Konflikt Beteiligten an dieser<br />
Stelle noch einmal auf, wieder aufeinander zuzugehen <strong>und</strong> aufeinander zu hören, damit wir nicht das aus<br />
den Augen verlieren, weshalb es einmal zur Einrichtung dieses Friedensgebets gekommen ist, nämlich die<br />
Verheißung des Friedens, der von Gott kommt, in dieser Gesellschaft zu bezeugen, erfahrbar zu machen.<br />
Für mich geht es hier um die Frage meiner Identität als Christ: Kirche ist für mich Ort des Lebens gegen<br />
den Tod. Ort der offen ist „für jeden, der kommt, um Leben zu suchen, denn Leben suchen heißt Gott<br />
suchen, der selbst das Leben ist“. (H. J. Frischbeck 294 ). Und das kann ich, das können wir nur im<br />
Miteinander, im Vertrauen auf den, der unsere Hoffnung ist. Als Hoffende sind wir unterwegs, auf das<br />
Leben hin, auf Gottes Verheißung hin. Bejahend die Grenzen des eigenen Unvermögens, vertrauend, dem,<br />
der die Grenze des Todes für uns überschritten hat. Laßt uns anfangen, hier wieder den ersten Schritt zu<br />
gehen, einen Schritt des gemeinsamen Glaubens mitten in den Bedrohungen des Lebens.<br />
[Fürbitten:]<br />
− Herr, gib uns Mut zur schmerzlichen Wahrheit <strong>und</strong> die Erkenntnis der erlösenden Wahrheit. [/] Hilf<br />
uns Verschwiegenes auszusprechen, Vergessenes wiederzuentdecken <strong>und</strong> Verlorenes wiederzufinden.<br />
[/] Hilf uns Bewährtes zu bewahren <strong>und</strong> Neues zu probieren. [/] - Herr erbarme Dich<br />
− Herr, laß uns sanftmütiger sein gegenüber aller Natur <strong>und</strong> Kreatur. Laß uns barmherziger sein<br />
gegenüber allem Leid <strong>und</strong> allen Leidenden. Laß uns friedfertiger sein gegenüber Nahen <strong>und</strong> Fernen,<br />
gegenüber <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Gegnern. [/] - Herr erbarme Dich<br />
− Herr, laß uns nicht los <strong>und</strong> sei bei uns mit Deinem Geist, der Leben schafft. Ermutige uns zu<br />
292 s. Dok. 76<br />
293 Die direkte Anrede war möglich, da einige Unterzeichner des Briefes im Altarraum der Kirche standen (s.<br />
Chronik im Anhang).<br />
294 Zitat aus: Hans Jürgen Fischbeck, Welche Grenzen setzt <strong>und</strong> verbietet das Evangelium? - Ein Gesprächsbeitrag,<br />
in: Über das Nein hinaus. Aufrisse Zwei, herausgegeben von St. Bickhardt, R. Lampe <strong>und</strong> L. Mehlhorn im<br />
Oktober 1988 (ABL Box 13), 13-18, dort 16<br />
169
schöpferischem Zweifel <strong>und</strong> bewahre uns vor lähmender Verzweiflung. Gib uns Zuversicht <strong>und</strong> laß<br />
uns nicht verzweifeln an dem, was wir noch nicht sehen. Amen [/] - Herr erbarme Dich<br />
− Vater unser [...]<br />
Am Anfang der Christenheit wurden die Christen die Leute vom Weg genannt, die Leute die unterwegs<br />
sind. Das ist auch heute unsere Berufung: unterwegs zu sein <strong>und</strong> uns aus unserem Glauben heraus für<br />
diese unsere Welt zu engagieren. Dafür wollen wir Gottes Segen erbitten.<br />
[Segen]<br />
97 Basisgruppenerklärung<br />
Auszug aus einer Erklärung von Gruppenvertretern, die während des Friedensgebetes mit Transparenten zur<br />
Zivilcourage aufgerufen hatten 295 . Die Erklärung konnte in der Kirche nicht verlesen werden, weshalb sie vor<br />
der Kirche, während die Transparente im Schein von vielen Kerzen erneut gezeigt wurden, verlesen wurde.<br />
Abgedruckt wurde die Erklärung in: Die Mücke, 8f. (ABL Box 21).<br />
[...] Unsere Arbeit in den Gruppen ist getragen durch den von Christus gelebten Glauben an<br />
Menschlichkeit <strong>und</strong> Menschenwürde. Wir brauchen die Solidarität aller - die auf verschiedenste Art <strong>und</strong><br />
Weise nach diesen Werten suchen <strong>und</strong> leben möchten. Wir können nicht mehr nebeneinander für dasselbe<br />
wirken wollen. Es ist Zeit - sich zu engagieren - weil wir jetzt leben <strong>und</strong> nicht mehr lediglich auf<br />
Veränderungen in der Zukunft hoffen können. Die Angst der Menschen vor ihrer Umwelt <strong>und</strong> vor sich<br />
selbst wächst ständig. Die Kluft zwischen persönlichem Denken <strong>und</strong> Fühlen <strong>und</strong> dem Handeln nach<br />
Normen, suggestierten Wünschen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Ansprüchen nimmt immer mehr zu. Angst <strong>und</strong><br />
Zwiespalt zerstören Lebenssinn <strong>und</strong> menschliche Beziehungen. Wir können dem nur durch gemeinsames,<br />
bewußtes, Neues [sik!] Handeln <strong>und</strong> Umsetzung unserer Erkenntnisse begegnen. Unsere Forderung nach<br />
Veränderung müssen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit sichtbar werden.<br />
Die Arbeit der kirchlichen Basisgruppen ist ein versuchter Weg, an den alles umfassenden Themen<br />
Frieden - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten. Sie basiert darauf - sich gegenseitig<br />
anzuregen <strong>und</strong> zu motivieren - Probleme gemeinsam zu tragen <strong>und</strong> im Handeln nicht allein zu sein. Auch<br />
wenn diese Arbeit von verschiedenen Seiten in der Kirche weder geachtet, anerkannt oder gar gefördert<br />
wird - gilt es, diesen minimalen Spielraum in diesem Land zu nutzen. Es liegt an uns - die Kirche immer<br />
wieder an ihre im Evangelium verankerte <strong>und</strong> von Christus gelebte Aufgabe zu erinnern - sich dem<br />
Menschen <strong>und</strong> seiner Umwelt zuzuwenden. Wir bitten Euch, diese Worte anzunehmen <strong>und</strong> sie nach<br />
eigenem Ermessen umzusetzen.<br />
98 Vernehmungsprotokoll<br />
Auszug aus der Abschrift des Befragungsprotokolles des Stasi-Hauptmanns Richter vom 26.10.88 über<br />
Aktivitäten von F. Sellentin zum Friedensgebet am 24.10.1988. Am Ende jeder Seite wurde „gez. Frank<br />
Sellentin“ vermerkt 296 . Für die Richtigkeit der maschinenschriftliche Abschrift zeichnete Weidner (BStU<br />
Leipzig KD Leipzig Stadt XIII 163/88, 81-87).<br />
Ich wurde darüber belehrt, daß ich gemäß § 95 (2) StPO 297 einer Befragung unterzogen werde. Über das<br />
mir gemäß § 91 StPO zustehende Beschwerderecht wurde ich belehrt.<br />
gez. Frank Sellentin<br />
Mitteilung: Ihnen wird mitgeteilt, daß Sie durch das Untersuchungsorgan der Bezirksverwaltung für<br />
295 s. folgendes Dok. <strong>und</strong> Chronik unter 24.10.1988<br />
296 In der Referatsleiterbesprechung der Abt. XX der BV am 02.11.1988 hieß es: „Protokolle werden genutzt, um<br />
damit gegenüber kirchl. Amtsträgern zu argumentieren.“ (BStU Leipzig AB 1031).<br />
297 Prüfung von Anzeigen <strong>und</strong> Mitteilungen durch Befragung des Verdächtigen. In der Referatsleiterbesprechung der<br />
Abt. XX am 02.11.1988 hieß es: „Prüfungshandlungen nach § 95 StPO nur durch die Abt. IX.“ (BStU Leipzig<br />
AB 1031).<br />
170
Staatssicherheit Leipzig zur Klärung eines Sachverhaltes hinsichtlich öffentlichkeitswirksamer<br />
Handlungen am 24.10.1988 vor der Nikolaikirche einer Befragung unterzogen werden. Haben Sie diese<br />
Mitteilung verstanden?<br />
Antwort: Ich habe dies zur Kenntnis genommen.<br />
Frage: Wo hielten Sie sich am 24.10.1988 zwischen 17.00 <strong>und</strong> 19.00 Uhr auf?<br />
Antwort: Am 24.10.1988 nahm ich an dem Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig teil. Ich kam<br />
eine Minute vor 17.00 Uhr an. Ca. 17.35 Uhr habe ich die Kirche mit anderen Personen verlassen, worauf<br />
wir nach kurzer Zeit ins Café „Centra“ gingen.<br />
Frage: An welchen öffentlichkeitswirksamen Handlungen beteiligten Sie sich in diesem Zeitraum?<br />
Antwort: Vor der Kirche auf dem Nikolaikirchhof hatte ich ein Plakat mit der Aufschrift: „Mündigkeit<br />
verpflichtet - ziviler Ungehorsam“ entrollt, welches ich ca. 10 bis 15 Minuten hielt. Weiterhin wurde<br />
dieses Plakat von einer weiblichen Person gehalten, deren Namen ich nicht nennen werde. Es haben noch<br />
weitere Personen, deren Namen ich ebenfalls nicht nennen werde, solche Plakate getragen.<br />
Frage: Welche Texte befanden sich auf den Plakaten?<br />
Antwort: Die Plakate hatten folgende Texte:<br />
1. „Wir mahnen uns, an die zu denken, die gehen mußten“<br />
2. „Wir mahnen uns, die Wahrheit zu sagen“<br />
3. „Wir mahnen uns, danach zu handeln“. 298<br />
Weiterhin wurde in dieser Zeit eine Stellungnahme verlesen, um zu verdeutlichen, wozu wir die Plakate<br />
entrollt hatten. Dies erfolgte bereits ca. 25 Minuten während des Friedensgebetes in der Nikolaikirche vor<br />
dem Altar. Zum Verlesen der Stellungnahme kam es aber in der Kirche nicht.<br />
Frage: Unter welchen Umständen kam es zur Erstellung der Plakate sowie der Stellungnahme?<br />
Antwort: Etwa in der Mitte der vorigen Woche erfuhr ich auf der Straße in Leipzig von mehreren<br />
Personen, deren Namen ich nicht angebe, daß die Errichtung eines Kommunikationszentrums 299 der<br />
Basisgruppe der Kirche, welches meines Wissens nach bereits von der Kirche zugesagt wurde, wieder<br />
abgesetzt wurde. Da auch in der letzten Zeit die Gestaltung der Friedensgebete durch die Basisgruppen<br />
von der Kirche verwehrt wurde, sagten wir uns, auf die innerkirchliche Meinung der Kirchenvorgesetzten<br />
Einfluß nehmen zu müssen, die gemeinsame Sache mit dem Staat meiner Ansicht nach machen. Wir<br />
wollten erreichen, daß die Kirche bzw. die Kirchenleitung wieder Rückgrat zeigt <strong>und</strong> uns wieder den<br />
Spielraum zubilligt, den wir bereits hatten. Wir beschlossen, durch entsprechende Plakate <strong>und</strong> eine<br />
Stellungnahme dazu unsere Forderungen gegenüber der Kirche am 24.10.1988 während des<br />
Friedensgebetes zum Ausdruck zu bringen. Das Plakat, welches ich getragen habe, wurde von mir am<br />
Sonnabend in einer Wohnung in Leipzig angefertigt. Ich verwendete dazu die Farben der „Anarchie“ -<br />
schwarz <strong>und</strong> rot -.<br />
[... weitere Angaben zur Herstellung]<br />
Frage: Wo wollten Sie <strong>und</strong> die anderen Personen mit den gefertigten Plakaten auftreten <strong>und</strong> die<br />
Stellungnahme verlesen?<br />
Antwort: Es war beabsichtigt, diese Plakate am 24.10.1988 in der Nikolaikirche während des<br />
Friedensgebetes zu entrollen <strong>und</strong> dabei die Stellungnahme zu verlesen. Da wir damit rechnen mußten, daß<br />
unsere Aktion durch den Superintendenten Magirius unterb<strong>und</strong>en wird, haben wir die Kirche meines<br />
Wissens nach nicht von dieser Aktion informiert. Die Kirche sollte es völlig unvorbereitet treffen. Uns<br />
wurde während des Friedensgebetes zwar nicht verwehrt, die Plakate zu entrollen <strong>und</strong> den Anwesenden zu<br />
zeigen, jedoch war es nicht möglich, die Stellungnahme zu verlesen, da das Mikrofon abgeschaltet wurde.<br />
Als bereits viele Personen nach dem Friedensgebet die Kirche verließen, entschlossen wir uns kurzfristig<br />
<strong>und</strong> spontan, die Plakate vor der Kirche nochmals zu zeigen <strong>und</strong> die Stellungnahme zu verlesen.<br />
Frage: Warum entschlossen Sie sich gemeinsam mit den anderen Personen dazu?<br />
Antwort: Wir hatten nicht damit gerechnet, daß uns das Verlesen der Stellungnahme verwehrt wird.<br />
Meiner Meinung nach waren wir es den Anwesenden schuldig zu erklären, was wir mit den Plakaten zum<br />
Ausdruck bringen wollten. Von uns war zuvor in keiner Weise geplant, mit den Plakaten <strong>und</strong> der<br />
298 Ein Foto von der Aktion ist abgedruckt in: Hamburger Abendblatt, Nr. 282 (04.12.1991), S. 3<br />
299 s. im Anhang S. 369<br />
171
Stellungnahme außerhalb der Kirche aufzutreten. Wir waren jedoch letztendlich durch das Verhalten der<br />
Kirchenleitung dazu gezwungen.<br />
Frage: Welchen Inhalt hatte die verlesene Stellungnahme?<br />
Antwort: An den Inhalt dieser Stellungnahme erinnere ich mich nicht mehr. In dieser ging es lediglich<br />
darum, den Leuten zu zeigen, daß wir mehr Unterstützung von der Kirche fordern.<br />
Frage: Wer hat die Stellungnahme verlesen?<br />
Antwort: Den Namen dieser Person nenne ich nicht.<br />
Frage: War Ihnen bekannt, daß es sich dabei um eine nichtgenehmigte Handlung in der Öffentlichkeit<br />
handelt?<br />
Antwort: Mir ist zwar bekannt, daß derartige Veranstaltungen in der Öffentlichkeit einer Genehmigung<br />
unterliegen. Aufgr<strong>und</strong> der spontanen Entscheidung hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht daran gedacht.<br />
Außerdem war auch keine Zeit mehr, um eine Genehmigung dafür einzuholen. [...] Ich habe das<br />
Befragungsprotokoll gelesen. Die darin enthaltenen Antworten entsprechen inhaltlich meinen Aussagen.<br />
gez. Frank Sellentin<br />
99 Basisgruppenerklärung<br />
Erklärung der Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ vom 26.10.1988 aufgr<strong>und</strong> von<br />
Verhaftungen <strong>und</strong> Vernehmungen Leipziger Gruppenmitglieder. Die Erklärung wurde per Ormigverfahren<br />
ohne kirchliche Lizenz vervielfältigt <strong>und</strong> zu verschiedenen Anlässen verteilt. Später wurde sie auch in der<br />
vom Leipziger Jugendpfarramt herausgegebenen Samisdat-Zeitschrift „Streiflichter“ abgedruckt 300 (ABL H<br />
2).<br />
Seit dem 20.10.88 kam es wiederholt zu Zuführungen 301 von Bürgern <strong>und</strong> Bürgerinnen (20.10. Beate<br />
Fahrnländer, Manfred Fahrnländer <strong>und</strong> Axel Holicki, 21.10. Stefan Fahrnländer, 23.10. Michael Arnold,<br />
Andreas Radicke <strong>und</strong> Andre Bootz, 24.10.Thomas Baumann, 26.10. Katrin Hattenhauer, Rainer Müller,<br />
Uwe Schwabe <strong>und</strong> Frank Sellentin), die sich der Friedens- <strong>und</strong> Bürgerbewegung in Leipzig zugehörig<br />
fühlen. Alle Zugeführten wurden zu Aktivitäten der kirchlichen Arbeitsgruppen „Initiative Leben“ <strong>und</strong><br />
Arbeitskreis „Gerechtigkeit“ befragt. Wir weisen darauf hin, daß es nach der Verfassung der DDR<br />
möglich sein muß, „seine Meinung frei <strong>und</strong> öffentlich“ zu äußern (Art. 27). Wir sind der Meinung, daß der<br />
in Frage stehende Brief von 274 Bürgern <strong>und</strong> Bürgerinnen an den Staatssekretär für Kirchenfragen, Dr.<br />
Löffler, vom 17.10.88 302 <strong>und</strong> die öffentliche Meinungsbek<strong>und</strong>ung auf dem Nikolaikirchhof vom 24.10.88<br />
mit der Verfassung in Einklang stehen.<br />
Wir protestieren entschieden gegen den erneuten Versuch, uns <strong>und</strong> unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> zu kriminalisieren <strong>und</strong><br />
einzuschüchtern. Wir fordern alle Verantwortlichen in diesem Lande auf, alles in ihrer Macht stehende zu<br />
unternehmen, um solche Versuche zu unterbinden. Wir teilen mit, daß die Entscheidungen, ob<br />
300 In den „Streiflichtern“ steht vor der Erklärung: „Als Leipziger Basisgruppen nehmen wir Anteil an dem<br />
Geschehen in dieser Stadt. Wir sind betroffen über folgende Vorgänge:...“ Im Anschluß folgt noch dieser Text:<br />
„Information des Arbeitskreises Gerechtigkeit Lps., den 5.11.88 [/] Unsere Erklärung vom 26.10. ergänzend<br />
teilen wir mit: [/] Am 27.10. wurde Gesine Oltmanns zugeführt, am 31.10. wurde Anita Unger zugeführt <strong>und</strong> am<br />
1.11. wurde Jochen Läßig 'Zwecks Klärung eines Sachverhaltes' vorgeladen. Auch gegen diese drei Personen<br />
wurde ein Prüfungsverfahren nach § 95 der Strafprozeßordnung [s. Anm. 297] eingeleitet. Am 4.11. wurde Uwe<br />
Schwabe erneut zur „Klärung eines Sachverhaltes“ befragt. Er wurde zu diesem Zweck vorgeladen. Ihm wurde<br />
mitgeteilt, daß die Frist für das Prüfungsverfahren für alle 7 Personen (Frank Sellentin, Uwe Schwabe, Anita<br />
Unger, Rainer Müller, Gesine Oltmanns, Jochen Läßig, Katrin Hattenhauer) vom Staatsanwalt verlängert wurde<br />
(auf unbestimmte Zeit). [/] Bei ihrer Zuführung am 26.10. wurde Katrin Hattenhauer bereits mitgeteilt, daß, falls<br />
das Prüfungsverfahren positiv ausfällt, ein Ermittlungsverfahren nach § 106 des Strafgesetzbuches<br />
[Staatsfeindliche Hetze] eingeleitet wird.“ (ABL Box 6)<br />
301 DDR-Jargon für Festnahmen<br />
302 Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen zur Aufhebung der Zensur von Kirchenzeitungen <strong>und</strong> der<br />
Forderung nach Genehmigung friedlicher Demonstrationen ist abgedruckt in: Die Mücke, 8 - ABL Box 21; s.a.<br />
Besier/Wolf 568<br />
172
Ermittlungsverfahren gegen Katrin Hattenhauer, Rainer Müller, Uwe Schwabe <strong>und</strong> Frank Sellentin<br />
eröffnet werden, noch ausstehen.<br />
Initiativgruppe „Leben“ i.A. Andreas Radicke [... Adresse]<br />
Arbeitskreis Gerechtigkeit i.A. Thomas Rudolph [... Adresse]<br />
100 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, [Bereich Kirchenfragen], vom 28.10.1988, über ein Gespräch<br />
zwischen A. Müller, H. Fenzlau <strong>und</strong> Sup. Magirius am 21.10.1988 zu Aktionen von alternativen Gruppen<br />
beim Friedensgebet am 17.10.1988 303 , unterzeichnet von A. Müller. Der Durchschlag trägt einen<br />
Dienstsachenstempel ohne Angabe der Nr. des Exemplars <strong>und</strong> Bearbeitungsspuren, die zeigen, daß K. Conrad<br />
den Bericht am 31.10. erhielt (ABL H 53).<br />
Information [/] zum Gespräch mit Superintendenten Magirius am 21.10.88 beim Rat der Stadt Leipzig,<br />
Kirchenfragen<br />
Das Gespräch wurde durch die Genossen A. Müller <strong>und</strong> H. Fenzlau geführt.<br />
Im Mittelpunkt standen folgende Probleme:<br />
1. Friedensgebet am 17.10.88 <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Aktionen von Mitgliedern alternativer Gruppen<br />
in <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche;<br />
2. Die Absicht von Mitgliedern alternativer Gruppen, sich an einer ungesetzlichen Aktion am 24.10.1988<br />
in Berlin zu beteiligen;<br />
3. Meinung von Sup. Magirius zur Installierung eines „Kommunikationszentrums“ im kirchlichen Raum;<br />
4. Einflußnahme von Sup. Magirius zur geplanten Veranstaltung am 31.10.88 in der Lukaskirche <strong>und</strong> die<br />
damit verb<strong>und</strong>ene ungesetzliche Plakatierung an <strong>und</strong> in öffentlichen Gebäuden in der Stadt Leipzig.<br />
Im Gespräch brachte Sup. Magirius zu den aufgeworfenen Problemen sinngemäß zum Ausdruck:<br />
Er habe in der letzten Zeit immer mehr die Erfahrung machen müssen, daß mit den Initiatoren solcher<br />
Aktionen nicht mehr zu reden ist. Sie sind nicht mehr bereit, mit sich reden zu lassen, d.h., sie lassen nicht<br />
mehr disziplinieren. Er vertrete nunmehr den Standpunkt, daß man diese Leute staatlicherseits zur<br />
Verantwortung ziehen sollte. [/] So habe man zwar versucht Einfluß zu nehmen, aber die Ansammlung am<br />
17.10.88 vor der Nikolaikirche konnte nicht verhindert werden. [/] Er bleibe bei seiner Haltung zu Inhalt<br />
<strong>und</strong> Form der montäglichen Friedensgebete, auch wenn er dadurch vielen Anfeindungen ausgesetzt ist. Er<br />
habe vor diesen Leuten keine Angst. Dabei werde für ihn auch die ausschließlich politische negative<br />
Profilierung einiger Gruppen immer deutlicher.<br />
Magirius sagte zu, Einfluß zu nehmen, daß die geplante Mitwirkung von Mitgliedern von Gruppen an der<br />
am 24.10.88 ungesetzlich stattfindenden Demonstration 304 nicht zur Wirkung kommt <strong>und</strong> keiner nach<br />
Berlin fährt. Mit dem Gespräch von Bischof Leich <strong>und</strong> Staatssekretär Löffler am 13.10.88 <strong>und</strong> die<br />
staatliche Entscheidung, daß alle kirchlichen Zeitungen mit der Berichterstattung zum Verlauf der<br />
ökumenischen Versammlung in Magdeburg erscheinen können, sei der Anlaß ja weggefallen. Magirius<br />
begrüßte diese Entscheidung auch in Hinblick auf die damit verb<strong>und</strong>ene Versachlichung im kirchlichen<br />
Bereich. [/] Zum Kommunikationszentrum vertrat Magirius die Meinung, daß dies verhindert werden<br />
muß 305 . Vor einem Jahr hätte er dies noch befürwortet. Die sich vollziehende innerkirchliche Entwicklung<br />
<strong>und</strong> die politische Profilierung einiger Gruppen lassen erkennen, daß damit das Staat-Kirche-Verhältnis<br />
weiter belastet werden könnte.<br />
Zur Veranstaltung am 31.10.88 in der Lukaskirche angesprochen <strong>und</strong> zu der dazu erfolgten Plakatierung<br />
im Vorfeld meinte Magirius, daß Pf. Wonneberger bewußt den Intentionen solcher Kräfte folgt <strong>und</strong> sie<br />
303 Die Kernsätze dieses Protokolls fanden Eingang in: Information des Stellvertreter des OBM (Sabatowska i.V.<br />
unleserlich) zur Staatspolitik in Kirchenfragen, im Berichtszeitraum Oktober/November 1988 (StAL BT/RdB<br />
21129).<br />
304 Gemeint ist eine Demonstration gegen die Zensur der kirchlichen Presse, zu der am 17.10. nach dem FG auf dem<br />
Nikolaikirchhof eingeladen wurde (s.a. MfS-Bericht in: Besier/Wolf 568).<br />
305 vgl. Dok. 85<br />
173
auch unterstützt. Auch hier helfe nicht mehr anderes, als das man diese Leute staatlich zur Verantwortung<br />
zieht. [/] Zur Themenstellung <strong>und</strong> zum geplanten Inhalt der Veranstaltung brachte Magirius zum<br />
Ausdruck, daß dies ein Rückschritt in der Meinungsbildung zum Thema Sofd darstellt. Innerkirchlich sei<br />
man in der Diskussion schon weiter. Offensichtlich, so Magirius, will man damit erneut das Problem<br />
anheizen 306.<br />
Er gab in diesem Zusammenhang zu verstehen, daß Bischof Hempel mit Wonneberger hinsichtlich seiner<br />
Haltung <strong>und</strong> seiner Aktivitäten vor kurzem erst gesprochen habe. [/] Magirius sagte zu, umgehend das<br />
Landeskirchenamt über die Veranstaltung am 31.10.88 zu informieren. [/] Des weiteren werde er mit Pfr.<br />
Turek (Markuskirche) <strong>und</strong> Wonneberger (Lukaskirche) sprechen. [/] Gleichfalls werde er bei dieser<br />
Veranstaltung anwesend sein.<br />
Das Gespräch verlief offen <strong>und</strong> sachlich.<br />
101 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus der Information des Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres vom<br />
03.11.1988 über eine Gespräch zwischen H. Reitmann, R. Sabatowska <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des<br />
Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag, J. Cieslak. An dem Gespräch nahmen außerdem teil: Dr. Stein,<br />
G. Müller, OLKR Schlichter, Kahle <strong>und</strong> Hänisch. Das Exemplar trägt den Stempel „Dienstsache 41/88 [/]<br />
Exempl. Nr. 6“ mit Bestätigung von Reitmann. (StAL BT/RdB 20715).<br />
Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres nahm zu Beginn des Gespräches zur<br />
Gesamtsituation im Raum der Landeskirche <strong>und</strong> der Stadt Leipzig aus staatlicher Sicht Stellung. Im<br />
Mittelpunkt standen dabei die bevorstehende Friedensdekade im allgemeinen <strong>und</strong> die Situation in <strong>und</strong> um<br />
der [sic!] Nikolaikirche im Besonderen [sic!]. Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurde deutlich<br />
gemacht, daß bei den staatlichen Organen nach wie vor der Eindruck vorherrschend ist, daß sich die<br />
Prozesse in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche noch nicht so beruhigt haben, wie dies eigentlich notwendig ist 307.<br />
Es seien zwar auf der einen Seite die Bemühungen leitender kirchlicher Amtsträger zur Beruhigung der<br />
Lage sichtbar <strong>und</strong> spürbar, auf der anderen Seite aber sind Aktivitäten von Studenten des Theologischen<br />
Seminars, kirchlicher Mitarbeiter <strong>und</strong> eines katholischen Geistlichen sichtbar, die versuchen, die Situation<br />
weiter anzuheizen <strong>und</strong> gegen Entscheidungen leitender Amtsträger massiv Front zu machen. Anhand des<br />
Verlaufes des Friedensgebetes am 24.10.1988 in der Nikolaikirche <strong>und</strong> den Aktivitäten von Gruppen, die<br />
sich innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Nikolaikirche entwickelten, wurde die staatliche Einschätzung<br />
untermauert. Es wurde die staatliche Sorge zum Ausdruck gebracht, daß diese Kräfte, wenn sie durch den<br />
Landesausschuß, dem LKA <strong>und</strong> anderen realistischen leitenden Amtsträgern [sic!] nicht diszipliniert<br />
werden, während des KTK <strong>und</strong> KT massiv <strong>und</strong> oppositionell auftreten werden. Damit ist die staatliche<br />
Erwartung verb<strong>und</strong>en, daß kirchlicherseits jetzt entschieden wird, ob <strong>und</strong> wie die alternativen Gruppen<br />
den KTK <strong>und</strong> KT mitgestalten. Diese Entscheidung kann durch den Landesausschuß nicht erst im Juli<br />
1989 vor Beginn des KTK <strong>und</strong> KT getroffen werden.<br />
Insgesamt sei die staatliche Erwartungshaltung darauf gerichtet, daß das LKA, im Zusammenwirken mit<br />
den Superintendenten, solche Festlegungen trifft, damit diese Kräfte diszipliniert werden. Dies trifft auch<br />
auf die bevorstehende Friedensdekade mit ihren geplanten Veranstaltungen <strong>und</strong> Themenstellungen zu,<br />
306 s. zur Auseinandersetzung zwischen Sup. Magirius <strong>und</strong> Pf. Wonneberger aufgr<strong>und</strong> der Initiative Pf.<br />
Wonnebergers für den „Sozialen Friedensdienst“ Auszug aus dem OV „Lukas“ in: Besier/Wolf, 668-670, dort<br />
669<br />
307 In der Konzeption für das Gespräch heißt es: „Staatliche Erwartungshaltung geht davon aus, daß das LKA in der<br />
Person des OKR Schlichter seine Verantwortung dahingehend wahrnimmt, daß die Friedensdekade in einem<br />
kirchlich-theologischen Rahmen durchgeführt wird. [/] Staatliche Organe sehen folgende Probleme: [/] -<br />
Einflußnahme auf die im kirchlichen Raum sich befindenden alternativen Gruppen, daß politische Provokationen<br />
<strong>und</strong> Aktivitäten, die das Staat-Kirche-Verhältnis belasten, unterbleiben. [/] - die während der Friedensdekade<br />
täglich stattfindenden Friedensgebete sind unter Wahrung der Kriterien der montäglichen Friedensgebete<br />
durchzuführen.“ (handschriftliche Aufzeichnung von W. Jakel für H. Reitmann vom 1.11.1988 - StAL BT/RdB<br />
20715).<br />
174
damit es zu keiner weiteren Eskalation im Staat-Kirche-Verhältnis kommt. Durch den Stellvertreter des<br />
Vorsitzenden des Rates für Inneres wurden die kirchlichen Vertreter darauf aufmerksam gemacht, daß<br />
eine Disziplinierung dieser kirchlichen Kräfte <strong>und</strong> Gruppen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene weitere<br />
Entspannung der Situation positiv die weiteren Verhandlungen <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>enen staatlichen<br />
Entscheidungen in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des KTK <strong>und</strong> KT beeinflussen. Durch die kirchlichen<br />
Vertreter wurden dazu folgende Standpunkte vertreten:<br />
OLKR Schlichter<br />
Dem LKA ist die Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche bekannt. Es gibt aber noch keine endgültige<br />
Entscheidung des LKA, wie man sich weiter gegenüber diesen Personen verhalten werde. Man wolle die<br />
in der kommenden Woche stattfindende Ephoralrüste mit allen Superintendenten nutzen, um darüber zu<br />
beraten. Mit den beiden Superintendenten der Stadt Leipzig wolle man auch speziell noch einmal über den<br />
24.10.1988 sprechen <strong>und</strong> weitere Schritte beraten. Eine Disziplinierung im kirchlichen Raum sei<br />
schwierig <strong>und</strong> kompliziert. Innerhalb der Kirche werde die freie Entscheidung des Einzelnen [sic!]<br />
akzeptiert. Er stimme aber mit dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres überein, daß es<br />
seitens des LKA ein Stück Konsequenz geben muß.<br />
Herr Hänisch<br />
Ausgehend von der jetzigen Situation in der Nikolaikirche fühlt er sich als Gläubiger diskriminiert. Vielen<br />
Leipziger Christen <strong>und</strong> Amtsträgern ist die Situation <strong>und</strong> Problematik bewußt klar. Das Problem dabei<br />
besteht aber darin, daß die montäglichen Friedensgebete nicht ohne weiteres abgesetzt werden können,<br />
weil in <strong>und</strong> mit den Friedensgebeten deutlich wird, ob Kirche bei ihrer Friedenskonzeption bleiben kann<br />
oder nicht. Er versteht aber bis zur Minute nicht, warum diese Leute in der Kirche noch agieren können.<br />
Gleichzeitig versteht er die staatlichen Bedenken, weil der KTK <strong>und</strong> KT dies noch potenzieren kann. Es<br />
gibt aber auch in der Kirche mehr als eine Handvoll Leute, die zu einem echten Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche zurückkehren wollen.<br />
Herr Cieslak<br />
Man muß unterscheiden wofür er, als Vorsitzender des Landesausschusses, zuständig ist <strong>und</strong> für was Herr<br />
Schlichter als amt. Präsident des LKA. Als Landesausschuß wird man wie folgt vorgehen:<br />
1. Man versucht herauszufinden, wer bei diesen Gruppen der „Hutmann“ oder die „Hutfrau“ ist, um dann<br />
mit diesen Personen in das Gespräch zu kommen. Dabei ist ihm Pfarrer Dr. Berger als eine<br />
„zwielichtige“ Person untergekommen. Mit Pfarrer Dr. Berger wird man sprechen.<br />
2. Für ihn wird sichtbar, daß beide Superintendenten von Leipzig nicht beizeiten begriffen haben, den<br />
„Wildwuchs“ zu beschneiden.<br />
3. Im Gespräch mit den Gruppen wird der Landesausschuß deutlich machen, daß nur die Gruppen am<br />
KTK <strong>und</strong> KT teilnehmen können, wenn sie deutlich hervorheben können, daß ihr Engagement <strong>und</strong><br />
Anliegen von der Bibel her, <strong>und</strong> damit vom Glauben, getragen ist.<br />
4. Es ist klar <strong>und</strong> vom Landesausschuß entschieden, daß die Nikolaikirche nur für kirchenmusikalische<br />
Veranstaltungen während des KTK <strong>und</strong> KT genutzt werden kann. Es ist zwar bitter, aber eine<br />
Notwendigkeit.<br />
Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurden, auf der Gr<strong>und</strong>lage des Schreibens des Vorsitzenden des<br />
Landesausschusses vom 19.10.1988 folgende Sachprobleme mit folgenden Ergebnissen behandelt: [...]<br />
102 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 44. Sitzung des KV St. Nikolai vom 07.11.1988 von W.<br />
Hofmann. (ABL H 54).<br />
[Tagesordnung: ...] 3. Situationsbericht über die Friedensgebete (Erklärung von Kathrin Walther 308)<br />
[...]<br />
308 s. Dok. 92<br />
175
Zu 3.) Situationsbericht von Herrn Magirius, Herrn Ramson <strong>und</strong> Herrn Tischer. Sie sehen<br />
Schwierigkeiten. Sie wollen besonders die Friedensdekade beobachten, <strong>und</strong> der KV ist aufgefordert, daran<br />
teilzunehmen. Ein sehr ernsthaftes Gespräch schließt sich an. Die Richtlinien für das Gespräch am<br />
21.11.88 werden durchdacht.<br />
Vorlesung einer Erklärung der Arbeitsgruppe Umweltschutz, unterzeichnet: Kathrin Walther [/] betr.:<br />
wöchentl. Friedensgebet. [...]<br />
103 Basisgruppenerklärung<br />
Auszug aus einem Brief der Arbeitsgruppe „Sozial-Ökologische Partnerschaft“ des ökologischen Netzwerkes<br />
„Arche“ an den 1. Sekretär des ZK der SED <strong>und</strong> Vorsitzenden des Staatsrates der DDR (Erich Honecker), an<br />
die Volkskammer <strong>und</strong> die Ev. Kirche [in Berlin-Brandenburg] wegen Behinderungen am Gottesdienstbesuch<br />
vom 09.11.1988. Der Brief wurde überschrieben mit: „Stellungnahme zu wiederholten Behinderungen <strong>und</strong><br />
Belästigungen durch die Staatsorgane der DDR gegenüber Besuchern der Gottesdienste“ (SAPMO-BArch IV<br />
B 2/14/21).<br />
In der letzten Zeit berichteten Gottesdienstbesucher über erneute 309 massive Behinderung <strong>und</strong> Belästigung<br />
beim Besuch von Gottesdiensten in der DDR <strong>und</strong> in Berlin. Diese ungesetzlichen <strong>und</strong> unberechtigten<br />
Aktionen stellen einen eindeutigen Rechts- <strong>und</strong> Verfassungsbruch sowie eine Verletzung der<br />
Menschenrechte dar, zumal die Staatsorgane damit Angst <strong>und</strong> Verunsicherung bei Gottesdienstbesuchern<br />
auslösen <strong>und</strong> den freien Besuch von Gottesdiensten beeinträchtigen wollen. [/] Wir appellieren an die<br />
Verantwortlichen in der Staatsführung der DDR, die verfassungsrechtlich geschützte Religionsfreiheit zu<br />
garantieren. Wir protestieren gegen jedwede Form der Glaubensdiskriminierung <strong>und</strong> gegen Übergriffe auf<br />
Besucher von Kirchenveranstaltungen. Die Kirchen der DDR sind öffentlich-rechtliche Einrichtungen <strong>und</strong><br />
haben demzufolge jedem Staatsbürger, gleich welcher Nationalität <strong>und</strong> Konfession oder Weltanschauung,<br />
zum Besuch offen zu stehen. [/] Wir bitten die Leitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Berlin-<br />
Brandenburgs, nicht länger zu diesen Vorkommnissen zu schweigen <strong>und</strong> den Gebrauch von Gewalt zur<br />
Lösung eines Glaubenskonfliktes zu verurteilen.<br />
Folgende Vorkommnisse wurden bekannt:<br />
[...] 3. Als am 12.9.1988 Gottesdienstbesucher nach Leipzig in die Nikolaikirche zum Fürbittgottesdienst<br />
fahren wollten, wurden sie auf der Autobahn mehrmals durch die Volkspolizei aufgehalten. Für viele<br />
endete die Fahrt jedoch am Schkeuditzer Kreuz. Sicherheitskräfte brachten die festgenommenen Personen<br />
in einem Bus zum Verhör nach Berlin zurück. Gegen sieben Familien wurden Ermittlungsverfahren<br />
eingeleitet, <strong>und</strong> sie sollen sich noch immer in Haft befinden. [...]<br />
Die Unterzeichnenden:<br />
[gez.] Martin G. Butter [gez.] Erhard Rimek<br />
Kulturjournalist, Theaterkritiker Architekt <strong>und</strong> Maler<br />
Karlstadter Str. 34<br />
1100 Berlin<br />
104 Flugblatt<br />
Flugblatt des AK „Gerechtigkeit“, welches während <strong>und</strong> nach dem Friedensgebet am 09.11.1988 verteilt<br />
wurde. Das Flugblatt wurde mit einer nicht lizenzierten Wachsmatritzen-Umdruck-Maschine hergestellt<br />
(ABL H 1, <strong>und</strong> in: Die Mücke).<br />
Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR<br />
309 Massive Behinderung von Gottesdienstbesuchen von Ausreisewilligen gab es schon im Februar 1988 (s. Anm.<br />
176). Zum Vorgehen von MfS <strong>und</strong> Abteilung Innere Angelegenheiten s. Mielke-R<strong>und</strong>schreibens Nr. 69/88 vom<br />
20.10.1989, besonders Anhang - abgedruckt in: Besier/Wolf, 567-570.<br />
176
Die Pogromnacht vor 50 Jahren mahnt uns:<br />
Die Menschen in Deutschland waren 1938 durch fünf Jahre faschistische Diktatur <strong>und</strong> Ideologie im<br />
Denken <strong>und</strong> Fühlen geprägt <strong>und</strong> deformiert. Haß <strong>und</strong> Gewalt gegenüber Andersdenkenden fanden in den<br />
Köpfen der Menschen damals ihre Legitimation. Die Angst vor dem totalitären Staatsgefüge <strong>und</strong> das<br />
Mißtrauen zu seinen Mitmenschen breiteten sich in der Gesellschaft aus. Unter dem ständigen Einfluß des<br />
faschistischen Massenkultes wurden Kritik <strong>und</strong> Aufbegehren bis ins eigene Denken selbst zensiert. Die<br />
Menschen zogen sich in die Privatsphäre zurück. Sie vollzogen eine innere Emigration oder mußten<br />
emigrieren. Wissen <strong>und</strong> Ahnung um Rassenverfolgung <strong>und</strong> Gewalt gegen Andersdenkende brachte nur<br />
wenige Menschen zum Handeln. Wir erfahren durch die Aufarbeitung der Zeit des Stalinismus aus den<br />
Zeitungen der Sowjetunion, wie Andersdenkende unter dem Deckmantel der marxistisch-leninistischen<br />
Ideologie verfolgt <strong>und</strong> ermordet wurden. Wir erleben in unserem Land, wie Menschen mit konstruktivkritischen<br />
Meinungen redualisiert <strong>und</strong> als Staatsfeinde verfolgt werden. Wir erleben Ausgrenzung <strong>und</strong><br />
Diskriminierung. Wie lange werden wir als mündige Bürgerinnen des ersten sozialistischen Staates auf<br />
deutschem Boden noch zusehen:<br />
Wenn Skinheads <strong>und</strong> einige Fußballfans neonazistische Parolen schreien? Wenn verfassungswidrige<br />
Ausländerfeindlichkeit gerade auch gegen das leidgeprüfte polnische Volk um sich greift?<br />
Wenn ein Vertreter der Kreisleitung der FDJ an der C.v.-Ossietzky EOS in Berlin, im Zusammenhang mit<br />
den Relegierungen <strong>und</strong> Schulstrafen gegen Schüler, die die offizielle „Speakers Corner“ zum friedlichen<br />
Meinungsstreit über die Situation in Polen <strong>und</strong> Militärparaden nutzten, sagte, man bemühe sich, um jeden<br />
zu kämpfen (z.B. um Grabschänder, Skinheads u.a.), aber in diesem Fall müßte die Trennung von<br />
eindeutig staatsfeindlichen Schülern erfolgen? 310<br />
Wenn die Freiheit der Presse, über alle gesellschaftlichen Bereiche zu berichten, durch die sogenannte<br />
Druckgenehmigungspraxis verhindert wird?<br />
Wenn junge Menschen, die sich anders kleiden als die Mehrheit der Bevölkerung, wie die Punks in<br />
Dresden wegen „unästhetischen Aussehens“ Ordnungsstrafen zahlen müssen oder physische Gewalt durch<br />
Polizisten erleiden müssen? 311<br />
Wenn Mitarbeiter der Kirche von unten in Weimar - wie z.B. Jörg Wilker - für ihr Engagement zur<br />
Aufklärung über IWF <strong>und</strong> Weltbank psychisch unter Druck gesetzt <strong>und</strong> physisch mißhandelt werden?<br />
Wenn Mitarbeitern kirchlicher <strong>und</strong> unabhängiger Gruppen - wie am 8.10.,1.11.,4.11. in Berlin <strong>und</strong><br />
zwischen dem 20.10. <strong>und</strong> 1.11. in Leipzig geschehen - auf Gr<strong>und</strong> ihres friedlichen Engagements <strong>und</strong> ihrer<br />
öffentlichen Meinungsbek<strong>und</strong>ung zugeführt <strong>und</strong> Ermittlungsverfahren wegen krimineller Handlungen<br />
angedroht werden? Wenn Schriftsteller - wie am 01.11. Johannes Bader - nach Lesungen, bei denen sie<br />
auch über gesellschaftliche Probleme informierten, polizeilich zugeführt <strong>und</strong> Manuskripte beschlagnahmt<br />
werden?<br />
Wenn wir das Gedenken an die Pogromnacht für uns annehmen, müssen wir unsere Verantwortung als<br />
Mensch wahrnehmen, die Verantwortung für die Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die<br />
Verantwortung für die Freiheit der Menschen in unserem Land; die Verantwortung für Frieden,<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung.<br />
Wir protestieren gegen neostalinistische Tendenzen in der Gesellschaftsstruktur der DDR. Wir<br />
protestieren gegen neonazistische Tendenzen im Denken <strong>und</strong> Handeln einiger Menschen dieses Landes.<br />
Wir fordern die Regierung der DDR auf, die Kriminalisierung <strong>und</strong> Ausgrenzung von Andersdenkenden,<br />
die die Würde des Einzelnen achten, zu beenden. Wir fordern einen öffentlichen Dialog aller<br />
gesellschaftlichen Kräfte, der Kritik <strong>und</strong> Selbstkritik einschließt, über alle Problemfelder dieses Landes.<br />
Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR. Leipzig, den 9. Nov. 1988<br />
105 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Durchschrift des Briefes vom Stellvertretenden Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres vom<br />
310 s. Grammes/Zühlke <strong>und</strong> J. Kalkbrenner<br />
311 Diese <strong>und</strong> die folgenden Informationen wurden schon am 7.11. im FG des AKSK bekanntgegeben.<br />
177
312<br />
11.11.1988 an Landesbischof Hempel , von H. Reitmann unterzeichnet. Auf dem Exemplar wurde<br />
handschriftlich vermerkt: „RdB“ (ABL H 53).<br />
Sehr geehrter Herr Landesbischof [/] Dr. Dr. hc. Johannes Hempel!<br />
Tiefbesorgt über die Entwicklung im Umfeld der Nikolaikirche Leipzig wende ich mich heute auf diesem<br />
Wege an Sie. Wie Ihnen bekannt ist, war die Nikolaikirche in jüngster Zeit wiederholt Gegenstand von<br />
Gesprächen, die ich mit Vertretern des Landeskirchenamtes Sachsens <strong>und</strong> des Kirchentags- <strong>und</strong><br />
Kongreßausschusses geführt habe. Mit Betroffenheit mußte ich zur Kenntnis nehmen, daß trotz dieser<br />
Gespräche eine weitere Eskalation der Ereignisse eingetreten ist. So ist es am 9.11.1988 während eines in<br />
der Nikolaikirche durchgeführten Friedensgebetes zur Verteilung von Schriftgut „Initiative zur<br />
gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ gekommen, das ich in der Anlage beifüge.<br />
Unglücklicherweise war es wieder Pfarrer Führer, der nicht mit der nötigen Sorgfalt sein Verhalten zur<br />
Begleitung der sich nach dem Gebet vollziehenden Ereignisse bestimmte.<br />
Sehr geehrter Herr Landesbischof!<br />
Ich gebe Ihnen die Sache in die Hand <strong>und</strong> bin mir gewiß, daß Sie alles tun werden, damit vom Umfeld der<br />
Nikolaikirche die konstruktiven Beziehungen zwischen der Sächsischen Landeskirche <strong>und</strong> den staatlichen<br />
Organen nicht weiter gestört werden.<br />
Anlage 313<br />
Hochachtungsvoll [/ gez.] Dr. Reitmann<br />
106 Stellungnahme<br />
Schriftliche Erklärung von Pf. Führer, die zu Beginn der langen Friedensnacht der Friedensdekade („Abend<br />
für den Frieden“, am 11.11.1988) in der Nikolaikirche verlesen wurde (ABL H 1).<br />
Liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> des Friedens!<br />
Der Abend für den Frieden hat begonnen. Am Anfang steht eine Erklärung, die seit spätestens gestern<br />
Abend nötig geworden ist. Wer regelmäßig von Sonntag bis gestern die Friedensgebete besucht hat, wird<br />
die eigenständigen Beiträge <strong>und</strong> Inhalte sowie die sehr unterschiedlichen Besucherzahlen registriert<br />
haben. Kein Pfarrer, auch ich nicht, hat sich in das Geschehen eingemischt. So konnte sich jeder Hörer<br />
sozusagen ein „unverfälschtes“ Bild davon machen, was unter dem Begriff „Friedensgebet“ geschah.<br />
1. Inwieweit die Informationen vom Sonntag <strong>und</strong> Montag 314 einer konstruktiven kritischen Absicht<br />
entsprangen oder gar dem Frieden dienten, möge jeder selbst entscheiden.<br />
2. Am Tag des Pogromgedenkens, Mittwoch, wurden am Ende des Friedensgebetes Blätter verteilt 315 ,<br />
ohne daß wir von dieser Tatsache, geschweige denn vom Inhalt auch nur andeutungsweise informiert<br />
worden sind. Wir können uns davon nur distanzieren. Einige scheinen unsere Kirche mit einem<br />
Warenumtauschplatz zu verwechseln.<br />
3. Was wir gestern Abend hier erlebten, läßt auch bei weitherzigster Auslegung den Begriff<br />
„Friedensgebet“ nicht mehr zu. Bibeltext, Gebet, Glaubensbezug überhaupt: Fehlanzeige. Statt dessen<br />
gab es - neben einem guten Einstieg <strong>und</strong> zwei inhaltlich durchdachten Beiträgen - einen bösen Angriff<br />
auf den vorherigen Jugendpfarrer, eine völlig sinnentstellte Darstellung der 83iger Vorgänge in unserer<br />
Kirche <strong>und</strong> ein sogenanntes Fürbittengebet, das zur Propagierung des Unglaubens, zu Tips für das<br />
Verhalten bei der nächsten Wahl <strong>und</strong> zu provokativ-politischen Appellen entartete. Wobei ich bei<br />
312 Am 10.11. hatte Jakel i.A. Reitmanns an das StfK ein IN-Telegramm gesandt, in dem über Flugblätter <strong>und</strong><br />
Schweigemarsch berichtet wurden. Dort heißt es: „Der Stellv. d. Vors. für Inneres des Rates des Bezirkes schlägt<br />
vor, Landesbischof Hempel brieflich über das Vorgefallene zu informieren <strong>und</strong> ihn aufzufordern, dafür Sorge zu<br />
tragen, daß die Leipziger Nikolaikirche nicht länger Ausgangspunkt für nichtgenehmigte Demonstrationen ist.“<br />
(StAL BT/RdB 21727)<br />
313 s. Dok. 104<br />
314 s. Dok. 104 <strong>und</strong> Anm. 311<br />
315 s. Dok. 104<br />
178
Provokationen dieser Art nach wie vor nicht weiß, von wem sie eigentlich kommen. Man kennt diese<br />
Menschen gar nicht... Die Kirche wurde zum Plenarsaal herabgewürdigt. Wie zum Hohn stand mir das<br />
Thema der Friedensdekade vor Augen: „Friede den Fernen <strong>und</strong> Friede den Nahen“.<br />
Sicherlich ist nun die Handvoll Personen, die unter dem Deckmantel einer Gruppe die Entchristlichung<br />
des Friedensgebetes betrieben, dicht vor ihrem Ziel. Andere wohl auch...<br />
Nun kann ich nur über all dem das Wort ausrufen Eph. 2, 14:<br />
„Christus ist unser Friede“. Möge ER heute <strong>und</strong> in den nächsten Tagen besonders unter uns sein.<br />
C.F., 17.30 Uhr [/ gez.] C. Führer<br />
107 Basisgruppenerklärung<br />
Schriftliche Stellungnahme des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ zur Erklärung von Pf. Führer, die im Anschluß<br />
an ein Podiumsgespräch während der Friedensnacht in der Nikolaikirche von Dr. B. Kohlbach verlesen wurde<br />
(ABL H 1).<br />
Wir als Mitarbeiter des Arbeitskreises Gerechtigkeit fühlen uns durch die Erklärung von Pfarrer Führer<br />
am Beginn des heutigen Abends ausgegrenzt. [/] Wir sind betroffen über diskriminierende Worte wie<br />
„unter dem Deckmantel von Gruppen“, <strong>und</strong> „der gestrige Abend wäre entartetes Friedensgebet“. [/] Wir<br />
hoffen nach wie vor, daß Christen <strong>und</strong> Nichtchristen ihr Denken in der Kirche äußern können. [/] Dieses<br />
Friedensgebet sollte Anstoß sein <strong>und</strong> nicht Anstoß werden. [/] Wir waren dankbar für ein konstruktives<br />
Gespräch zwischen Basisgruppen <strong>und</strong> Stadtkirchenleitung, der aber wird durch Ausgrenzungen <strong>und</strong><br />
Restriktionen, z.B. das Verbot, unsere Tafeln aufzustellen 316,<br />
behindert.<br />
Für die Sprecher des Arbeitskreises Gerechtigkeit zeichnen : 317<br />
[gez.] Thomas Rudolph gez. Bernd Oehler gez. Doreen Penno<br />
[... es folgen die jeweiligen Adressen]<br />
108 Stasi-Information<br />
Aktennotiz vom Leiter des Referates XX/4 der BV des MfS Leipzig (Major Conrad) vom 11.11.1988 zum<br />
Gespräch zwischen R. Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius über die Friedensgebete am 9./10.11.1988. Auf dem<br />
Exemplar wurde u.a. vermerkt „RdB“ (ABL H 53).<br />
Entsprechend der mit dem MfS abgestimmten Gesprächskonzeption erfolgte am heutigen Tage um 9.00<br />
Uhr die o.g. Gesprächsführung 318 . In Auswertung der „Friedensgebete“ vom 9.11.88 <strong>und</strong> 10.11.88 vertrat<br />
Sup. Magirius folgende Standpunkte/Meinungen:<br />
− Die politische Bewertung dieser Vorgänge sieht er gleichermaßen wie die staatlichen Organe.<br />
− Er sei sich im klaren darüber, daß sich eine Gruppe formiert habe, die sehr ernst zu nehmen ist, die eine<br />
politische Opposition darstellt.<br />
− Die staatlichen Organe würden die Namen dieser relativ kleinen Gruppe kennen (bezog sich auf<br />
vorhergehende Gespräche, in denen staatlicherseits Namen vorgegeben wurden). Es wären Leute, die<br />
jede Veranstaltung besuchen würden, egal welche Thematik stünde.<br />
− Sup. Magirius informierte über eine stattgef<strong>und</strong>ene Pfarrerkonferenz in Leipzig, in der ähnliche<br />
Einschätzungen diskutiert worden seien. Interessanterweise wäre dort Pfr. Wonneberger mit der<br />
Meinung aufgetreten, daß man nicht gleich von umstürzlerischen Aktivitäten sprechen solle, sondern<br />
von notwendigen „Reformbestrebungen“.<br />
316 Die 3 Tafeln gaben Informationen zur Ausreiseproblematik. Die AKG hatte mit Hilfe eines hektographierten<br />
Fragebogens („Mitglieder der Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte fordern die öffentliche<br />
Auseinandersetzung mit der Ausreiseproblematik <strong>und</strong> ihren Ursachen“) Material dazu erarbeitet. vgl. S. 183<br />
317 Nur von Thomas Rudolph unterzeichnet.<br />
318 Zu diesem Gespräch fand sich in den Unterlagen der Referate Kirchenfragen kein Bericht!<br />
179
− Sup. Magirius wisse, daß die entsprechenden Personen es darauf ankommen lassen wollen, daß etwas<br />
passiert (Eingreifen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane).<br />
− Die Zustimmung zur Verantwortlichkeit eigenständiger Gruppen für Veranstaltungen der<br />
„Friedensdekade“ resultiere daraus, daß in den Gruppen auch ehrliche Christen mitarbeiten, denen man<br />
eine Chance geben wolle. Im Interesse dieser Personen sei so eine Entscheidung gefallen. Es zeige sich<br />
aber, daß die Veranstaltungen „rigoros mißbraucht werden“.<br />
− Es zeichne sich ab, daß der Kirchenvorstand der Nikolaikirche nach der „Friedensdekade“ bei seiner<br />
Entscheidung bleibt, die „Friedensgebete“ wieder so wie vor der „Friedensdekade“ durchführen zu<br />
lassen. Es gäbe sogar Stimmen, die sich dahingehend äußern, daß man an einem Punkt angelangt sei,<br />
wo man die Kirche am liebsten schließen möchte.<br />
− In Auswertung der Teilnahme des Pfr. [...] am „Kerzenmarsch“ in die Gottschedstraße habe er ihm<br />
bereits klar gemacht, daß diese Handlungsweise politisch unklug gewesen sei. [...] habe sich davon<br />
leiten lassen, „Ärgstes verhüten zu wollen“ (Sup. Magirius sprach von politischer Dummheit des Pfr.<br />
[...]).<br />
Sup. Magirius versprach Gen. Sabatowska, noch heute alle verantwortlichen Pfarrer zusammennehmen zu<br />
wollen <strong>und</strong> eine entsprechende Auswertung vorzunehmen, mit der Zielstellung, „ärgste politische<br />
Auswüchse verhindern zu helfen“. Er wird Einfluß darauf nehmen, daß keine kirchlichen Amtsträger an<br />
öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten teilnehmen, „um dem Staat auch Handlungsspielraum zu geben“. [/]<br />
Probleme sieht Sup. Magirius für den 11.11.88 („Nacht für den Frieden“) <strong>und</strong> den 13.11.88<br />
(„Espenhaintag“ in der Reformierten Kirche), da der angesprochene Personenkreis wieder daran<br />
teilnehmen wird. Diese Kirche wird sich darauf einstellen. [/] Da Sup. Magirius heute außerhalb Leipzigs<br />
ist, wird er erst den zweiten Teil des heutigen Abends selbst mit wahrnehmen können. [/]<br />
Schlußfolgerungen aus den bisherigen Aktivitäten werden auch für den 16.11.88 (Einweihung eines<br />
Gedenksteins an der Parthe) gezogen. Diesbezüglich wird eine kirchliche Ordnungsgruppe zum Einsatz<br />
kommen. Sup. Magirius formulierte, daß er sich auch im klaren darüber sei, daß derartige Aktivitäten von<br />
den Westmedien mißbraucht werden. Er sei deshalb dankbar für das bisherige Verhalten der staatlichen<br />
Organe, die sich nicht provozieren ließen.<br />
109 Stasi-Information<br />
Operativinformation Nr. 245/88 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt<br />
(Oberst Schmidt) des MfS vom 12.11.1988, die u.a. an die Abteilung XX, die Lagegruppe <strong>und</strong> die Abteilung<br />
AKG der BV Leipzig gingen (BStU Leipzig AIM 1228/89 II/1, 162-172).<br />
Zum Verlauf der Friedensdekade im Verantwortungsbereich wurden durch die Partner des<br />
Zusammenwirkens folgende Informationen zu durchgeführten Maßnahmen der Vorbeugung <strong>und</strong><br />
Einflußnahme bekannt: [/] Am 11.11.88 erfolgte eine Aussprache durch den Stellvertreter des OBM, Gen.<br />
Sabatowska, mit dem Superintendenten Magirius, Friedrich [...] zum Vorkommnis der Verteilung von<br />
Flugblättern „Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ am 09.11.88 zum Friedensgebet in<br />
der Nikolaikirche. Durch den M. wurde geäußert, daß er das Schreiben als eine politische Provokation<br />
werte <strong>und</strong> analoge Positionen wie das Staatsorgan dazu vertritt. Er meinte jedoch, daß die Schreiben nicht<br />
in der Kirche, sondern außerhalb verteilt wurden. Er äußerte, daß ein Teil von Basisgruppen, dabei bezog<br />
er sich auf die 10 Personen, die wegen Provokationen zugeführt <strong>und</strong> befragt wurden, sowie der Pfarrer<br />
Wonneberger alle Möglichkeiten nutzen werden, bei Friedensgebeten <strong>und</strong> anderen Veranstaltungen<br />
provokativ im Sinne des Aufrufes aufzutreten, um ihre Interessen <strong>und</strong> Ziele durchzusetzen. Als Beispiel<br />
nannte er eine vor kurzem stattgef<strong>und</strong>ene Pfarrerkonferenz, bei der über die Herausbildung einer<br />
zahlenmäßig kleinen, aber ernst zu nehmenden politischen Oppositionen, die Konfrontation <strong>und</strong> Umsturz<br />
zum Ziel habe, gesprochen [wurde]. Dazu soll Pf. Wonneberger geäußert haben: „Na, man muß es nicht<br />
gleich Umsturz nennen, es wäre genau so gut, wenn man es Reformierung nennen würde.“ M. brachte<br />
seine Bereitschaft zum Ausdruck, „politische Angriffe abzubiegen“, aber was auf der Straße passiert,<br />
darauf könne er keinen Einfluß ausüben, der Staat solle dort Ordnung schaffen. Er äußerte Angst über<br />
180
Verlauf <strong>und</strong> Ergebnis des zu erwartenden „Abend für den Frieden“, wo er weitere Provokationen nicht<br />
ausschließt. Sup. [... geschwärzt] würde an der Veranstaltung teilnehmen, er selbst wäre in Wurzen, wolle<br />
aber abends in die Nikolaikirche kommen. [/] Zur Teilnahme des Pf. [... durch BStU geschwärzt] am<br />
Kerzenmarsch zur ehemaligen Synagoge sagte M., daß [... geschwärzt] nur mitgemacht habe, um das<br />
Schlimmere zu verhindern, Provokationen auszuschließen. Er persönlich schätzt dies jedoch als politische<br />
Dummheit des [... geschwärzt] ein. [/] M. entschuldigte sich aufgr<strong>und</strong> eines entsprechenden Hinweises<br />
durch Gen. Sabatowska dafür, daß durch die abgestellten Kerzen am jüdischen Gedenkstein zusätzliche<br />
Säuberungsarbeiten notwendig wurden. [/] In Anbetracht der „derzeitigen kritischen Situation“ will M.<br />
veranlassen, daß am 16.11.88 bei der Gedenktafelenthüllung Parthenstr. eine eigene kirchliche<br />
Ordnungsgruppe zum Einsatz kommt, um einen möglichen Mißbrauch der Veranstaltung zu verhindern.<br />
Zum Vorkommnis des Auffindens von 2 Handzetteln mit der Aufschrift „Leben, statt sich leben lassen -<br />
ein Tag ohne Frust für die Jugend - Trödelmarkt <strong>und</strong> Liedermacher - Erlös für die ‘Grüne Scheune’ -<br />
20.00 Uhr Treffen im Kirchenkeller - Kuchen mitbringen - 12.11.88 - Pauluskirche Leipzig-Grünau an der<br />
Kaufhalle <strong>und</strong> an der S-Bahnhaltestelle Leipzig-Grünau[„], wurde am 11.11.88 durch den Stellvertreter<br />
für Inneres des Stadtbezirkes Leipzig-West, Gen. Strauß, ein Gespräch mit dem Pfarramtsleiter der<br />
Pauluskirche [... geschwärzt] geführt. [/] Pfarrer [... geschwärzt], dem der Gesprächsgegenstand peinlich<br />
war, brachte zum Gespräch den Diakon der Pauluskirche [/.../] mit. [... geschwärzt] erklärte, daß zur<br />
Veranstaltung kein Aushang geplant war <strong>und</strong> lediglich 20 Handzettel in der Jungen Gemeinde verteilt<br />
wurden. Er entschuldigte sich für die Verbreitung von 2 Handzetteln im WK 4, Grünau, zukünftig will er<br />
den Gen. Strauß über derartige Veranstaltungen informieren. Die Vorbereitung für diese Veranstaltung sei<br />
unter Regie des Diakons [... geschwärzt] gelaufen. Dies würde [... geschwärzt] auch zu weit gehen, zumal<br />
er nicht umfassend informiert wurde. [/] Pfarrer [... geschwärzt] werde den Vorfall mit dem Diakon<br />
auswerten. [... geschwärzt] liege sehr viel an einem guten Verhältnis zum örtlichen Staatsapparat. [/] In<br />
der genannten Veranstaltung werden nur 20-30 Mitglieder der Jungen Gemeinde teilnehmen. Über die<br />
Person <strong>und</strong> den Namen des Liedermachers würden [... geschwärzt] keine Kenntnisse vorliegen, aber er<br />
garantiert, daß von der Veranstaltung keine Belastungen auf das Verhältnis Staat-Kirche ausgehen <strong>und</strong> er<br />
selbst an der Veranstaltung teilnimmt. Bei der „Grünen Scheune“, für die der Erlös des Trödelmarktes<br />
bestimmt ist, handelt es sich um ein Projekt im Bezirk Frankfurt/Oder. [/] Durch die KD Leipzig-Stadt,<br />
Ref. XX/2 werden inoffizielle Kontrollmaßnahmen zur Veranstaltung eingeleitet. [/] Zum Ablauf des sog.<br />
„Espenhaintages“ am 16.11.88 in der Reformierten Kirche wurde inoffiziell bekannt, daß durch die AG<br />
„Umweltschutz Leipzig“ (Basisgruppe des Jugendpfarramtes Leipzig) folgende Termine genannt wurden:<br />
13.00 Uhr 3 Einführungsvorträge<br />
14.00 Uhr Podiumsgespräch, anschließend Diskussionsgruppen<br />
17.30 Uhr ökumenischer Gottesdienst durch Pfarrer [... geschwärzt], Abendbrot<br />
19.30 Uhr [... geschwärzt] <strong>und</strong> Gruppe<br />
21.00 Uhr [... geschwärzt]<br />
Durch zielgerichteten IM-Einsatz zum „Abend für den Frieden“ am 11.10.88 in der Nikolaikirche wurden<br />
folgende Erkenntnisse verarbeitet. Als Teilnehmer wurden identifiziert: [... Es folgen über 3 Seiten mit 43<br />
Namen, fast immer neben dem Namen auch Geburtsdatum, Beruf <strong>und</strong> Angaben über die Dienststelle des<br />
MfS, die die jeweilige Person „erfaßt“ hatte.]<br />
Die Eröffnung der sog. „Langen Nacht“ erfolgte mit Begrüßung <strong>und</strong> Friedensgebet durch den [/]<br />
Gemeindepfarrer [... geschwärzt], der [... geschwärzt] <strong>und</strong> einer weiteren männlichen Person. Die [...<br />
geschwärzt] fungierte des weiteren als Ansagerin der einzelnen Veranstaltungsteile zusammen mit der [...<br />
geschwärzt]. Nach dem ersten Friedensgebet (FG) ergriff Pfarrer [... geschwärzt] das Wort. [...<br />
geschwärzt] erklärte seine Distanz zu den Ereignissen am Mittwoch <strong>und</strong> Donnerstag während bzw. nach<br />
den Friedensgebeten. Am Mittwoch sei ein Papier verteilt wurden, wozu nicht seine Genehmigung vorlag.<br />
Das FG am Donnerstag habe 1-2 konstruktive Beiträge enthalten, aber die anderen Ausführungen könne er<br />
nicht billigen. Da hätten Einzelpersonen <strong>und</strong> nicht eine Basisgruppe gesprochen. Er sei auch enttäuscht,<br />
daß Pfarrer [... geschwärzt] verunglimpft wurde 319 . [/] Er habe jeden Tag am FG teilgenommen <strong>und</strong> habe<br />
gehofft, daß die Basisgruppen ihre Chance nutzen würden, aber das FG wurde aufs schärfste mißbraucht,<br />
319 vgl. Dok. 106<br />
181
es fehlten Gebete, Segen <strong>und</strong> Vater unser. Der Kerzenmarsch war hinter seinem Rücken organisiert<br />
worden, dieser war nicht abgesprochen. Am Donnerstag fand er es unverschämt, zu Fürbitten aufzurufen,<br />
<strong>und</strong> dann sprechen Antragsteller ihre politischen Haltungen aus. Unverschämt fand er, daß er eine Kerze<br />
überreicht bekam mit der Aufforderung, sich mit vor die Kirche zu stellen. Er äußerte, wir werden uns<br />
überlegen müssen, wie die Friedensgebete weitergehen, der KV der Nikolaikirche wird sich vorbehalten,<br />
Entscheidungen zu treffen.<br />
An der sog. Klagemauer kam [... geschwärzt] mit einer männlichen Person im ÜSE [sic!] in ein Gespräch,<br />
in dessen Verlauf sich ca. 25 Personen beteiligten. [... geschwärzt] wurde gefragt, wieso er dagegen sei,<br />
daß sich Ausreiseleute mit ihren Problemen an die Kirche wenden. [/...] ist nicht dagegen, aber es darf in<br />
der Kirche keinen Kampf ums Mikrofon geben. Solche Personen, wie sie am Donnerstag im FG<br />
aufgetreten sind, habe er noch nie in der Kirche gesehen, sie gehören keiner Gruppe an <strong>und</strong> hätten sich<br />
nicht mit ihren Problemen an ihn gewandt. [... geschwärzt] stellte zugleich fest, daß er als Pfarrer viele<br />
Aufgaben hat <strong>und</strong> nicht für ÜSE abgestellt ist. Er habe jedoch immer Zeit für persönliche Gespräche. Es<br />
darf aber nicht vorkommen, daß ein FG, wie geschehen, für Probleme der Wahlen <strong>und</strong> großer Politik<br />
mißbraucht wird. [/] An [... geschwärzt] wurde weiterhin die Frage gestellt, wie eine Äußerung des<br />
Pfarrers [... geschwärzt] in der Nordkapelle bezüglich der Betreuung von ÜSE zu verstehen sei. [/] Pfarrer<br />
[... geschwärzt] würde sich für die Betreuung <strong>und</strong> Beratung von ÜSE einsetzen, aber als Pfarrer leidet er<br />
auch unter Zeitmangel. Nach Kenntnis von [... geschwärzt] ist Pfarrer [... geschwärzt] jedoch immer<br />
bereit, Termine für Absprachen zu vergeben. Ein ÜSE stellte die Frage an [... geschwärzt], er versteht<br />
nicht, daß die Antragsteller ausgegrenzt werden. [... geschwärzt] entgegnete, die Antragsteller schließen<br />
sich zwar teilweise den Gruppen an, aber arbeiten dort nicht echt mit. Ihnen sind die Basisgruppen <strong>und</strong><br />
spektakuläre Aktionen nur Mittel zum Zweck der Übersiedlung. Die Antragsteller spielen die Gruppen<br />
<strong>und</strong> deren Arbeit auch leichtfertig aus. Dieses Gruppengespräch mit Pfarrer [... geschwärzt] dauerte ca. 40<br />
Minuten.<br />
Das Friedensgebet 19.00 Uhr wurde durch den [... geschwärzt] <strong>und</strong> den [... geschwärzt] gehalten, 20.00<br />
Uhr fungierten [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Die FG 20.00 Uhr <strong>und</strong> 23.00 Uhr wurden durch den<br />
Kath. Friedenskreis Leipzig-Grünau-Lindenau unter Beteiligung von [... geschwärzt], dessen Frau <strong>und</strong><br />
einem ehemaligen kath. Priester <strong>und</strong> dessen Ehefrau gehalten. Die FG der Katholiken waren rein<br />
theologisch aufgebaut.<br />
Ca. 22.15 Uhr wurde in der Nordkapelle durch die [... geschwärzt] ein Essay „Freiheit“ verlesen, was<br />
durch die Quellen als gesellschaftsfeindlich eingeschätzt wurde.<br />
Das Podiumsgespräch fand im Vorderschiff mit ca. 150 Personen statt <strong>und</strong> wurde durch Pf. [...<br />
geschwärzt] geleitet. Beteiligt waren Sup. [... geschwärzt], Pf. [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Zum<br />
Thema „Macht in der Kirche - oder weiter so“ wurden Fragen zur Situation in der Kirche zum<br />
Machtmißbrauch der Kirchenleitung zur Abgrenzung zwischen Kirche <strong>und</strong> Basisgruppen, innerkirchliche<br />
Demokratie diskutiert. Insbesondere durch die [... geschwärzt] <strong>und</strong> den [... geschwärzt] wurde der Sup. [...<br />
geschwärzt] massiv angegriffen, die Superintendenten verhindern mit ihrer Machtposition eine produktive<br />
Arbeit in der Kirche <strong>und</strong> für die Gesellschaft. Durch Sup. [... geschwärzt] folgten Antworten mit<br />
Bibelgesprächen <strong>und</strong> Zitaten von Bonhoeffer <strong>und</strong> Luther, die bei den Zuhörern Mißfallen hervorriefen.<br />
Auf die Frage, wer denn konkret Vorschläge zur Veränderung der Arbeitsweise <strong>und</strong> Struktur der Kirche<br />
habe, der könne nach vorn kommen, nutzte dies u.a. der [... geschwärzt], der Freiheit <strong>und</strong> die Arbeit der<br />
Basisgruppen forderte, von der Kirchenleitung erwarte, daß sie diese Gruppen unterstütze <strong>und</strong> Sup. [...<br />
geschwärzt] solle nicht immer um den heißen Brei reden <strong>und</strong> klare Stellung beziehen. Sup. [...<br />
geschwärzt] sagte dazu: „Herr [... geschwärzt], vor ihnen waren schon welche da, die das Fahrrad<br />
erf<strong>und</strong>en haben, sie sind da nicht der erste“, was von niemandem verstanden wurde <strong>und</strong> Sprachlosigkeit<br />
zur Folge hatte. Eine weibliche Person ging darauf zum Mikrofon <strong>und</strong> bezeichnete [... geschwärzt] als<br />
arrogant <strong>und</strong> überheblich, ängstlich <strong>und</strong> unfair. Eine weitere weibliche Person äußerte, daß sie die<br />
Streiterei satt habe, da sollte ein sachlicher Dialog gef<strong>und</strong>en werden. Das sog. Podiumsgespräch brachte<br />
außer der Offenbarung der unterschiedlichen Standpunkte kein Ergebnis.<br />
Gegen 21.30 Uhr wurde durch den Prof. [... geschwärzt], BRD, ein Dia-Vortrag über die Lage in San<br />
Salvador gezeigt. Der Vortrag war ohne operative Relevanz.<br />
Durch ca. 6 Mitglieder der Gruppe „Abgrenzung <strong>und</strong> Hoffnung“ wurden vor ca. 60 Personen ein<br />
182
Programm, ca. 45 min., gestaltet, in dem Angriffe gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR<br />
gebracht wurden. Schwerpunkte waren dabei der Zwang der kommunistischen Erziehung der Kinder in<br />
der Schule <strong>und</strong> gesellschaftlichen Organisationen, die sie in Konflikte zu ihrer christlichen Erziehung<br />
bringen würden, Probleme der Unfreiheit in der DDR, die Unfähigkeit des Staates in Wirtschaft <strong>und</strong><br />
politischer Mißbrauch einer angeblichen Dialogpolitik der Regierung. Durch die Quelle konnte kein<br />
Mitglied der Gruppe personifiziert werden.<br />
In der Nikolaikirche wurden während der sog. „Langen Nacht“ folgende Materialien verteilt bzw.<br />
befanden sich folgende Aushänge <strong>und</strong> Aufsteller. Aushang der Arche „Greenway“ zu einem Reiseservice<br />
für Besuche <strong>und</strong> Gegenbesuche auf privater Basis. [/] Kontaktadresse: [/.../] Dazu ein Fragebogen,<br />
welcher Name, Geburtsname, Adresse, Telefonnummer, Beruf, Geburtsdatum, Interessen,<br />
Sprachkenntnisse, Mitglied einer Ökogruppe, Öko-Sehenswürdigkeiten der Heimatstadt,<br />
Übernachtungsmöglichkeiten u.a. persönliche Angaben abfordert.<br />
Aushang mit Hinweisen für Treffmöglichkeiten der sog. „offenen Arbeit“ der Kirchgemeinde Mockau.<br />
Von Seiten der Initiativgruppe „Hoffnung Nikaragua“ wurden folgende Materialien angeboten:<br />
− Projektinformation „Gummistiefel für Nikaragua“<br />
− IHN Post 3, März 88<br />
320<br />
− Siegfried Lenz „Rede zur Verleihung des Friedenspreises“<br />
− Bericht einer Reise - Dezember 1987<br />
Den genannten Materialien, die der KD Leipzig-Stadt im Original vorliegen, sind jeweils Zahlkarten für<br />
Überweisungen an die Aktionsgemeinschaft INKOTA beigefügt. [/] Die IHN bot weiterhin Zigarren,<br />
Grog, Kaffee <strong>und</strong> Grafiken zum Verkauf bzw. Versteigerung an.<br />
Der AK „Bausoldaten“ hatte Informationstafeln zum Thema „Wehrdienst“. Auf diesen Informationstafeln<br />
befanden sich Hinweise zum Wehrdienst, Bausoldatendienst in der NVA <strong>und</strong> zum „SoFD“ 321 . Es war der<br />
Hinweis, daß in der Zeit vom 25.-28.02.89 ein Wochenende für Beratung in Wehrdienstfragen stattfindet,<br />
Anmeldungen im Jugendpfarramt Leipzig aufgetragen. Eine Aufschrift auf den Tafeln zum Thema<br />
„Wehrdienst“ hatte den Inhalt, „Es ist fehl am Platz anzusprechen, die Synode, die Leute vom Stand, die<br />
Kirchenvorstände. Die Beratung interessierter Personen erfolgte durch den Leiter des AK [...<br />
geschwärzt].“<br />
Eine Wandzeitung beschäftigte sich mit „Abtreibung“. Für die Gestaltung dieser Wandzeitung wurde<br />
Material aus BRD-Zeitungen verwendet. Welche Basisgruppe verantwortlich zeichnete, war nicht zu<br />
erkennen.<br />
Seitens der [... geschwärzt] wurde eine Informationstafel „Kontakte aktuell“ mit einer Ausgabe der<br />
„Kontakte“ 322 , ihrer Adresse <strong>und</strong> der Bitte, bei Wunsch nach den „Kontakten“ frankierte Briefumschläge<br />
zuzusenden, gestaltet.<br />
An sog. Basisgruppenaufsteller befand sich neben dem operativ-bekannten Material ein Antwortbrief des<br />
Schriftstellers Stefan Heym, in dem dieser eine Absage für sein Kommen mitteilt, aber hofft, daß es später<br />
einmal klappt.<br />
Zur sog. „Klagemauer“ wurden folgende Erkenntnisse erarbeitet.<br />
An die „Klagemauer“ wurden mit Kreide folgende Texte geschrieben:<br />
− Hoch lebe der arrogante Superintendent<br />
− Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung<br />
− Ich gehe 1989 wählen<br />
− Frieden ohne Grenzen <strong>und</strong> Mauern<br />
− Der Auftritt des Pfarrer [... geschwärzt] als Maulkorb<br />
− Auftritt der Pfarrer unseriös <strong>und</strong> pharisäerhaft<br />
Durch den [... geschwärzt] wurden 2 Fotos 7x10 cm von einer Demonstration in Prag/CSSR an der<br />
„Klagemauer“ befestigt <strong>und</strong> dazu aufgetragen „Ist das Frieden? Prager Frühling 1988“. [/] Diese Fotos<br />
320 Informationsblatt der Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“ (ABL H Z 20)<br />
321 s. Anhang S. 376<br />
322 s. Anhang S. 387<br />
183
<strong>und</strong> die Unterschrift wurde durch Superintendent [... geschwärzt] entfernt <strong>und</strong> gleichzeitig ein Verbot an<br />
die AG [sic!] „Gerechtigkeit“ ausgesprochen, Plakate an der sog. „Klagemauer“ zu befestigen.<br />
Am Stand der AG „Umweltschutz“ befand sich [... geschwärzt] <strong>und</strong> [... geschwärzt]. Es lag eine Liste der<br />
Aktion „1 Mark für Espenhain“ 323 aus sowie eine Unterschriftensammlung für den neu zu erstellenden<br />
Antarktisvertrag 324 . [... geschwärzt] brachte gegenüber einer Quelle zum Ausdruck, daß er die letzten<br />
FG’e wegen der ÜSE <strong>und</strong> deren Störungen gemieden hat.<br />
Am Stand der Paketaktion für Tansania wurden u.a. von der [... geschwärzt] Fettschnitten <strong>und</strong> Gurken<br />
verkauft.<br />
Intern wurde zu einem IM von seiten des [... geschwärzt] <strong>und</strong> der [... geschwärzt] geäußert, daß der KV<br />
der Nikolaikirche <strong>und</strong> Pfarrer [... ] den Beschluß gefaßt haben, aufgr<strong>und</strong> der Vorkommnisse in den<br />
vergangenen Tagen nach der Friedensdekade keine FG durch Basisgruppen ausrichten zu lassen. [/] Im<br />
persönlichen Gespräch eines IM mit der [... geschwärzt] wurde erarbeitet, daß der nächste Treff des AK<br />
„Frauen für den Frieden“ am 14.11.88, 20.00 Uhr in der Nikolaikirche stattfinden wird. [/] Ein weiterer<br />
IM der KD Leipzig-Stadt führte mit dem [... geschwärzt] ein persönliches Gespräch zum FG am 09.11.88<br />
<strong>und</strong> der Verteilung des Blattes „Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“. [... geschwärzt]<br />
brachte zum Ausdruck, daß das Blatt aus der „Arbeit“ der Gruppe „Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> von Mitgliedern<br />
der IG „Leben“ <strong>und</strong> des AK „Solidarische Kirche“ entstanden sei. [... geschwärzt] sei in diesem Sinne<br />
Mitautor. Den Kerzenmarsch zum Gedenkstein Gottschedstraße hätte die „Initiative“ jedoch nicht<br />
vorbereitet. Dies sei eine von Antragstellern vorbereitete Sache gewesen, die bereits zum FG am 07.11.88<br />
propagiert wurde. [/] Einer anderen Quelle gegenüber äußerten die [... geschwärzt] <strong>und</strong> der [...<br />
geschwärzt], die Kerzenaktion zum FG am 09.11.88 wäre auf Initiative des AK<br />
„Gerechtigkeit“ entstanden. Die [... geschwärzt] habe in der Kirche das operativ-bekannte Papier<br />
„Initiative“ [... geschwärzt] verteilt <strong>und</strong> eine größere Menge des Papiers am Ausgang in der Nikolaikirche<br />
hinterlegt.<br />
Die eingesetzten Quellen verließen nach 24.00 Uhr den sog. „Abend für den Frieden“. Zu weiteren<br />
Erkenntnissen zur Veranstaltung erfolgt eine Ergänzungsinformation. Durch das Ref. AuI erfolgt die<br />
ZPDB-Einspeicherung des Sachverhaltes zu den für die KD Leipzig-Stadt erfaßten Personen.<br />
110 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
IN-Telegramm vom Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres beim RdB Leipzig (Reitmann, i.A. Jakel) an<br />
Löffler 325 , über ein Gespräch mit OKR Auerbach vom 14.11. (11.00 Uhr) (BArch O-4 1436).<br />
Informationsbericht ‘Friedensdekade’<br />
Zu 1<br />
Am Freitag, dem 11.11.1988, wurde Oberkirchenrat Auerbach im Landeskirchenamt der sächsischen<br />
Landeskirche in Dresden ein Brief des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig für<br />
Inneres an Landesbischof Dr. Hempel übergeben 326 . Dieser Brief bezog sich, wie bereits informiert, auf<br />
die jüngsten Ereignisse im Umfeld der Nikolaikirche zu Leipzig. In einem halbstündigen Gespräch<br />
wurden von Auerbach, der vom Bischof die Vollmacht hatte, den Brief zu öffnen, alle vorgebrachten<br />
Argumente akzeptiert <strong>und</strong> die vorgelegten Papiere ‘Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung...’ 327<br />
sowie die gemeinsame Erklärung der Initiativgruppe ‘Leben’ <strong>und</strong> des Arbeitskreises ‘Gerechtigkeit’ 328 als<br />
demagogisch bezeichnet. Er könne dem Bischof nicht vorgreifen, aber man werde den<br />
Landesjugendpfarrer Brettschneider beauftragen, in Leipzig nach dem Rechten zu sehen.<br />
323 s. Anhang S. 385<br />
324 Dies war eine Initiative von Greenpeace, für die in Leipzig u.a. auch in den „Streiflichtern“ geworben wurde.<br />
325 Solche Telegramm-Berichte wurden während der Friedensdekade jeden Tag - auch aus anderen Bezirken - an den<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen telegrafiert.<br />
326 s. Dok. 105<br />
327 s. Dok 104<br />
328 s. Dok. 99<br />
184
Die Veranstaltung am 11.11.1988 in der Nikolaikirche Leipzig ‘Abend für den Frieden’ beinhaltete<br />
verschiedene Programmteile <strong>und</strong> wurde vom Jugendkonvent Leipzig geleitet. Zu Beginn verlas Pfarrer<br />
Führer eine Erklärung, die sich gegen den bisherigen Mißbrauch der Friedensdekade durch Gruppen <strong>und</strong><br />
Personen wandte. Schwerpunkt der Veranstaltung war ein 1 1/2-stündiges Podiumsgespräch unter dem<br />
Thema ‘Kirche <strong>und</strong> Macht’. Hier nahmen teil: Landesjugendpfarrer Brettschneider, Superintendent<br />
Richter <strong>und</strong> Jugendpfarrer Kaden. Die massiven Angriffe gegen Sup. Richter wegen seiner konsequenten<br />
Haltung gegen Mißbrauch der Kirche wurden von bekannten Vertretern sogenannter Basisgruppen <strong>und</strong><br />
Übersiedlungsersuchstellern vorgetragen. Angriffe wurden gleichfalls gegen überholte Machtstrukturen<br />
der Kirche vorgetragen. Landesjugendpfarrer Brettschneider ist nicht gegen diese Angriffe aufgetreten.<br />
Von Vertretern der Arbeitsgruppe ‘Gerechtigkeit’ <strong>und</strong> Übersiedlungsersuchstellern wurde eine<br />
Gegenerklärung verlesen mit der Forderung ‘Christen <strong>und</strong> Nichtchristen müssen Gelegenheit haben, sich<br />
in der Kirche frei äußern zu können’ 329 . An den Veranstaltungen haben ca. 200 Personen teilgenommen.<br />
[... es folgen weitere Berichte über die Friedensdekade]<br />
111 Basisgruppenerklärung<br />
Schriftliche Erklärung des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“ vom 14.11.1988, in der die Vorwürfe von Pf.<br />
Führer vom 11.11.1988 zurückgewiesen werden (ABL H 1).<br />
Am 10. November 1988 ist es im Zusammenhang mit dem Friedensgebet des „Arbeitskreises<br />
Gerechtigkeit“ zu Irritationen gekommen. Wir haben dies an der Erklärung von Pfarrer Führer am<br />
11.11. 330 <strong>und</strong> an der Reaktion verschiedener hauptamtlicher <strong>und</strong> ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeiter<br />
festgestellt. (Im Zusammenhang mit der Erklärung von Pfarrer Führer verweisen wir auch auf unsere<br />
Stellungnahme vom 11.11.) Es wurde Anstoß daran genommen, daß unter unserem Namen Antragsteller<br />
auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR <strong>und</strong> auf Übersiedlung in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland das Friedensgebet mitgestalteten. Wir teilen zum wiederholten Male mit, daß der<br />
„Arbeitskreis Gerechtigkeit“ aus einer Koordinierungsgruppe, der zugleich die Aufgabe des Sprechers<br />
obliegt, <strong>und</strong> aus Arbeitsgruppen zu verschiedenen Themen besteht. Die Mitarbeiter der „Arbeitsgruppe<br />
Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“, in der die Richtlinienkompetenz Nichtantragstellern<br />
obliegt 331,<br />
gestalteten das Friedensgebet des „Arbeitskreises Gerechtigkeit“ am 10. November.<br />
Die „Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“ versucht das Problemfeld Ausreise als ein<br />
gesamtgesellschaftliches aufzuarbeiten <strong>und</strong> innerkirchlich zu thematisieren. Sie versucht nicht die<br />
individuelle Ausreise eines einzelnen Antragstellers voranzutreiben. Wir hoffen mit dieser Erklärung<br />
verdeutlicht zu haben, daß Antragsteller „nicht unter dem Deckmantel von Gruppen“, sondern als fester<br />
Bestandteil des „Arbeitskreises Gerechtigkeit“ das Friedensgebet am 10.11. mitgestalteten.<br />
In diesem Zusammenhang ist es von Belang, daß in die Koordinierungsgruppe Antragsteller nicht<br />
aufgenommen werden, also eine Überbetonung des Themas Ausreise schon von der Struktur des<br />
Arbeitskreises her ausgeschlossen bleibt. Der „Arbeitskreis Gerechtigkeit“ ist aber davon überzeugt, daß<br />
in der Gesellschaft der DDR über die Ursachen des Problems Ausreise mehr als zuvor nachgedacht<br />
werden muß. Für die Sprecherinnen des Arbeitskreises Gerechtigkeit zeichnen:<br />
[gez.] Gesine Oltmanns gez. Katrin Hattenhauer gez. Doreen Penno<br />
[... es folgen die jeweiligen Adressen]<br />
112 Stellungnahme<br />
Schriftliche Stellungnahme von Pf. Führer an den Arbeitskreis „Gerechtigkeit“, den Bezirkssynodalausschuß<br />
329 vgl. oben S. 179<br />
330 s. Dok. 106<br />
331 Für die Arbeit mit Ausreisewilligen war vor allem D. Penno (IMB „Maria“) zuständig (Erklärung der<br />
'Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit' - ABL H 2)<br />
185
<strong>und</strong> die Leipziger Gruppen zur Stellungnahme vom Arbeitskreis „Gerechtigkeit“ vom 16.11.1988 (ABL H 1).<br />
Stellungnahme zur Stellungnahme des Arbeitskreises Gerechtigkeit, die im Anschluß an das<br />
Podiumsgespräch am 11.XI. 1988 in der Nikolaikirche von Frau Dr. Babette Kohlbach verlesen wurde<br />
Frau Doreen Penno [/] Herrn Bernd Oehler [/] Herrn Thomas Rudolph<br />
Zunächst sende ich Ihnen die Ablichtung des Originals meiner Erklärung vom 11.XI.1988 um 18.00 Uhr<br />
in der Nikolaikirche zu332 . Daraus ersehen Sie, daß Sie falsch zitieren („der gestrige Abend wäre<br />
entartetes Friedensgebet“), so daß eine tendenziöse Absicht Ihrerseits deutlich wird. Bei Personen Ihrer<br />
Intelligenz, ich denke besonders an die klugen Ausführungen zur „Verwesung des Wortes“ 333 , darf ich<br />
wohl annehmen, daß Ihre Wortwahl nicht zufällig ist. Sodann w<strong>und</strong>ere ich mich nach wie vor, daß Sie so<br />
anklagend bei uns einfordern, wozu Sie <strong>und</strong> andere gerade in unserer Kirche die Möglichkeit haben: sich<br />
mit Ihrem Denken ungestört von Zwischenfällen äußern zu können. Im Rahmen kirchlicher Gruppen ist es<br />
geradezu unangetasteter Gr<strong>und</strong>satz, daß jeder sein Denken äußern <strong>und</strong> diskutieren kann.<br />
Ein Friedensgebet in der Kirche hat anderen Charakter. Es dient in jedem Fall der Verkündigung des<br />
Evangeliums im weitesten Sinn. In einer Kirche werden Menschen nicht aufgeputscht durch so richtig wie<br />
auch immer sein mögende politische Informationen am laufenden Band. Der Bezug zum Evangelium des<br />
gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen JESUS CHRISTUS muß erkennbar werden, damit Menschen zum Leben<br />
ermutigt werden.<br />
Öffentliches Reden in der Kirche muß verantwortliches Reden sein. Dafür gibt es Spielregeln, die<br />
eingehalten werden müssen. Ich werde Ihnen einige dieser in der Kirche geltenden Spielregeln<br />
benennen 334:<br />
− Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz<br />
CHRISTI als Wort von der Versöhnung nicht widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote<br />
Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“ wollen.<br />
− Sie müssen bereit sein, sich in den kirchlichen Kontext zu stellen. D.h.: Sie müssen sich kritisch<br />
anfragen lassen. Das bedeutet keine Vorzensur von Texten, wohl aber sind die Erwartungen der Kirche<br />
rechtzeitig so deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß eine kritische Auseinandersetzung, wenn nötig<br />
auch noch in der Veranstaltung selbst, nicht als Verstoß gegen die Gastfreiheit mißdeutet werden kann.<br />
− Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibung, die<br />
lediglich in Ausweglosigkeit endet, widerspräche der geforderten Mindestübereinstimmung mit dem<br />
Auftrag der Kirche.<br />
− Auch die Formen des Auftretens müssen mit den Inhalten in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B.<br />
Herabwürdigung anderer oder Formen der Auseinandersetzung.<br />
− Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es muß<br />
Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet werden.<br />
− Unter Beachtung dieser Kriterien muß dann allerdings in der Kirche auch Raum sein für unbequeme<br />
oder anstößige Wahrheiten, die sich sonst nicht oder nicht genügend artikulieren können, ganz<br />
besonders dann, wenn Personen oder Gruppen dafür in Schutz zu nehmen sind.<br />
− Über die Aufnahme von Personen oder Gruppen in kirchliche Räume entscheidet der zuständige<br />
Rechtsträger. In der Gemeinde ist dies der Kirchenvorstand, der in allen sich aus diesen<br />
Gesichtspunkten ergebenden Fragen eng mit dem zuständigen Superintendenten zusammenwirkt.<br />
Kein Mitglied unseres Kirchenvorstandes einschließlich des Superintendenten <strong>und</strong> Pfarrers haben je Ihre<br />
Ausführungen gestört. Wir haben unsere Zeugnisse der Betroffenheit zu lange zurückgehalten. Und wenn<br />
wir sie, wie ich am Freitagabend, äußern, kommt sofort die Reaktion, in diesem Fall vom Podium aus. Da<br />
ich nicht im Podium vertreten war, hatte ich nicht einmal die Möglichkeit einer Richtigstellung. Sie<br />
332 s. Dok. 106<br />
333 Dies war eine Meditation von B. Oehler zum Gedenken an die Menschen, die im Nazideutschland ermordet<br />
wurden. In ihr hatte B. Oehler in poetischer Form Parallelen zwischen der Sprache des sogenannten „Dritten<br />
Reiches“ (Viktor Klemperer, LTI [Lingua Tertii Imperii], Halle 1957) <strong>und</strong> der den einzelnen verachtenden<br />
Sprachregelungen in der DDR gezogen. Leider ist das Manuskript dieser Meditation verloren gegangen.<br />
334 s. Anm. 356<br />
186
erzwingen immer wieder das letzte Wort. Verstehen Sie unter Demokratie <strong>und</strong> Gerechtigkeit dieses<br />
anmaßende, autoritäre Verhalten? Ich frage mich ernsthaft, wem Ihr Verhalten <strong>und</strong> Auftreten in der<br />
Nikolaikirche eigentlich dient, gewollt oder ungewollt.<br />
Zu einigen Einzelheiten Ihrer Stellungnahme:<br />
1. Sie nennen drei Namen (siehe oben) mit Adresse am Schluß als Sprecher des Arbeitskreises<br />
Gerechtigkeit. Unterzeichnet hat nur eine Person. Wie darf ich das verstehen?<br />
2. Sie schreiben: „Wir wären dankbar für ein konstruktives Gespräch zwischen Basisgruppen <strong>und</strong><br />
Stadtkirchenleitung ...“. Solch ein Gespräch ist seit längerer Zeit für den 21. Nov. 1988 zwischen<br />
Vertretern der Basisgruppen <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand bereits festgelegt, an dem der Unterzeichner<br />
Ihrer Stellungnahme selbst teilnimmt. Wie darf ich das verstehen?<br />
3. Das Verbot, Ihre Tafeln am Abend für den Frieden aufzustellen, war die Konsequenz aus dem<br />
vorhergegangenen Abend. Nach wie vor ist der Kirchenvorstand für das, was in der Nikolaikirche<br />
gesagt, getan <strong>und</strong> ausgestellt wird, verantwortlich.<br />
4. In Ihrer „Erklärung zum Friedensgebet am 10.11.88“ vom 14.XI.1988 stellen Sie fest: „Es wurde<br />
Anstoß daran genommen (gemeint ist meine Erklärung, d.U.), daß unter unserem Namen Antragsteller<br />
auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR ... das Friedensgebet mitgestalteten“. Das<br />
entspricht in keiner Weise der Wahrheit. Anstoß genommen habe ich daran, daß weder Bibeltext,<br />
Gebet, Segen noch überhaupt ein Glaubensbezug zu erkennen war, siehe weiter den Text meiner<br />
Erklärung.<br />
Eine Formulierung Ihres Schreibens spricht mich positiv an: „Dieses Friedensgebet sollte Anstoß sein <strong>und</strong><br />
nicht Anstoß werden“. In dieser Formulierung empfinde ich einen konstruktiven Ansatz. Wir geben die<br />
Hoffnung nicht auf, daß trotz aller Mißverständnisse <strong>und</strong> Verletzungen ein schmales Stück gemeinsamer<br />
Spur im Interesse all derer, die Nähe, Hilfe <strong>und</strong> Ermutigung in unserer Kirche suchen, zu finden ist. Ein<br />
Neuanfang ist nötig. Ist er auch möglich? Die Anerkennung der 7 „Spielregeln“ von beiden Seiten könnte<br />
die Chance des Neuanfangs der gestörten Beziehungen enthalten.<br />
Pfarrer [gez.] Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />
PS: Da dieses Schreiben gr<strong>und</strong>sätzliche Ausführungen enthält, sende ich Durchschläge davon an die<br />
Synodal- <strong>und</strong> Gruppenvertreter.<br />
113 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Antwortbrief von Bischof Hempel vom 15.11.1988 an den Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig,<br />
Reitmann, auf dessen Brief vom 11.11.1988. Im RdB ging der Brief laut Eingangsstempel am 18.11.1988 ein.<br />
Vorlage war eine Kopie dieses Briefes (ABL H 53).<br />
Sehr geehrter Herr Dr. Reitmann!<br />
Ihren Brief vom 11.11.1988 335 habe ich erhalten <strong>und</strong> mit Aufmerksamkeit gelesen. Auch haben wir das,<br />
was Sie schreiben, im Kollegium des Landeskirchenamtes besprochen. Daß Sie über die Entwicklung im<br />
Umfeld der Nikolaikirche Leipzig besorgt sind, haben wir Ihrem Brief deutlich <strong>und</strong> intensiv entnommen.<br />
Auch wir, auch ich, beobachten diese Entwicklung genau <strong>und</strong> bemühen uns, das Gehörte an unserem<br />
christlichen Auftrag zu prüfen. Es vergeht keine Woche, in der wir nicht im internen Gespräch<br />
Informationen <strong>und</strong> Meinungen besprechen. Auch ich werde jetzt mit einigen Vertretern des Montag-<br />
Gottesdienstes in der Nikolaikirche das Gespräch aufnehmen.<br />
Nach wie vor ist mir deutlich, daß die Themen, die in der Nikolaikirche verhandelt werden, eigentlich <strong>und</strong><br />
zuerst mit Vertretern des Staates besprochen werden sollten. Daß es den Montag-Gottesdienst in der<br />
Nikolaikirche gibt, sehen wir auch als eine Folge dessen, daß die dort Zusammenkommenden keinen<br />
anderen adäquaten Gesprächsort finden. Außerdem beruhen nach unserer Sicht einige der in diesem<br />
Bereich zur Sprache gebrachten Probleme unserer Gesellschaft auf Tatsachen. Es ist eine alte Erfahrung<br />
der Kirche, daß Schwierigkeiten, die im Raum der Kirche auf Tatsachen beruhen, mit Druck nicht<br />
wirklich aus der Welt zu schaffen sind. Diese Erfahrung bewegt uns auch.<br />
335 s. Dok. 105<br />
187
Ich biete Ihnen, sehr geehrter Herr Dr. Reitmann, - wenn Sie einverstanden sind - etwa für Januar 1989<br />
(im Dezember bin ich leider nicht in Sachsen) ein Gespräch zwischen uns an, zu dem ich dann einen<br />
Begleiter mitbringen möchte. Im mündlichen Gespräch kann man sich besser erklären als schriftlich.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Dr. Hempel<br />
114 Staatliche Einschätzung<br />
Auszug aus der Gesamteinschätzung des Stellvertreters des Vorsitzenden für Inneres RdB Leipzig vom<br />
17.11.1988 zur Friedensdekade 1988. Computerausdruck mit Vermerk über Versendung an das StfK von<br />
Jakel 336 . (StAL BT/RdB 21959 <strong>und</strong> in: BArch O-4 1436, ABL H 53).<br />
Die Veranstaltungen der Friedensdekade der ev. Kirchen verliefen auf dem Territorium des Bezirkes<br />
Leipzig in ihrer überwiegenden Mehrheit politisch ruhig.<br />
So war der Beginn der Dekade am 6.11.1988 in den meisten ev. Kirchen durch feierliche Gottesdienste in<br />
den Städten <strong>und</strong> Gemeinden unseres Bezirkes nur um ein weniges höher als zu den<br />
Sonntagsgottesdiensten eingeschätzt wird.<br />
Ausnahmen bilden die Städte Leipzig <strong>und</strong> Altenburg (Thüring. Landeskirche). Diese sich hier andeutende<br />
Differenzierung bestätigt sich auch in der Auslegung bzw. Umsetzung der inhaltlichen Orientierung des<br />
BEK für die Friedensdekade 1988 337 . Das Thema „Friede den Fernen, Friede den Nahen“, welches<br />
einerseits die kirchlichen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des faschistischen Pogroms <strong>und</strong> auf das<br />
Nachgehen von Spuren jüdischen Lebens ausrichtet, andererseits aber auffordert, heutige<br />
Herausforderungen zu erkennen <strong>und</strong> zu deren Überwindung notwendige Schritte zu unternehmen, bot<br />
bereits progressive als auch negative politische Auslegungsmöglichkeiten. Dies insbesondere unter dem<br />
Aspekt, daß in den Hinweisen des BEK zur Arbeit der Kirchgemeinden für die Friedensdekade vermerkt<br />
war: „... daß man nicht den Zwängen (polit. Regierungen) glaubt, aus denen ihre Macht handelt, wenn sie<br />
Grenzen zu Trennmauern der Bevölkerung ausbaut <strong>und</strong> Umstände zu Feindschaften hochtreibt“ 338 , neben<br />
anderen ähnlichen Feststellungen. Hier ergab sich bereits ein breites Feld von Anknüpfungspunkten für<br />
politisch-negative Kräfte. Darüber hinaus sind es die Ergebnisse der BEK-Synode 1988 sowie der<br />
Tagungen der ökumenischen Versammlungen von Dresden <strong>und</strong> Magdeburg, die den Verlauf der<br />
Friedensdekade beeinflußten, unmittelbar - wie bereits angedeutet - in der Stadt Leipzig mit dem<br />
Schwerpunkt Nikolaikirche <strong>und</strong> in der Stadt Altenburg.<br />
[...] Der absolute Schwerpunkt des sich gegenwärtig vollziehenden Differenzierungs- <strong>und</strong><br />
Polarisierungsprozesses innerhalb der ev. Kirchen <strong>und</strong> zugleich erhöhter Aktivität negativ politisch<br />
orientierter Kräfte bleibt die Stadt Leipzig. Auffällig ist, daß Veranstaltungen, die von loyalen oder<br />
progressiven Gruppierungen durchgeführt werden, eine zahlenmäßig geringe Besucherzahl aufwiesen, von<br />
einigen Teilnehmern als „langweilig, nicht die Herzen erregend“ bezeichnet wurden (z.B. Gestaltung des<br />
Friedensgebetes Nikolaikirche durch die AG Lateinamerika vor 60 Personen am 8.11.1988 oder die<br />
Veranstaltung der CFK am 12.11. 1988, wo nur 30 Teilnehmer erschienen). Anhand der<br />
Schwerpunktveranstaltungen in der Stadt Leipzig bestätigte sich erneut die Funktion der Nikolaikirche als<br />
Sammelbecken von Provokateuren <strong>und</strong> subversiven Kräften. So wurden die täglichen Friedensgebete in<br />
der Nikolaikirche durch die verschiedensten Gruppierungen <strong>und</strong> Arbeitsgruppen kirchlicher Gremien zu<br />
provokativen Angriffen gegen die Regierung <strong>und</strong> die Politik der DDR genutzt, die bis hin zu<br />
Demonstrativhandlungen auch außerhalb kircheneigener Räumlichkeiten geführt haben. An diesen<br />
336 Die Exemplare des MfS <strong>und</strong> des StfK wurden von Reitmann unterzeichnet. Das MfS-Exemplar trägt den<br />
Stempelaufdruck (des RdB!) „Dienstsache Exempl. Nr. 3/88 04“ <strong>und</strong> verschiedene Bearbeitungsspuren.<br />
337 Gemeint ist die 43seitige Materialsammlung zur Vorbereitung der Friedensdekade, die das Sekretariat des BEK<br />
herausgegeben hatte.<br />
338 In der Bibelarbeit von Christoph Hinz zu Epheser 2,11-18 hieß es: „Wir werden <strong>und</strong> wollen als Christen nicht<br />
politische Regierungen ersetzen. Aber wir glauben nicht den Zwängen, aus denen ihre Macht handelt, wenn sie<br />
Grenzen zu Trennungsmauern der Bedrohung ausbaut <strong>und</strong> Unterschiede zu Feindschaften hochtreibt.“ (ebenda,<br />
S. 8, zitiert in J. Israel (Hrg.), 221)<br />
188
Veranstaltungen <strong>und</strong> Aktivitäten beteiligten sich auch zahlreiche Übersiedlungsersuchende, zum Teil aktiv<br />
auftretend, wie z.B. der Kinderarzt Dr. Winterstein. In der Veranstaltung „Ein Tag für Espenhain“ am<br />
13.11.1988 forderte er vor ca. 300 Zuhörern dringlich politische Veränderungen in der DDR, die in Polen,<br />
Ungarn <strong>und</strong> in der UdSSR bereits eingeleitet worden seien, <strong>und</strong> verlangte, daß endlich die Folgen der<br />
Umweltverschmutzung für Kinder beseitigt werden müssen, besonders im Gebiet Espenhain, Böhlen,<br />
Borna, das entsprechend seiner Umweltbelastung nach UNO-Einschätzungen als Wohngebiet ungeeignet<br />
sei. Er wisse, führte er weiter aus, daß diese Gesellschaft mehr Potenzen hat <strong>und</strong> sofort einschneidend die<br />
Lage verbessern könnte, wenn Schwerpunkte anders gesetzt würden.<br />
Am 9.11.1988 nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche wurden Handzettel einer „Initiative zur<br />
gesellschaftlichen Erneuerung in der DDR“ verteilt <strong>und</strong> eine nichtgenehmigte Demonstration vom<br />
Nikolaikirchhof durch die Leipziger Innenstadt zum Gedenkstein für die jüdischen Opfer durchgeführt, an<br />
der ca. 80 Personen einschließlich Pfarrer Führer teilnahmen. Im Ergebnis dessen wurde der Gedenkstein<br />
für jüdische Opfer in einen unwürdigen Zustand versetzt (hinterlassener Müll <strong>und</strong> Kerzenstummel), der<br />
durch die staatlichen Organe unter Einsatz zusätzlicher Reinigungskräfte angesichts der laufenden<br />
Feierlichkeiten beseitigt werden mußte, um das ehrende Gedenken an die Opfer faschistischen Ungeistes<br />
zu bewahren.<br />
Aufgr<strong>und</strong> dieser Ereignisse richtete der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres<br />
ein persönliches Schreiben an Landesbischof Dr. Hempel 339 , welches durch Oberkirchenrat Auerbach<br />
direkt entgegengenommen wurde. Auerbach distanzierte sich im persönlichen Gespräch von solchen<br />
Aktivitäten, nannte sie demagogisch, wolle aber seinem Landesbischof nicht vorgreifen. Das<br />
Landeskirchenamt habe angesichts dieser Ereignisse Landesjugendpfarrer Brettschneider beauftragt, in<br />
Leipzig nach dem Rechten zu sehen.<br />
Am 11.11.1988 erhielt der Sektor Kirchenfragen beim Rat des Bezirkes Leipzig postalisch eine in Berlin<br />
abgestempelte Erklärung (siehe Anlage 340 ), mit einem Protest gegen die Befragung von Personen, die sich<br />
der Friedens- <strong>und</strong> Bürgerrechtsbewegung zugehörig fühlen. Die Unterzeichner sind Vertreter der<br />
Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des Arbeitskreises „Gerechtigkeit“, die auch wesentlich die provokatorischen<br />
Veranstaltungen innerhalb der Friedensdekade bestimmt haben. Beide Gruppen stellen nur einen<br />
Ausschnitt einer Vielzahl sogenannter kirchlicher Basisgruppen dar, wobei allen gemeinsam ist, daß sie<br />
ihre Angriffe sowohl gegen den Staat als auch gegen die Kirchenleitungen richten. Dies wurde u.a. auch in<br />
einem Podiumsgespräch am 11.11.1988 in der Nikolaikirche deutlich sichtbar, wo unter Teilnahme des<br />
Superintendenten Richter, des Landesjugendpfarrers Brettschneider <strong>und</strong> des Jugendpfarrers Kaden mit<br />
Vertretern von Basisgruppen das Thema „Wie verhält sich die Kirchenleitung zu Basisgruppen“ zur<br />
Diskussion stand. Die anwesenden Amtsträger, besonders Sup. Richter, brachten zum Ausdruck, daß<br />
− die derzeitigen Basisgruppen nicht die kirchliche Basis repräsentieren <strong>und</strong> dies auch nicht können, da<br />
viele ihrer Mitglieder keiner Kirchengemeinde angehören:<br />
− das Wollen die meisten der Basisgruppenmitglieder zwar begrüßenswert wäre, da es ihnen um<br />
Veränderungen im Sinne der Menschen ginge, aber die Form der Durchsetzung ihrer Forderungen<br />
nicht akzeptabel sei, sie sollten das Machbare kompetenten Leuten überlassen,<br />
− Angriffe gegen Kirchenstrukturen seien unrealistisch, denn wenn Basisgruppen zustandekommen <strong>und</strong><br />
lange Zeit zusammen sind, werden sie feststellen, daß sich im Laufe der Dinge auch bei ihnen<br />
Strukturen herausbilden <strong>und</strong> verfestigen.<br />
Im Ergebnis dieser Feststellungen kam es, wie bereits informiert, zu Angriffen gegen die Person des Sup.<br />
Richter durch Basisgruppenvertreter.<br />
Gleichfalls als Reaktion auf den Brief des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für<br />
Inneres an Bischof Hempel muß die Aussage des Pfarramtleiters der Nikolaikirche, Pfarrer Führer,<br />
gewertet werden, der sich am Abend des 11.11.1988 von den Ereignissen der Vortage, der<br />
Flugblattverteilung <strong>und</strong> den Demonstrationen distanzierte. Er betonte, daß seine Hoffnung, die<br />
Basisgruppen würden sich im Sinne der Friedensdekade profilieren, getäuscht wurde <strong>und</strong> der<br />
Kirchenvorstand der Nikolaikirche überlege, wie es jetzt weitergehen soll. Er habe viele Personen<br />
339 s. Dok. 105<br />
340 s. Dok. 99<br />
189
gesehen, die noch nie in der Kirche waren. Persönlich sei er zu individueller Seelsorge mit Antragstellern<br />
bereit, stelle aber fest, daß für Antragsteller die Tätigkeit der kirchlichen Basisgruppen nur Mittel zum<br />
Zweck sei.<br />
Keine besonderen oder politisch negativ zu bewertenden Aktivitäten sind aus den Kreisen Torgau,<br />
Delitzsch <strong>und</strong> Eilenburg (Kirchenprovinz Sachsen) bekannt geworden.<br />
Insgesamt muß eingeschätzt werden, daß die Kirchenleitung der Sächsischen Landeskirche bemüht ist,<br />
den festgeschriebenen Gr<strong>und</strong>sätzen des 6.3.1978 gerecht zu werden <strong>und</strong> auch in der Lage ist, ihre<br />
Amtsträger zu disziplinieren. Im Verhältnis zu den Basisgruppen <strong>und</strong> subversiven Kräften hat sie jedoch<br />
kein wirksames Konzept gef<strong>und</strong>en, um sich vor dem Mißbrauch der Religion <strong>und</strong> der Institution Kirche zu<br />
schützen. Das hat zur Folge, das der Polarisierungsprozeß innerhalb der Leipziger Ephorien sehr<br />
widersprüchlich verläuft, eine generelle Abgrenzung zu staatsfeindlichen Kräften praktisch nicht erreicht<br />
wurde. Bemerkenswert ist, das zunehmend Theologen sich nicht mehr öffentlich zu diesen Prozessen<br />
positionieren, sondern vielmehr einen Rückzug in die Wissenschaft antreten. Ähnliche Tendenzen zeigen<br />
sich auch bei Geistlichen mit loyalen bzw. progressiven Haltungen, die resignieren, nicht mehr an der<br />
Auseinandersetzung mit „diesen Chaoten“ teilnehmen <strong>und</strong> sich auf ihre Gemeinden beschränken, um<br />
wenigstens dort religiös zu arbeiten.<br />
115 Gesprächsprotokoll<br />
Protokoll eines Treffens zwischen Vertretern der Kirchenleitung <strong>und</strong> Vertretern von Leipziger Basisgruppen<br />
am 21.11.1988, 14.00 Uhr, im Missionshaus Leipzig von C. Führer. Xerokopie des Typoskripts (ABL H 1)<br />
Anwesend: Landesbischof Dr. J. Hempel [/] Frl. G. Oltmanns, Frau B. Moritz, die Herren Th. Rudolph, J.<br />
Lässig, . Müller, A. Radicke, Szynkowski (Name nach Gehör), E. Dusdal [/] Oberkirchenrat D. Auerbach,<br />
Superintendent F. Magirius, Superintendent J. Richter, Stadtjugendpfarrer K. Kaden, Studentenpfarrer M.<br />
Barthels, Pfarrer C. Führer<br />
Anlaß des Gespräches war der von 8 Personen unterzeichnete Brief an Herrn Landesbischof vom<br />
05.IX.1988 341 . Landesbischof Dr. Hempel eröffnete nach der Vorstellung der Teilnehmer das Gespräch<br />
mit der Frage: So kann es in Nikolai nicht weitergehen.“ Dazu gab es, wenn auch aus sehr<br />
entgegengesetzten Gründen, breite Zustimmung.<br />
Der erste Gesprächsgang befaßte sich mit dem Problemkreis Wortverkündigung <strong>und</strong> Macht. Beklagt wird<br />
der Mangel, sachlich über die Probleme sprechen zu können. Bedauert wird, daß die „Gruppen“ von<br />
eigenständiger Wortverkündigung ausgeschlossen sind. Demgegenüber wird festgestellt, daß es die jetzt<br />
beklagten Spannungen immer gab, daß sie sich lediglich verlagert haben.<br />
Verletzungen werden ausgesprochen. Beklagt wurde der Umgang einzelner aus den Gruppen mit der<br />
Wahrheit <strong>und</strong> der Öffentlichkeit. Die Lage spitzte sich im Hin <strong>und</strong> Her zu. Landesbischof Dr. Hempel<br />
stellte fest, daß er von einem der Unterzeichner klar hintergangen wurde <strong>und</strong> verletzt worden ist 342 . Er<br />
muß weiterhin feststellen, daß er das Bild von Nikolai nicht klar bekommt. „Ein Friedensgebet, daß<br />
Symptome einer Parteiversammlung hat, muß ich verbieten - oder zurücktreten.“ Weiterhin bezeichnete er<br />
es als unwahr, unreal <strong>und</strong> unwissend, uns Amtsträger als angepaßte Leute zu benennen.<br />
Das Bemühen um Verstehen ging dennoch im Gespräch nicht verloren.<br />
Eine 10minütige Pause wurde zur Klärung untereinander genutzt.<br />
Einige der Gruppenvertreter bzw. Unterzeichner wollten in der verbleibenden Zeit über Öffentlichkeit,<br />
Toleranz <strong>und</strong> indirekte Gewalt gesprochen wissen.<br />
Die Gruppe der Amtsträger wollte über Grenzen sprechen.<br />
Die Feststellung des Landesbischofs, „daß wir dasselbe machen mit unterschiedlichen Instrumenten“,<br />
brachte keine Konvergenz.<br />
341 s. Dok. 76<br />
342 Hier war vermutlich A. Holicki gemeint, der wenige Tage zuvor innerhalb von 24 St<strong>und</strong>en die DDR verlassen<br />
mußte. Er hatte das erste Gespräch mit J. Hempel (am 05.09.1988) geführt. Er hatte im Verteiler des Offenen<br />
Briefes keine westlichen Nachrichtenagenturen genannt (Brief 17.09.1988), doch denen war der Brief bekannt.<br />
190
Schließlich markierte Landesbischof Dr. Hempel 3 Grenzen für Öffentliches Auftreten in einer Kirche, in<br />
St. Nikolai Leipzig:<br />
1. Wenn politische oder gesellschaftliche Wahrheiten nur werden ohne Deutung.<br />
2. Wenn im Gottesdienst oder einer Andacht Dinge geschehen (anonymes Verteilen von<br />
Druckerzeugnissen z.B.), für die bei Nachfrage niemand die Verantwortung übernimmt.<br />
3. Wenn M<strong>und</strong>tücher (Aufschrift „Sprechverbot“) umgelegt, die Orgel abgeschaltet etc. werden, Stilfragen<br />
berührt werden.<br />
Die ersten beiden Punkte bedeuten Grenzüberschreitungen, Punkt drei Befindlichkeit an der Grenze.<br />
Der Ernst der Situation wurde unüberhörbar, als er noch anfügte, daß es zu einer bischöflichen Weisung<br />
an den Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis kommt, wenn es so wie bisher (d.h. mit den bekannten<br />
Störfällen) weitergeht.<br />
Da der Protokollant das Friedensgebet an diesem Tag zu halten hatte, konnte er das Ende des Gespräches<br />
nicht mehr abwarten. Ende der Aufzeichnung 16.10 Uhr. Pfarrer C. Führer<br />
116 Gesprächsprotokoll<br />
Bericht über ein Gespräch zwischen Basisgruppenmitgliedern <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand der<br />
Nikolaikirchgemeinde am 21.11.1988. Typoskript von L. Ramson unterzeichnet (ABL H 1).<br />
Gespräch des KV [Kirchenvorstand] St. Nikolai mit Bezirkssynodalausschuß/Basisgruppenvertretern am<br />
21. November 1988<br />
Thema: Die Situation des Friedensgebetes in der Nikolaikirche<br />
KV vertreten durch: Pf. Christian Führer, Sup. Friedrich Magirius, Anne Lehnert, Ursula Pörner, Siegfried<br />
Grötsch, Wilfried Grünert, Dirk Eichelbaum, Lutz Ramson.<br />
Ausschuß/Gruppen vertreten durch: Pf. Berger, Pf. Wonneberger, Gerd Klenk, André Bootz, Johannes<br />
Fischer, Thomas Rudolph, Edgar Dustal [sic!], Peter Kranz 343.<br />
Pf. Führer begrüßt Teilnehmer <strong>und</strong> äußert Erwartung, das Gespräch möge offen sein, alle sollten „hören<br />
<strong>und</strong> sehen“.<br />
Dann Vorstellungsr<strong>und</strong>e, Erwartungen der Teilnehmer an das Gespräch werden erfragt; alle sind<br />
aufgefordert, zu sagen, worüber gesprochen werden sollte.<br />
Stichworte:<br />
− zur Zukunft des Friedensgebetes<br />
− inhaltliche Klärung wäre nötig<br />
− gute Gedanken zur Zukunft werden gewünscht<br />
− wie geht es weiter? es möge weitergehen<br />
− über Absicht <strong>und</strong> Ziele des Friedensgebetes<br />
− über Zukunft des Friedensgebetes mit Ziel <strong>und</strong> Inhalt<br />
− Basisgruppen: ja oder nein?<br />
− Ängste <strong>und</strong> Bedenken sollten formuliert werden, um Pauschalurteile abzubauen, innerkirchliche<br />
Reibungsverluste sollten vermieden werden bzw. verringert<br />
− ein offenes Gespräch, Stereotypien sind zu vermeiden, als Ergebnis Modus vivendi, Rückkehr zu<br />
ähnlichen Formen wie in vergangenen Jahren<br />
− Basisgruppen sollten Friedensgebete gestalten <strong>und</strong> mitgestalten<br />
− Hintergründe sollten aufgezeigt werden sowie relevante politische Erwägungen<br />
− Basis der Verständigung sei der konziliare Prozeß 344,<br />
wo Inhalte vorgegeben seien<br />
− wie erlebt der Kirchenvorstand das Friedensgebet, Erwartungen des Kirchenvorstandes<br />
− Friedensgebet sollte weitergehen mit Form <strong>und</strong> Bedingungen, die alle akzeptieren<br />
343 Die Gruppenvertreter wurden am 19.11.1988 durch den BSA bestimmt (ABL H 2). Dort waren jedoch M. Schiel<br />
<strong>und</strong> C. Motzer an Stelle von G. Klenk <strong>und</strong> F. Richter gewählt worden.<br />
344 siehe Anhang S. 370<br />
191
− Wunsch nach klaren Definitionen<br />
Anschließend wurde Dr. Berger gebeten, seine Überlegungen zum politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Hintergr<strong>und</strong> des Friedensgebetes vorzutragen. Er machte auf die Schutzfunktion der Kirche im weitesten<br />
Sinne aufmerksam, insbesondere im Zusammenhang mit der Ausreiseproblematik.<br />
Danach Diskussion. Verschiedene Meinungen wurden deutlich.<br />
Stichworte:<br />
− Friedensgebet <strong>und</strong> Arbeit der Gruppen sei älter als aktuelle Problematik, Friedensgebet würde durch<br />
Ausreisethema überlagert, dies würde von Gruppen als Defizit erfahren; durch zu rasches Eingreifen<br />
der Kirchenleitung würde Erfahrung <strong>und</strong> Auseinandersetzung der Gruppen untereinander verhindert<br />
(Selbstregulierung), eigene Strukturen könnten nicht gef<strong>und</strong>en werden. Als Lösung beide Anliegen in<br />
einer Veranstaltung oder Entflechtung.<br />
− Konsens wäre nur als Mittelmaß möglich, Mittelmaß wäre dann der Maßstab für das Mögliche, warum<br />
nicht in Leipzig Konsens wie woanders auch (Berlin). Friedensgebet seit Januar 1988 sei anders erlebt<br />
worden als durch Pf. Führer dargestellt. Es müßten mehr Gemeindemitglieder am Friedensgebet<br />
teilnehmen.<br />
− Kirche kann kein Probierfeld sein oder werden, wo sind die Schwerpunkte? Gruppen oder<br />
Schutzfunktion? Erfahrungen aller seien wichtig. Gr<strong>und</strong>konsens ist das Evangelium aber wie geht es<br />
weiter?<br />
− Versuch der Entflechtung sei durch praktische Schwierigkeiten gescheitert (zu große Zahlen),<br />
Zusammenarbeit würde scheitern durch einzelne Vertreter von Gruppen, die etwas „losmachen“<br />
wollten, Konsens sei mißbraucht worden, kein Vertrauen mehr in den Konsens. Friedensgebet als<br />
Ermutigung zum Leben vom Evangelium her.<br />
− Es sei zum unterschwelligen Hintergehen durch unklare Spielregeln gekommen, dadurch<br />
Unsicherheitskomponente.<br />
Es schließt sich an eine Diskussion von Verfahrensfragen sowie ein nochmaliges Benennen<br />
unterschiedlicher Sichtweisen der Ereignisse um das Friedensgebet seit Januar 1988.<br />
Mahnung zur Konstruktivität.<br />
Als Ergebnis der Diskussion schließlich: mögliche Übereinstimmung Kirchenvorstand mit<br />
Gruppenvertretern/Synodalausschuß sollten als Antrag dem Kirchenvorstand zugehen. Als Gr<strong>und</strong>lage<br />
dieser Suche nach Übereinstimmung wird von Dr. Berger die im Brief des Kirchenvorstandes vom<br />
30.08.1988 an Synodalausschuß <strong>und</strong> Gruppen festgelegte Ordnung des Friedensgebetes eingebracht.<br />
1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai [/] 2. Lied [/] 3. Schriftlesung [/] 4. Auslegung<br />
durch einen ordinierten Pfarrer [/] 5. Gebet [/] 6. Informationen, Abkündigung [/] 7. Sendungswort [/] 8.<br />
Lied<br />
Zur Diskussion gestellt werden die Punkte 4 <strong>und</strong> 6, während die übrigen Punkte bereits als Inhalt einer<br />
nunmehr als möglich erscheinenden Übereinkunft betrachtet werden.<br />
Nach ausgiebiger Diskussion ergibt sich folgender Konsens:<br />
Das Friedensgebet sollte gestaltet werden von den im Synodalausschuß vertretenen Gruppen <strong>und</strong> einem<br />
ordinierten Pfarrer, der von den Gruppen gesucht wird.<br />
Eine Liste der jeweiligen Gruppen <strong>und</strong> Pfarrer soll durch den Synodalausschuß für jeweils ein Quartal<br />
erstellt <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand Nikolai einen Monat vor Beginn des entsprechenden Quartals vorliegen.<br />
Der Kirchenvorstand Nikolai seinerseits achtet darauf, daß keine Häufung von Gruppen oder Pfarrer in der<br />
Gestaltung des Friedensgebetes eintritt.<br />
Der Informationsteil sollte künftig verantwortet werden von:<br />
1. dem Begrüßungspfarrer, 2. dem Gruppenpfarrer, 3. einem Gruppenmitglied, 4. einem Mitglied des<br />
Kirchenvorstandes Nikolai.<br />
Der Informationsteil sollte von allen vier Partnern getragen werden. Bei Bedenken von Kirchenvorstands-<br />
Mitglied <strong>und</strong> Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die entsprechende Information kann<br />
am jeweiligen Montag nicht gegeben werden.<br />
Einen Antrag in diesem von beiden Seiten als Konsens betrachteten Sinn wird der<br />
Bezirkssynodalausschuß dem Kirchenvorstand Nikolai zur nächsten Sitzung am 05.XII.1988 zuleiten.<br />
192
117 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief des Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses an den Kirchenvorstand von St. Nikolai zur weiteren<br />
Ordnung der Friedensgebete vom 26.11.1988 345 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />
Betr.: Friedensgebete<br />
Nach dem Gespräch mit Vertretern des Kirchenvorstandes hat der Bezirkssynodalausschuß den Beschluß<br />
gefaßt, folgenden Antrag an den Kirchenvorstand zu stellen:<br />
Die Friedensgebete sollen wieder von den im Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen gestaltet<br />
werden. Als Gr<strong>und</strong>lage wird dafür nachstehende Ordnung als konsensfähig angesehen:<br />
1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai [/] 2. Lied [/] 3. Schriftlesung [/] 4. Auslegung durch<br />
einen Pfarrer <strong>und</strong> der jeweiligen Gruppe unter Verantwortung des Pfarrers [/] 5. Gebet [/] 6.<br />
Informationen, Abkündigungen [/] 7. Sendungswort [/] 8. Lied<br />
Zu 6: Die Verantwortung für den Informationsteil soll getragen werden: von Begrüßungspfarrer, 1<br />
KV-Mitglied, 1 Mitglied der jeweiligen Gruppe <strong>und</strong> Dr. Berger (bzw. einem Vertreter).<br />
Der Planungszeitraum soll 2 Monate betragen, wobei der Plan 1 Monat vor dem Zeitraum dem KV<br />
vorzuliegen hat. Die Aufstellung des Planes geschieht in Verantwortung des Bezirkssynodalausschusses.<br />
Nicht besetzte Termine werden von St. Nikolai wahrgenommen.<br />
Der Bezirkssynodalausschuß hofft auf eine konstruktive Zusammenarbeit.<br />
[gez.] M. Berger Vors.<br />
118 Beschwerde<br />
Durchschlag eines Briefes von F. Sellentin an den Leiter des VPKA Leipzig vom 30.11.1988 aufgr<strong>und</strong> einer<br />
Ordnungsstrafverfügung (ABL H 1) 346 .<br />
Am 24.10.1988 war ich Besucher des montäglichen Friedensgebetes in der Leipziger Nikolaikirche <strong>und</strong><br />
beteiligte mich zusammen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n aktiv an diesem Gottesdienst. In diesem Zusammenhang sollte in<br />
der Kirche eine Erklärung verlesen werden, die sich auf unsere Mitwirkung im Gottesdienst bezog.<br />
Unserem Anliegen, die Erklärung in der Kirche zu verlesen, wurde vom Superintendenten Magirius nicht<br />
stattgegeben. Um der Friedensgebetsgemeinde dennoch das Anliegen unserer Mitwirkung am<br />
Friedensgebet zu verdeutlichen, sah ich mich mit meinen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n genötigt, diese Erklärung im Anschluß<br />
an den Gottesdienst vor der Nikolaikirche zu verlesen. Etwa vier Wochen später wurde durch das VPKA<br />
Leipzig/Schutzpolizei gegen mich eine Ordnungsstrafverfügung festgelegt. Darin heißt es: „Sie haben am<br />
24. Oktober 1988 eine Ordnungswidrigkeit begangen, indem Sie in 7010 Leipzig, Nikolaikirchhof, an<br />
einer Zusammenkunft teilnahmen, durch die die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit beeinträchtigt wurde<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Interessen mißachtet wurden. Ordnungswidrigkeit nach §§ 4 Abs. 1 Ziff. 3 der<br />
OWVO vom 22. März 1984 (GBl. I Nr. 14 S. 173)<br />
Es wird daher gegen Sie als Ordnungsstrafmaßnahme eine Ordnungsstrafe von 400.- Mark (in Worten)<br />
Vierh<strong>und</strong>ert - Mark festgesetzt.<br />
Begründung: Wer vorsätzlich das sozialistische Zusammenleben der Bürger stört, indem er eine<br />
Zusammenkunft, die geeignet ist, gesellschaftliche Interessen zu mißachten oder die öffentliche Ordnung<br />
<strong>und</strong> Sicherheit zu beeinträchtigen, organisiert, in sonstiger Weise daran mitwirkt, kann mit Ordnungsstrafe<br />
belegt werden.“<br />
Gegen die Ordnungsstrafverfügung S/88 lege ich hiermit Beschwerde bei Ihnen ein. Die Begründung zu<br />
genannter Ordnungsstrafmaßnahme ist für meine Handlungsweise nicht zutreffend. Deshalb verwehre ich<br />
mich dagegen. Wie Sie meinem Befragungsprotokoll vom 26.10.1988 durch die Mitarbeiter des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit entnehmen können, war meine Entscheidung, auf dem Nikolaikirchhof<br />
345 Der Brief basiert auf einem Entschluß des BSA vom 25.11.1988 (ABL H 35)<br />
346 s.a. Dok. 98 <strong>und</strong> Dok. 124; Der Wortlaut der Beschwerde war mit allen anderen Betroffenen abgesprochen <strong>und</strong><br />
ist mit deren Beschwerde identisch.<br />
193
die gottesdienstliche Handlung zu beenden, eine spontane Reaktion auf die vorangegangenen Ereignisse in<br />
der Kirche. Ich sehe darin kein vorsätzliches Vergehen. Meine zweifelnde Anfrage im Hinblick auf die<br />
Berechtigung Ihrer Begründung bezieht sich auf die angebliche „Beeinträchtigung der öffentlichen<br />
Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit“ <strong>und</strong> die „Störung des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger“. Soweit ich<br />
mich erinnern kann, war zur Zeit des Verlassens der Kirche der Nikolaikirchhof menschenleer <strong>und</strong> zudem<br />
von zwei Baustellen begrenzt. Auch wurden der Straßenverkehr <strong>und</strong> die Anwohner in ihrem Privatleben in<br />
keinster Weise behindert. Mir ist nicht bekannt, daß eine Beschwerde von Bürgern, die sich im<br />
„sozialistischen Zusammenleben“ beeinträchtigt fühlten, gegen mich vorliegt. Ich empfinde es als normal,<br />
daß die Friedensgebetsbesucher nach dem Verlassen der Kirche zusammenstehen <strong>und</strong> sich austauschen.<br />
Wieso wird mir diesbezüglich vorgeworfen, die „öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit“ beeinträchtigt<br />
sowie das „sozialistische Zusammenleben der Bürger“ gestört zu haben?<br />
Im Artikel 28 der Verfassung der DDR heißt es, daß alle Bürger das Recht haben, „sich im Rahmen der<br />
Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln“. Weiter heißt es im Artikel 28: „Die<br />
Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur unbehinderten Ausübung dieses Rechts, der<br />
Versammlungsgebäude, Straßen <strong>und</strong> K<strong>und</strong>gebungsplätze, ... wird gewährleistet.“ Ich sehe hierin ein<br />
Diskrepanz zwischen diesen verfassungsmäßigen Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> der von Ihnen ausgesprochenen<br />
Ordnungsstrafmaßnahme. Es muß doch möglich sein, daß die in der Verfassung gegebenen Garantien<br />
auch für jeden Bürger persönlich erfahrbar sind, ohne daß er benachteiligt wird, wenn er von diesen<br />
verbürgten Rechten Gebrauch macht. Gleichzeitig protestiere ich gegen das willkürliche Bemessen von<br />
unterschiedlichen Ordnungsstrafmaßnahmen gegen einzelne Teilnehmer der Zusammenkunft am<br />
24.10.1988 auf dem Nikolaikirchhof, da dies eine schwerwiegende Verletzung der verfassungsmäßig<br />
geforderten Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz darstellt. Ich sehe, daß meine protokollarische<br />
Aussage in der Befragung durch die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit keinen<br />
entscheidenden Einfluß auf Ihre Entscheidungsfindung hatte. Hiermit bitte ich um Aufhebung der mir<br />
verkündeten Ordnungsstrafmaßnahme 347.<br />
[gez.] Frank Sellentin<br />
119 Flugblatt<br />
348<br />
Text eines Flugblattes , welches nach dem Friedensgebet am 05.12.1988 von einzelnen Gruppenvertretern<br />
(vor allem IG „Leben“) auf dem Nikolaikirchhof <strong>und</strong> später in Leipziger Briefkästen <strong>und</strong> öffentlichen<br />
Einrichtungen verteilt wurde (ABL H 1).<br />
10.Dezember - Internationaler Tag der Menschenrechte<br />
Am 10.12.1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung<br />
der Menschenrechte. Nach 40 Jahren müssen diese Rechte immer noch in diesem Land eingeklagt werden.<br />
Vermutlich wird gerade am 10.12 das öffentliche Eintreten für die Menschenrechte durch massive<br />
Demonstration staatlicher Sicherheitskräfte im Planquadrat L 9 (Stadtplan Leipzig, 9.Auflage, 1987) 349<br />
verhindert 350.<br />
347 Die Ordnungsstrafe wurde nicht zurückgenommen. Alle in dem genannten Zusammenhang belegten<br />
Ordnungsstrafen wurden nicht gezahlt, weshalb das MfS im Jahre 1989 Pfändungen vorbereitete. Dazu kam es<br />
jedoch unseres Wissens nicht mehr.<br />
348 Das Flugblatt hat A4 Format <strong>und</strong> wurde per Ormig-Matrize, Essig <strong>und</strong> kleinen Wäschemangeln hergestellt.<br />
349 Entspricht dem damaligen Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) zwischen Oper <strong>und</strong> Gewandhaus. Am<br />
10.12.1988 fand in der Oper eine Parteiaktivtagung der SED-Stadtleitung statt.<br />
350 Nachdem im November der Platz vor der Nikolaikirche als politische Bühne „erobert“ war, reifte bei<br />
verschiedenen Oppositionellen die Idee, eine Demonstration im Zentrum der Stadt zu organisieren. Als Termin<br />
war der „Tag der Menschenrechte“ anvisiert. Nach einer Kosten-/Nutzen-Abwägung wurde jedoch entschieden,<br />
darauf zu verzichten, <strong>und</strong> die Gründung einer „Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“<br />
ohne öffentliche Aktion geschehen zu lassen. So wurde nur dieses Flugblatt verbreitet. Am 10.12.1988 wurde<br />
jedoch der Karl-Marx-Platz mehrfach inspiziert, um die Resonanz des Flugblattes zu erk<strong>und</strong>en. Dabei wurden<br />
194
Art.1: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit<br />
Alle Menschen sind frei <strong>und</strong> gleich an Würde <strong>und</strong> Rechten geboren.<br />
Sie sind mit Vernunft <strong>und</strong> Gewissen begabt <strong>und</strong> sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit<br />
begegnen.<br />
Art.2: Verbot der Diskriminierung<br />
Art.3: Recht auf Leben, Freiheit <strong>und</strong> Sicherheit der Person. [...]<br />
Art.12: Freiheitssphäre des einzelnen<br />
Niemand darf willkürlich in seinem Privatleben, seiner Familie, seinem Heim oder seinem<br />
Briefwechsel behindert werden, noch Angriffen auf seine Ehre <strong>und</strong> seinen Beruf ausgesetzt werden.<br />
Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz vor derartige Eingriffe oder Anschläge.<br />
Art.13: Freizügigkeit <strong>und</strong> Auswanderungsfreiheit<br />
1. Jeder Mensch hat das Recht auf Freizügigkeit <strong>und</strong> freie Wahl seines Wohnsitzes innerhalb eines<br />
Staates.<br />
2. Jeder Mensch hat das Recht jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen sowie in sein<br />
Land zurückzukehren. [...]<br />
Art.19: Meinungs- <strong>und</strong> Informationsfreiheit ohne Rücksicht auf Grenzen.<br />
Art.20: Versammlung- <strong>und</strong> Vereinsfreiheit<br />
2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören. [...]<br />
Art.29: Gr<strong>und</strong>pflichten<br />
1. Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie <strong>und</strong> volle<br />
Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.<br />
120 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 45. Sitzung des Kirchenvorstandes der Nikolaikirchgemeinde<br />
vom 05.12.1988, in der über die neue Ordnung zum Friedensgebet beraten wurde (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Rückblick auf Ereignisse der Friedensdekade [/] 2. Bericht der KV-Gruppe betr.<br />
Gespräch 22.11.88 [/] 3. Antrag des Bezirkssynodalausschusses [/] 4. Partnertreffen [/] 5. Information<br />
Gemeindeaufbau über Weihnachtsvorhaben [/] 6. Etwaige weitere Gegenstände<br />
Herr Hofmann hält die Andacht, der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, <strong>und</strong> das Protokoll der letzten<br />
Sitzung wird verlesen.<br />
Zu 1. Auf Anfragen der Mitglieder des Kirchenvorstandes werden Auskünfte über die Ereignisse zur<br />
Friedensdekade gegeben.<br />
Zu 2 <strong>und</strong> 3) Das Protokoll der Sitzung der Vertreter des KV mit den Basisgruppenvertretern am 21.<br />
November 1988 liegt den einzelnen Mitgliedern vor351 . Zur damaligen Protokollierung der<br />
Gesprächsergebnisse wird der heute vorgelegte Antrag des Bezirkssynodalausschusses in Beziehung<br />
gebracht. Der Antrag des Bezirkssynodalausschusses vom 26.11.1988 wird unter folgenden Änderungen<br />
angenommen:<br />
1. Unter 4) wird „ordiniert“ vor „Pfarrer“ eingefügt.<br />
2. Unter 6) wird vom Konsens-Protokoll vom 21.11.1988 eingefügt: Bei Bedenken von KV-Mitglied <strong>und</strong><br />
Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die entsprechende Information kann am<br />
jeweiligen Montag nicht gegeben werden.<br />
Einschub 352><br />
3. Als Präambel werden folgende Punkte benannt 353 : Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen<br />
geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz Christi als Wort von der Versöhnung nicht<br />
widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“<br />
u.a. auch „Demonstrationswillige“ gef<strong>und</strong>en, die auf „Organisatoren“ warteten.<br />
351 s. Dok. 116<br />
352 s. Einschub (2) S. 196<br />
353 s. Anm. 356<br />
195
wollen.<br />
− Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibung, die<br />
lediglich in Ausweglosigkeit endet, widerspräche der geforderten Mindestübereinstimmung mit<br />
dem Auftrag der Kirche.<br />
− [folgender Punkt wurde im Protokoll am Rand hinzufügt] Auch die Formen des Auftretens müssen<br />
mit dem Inhalt in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B. Herabwürdigung anderer oder Formen<br />
der Auseinandersetzung.<br />
− Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es<br />
muß Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet<br />
werden.<br />
− Die Verteilung von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnissen in der Nikolaikirche ist untersagt.<br />
Ausnahmen liegen in der Verantwortung der unter 6.) genannten Personen.<br />
Das Schreiben wird von Pf. Führer 60fach ausgefertigt <strong>und</strong> den Mitgliedern des<br />
Bezirkssynodalausschusses, den Gruppenvertretern, den Mitgliedern des KV <strong>und</strong> dem LKA zugestellt.<br />
Die Gruppenvertreter werden aufgefordert, bis 6. Januar 1989 schriftliche Rückäußerung oder kurze<br />
Einverständniserklärung an den KV mitzuteilen, damit die Friedensgebete nach dem vereinbarten Konsens<br />
fortgeführt werden können.<br />
Einschub (2) - zusätzlich wird eingefügt:<br />
Die Kirchgemeinde St. Nikolai-St. Johannis gestaltet in der Regel einmal monatlich das Friedensgebet.<br />
[...]<br />
121 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief von Pfarrer Führer vom 08.12.1988 für den Kirchenvorstand St. Nikolai (Briefkopf) an den<br />
Bezirkssynodalausschuß, in dem die „Gr<strong>und</strong>sätze“ für die Gestaltung der Friedensgebet benannt wurden<br />
(ABL H 35).<br />
Betr.: Friedensgebet montags 17.00 Uhr in St. Nikolai<br />
Die Friedensgebete sollen von den im „Bezirkssynodalausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“ der<br />
Bezirkssynode Leipzig Ost vertretenen Gruppen gestaltet werden.<br />
Basierend auf dem Gesprächsergebnis vom 21. November 1988354 (Gespräch des Kirchenvorstandes mit<br />
Vertretern des Bezirkssynodalausschusses <strong>und</strong> Gruppenvertretern) <strong>und</strong> dem Antrag des<br />
Bezirkssynodalausschusses vom 26. November 1988355 hält der Kirchenvorstand St. Nikolai - St.<br />
Johannis das Folgende für konsensfähig <strong>und</strong> für eine tragfähige Gr<strong>und</strong>lage zur weiteren Gestaltung der<br />
Friedensgebete an St. Nikolai:<br />
A) Gr<strong>und</strong>sätze<br />
1. Personen oder Gruppen bzw. die von ihnen geäußerten Inhalte dürfen dem Evangelium vom Kreuz<br />
Christi als Wort von der Versöhnung nicht widersprechen <strong>und</strong> müssen auf dem Boden der Gebote<br />
Gottes insoweit stehen, als sie „Leben erhalten“ wollen 356.<br />
2. Zu diesen Erwartungen gehört ein Mindestmaß an Konstruktivität. Wirklichkeitsbeschreibungen, die<br />
lediglich in Ausweglosigkeit enden, widersprächen der geforderten Mindestübereinstimmung mit dem<br />
354 s. Dok. 116<br />
355 s. Dok. 117<br />
356 wörtliche Übernahme aus dem Teil II. des Kirchenleitungsberichts auf der Sächsischen Synode Oktober 1987.<br />
Dort hieß es: „In letzter Zeit suchen aber einzelne Personen <strong>und</strong> auch Gruppen das 'Dach der Kirche', ohne selber<br />
im Vollsinne dazuzugehören oder sich mit der Kirche <strong>und</strong> ihrem primären Auftrag zu identifizieren. Es ist<br />
deshalb verständlich, daß kirchenleitende Gremien von Kirchenvorständen <strong>und</strong> auch von Gemeindegliedern nach<br />
Kriterien gefragt werden, wen <strong>und</strong> welche Gruppen die Kirche bei sich aufnehmen kann oder muß. Die<br />
Kirchenleitung hat folgende Gesichtspunkte zusammengestellt. Diese sind als Einheit zu betrachten.“ Daraufhin<br />
folgen 6 Punkte, die fast vollständig durch den KV übernommen wurden.<br />
196
Auftrag der Kirche . 357<br />
3. Auch die Formen des Auftretens müssen mit den Inhalten in Einklang zu bringen sein. Das betrifft z.B.<br />
Herabwürdigung anderer oder Formen der Auseinandersetzung 358.<br />
4. Die Spielregeln des Zusammenlebens in der Kirche müssen akzeptiert werden. Das heißt z.B., es muß<br />
Toleranzbereitschaft gegenüber anderen Aktivitäten <strong>und</strong> Positionen in der Kirche erwartet werden 359.<br />
5. Die Verteilung von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnisse in der Nikolaikirche ist untersagt.<br />
Ausnahmen liegen in der Verantwortung der unter „zu 6.“ genannten Personen 360.<br />
B) Ablauf, Ordnung<br />
1. Begrüßung durch einen Pfarrer an St. Nikolai<br />
2. Lied<br />
3. Schriftlesung<br />
4. Auslegung durch einen ordinierten Pfarrer <strong>und</strong> der jeweiligen Gruppe unter Verantwortung des Pfarrers<br />
5. Gebet<br />
6. Informationen, Abkündigungen<br />
7. Sendungswort<br />
8. Lied<br />
zu 6.: Die Verantwortung für den Informationsteil soll getragen werden von:<br />
− Begrüßungspfarrer<br />
− 1 Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai-St. Johannis<br />
− 1 Mitglied der jeweiligen Gruppe<br />
− Pfarrer Dr. Berger bzw. einem Vertreter<br />
Bei Bedenken von KV-Mitglied <strong>und</strong> Begrüßungspfarrer können diese nicht überstimmt <strong>und</strong> die<br />
entsprechende Information kann am betreffenden Montag nicht gegeben werden.<br />
Der Planungszeitraum soll 2 Monate betragen, wobei der Plan 1 Monat vor dem Zeitraum dem<br />
Kirchenvorstand vorzuliegen hat.<br />
Die Aufstellung des Planes geschieht in der Verantwortung des Bezirkssynodalausschusses.<br />
Die Kirchengemeinde St. Nikolai - St. Johannis gestaltet in der Regel einmal monatlich das Friedensgebet.<br />
C) Verfahren<br />
Die Mitglieder des Bezirkssynodalausschusses <strong>und</strong> die Gruppenvertreter erhalten dieses Schreiben <strong>und</strong><br />
werden damit aufgefordert, bis zum 6. Januar 1989 schriftliche Rückäußerungen oder eine kurze<br />
Einverständniserklärung dem Kirchenvorstand zukommen zu lassen 361 , damit die Friedensgebete<br />
möglichst bald nach dem vereinbarten Konsens fortgeführt werden können.<br />
122 Stasi-Information<br />
Auszug aus der Quartalseinschätzung IV/88 des Leiters der Abteilung XX/4 (Gro/Lb) der BV für<br />
Staatssicherheit Leipzig vom 14.12.1988 zu Aktivitäten von R. Müller (OV „Märtyrer“). Diese<br />
Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV<br />
Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus herausgegeben wurden.<br />
[...] Im Berichtszeitraum kam es zu einer weiteren Verstärkung der konfrontativen „Aktionen“ des<br />
Verdächtigen, wobei er als Inspirator <strong>und</strong> Organisator von feindlich-negativen <strong>und</strong> demonstrativen<br />
357 entspricht Pkt. 3 der Kriterien der Kirchenleitung<br />
358 entspricht Pkt. 4 der Kriterien der Kirchenleitung<br />
359 entspricht Pkt. 5 der Kriterien der Kirchenleitung<br />
360 Im Kirchenleitungsbericht stand als letzter Punkt: „Unter Beachtung dieser Kriterien muß dann allerdings in der<br />
Kirche auch Raum sein für unbequeme oder anstößige Wahrheiten, die sich sonst nicht oder nicht genügend<br />
artikulieren können, ganz besonders dann, wenn Personen oder Gruppen dafür in Schutz zu nehmen sind.“<br />
361 Die Gruppen trafen sich wohl am 03.01.1989 <strong>und</strong> verständigten sich entsprechend des Briefes von Pf.<br />
Wonneberger, der KV erhielt jedoch keine Mitteilung, so daß dieser am 09.01.1989 beschloß das Thema zu<br />
vertagen.<br />
197
Handlungen zielstrebig öffentlichkeitswirksam auftrat, um insbesondere andere Personen zu feindlichnegativen<br />
Handlungen gegenüber der sozialistischen Gesellschaft zu inspirieren. [/] Erneut konnte<br />
nachgewiesen werden, daß er die feindlichen Plattformen des politischen Untergr<strong>und</strong>es mitträgt <strong>und</strong><br />
versucht umzusetzen <strong>und</strong> dabei eng, koordiniert <strong>und</strong> abgestimmt mit überregional wirkenden PUT-<br />
Exponenten innerhalb der DDR zusammenarbeitet. [/] Darüber hinaus wurden operativ bedeutsame<br />
Verbindungen in das NSW sowie Kontakte zur sogenannten „Charta 77“ in der CSSR herausgearbeitet. [/]<br />
Die o.g. Einschätzung kann durch nachfolgende wesentliche operativ bedeutsame <strong>und</strong> relevante<br />
Handlungen des Verdächtigen belegt werden:<br />
− Während des „Friedensgebetes“ am 26.09.1988 verteilte M. mit weiteren Personen M<strong>und</strong>tücher mit der<br />
Aufschrift „REDEVERBOT“ <strong>und</strong> trug in der Nikolaikirche selbst solch ein Tuch. Hiermit soll gegen<br />
den Beschluß des Kirchenvorstandes von St. Nikolai zur Durchführung der „Friedensgebete“<br />
protestiert werden.<br />
− Am 29.09.1988 fand im ThSL eine sogenannte „Anhörung“ der Unterzeichner <strong>und</strong> Verteiler des<br />
„Offenen Briefes“ (vom 03.09. 1988 362 ) statt. Dabei wurde dem M. durch den Rektor des ThSL ein<br />
Verweis ausgesprochen <strong>und</strong> mit seiner Entlassung gedroht.<br />
− Nach dem „Friedensgebet“ am 03.10.1988 rief der M. vor der Kirche auf, am 04.10.1988 nach<br />
Zwickau zu fahren, da die Eröffnung einer „Umweltbibliothek“ durch staatliche Stellen dort<br />
unterb<strong>und</strong>en werden soll. Die operative Kontrolle am 04.10.1988 in Zwickau ergab, daß der M. selbst<br />
nicht dorthin gereist ist. Außerdem trug er während der Veranstaltung am 03.10.1988 erneut das<br />
M<strong>und</strong>tuch „REDEVERBOT“ in der Nikolaikirche.<br />
− Vom 06. 08.10.1988 fand in Leipzig die „V. Vollversammlung des AKSK“ statt, an welcher M. als<br />
Teilnehmer teilnahm.<br />
− Während des „Friedensgebetes“ am 10.10.1988 in der Nikolaikirche Leipzig trug M. mit mehreren<br />
Personen wiederum das M<strong>und</strong>tuch „REDEVERBOT“. Im Anschluß an die Veranstaltung trat M.<br />
erneut auf dem Kirchenvorplatz als Wortführer in Erscheinung. Er verlas unter dem Beifall der<br />
Anwesenden eine Protesterklärung der Berliner Initiativgruppe „Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte“ zur<br />
Rumänienproblematik. Darin wurde aufgefordert, soziale Hilfe zu leisten <strong>und</strong> nicht dem Ceausescu<br />
Orden zu schenken. Des weiteren forderte er zum Besuch der „Umweltbibliothek“ in Zwickau <strong>und</strong><br />
Berlin auf <strong>und</strong> teilte Veranstaltungstermine mit. Letztendlich informierte er darüber, daß seine Berliner<br />
<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> am 10.10.1988 um 16.00 Uhr eine „Protestdemonstration“ zum Presseamt beim Ministerrat<br />
begonnen haben, um damit gegen die staatliche Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse aufzutreten.<br />
− Am 11.10.1988 wurde M. als Teilnehmer des ÜSE-Treffens im sogenannten „Kadenkreis“<br />
identifiziert.<br />
− Nach dem „Friedensgebet“ am 17.10.1988 erfolgte eine Unterschriftensammlung durch M. <strong>und</strong> weitere<br />
Personen unter einen Brief, gerichtet an den Staatssekretär für Kirchenfragen Gen. Löffler, in welchem<br />
die Aufhebung der Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse gefordert wird 363 . Auf dem Kirchenvorplatz<br />
wurde durch Holicki, Axel <strong>und</strong> Müller dieser Brief verlesen <strong>und</strong> aufgefordert, persönliche Eingaben zu<br />
schreiben. Darüber hinaus informierte Müller über den Verlauf des rechtswidrigen<br />
„Schweigemarsches“ feindlich-negativer Kräfte in Berlin <strong>und</strong> über die erfolgten Zuführungen.<br />
Gleichzeitig kündigte er an, daß für den 24.10.1988 in Berlin ein erneuter Marsch geplant sei.<br />
− Am 24.10.1988 trat M. während des „Friedensgebetes“ in der Nikolaikirche <strong>und</strong> im Anschluß auf dem<br />
Vorplatz mit weiteren Personen als Träger von Plakaten in Erscheinung. Das selbstgefertigte Plakat<br />
von Müller hatte folgenden Text: „Wir mahnen, an die zu denken, die gehen mußten“. Von den<br />
Plakatträgern wurde ein Brief verlesen, in welchem sie gegen die staatlichen Maßnahmen gegenüber<br />
ÜSE, gegen die Ablehnung der Bildung eines „Kommunikationszentrums“ (KOZ) in Leipzig <strong>und</strong> für<br />
die Unterstützung der ÜSE durch die Kirche protestierten 364 . Am 26.10.1988 wurden die Plakatträger<br />
in der Abt. IX [Untersuchungsabteilung] der BV Leipzig gemäß Paragr. 95 StPO<br />
362 gemeint ist der Offene Brief an Bischof Hempel vom 05.09.1988 (s. Dok.67)<br />
363 Auch im Herbst 1988 wurden verschiedene Artikel der Kirchenzeitungen zensiert (s. a. Anm. 198). Die<br />
„Streiflichter“ veröffentlichten in ihrer Oktober-Ausgabe einige dieser verbotenen Artikel.<br />
364 vgl. Dok. 97<br />
198
[Strafprozeßordnung] 365 befragt. Im Ergebnis der Befragung wurde gegen Müller auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />
der OWVO [Verordnung vom 22. März 1984 zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten] gemäß<br />
Paragr. 4 Absatz 1 [„Vorsätzliche Störung des sozialistischen Zusammenlebens der Bürger“] ein<br />
Ordnungsstrafverfahren eingeleitet <strong>und</strong> mit einer Ordnungsstrafe in Höhe von 500,00 DM am<br />
18.11.1988 gegen Müller abgeschlossen. Von den o.g. Befragungen der Plakatträger informierte der M.<br />
am 27.10.1988 den Sup. Magirius, den Jugendpfarrer Klaus Kaden <strong>und</strong> die Poppe, Ulrike (OV<br />
„Zirkel“, HA XX/9) in Berlin. Am 27.10.1988 fand bei Rudolph, Thomas eine Zusammenkunft von ca.<br />
20 Personen statt, in welcher ein Protestschreiben gegen die o.g. staatlichen Maßnahmen verfaßt<br />
wurde. An dieser Beratung nahm M. ebenfalls teil. [...]<br />
− Am 31.10.1988 nahm M. an der Veranstaltung in der Lukaskirche Leipzig zum Thema „Sozialer<br />
Friedensdienst“ teil. Nach der Veranstaltung begab er sich gegen 23.00 Uhr mit weiteren Personen des<br />
AK „Gerechtigkeit“ in den Leipziger Hauptbahnhof zur Verabschiedung eines ÜSE. Dabei äußerte<br />
Müller erneut, daß ständig neue „Aktionen“ folgen müssen <strong>und</strong> immer wieder Demonstrationen<br />
durchgeführt werden sollten.<br />
− Während der „Friedensdekade 1988“ nahm der Verdächtige an den „Friedensgebeten“ am<br />
06./07./08./09. <strong>und</strong> 10.-11.1988 in der Nikolaikirche Leipzig teil. Dabei wurde am 06.11.1988 die<br />
gemeinsame Erklärung der Initiativgruppe „Leben“ <strong>und</strong> des AK „Gerechtigkeit“ vom 26.10.1988<br />
verlesen, in welcher gegen die Zuführungen der Mitglieder der Basisgruppen protestiert wird <strong>und</strong> dies<br />
als ein Versuch der Kriminalisierung <strong>und</strong> Einschüchterung durch den Staat bewertet wird. An der<br />
Erarbeitung dieser Erklärung war auch der Müller beteiligt. Ebenso an Unterschriftensammlungen<br />
unter diese Erklärung. Zum „Friedensgebet“ am 09.11.1988 wurde durch Müller <strong>und</strong> weitere<br />
Mitglieder des AK „Gerechtigkeit“ während <strong>und</strong> nach der Veranstaltung zum 50. Jahrestag der<br />
Pogromnacht selbstgedruckte A-4-Hetzzettel mit dem Titel „Initiative zur gesellschaftlichen<br />
Erneuerung der DDR“ verteilt. Im Anschluß fand unter Mißbrauch des Gedenktages eine organisierte<br />
Personenbewegung von der Nikolaikirche zum Gedenkstein in der Gottschedstraße statt. Dabei wurden<br />
weitere Hetzzettel verteilt <strong>und</strong> Kerzen am Gedenkstein abgestellt. (Zur Klärung dieser<br />
öffentlichkeitswirksamen feindlich-negativen Handlung wurde eine zeitweilige Arbeitsgruppe in der<br />
Abt. XX [des MfS] gebildet, mit dem Ziel, der Erarbeitung von Beweisen gemäß Paragr. 106 StGB<br />
[Strafgesetzbuch; Staatsfeindliche Hetze] zu dem Verdächtigen Müller <strong>und</strong> weiteren Personen 366 ).<br />
Zum „Friedensgebet“ am 10.11.1988 versuchten erneut die Mitglieder des AK „Gerechtigkeit“ unter<br />
erneuter Mitwirkung des M. einen „Schweigemarsch“ durch die Leipziger Innenstadt zu organisieren.<br />
Dazu wurden in der Kirche Kerzen verteilt, <strong>und</strong> über 100 Personen begaben sich mit den brennenden<br />
Kerzen auf den Kirchenvorplatz, wo gemeinsam Lieder gesungen wurden. Durch den offensiven<br />
Einsatz der eingesetzten operativen Kräfte konnte der geplante Marsch verhindert werden.<br />
Im Anschluß an die o.g. Veranstaltung fuhr Müller gemeinsam mit dem Schwabe, Uwe (erfaßt KD<br />
Leipzig-Stadt) am 10.11.1988 nach Altenburg, wo beide im Rahmen der „Friedensdekade“ einen<br />
Vortrag zum „Sozialen Friedensdienst“ <strong>und</strong> zur Lage in der VR Rumänien hielten.<br />
− Von Altenburg aus fuhr der Verdächtige in die CSSR mit dem Zug nach Prag, um am Treffen der<br />
Untergr<strong>und</strong>kräfte der sogenannten „Charta 77“ in der Zeit vom 11.11. 13.11.1988 teilzunehmen.<br />
Bisher konnte zu dieser operativ bedeutsamen Verbindung in die CSSR folgendes erarbeitet werden:<br />
− Am 07.10.1988 fand in Leipzig um 19.00 Uhr am Bach-Denkmal (Thomaskirche) eine organisierte<br />
Zusammenkunft von ÜSE statt. Dort wurde der Müller, Rainer durch eingesetzte operative Mitarbeiter<br />
sowie durch unterzeichnenden Mitarbeiter persönlich als Teilnehmer festgestellt. Diese ÜSE-<br />
Zusammenkunft löste sich in der Zeit von 20.40 21.00 Uhr auf. Die Einladung zu dieser<br />
Zusammenkunft erfolgte mittels kleiner Handzettel, die während eines Friedensgebetes in der<br />
365 Dort heißt es u.a.: „(1) Der Staatsanwalt <strong>und</strong> die Untersuchungsorgane sind verpflichtet, jede Anzeige oder<br />
Mitteilung entgegenzunehmen <strong>und</strong> zu überprüfen, ob der Verdacht einer Straftat besteht. [...] (2) Zu diesem<br />
Zweck sind die notwendigen Prüfungsverhandlungen vorzunehmen. Der Verdächtige kann befragt <strong>und</strong>, wenn es<br />
zu diesem Zwecke unumgänglich ist, zugeführt werden.“<br />
366 Die Arbeitsgruppe leitete der Stasi-Offizier Wittig. Das Ziel dieser Arbeitsgruppe war die Inhaftierung von R.<br />
Müller, Th. Rudolph <strong>und</strong> G. Oltmanns (BStU Leipzig AB 1031).<br />
199
Nikolaikirche Leipzigs verteilt wurden 367 . Hierin erfolgte die Aufforderung zu einem Treffen anläßlich<br />
„des 1. Geburtstages von Willi“. Aus einer Information der Abt. 26/A („Idealist“ Anschluß des<br />
Holicki, Axel [d.h. durch Abhören des Telefons von A. Holicki]) vom 07.10.1988 um 20.45 Uhr wurde<br />
bekannt:<br />
Rainer Müller spricht mit einer weiblichen Person in Prag (Tel.-Nr. 371154) in englischer Sprache. Die<br />
sinngemäße Übersetzung hat folgenden Wortlaut: [...]<br />
− Seit dem 14.11.1988 gibt es durch den AK „Gerechtigkeit“, unter Mitwirkung des Müller, verstärkte<br />
Aktivitäten zur Verbreitung eines „DDR-weiten Aufrufes“ zur Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung eines<br />
„DDR-weiten Aktionstages“ für den 27.11.1988. Es wurde erreicht, daß 6 Leipziger Basisgruppen<br />
diesen Aufruf unterschrieben. Inhaltlich geht es in dem Aufruf um feindlich-negative Forderungen zur<br />
Veränderung der sozialistischen Bildungspolitik. Als Vorwand wird hierbei die Relegierung von 4<br />
Berliner EOS-Schülern genommen 368 . Dabei verfolgen sie das Ziel, eine breite<br />
Solidarisierungsbewegung auszulösen, um damit den sozialistischen Staat unter „Druck“ zu setzen <strong>und</strong><br />
letztendlich zu erpressen. In Vorbereitung auf diese „Aktion“ fanden am 19.11.1988 in Leipzig<br />
mehrere konspirative Treffen von feindlich-negativen Kräften statt. Streng intern wurde erarbeitet, daß<br />
an einer Zusammenkunft in der Wohnung des Rudolph, Thomas (erfaßt Abt. XX) <strong>und</strong> im Anschluß in<br />
der Wohnung des Müller die PUT-Exponenten Werner Fischer [...] Till Böttcher <strong>und</strong> Peter Grimm [...]<br />
teilnahmen. Nachdem am 20.11.1988 in der Berliner Erlöserkirche mitgeteilt wurde, daß die<br />
Relegierungen der EOS-Schüler durch die staatlichen Organe nicht zurückgenommen sind, erfolgte die<br />
Aufforderung zur Auslösung der „DDR-weiten Aktion“. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e wurde am Rande des<br />
„Friedensgebetes“ am 21.11. 1988 in der Nikolaikirche Leipzig der „Aufruf“ verteilt. Nach dem<br />
„Friedensgebet“ konstituierte sich ein „Vorbereitungskreis“ unter Leitung der Brigitte Moritz (erfaßt<br />
Abt. XX). Auch der Müller wurde in den „Vorbereitungskreis“ aufgenommen. Es wurde beschlossen,<br />
am 27.11.1988 einen „Aktionstag“ durchzuführen. Die Veranstaltung soll in der Zeit von 14.00 18.00<br />
Uhr in der ESG Leipzig stattfinden.<br />
Zur Disziplinierung des Verdächtigen wurden im Berichtszeitraum erneut mehrere innerkirchliche<br />
Aussprachen im Zusammenhang mit dem Auftreten des M., insbesondere nach den „Friedensgebeten“<br />
(u.a. Auftreten als Wortführer, Verteilen von Pamphleten, Tragen von M<strong>und</strong>tüchern), durch den Rat des<br />
Bezirkes Leipzig mit kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> mit dem Rektor des ThSL geführt. In deren Ergebnis<br />
distanzieren sich die kirchlichen Amtsträger deutlich von den Aktivitäten des M. <strong>und</strong> nahmen weiterhin<br />
Einfluß auf M. Diese Maßnahmen zeigten jedoch nur geringe Wirkung, auf Gr<strong>und</strong> der unbelehrbaren <strong>und</strong><br />
verfestigten Haltung des Verdächtigen. Im Oktober 1988 wurde M. für ein Jahr vom Studium beurlaubt<br />
<strong>und</strong> geht seit dieser Zeit keiner Tätigkeit nach. [...]<br />
123 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief von Ausreiseantragstellern an den Kirchenvorstand von St. Nikolai, an den Bezirkskirchenausschuß<br />
Leipzig/Ost, Sup. Magirius <strong>und</strong> an den Bezirkssynodalausschuß vom 13.12.1988, in dem sie sich darüber<br />
beschweren, daß es keine Reaktion auf ihr Schreiben vom 13.09.1988 von seiten des Kirchenvorstandes<br />
gab 369 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 1).<br />
Betr.: Unsere Eingabe v. 13.09.88 zur Problematik d. Friedensgebetes<br />
Mit o.g. Eingabe wandten wir uns vertrauensvoll an Sie in der Hoffnung, daß ein Gespräch über die<br />
Situation der Ausreiseantragsteller <strong>und</strong> darüber, wie man dieser Gruppe des Evangelium verkünden <strong>und</strong><br />
den in Not lebenden Menschen praktische Lebenshilfe geben kann, wesentlich zur Entspannung der<br />
Situation um das Friedensgebet beitragen würde. Leider ist es bei einem Gespräch mit Superintendenten<br />
Richter geblieben. Um so enttäuschter sind wir, daß Ihrerseits keine Gesprächsbereitschaft signalisiert<br />
wurde. Ein Gespräch mit Ausreiseantragstellern liegt offensichtlich nicht in Ihrem Interesse. Das ist um so<br />
367 Am 12.09. wurden in der Nikolaikirche entsprechende Zettel verteilt.<br />
368 s. Anhang S. 403 unter 30. 09. 1988<br />
369 s. Dok. 86<br />
200
schmerzlicher, da einige der Briefunterzeichner Ihnen persönlich bekannt sind <strong>und</strong> genügend<br />
Möglichkeiten zur Terminvereinbarung gegeben waren. Zwischenzeitlich konnte eine positive Einigung<br />
mit den Basisgruppen erreicht werden, <strong>und</strong> so bleibt uns nur zu hoffen, daß dabei auch unsere Belange<br />
berücksichtigt wurden. Da die Entscheidungen über die Art <strong>und</strong> Weise der Weiterführung des<br />
Friedensgebetes nun gefallen sind, können wir nur noch Ihre Ignoranz bedauern <strong>und</strong> den staatlich<br />
verursachten Resignationen nun noch die kirchlichen hinzufügen. Wir bedauern, daß im kirchlichen<br />
Bereich gleiche Strukturen <strong>und</strong> Interessenlagen wie im staatlichen vorzuliegen scheinen.<br />
Wir wünschen Ihnen die Zeit <strong>und</strong> das Interesse - das ja auch Interesse an uns sein sollte -, über Ihren<br />
Arbeitsstil sowie über die vertane Chance zur Zusammenarbeit nachzudenken.<br />
[gez.] Christfried Heinze, Sabine Heinze, Dorothea Wirth, Klaus Wirth, Thomas Hanisch, Uta<br />
Hanisch, Petra Lehns, Matthias Lehns, Steffi Mücke, Gloria Veith, Matthias Veith<br />
124 Beschwerderückweisung<br />
Schreiben des Chefs der Bezirksbehörde der DVP Leipzig (i.V. Oberst der VP Sinagowitz) vom 19.12.1988<br />
an F. Sellentin, mit dem die Beschwerde vom 30.11.1988 zurückgewiesen wurde (ABL H 1) 370 .<br />
Werter Herr Sellentin<br />
Die von Ihnen am 30.11.88 eingelegte Beschwerde 371 gegen die Ordnungsstrafverfügung des Leiters des<br />
VPKA Leipzig vom 18.11.88 wurde durch die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig einer<br />
gründlichen Überprüfung unterzogen. Sachliche bzw. rechtliche Mängel wurden weder bei der<br />
Bearbeitung des Ordnungsstrafverfahrens noch im Zusammenhang mit der Entscheidung festgestellt.<br />
Deshalb wird folgendes verfügt:<br />
1. Die ausgesprochene Ordnungsstrafe wird aufrechterhalten.<br />
2. Innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung dieser Entscheidung ist der Gesamtbetrag in Höhe von 400,75<br />
Mark auf das in der Ordnungsstrafverfügung angegebene Konto zu überweisen.<br />
Gemäß § 34 (2) 372 des Gesetzes zur Bekämpfung von Ordnungswidrigkeiten [OWG] ist diese<br />
Entscheidung endgültig.<br />
Begründung:<br />
Sie haben am 24.10.1988 an einer Zusammenkunft mitgewirkt, die geeignet war, gesellschaftliche<br />
Interessen zu mißachten bzw. die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit zu beeinträchtigen. Zu dieser<br />
Handlungsweise haben Sie sich bewußt entschlossen, obwohl Sie die Möglichkeit zum pflichtgemäßen<br />
Verhalten hatten. Damit handelten Sie vorsätzlich im Sinne des § 9 (2) des OWG. Es ist dabei<br />
unerheblich, ob Sie Ihren Entschluß planmäßig oder spontan verwirklichten. Bei der Festlegung der<br />
Ordnungsstrafmaßnahme war zu berücksichtigen, daß Sie Ihnen obliegende Rechtspflichten gemäß § 3 (1)<br />
in Verbindung mit § 9 (2) der Verordnung über die Durchführung von Veranstaltungen mißachtet haben.<br />
Die differenzierte Anwendung von Ordnungsstrafmaßnahmen unter Berücksichtigung der § 13 <strong>und</strong> 14<br />
OWG steht nicht im Widerspruch zum verfassungsmäßigen Gleichheitsgr<strong>und</strong>satz, sondern ist vielmehr<br />
Ausdruck seiner umfassenden Verwirklichung.<br />
125 Innerkirchliche Information<br />
R<strong>und</strong>brief Pf. Wonnebergers an die im Bezirkssynodalausschuß vertretenen Gruppen vom 29.12.1988 zu den<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen des KV St. Nikolai zur weiteren Gestaltung der Friedensgebete. Der Brief wurde per Ormig-<br />
Verfahren vervielfältigt (ABL H 1).<br />
370 s. a. Dok. 98 <strong>und</strong> Dok.118. Da F. Sellentin - wie alle andern Betroffenen - die Strafe nicht zahlte, wurde am<br />
02.01.1989 in einem Schreiben die Pfändung angedroht. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Am 28.05.1990 wurde<br />
F. Sellentin mitgeteilt, daß das Verfahren eingestellt wurde (ABL H 1).<br />
371 s. Dok. 118<br />
372 Dort heißt es, daß das übergeordnete Organ endgültig entscheidet.<br />
201
Wenn Ihr am 3. Jan. im Jugendpfarramt zusammenkommt, kann ich leider nicht dabei sein, weil ich<br />
Verpflichtungen hier in der Lukasgemeinde habe. Meinen Beitrag zur Meinungsbildung betr. Antwort an<br />
den Kirchenvorstand St. Nikolai in Sachen Friedensgebet deshalb per R<strong>und</strong>brief.<br />
1. zu A) Gr<strong>und</strong>sätze<br />
1.1 Die vom Kirchenvorstand St. Nikolai formulierten „Gr<strong>und</strong>sätze“ 1-4 373 sind dem<br />
Kirchenleitungsbericht vor der sächsischen Landessynode im Herbst 1987 entnommen 374 . Dort geht es<br />
um „einzelne Personen <strong>und</strong> auch Gruppen“, die „in letzter Zeit“ das „Dach der Kirche“ suchen, ohne<br />
selber im Vollsinne dazuzugehören oder sich mit der Kirche <strong>und</strong> ihrem primären Auftrag zu<br />
identifizieren. Der damalige Anlaß waren vor allem die Auftritte von St. Krawczyk <strong>und</strong> F. Klier in<br />
Kirchen. Um das Anliegen voll verstehen zu können, muß zwischen A)1 <strong>und</strong> A)2 der entsprechende<br />
Absatz des Kirchenleitungsberichtes ergänzt werden: „Diese Personen oder Gruppen müssen bereit<br />
sein, sich in den kirchlichen Kontext zu stellen. Das heißt: Sie müssen sich kritisch anfragen lassen.<br />
Das bedeutet keine Vorzensur von Texten, wohl aber sind die Erwartungen der Kirche rechtzeitig so<br />
deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß eine kritische Auseinandersetzung, wenn nötig auch noch in<br />
der Veranstaltung selbst, nicht als Verstoß gegen die Gastfreiheit mißdeutet werden kann.“ Erst so wird<br />
auch der Anschluß von A)2 logisch.<br />
1.2 Bei A)2 sollte besser - wie im Original des Kirchenleitungsberichts - der Singular beibehalten werden:<br />
„Wirklichkeitsbeschreibung, die ... endet, widerspräche..“ Es geht ja um eine generelle Aussage <strong>und</strong><br />
nicht um den Einzelfall. Im Einzelfall kann ein solches Vorgehen sogar methodisch geboten sein.<br />
1.3 A)5 sollte nicht generell formuliert, sondern mit einer Einschränkung versehen sein: „Die Verteilung<br />
von Vervielfältigungen <strong>und</strong> Druckerzeugnissen durch Personen, die nicht zur verantwortlichen Gruppe<br />
gehören ...“ Gerade zum geplanten Ablauf des Friedensgebete durch eine Gruppe kann es notwendig<br />
sein, daß Vervielfältigungen zur Verfügung stehen, die nicht unter B)6. einzuordnen sind.<br />
1.4 Im ganzen halte ich es für eine Zumutung, Kriterien, die für die Aufnahme <strong>und</strong> das Auftreten von<br />
Kirchenfernen - Künstler <strong>und</strong> andere - formuliert sind, einfach zu übertragen auf die in einem<br />
Synodalausschuß vertretenen <strong>und</strong> im konziliaren Prozeß engagierten Arbeitsgruppen der Kirche.<br />
2. zu B) Ablauf/Ordnung<br />
Um einer gerechten Verteilung der Friedensgebete unter den inzwischen recht zahlreichen Gruppe<br />
willen, müßte der letzte Absatz geändert werden: „einmal vierteljährlich“<br />
3. zu C) Verfahren<br />
Wieso sich Synodale <strong>und</strong> Gruppenvertreter einzeln bis zum 06. Jan. äußern sollen an den KV Nikolai,<br />
ist nicht einsichtig. Der Antrag auf Übernahme der Friedensgebete durch die Gruppen ist am 26.11.88<br />
durch den Synodalausschuß an den Kirchenvorstand St. Nikolai gestellt worden. Die Antwort auf das<br />
Schreiben des Kirchenvorstandes sollte also entsprechend in der Sitzung des Synodalausschusses am<br />
13. Jan. 89 besprochen, formuliert <strong>und</strong> beschlossen <strong>und</strong> dann vom Ausschußvorsitzenden dem<br />
Kirchenvorstand St. Nikolai übermittelt werden.<br />
Ich hoffe, Ihr habt noch Zeit, vor dem oder am 03.01. die Sache zu bedenken <strong>und</strong> zu besprechen, gar einen<br />
Konsens zu finden. Früher ging es bei mir leider nicht. Weihnachten ist eben für einen Pfarrer kein<br />
Zuckerlecken.<br />
Auf weitere gute Zusammenarbeit, Euer [/] (gez.) Chr. Wonneberger<br />
126 Kirchenbucheintragung<br />
Eintragungen aus dem Gästebuch V der Nikolaikirche vom 03.01.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Für ca. ein Jahr ist diese schöne Kirche für mich zu einem zweiten Zuhause geworden, der Montag<br />
oftmals zum Sonntag. Herzlichen Dank allen Mitarbeitern der Nikolai-Kirche verb<strong>und</strong>en mit allen guten<br />
Wünschen für die Zukunft.<br />
373 s. Dok. 121<br />
374 s. Dok. 121<br />
202
Besonderen Dank Herrn Pfr. Dr. Berger <strong>und</strong> den Leipziger Basisgruppen, die mit ihrer unkonventionellen<br />
Art der Verkündigung auch mir als einem Nichtchristen eine Spur dessen, was das Evangelium auch noch<br />
heute zu geben in der Lage ist, vermitteln konnten. Danke für viele Denkanstöße! [/] Evelyn Schneidereit<br />
127 Feststellung des Staatssekretariats<br />
Auszug aus Vorbereitenden Notizen „zur Gesprächsführung mit Bischof Hempel für den Staatssekretär für<br />
Kirchenfragen“ vom 05.01.1989. Als Ort wurde Berlin angegeben. Die 2 maschinengeschriebenen Blätter<br />
können also entweder vom ZK des SED, Arbeitsgruppe Kirchenfragen, oder aus dem Staatssekretariat für<br />
Kirchenfragen stammen (BArch O-4 1404).<br />
Im Zusammenhang mit der geplanten Gesprächsführung des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Gen.<br />
Löffler, mit Landesbischof Dr. Hempel am 9.1.89375 sind nachfolgende in der bisherigen<br />
Gesprächsführung mit Vertretern des LKA Dresden noch ungeklärte Fragen zu beachten:<br />
1. Entgegen der Forderung des LKA nach Bereitstellung des Leipziger Zentralstadions für den<br />
Abschlußgottesdienst wird staatlicherseits weiterhin auf die Nutzung des Geländes der Rennbahn<br />
orientiert, wobei technische Probleme gelöst werden. Sollte keine Bereitschaft des LKA für dieses<br />
Angebot erreicht werden, dann wird als „letzte Variante“ die Festwiese vor dem Zentralstadion (ohne<br />
Nutzung des Glockenturms) angeboten.<br />
2. Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen in der Stadt Leipzig wird staatlicherseits nicht zugestimmt.<br />
[... Nutzung „kultureller Einrichtungen“, ... nur „Sächsischer Kirchentag“... Teilnahme prominenter<br />
internationaler Gäste mit StfK abstimmen ...]<br />
Die angeführten staatlichen Standpunkte wurden am 19.12.88 mit dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung<br />
Leipzig abgestimmt <strong>und</strong> von ihm gebilligt. Weiterhin wird im Gespräch der staatlichen Funktionäre mit<br />
den verantwortlichen kirchlichen Amtsträgern kontinuierlich auf die Belastungen hingewiesen, die sich<br />
aus der Fortführung politisch-negativer Aktivitäten kirchlicher Basisgruppen <strong>und</strong> des Mißbrauchs der<br />
Kirche für die Organisierung, Zusammenführung von ÜSE ergeben. Dies betrifft insbesondere<br />
− die Fortsetzung der montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche, ab 1.2. wieder gestaltet durch<br />
Basisgruppen. - die in den „Streiflichtern“ (Innerkirchliche Monatspublikation der AG<br />
„Umweltschutz“ des Jugendpfarramtes Leipzig) vom 22.12.88 erfolgte Veröffentlichung über die<br />
Bildung der „Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“, in der die beiden<br />
Leipziger Basisgruppen „Gerechtigkeit“ <strong>und</strong> „Menschenrechte“ (Pfr. Wonneberger) als „mittragende“<br />
Gruppen angeführt <strong>und</strong> zur Erweiterung des „Netzes“ mitbeteiligter Gruppen in der DDR aufgerufen<br />
wird (Abschrift siehe Anlage 376).<br />
Zu beachten sind weiterhin folgende, streng vertraulich bekannt gewordene Hinweise:<br />
− gegen den 1. Pfarrer der Nikolaikirche, Führer, sollen seitens der Landeskirchenleitung Dresden<br />
Disziplinarmaßnahmen erwogen werden (z.B. befinde er sich im „Wartestand“ 377)<br />
− zunehmend profiliere sich Pfarrer Wonneberger erneut als Organisator feindlich-negativer Aktivitäten.<br />
In seiner Gemeinde kam es gehäuft zu überregionalen Treffen von Vertretern politisch-negativer<br />
Gruppen sowie zur Verteilung dort eingelagerter feindlich-negativer Schriften. Wonneberger erklärte<br />
in internen Kreisen seine Bereitschaft, die Lukaskirche zur Durchführung der politisch-negativen<br />
„Friedensgebete“ zur Verfügung zu stellen, wenn dies in der Nikolaikirche nicht mehr möglich sei.<br />
− Neue Belastungen im Staat-Kirche-Verhältnis können sich aus der bereits begonnenen Vorbereitung<br />
375 Das Gespräch fand nicht am 9.1. sondern am 23.1.89 im LKA in Dresden statt. S. Dok. 132<br />
376 Der Aufruf, der in mehreren h<strong>und</strong>ert Exemplaren in der DDR verteilt wurde (ABL H 1), ist u.a. veröffentlicht<br />
worden in: Ost-/West-Diskussionsforum Nr. 5 (Januar 1989).<br />
377 Dies war eine Falschinformation. S. aber Einschätzung der BV des MfS, Abt. XX/4 vom 17.11.1988: „Führer sei<br />
mit seinen politischen Ansichten in den eigenen Reihen der Kirche gescheitert. Ausdruck dessen sei, daß er zu<br />
vielen Personen in Opposition stehe... Veränderungen in der kirchenamtlichen Funktion des Führer seien nach<br />
seiner Versetzung in den Wartestand abzusehen.“ (abgedruckt in: Sélitrenny/Weichert, 139, s.a. Auszüge aus OV<br />
„Igel“ in: Besier/Wolf, 658-668, dort 668)<br />
203
eines „2. Pleißemarsches“ am 04.06.89 sowie einer von Kräften des politischen Untergr<strong>und</strong>es<br />
geplanten überregionalen Veranstaltung „Freiheit mit Musik“ am 10.06.89 in Leipzig ergeben.<br />
− Vertreter politisch-negativer Basisgruppen halten an der Absicht fest, anläßlich des Kirchentages die<br />
negativ bekannten Aktivitäten („Markt der Möglichkeiten“ / „Kirchentag von unten“) zu realisieren.<br />
128 Stellungnahme<br />
Stellungnahme der beiden Superintendenten vom 16.01.1989 an alle Pfarrämter <strong>und</strong> kirchlichen<br />
Einrichtungen der Kirchenbezirke Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West zur Demonstration am 15.01.1989. Das Schreiben<br />
wurde mit der Lizenznummer „Sup.L.W. 3382/1989“ vervielfältigt (ABL H 1).<br />
Im Blick auf die Ereignisse der vergangenen Tage in unserer Stadt 378 erklären wir:<br />
1. Der Respekt vor dem Blutzeugnis der Kommunisten Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg sowie die<br />
Tatsache, daß beide bewußt als Vertreter der materialistischen Weltanschauung gelebt <strong>und</strong> gekämpft<br />
haben, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für jede Form der kirchlichen Verkündigung.<br />
2. Das Zeugnis der Kirche ist <strong>und</strong> bleibt geb<strong>und</strong>en an die nicht austauschbare Botschaft vom Kreuz<br />
Christi, von der Liebe Gottes, seiner Solidarität <strong>und</strong> Versöhnung mit den Menschen <strong>und</strong> vom Ernst, der<br />
sich aus unserer Verantwortung unseres Lebens <strong>und</strong> Zeugnisses in Gottes Gericht ergibt. Wir vertrauen<br />
darauf, daß die daraus resultierende Botschaft der Kirche <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene konkrete Zeugnis<br />
eines jeden Christen weltweite <strong>und</strong> weltverändernde Wirkung hatte <strong>und</strong> immer haben wird. Insofern<br />
war, ist <strong>und</strong> bleibt sie ein unübersehbarer <strong>und</strong> unverwechselbarer Beitrag zu allen konkreten<br />
Bemühungen um Entspannung, Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde.<br />
3. Darum kann für uns politische Demonstration nicht die geeignete Form des Zeugnisses der Kirche sein.<br />
4. Wir stehen, wie immer schon, zu der Verpflichtung, uns für alle Menschen einzusetzen, die in innere<br />
äußere Not geraten oder in Gefangenschaft geraten sind. Diesen Einsatz machen wir nicht abhängig<br />
von der Beurteilung des Denkens dieser Menschen noch davon, wie diese Menschen uns beurteilen.<br />
Wir haben uns bisher nicht zu politischer Polarisierung verleiten lassen <strong>und</strong> werden dies auch um<br />
Christi willen jetzt nicht tun. Wir bekennen uns sowohl zum Einsatz für alle Menschen, die unserer<br />
Fürsorge <strong>und</strong> Fürsprache bedürfen als auch zum Dialog mit denen, die die Verantwortung in Staat <strong>und</strong><br />
Gesellschaft wahrnehmen. In beiden Fällen sehen wir unsere konkrete Verantwortung gegenüber Gott<br />
<strong>und</strong> den Menschen. Darin besteht der Beitrag zur Verwirklichung des Wohles der Menschen <strong>und</strong> die<br />
angemessene Antwort auf das uns entgegengebrachte Vertrauen, das ein wichtiges Gut ist.<br />
5. Wir geben den Gemeinden als Anlage379 eine Namensliste der uns bekannten polizeilichen zugeführten<br />
<strong>und</strong> noch in Haft befindlichen Männer <strong>und</strong> Frauen mit <strong>und</strong> bitten im Sinne unserer<br />
Positionsbeschreibung um verantwortliche Fürbitte in den Gottesdiensten <strong>und</strong><br />
Gemeindeveranstaltungen 380.<br />
gez. Friedrich Magirius gez. Johannes Richter<br />
Superintendent Superintendent<br />
378 Zu „Ereignisse der letzten Tage“ s. Chronik im Anhang. Der Bericht des MfS über die Flugblattaktion <strong>und</strong> der<br />
Demonstration für Meinungs- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit anläßlich des Todestages von R. Luxemburg <strong>und</strong> K.<br />
Liebknecht sind abgedruckt in: Mitter/Wolle, 11-13, dort auch das Flugblatt. Ein Foto der Demonstration am<br />
15.01. in: STASI intern, 259. S.a. Rüddenklau, 314-322, dort auch die Entgegnung Berliner Gruppen auf die<br />
Erklärung der Superintendenten.<br />
379 Namensliste ebenfalls im ABL. Die Namen „Carola Bornschlegel, Udo Hartmann, Michaela Ziegs, Constanze<br />
Wolf <strong>und</strong> Andre Botz [richtig: André Bootz]“ wurden durchgestrichen <strong>und</strong> mit Schreibmaschine Fred Kovac<br />
[richtig: Kowasch] hinzugesetzt. Es wurde also mit dieser Fürbittenliste gearbeitet.<br />
380 MfS-Generaloberst Mittig teilte am 16.01. den BV des MfS mit, daß außer in Leipzig, in Jena, Zwickau, Weimar,<br />
Halle, Naumburg <strong>und</strong> Berlin „Solidaritätsaktionen mit den inhaftierten Personen inszeniert“ würden<br />
(Pechmann/Vogel 34).<br />
204
129 Protokollnotiz aus dem ZK<br />
Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung Jarowinskys mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen (K. Löffler)<br />
beim ZK der SED (mit Baron <strong>und</strong> Kraußer) zu den Leipziger Ereignissen am 18.01.1989 von Kraußer<br />
(SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />
4. Was die ersten Fürbitten 381 im Zusammenhang mit den Leipziger Ereignissen betrifft, ist entsprechend<br />
der mit den Genossen von MfS vereinbarten Linie zu verfahren. Solche Dinge müssen auf jeden Fall<br />
unterb<strong>und</strong>en werden.<br />
Verantwortlich: Genosse Löffler<br />
Genosse Kraußer<br />
130 Basisgruppenerklärung<br />
Durchschlag der Erklärung der Anfang Januar inhaftierten Leipziger Bürgerrechtler, die zu Beginn des<br />
Friedensgebetes am 23.01.1989 von M. Arnold verlesen wurde 382 (ABL H 1).<br />
In der Zeit vom 12.-16.1.1989 wurden 12 Bürger in Leipzig verhaftet, weil sie sich an der Vorbereitung<br />
bzw. Durchführung einer Demonstration zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl<br />
Liebknecht beteiligten. Aufgr<strong>und</strong> einer breiten nationalen <strong>und</strong> internationalen Solidarität wurden Carola<br />
Bornschlegel, André Bootz, Udo Hartmann, Michaela Ziegs, Uwe Schwabe, Frank Sellentin, Rainer<br />
Müller, Constanze Wolf, Fred Kowasch, Gesine Oltmanns, Jochen Läßig <strong>und</strong> Michael Arnold bis zum 20.<br />
Januar aus der Haft entlassen. Wir danken Euch allen für die uns tief beeindruckende Unterstützung. Die<br />
Ermittlungsverfahren wegen „Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit“ werden<br />
jedoch durch die Staatsorgane fortgeführt. Mit der Verteilung von Flugblättern im gesamten Stadtgebiet<br />
riefen wir die Bevölkerung auf, sich am 15. Januar auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu<br />
versammeln 383 . Anliegen war es, die schon vor mehr als 70 Jahren von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl<br />
Liebknecht eingeforderten Rechte der Versammlungs- <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit, Meinungs- <strong>und</strong><br />
Pressefreiheit den Menschen unseres Landes nahezubringen. Dieser Aufruf gilt der gemeinsamen<br />
Forderung nach einem Demokratisierungsprozeß in unserer Gesellschaft. Als Voraussetzung dafür sehen<br />
wir die Überwindung politischer Teilnahmslosigkeit <strong>und</strong> Trägheit der Bürger zu bewußter<br />
Meinungsbildung <strong>und</strong> -äußerung basierend auf der gesetzlichen Garantie politischer Gr<strong>und</strong>rechte. Diesen<br />
Prozeß betrachten wir als eine Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft. Wir sind<br />
der Meinung, daß politische Auseinandersetzungen nicht durch das Strafgesetzbuch gelöst werden<br />
können.<br />
381 Fürbittengebete für die in Leipzig Inhaftierten gab es zu dieser Zeit in ca. 20 Städten der DDR. s.a.<br />
vorhergehende Fußnote<br />
382 Dieser Beitrag wurde bei Sup. Magirius erschlichen, mit der Behauptung, einen Dank der kurzzeitig Verhafteten<br />
an die Gemeinde zu sagen („Ein Satz!“). Im Anschluß an das FG stellte sich J. Läßig in den Mittelgang der<br />
Kirche <strong>und</strong> erklärte mit seiner kräftigen Stimme, daß das, was in den FG geschähe, für die Gruppen ein Schlag<br />
ins Gesicht sei. Er erinnerte an die Erklärung von Pf. Gröger in einem FG 1983: „Messer, Gabel, Schere, Licht /<br />
sind für kleine Kinder nicht“, mit der dieser Jugendliche von einer Kerzendemonstration abhalten wollte, <strong>und</strong><br />
meinte, daß diese Haltung der Kirche sich nicht geändert hätte. Außerdem lud er zu einem Konzert in der<br />
Leipziger Spielgemeinde, bei dem das Straßenmusikfestival (10.06.1989) vorbereitet wurde. Die Erklärung<br />
erschien 1989 im Informationsdienst des „Komitees zur Verteidigung <strong>und</strong> Verwirklichung der demokratischen<br />
Rechte <strong>und</strong> Freiheiten in Ost <strong>und</strong> West - in ganz Deutschland“, Nr. 50, S. 19. Hummitzsch vermerkte in seinem<br />
Arbeitsbuch zu einem Gespräch mit H. Schumann am 23.01., 13.50 Uhr: „[H.S.] will kurzes FS an ZK geben<br />
(Mißbrauch des Friedensgebets, Protest gegen EV [Ermittlungsverfahren])“. Das MfS war von dieser Aktion<br />
schon im voraus informiert, wie auch weitere Notizen Hummitzschs belegen (u.a. durch IM „Maria“, d.h. D.<br />
Penno). Der Leiter der operativen Lagegruppe des MfS teilte 17.35 Uhr das Verlesen der Erklärung Hummitzsch<br />
mit. Dieser notierte: „EV weiter / trommeln“ (BStU Leipzig AB 3843, 124-131).<br />
383 s. Anm. 378<br />
205
Trotz laufender Ermittlungsverfahren werden wir unsere Arbeit zu gesellschaftlichen Themen<br />
weiterführen. Wir bitten, besonders in unserer momentanen Situation, um Eure weitere Unterstützung <strong>und</strong><br />
Solidarität.<br />
131 SED-Information<br />
Information des 2. Sekretärs der SED-SL Leipzig an die SED-BL vom 24.01.1989 über den Ablauf des<br />
Friedensgebetes am 23.01.1989 <strong>und</strong> den Einsatz von gesellschaftlichen Kräften. Die Durchschrift wurde<br />
unterzeichnet von H. Schnabel (StAL SED A 5126).<br />
Am Montag, dem 23. Januar 1989, gegen 10.00 Uhr, wurde im Ergebnis einer Einschätzung zur Lage<br />
durch das Sekretariat der SED-Bezirksleitung der Auftrag erteilt, gesellschaftliche Kräfte 384 zur<br />
Verhinderung einer möglichen, erneut beabsichtigen Provokation im Stadtzentrum von Leipzig zum<br />
Einsatz zu bringen. In Übereinstimmung mit den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen wurde mit direkter<br />
Einbeziehung der Stadtbezirksleitungen <strong>und</strong> der Leitungen des VPKA erreicht, daß ab 16.00 Uhr ca. 400<br />
Genossinnen <strong>und</strong> Genossen aus dem Partei- <strong>und</strong> Staatsapparat sowie aus Gr<strong>und</strong>organisationen der<br />
Kombinate <strong>und</strong> Betriebe zum Einsatz bereitstanden 385 . Die gesellschaftlichen Kräfte wurden im Kinosaal<br />
von Leipzig-Information politisch in ihre Aufgabe eingewiesen, sie erhielten Instruktionen zur<br />
Durchführung ihres Auftrages. In der Nikolaikirche versammelten sich in der Zeit von 17.00-17.50 Uhr<br />
ca. 470 Teilnehmer 386 an einem Friedensgebet. Es mußte aufgr<strong>und</strong> vorliegender Informationen damit<br />
gerechnet werden, daß erneut nach dieser Veranstaltung ein Versuch für eine Provokation in Gestalt eines<br />
Marsches oder einer Demonstration unternommen wird 387 . Nach Beendigung des Friedensgebetes<br />
verblieben ca. 200 Personen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche, ohne daß es zu einer provokatorischen<br />
Handlung kam.<br />
Die gesellschaftlichen Kräfte, ihre Präsenz im Zusammenwirken mit Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen vor<br />
der Nikolaikirche <strong>und</strong> im Innern des Stadtzentrums trugen dazu bei, daß es zu keiner provokatorischen<br />
Handlung kam, so daß der Einsatz polizeilicher Mittel nicht erforderlich wurde 388 . Die Teilnehmer am<br />
Friedensgebet lösten sich zögernd auf, sie nahmen von den gesellschaftlichen Kräften Kenntnis <strong>und</strong><br />
suchten keine öffentliche Konfrontation. Gegen 18.30 Uhr war keine Absicht mehr zu erkennen, eine<br />
Provokation zu starten, so daß die gesellschaftlichen Kräfte zurückgezogen werden konnten. Es wurde<br />
bekannt, daß 2 Aufnahmeteams des BRD-Fernsehens ARD sich im Stadtzentrum aufhielten, ohne<br />
feststellen zu können, in welcher Weise Filmdokumentationen hergestellt wurden 389 . Der Einsatz der<br />
gesellschaftlichen Kräfte wie ihr Zurücknehmen aus dem Einsatzbereich erfolgte ohne Vorkommnis. Die<br />
Genossinnen <strong>und</strong> Genossen zeichneten sich durch hohe Einsatzbereitschaft <strong>und</strong> eine große Disziplin aus.<br />
Unter ihnen befanden sich 30 Schüler der Bezirksparteischule Leipzig.<br />
384 zu „gesellschaftliche Kräfte“ siehe Anhang S. 359<br />
385 Wie Protokoll Hummitzsch zum Telefonat Hackenberg am 23.01.89, 12.00 Uhr, zeigt, waren Hackenberg <strong>und</strong> H.<br />
Schnabel für die Bereitstellung der gesellschaftlichen Kräfte verantwortlich (BStU Leipzig AB 3843, 125). In<br />
diesem Telefonat wurden 300 Schüler der Bezirksparteischule als Einsatzkräfte angeboten.<br />
386 Die gleiche Zahl nannte Eppisch (MfS) am 23.01., 17.02 Uhr, Hummitzsch (BStU Leipzig AB 3843, 130).<br />
387 Mielke rief am 23.01., 15.15 Uhr, Hummitzsch an. Dieser notierte anläßlich des Telefonats: „Wenn sie laufen,<br />
aufladen. [...] müssen begreifen, daß wir das nicht dulden. Den [... geschwärzt] verpassen wir jetzt einen<br />
Denkzettel.“ Eine St<strong>und</strong>e später teilte H. Schumann mit, daß Beschluß des SED-Sekretariats vorbereitet wird.<br />
Darin ging es u.a. um verstärkte offensive politisch-ideologische Arbeit <strong>und</strong> eine Gesprächskampagne mit den<br />
Teilnehmern an der Demonstration am 15.01.1989 (BStU Leipzig AB 3843, 129).<br />
388 Während des Einsatzes fragten die Stellv. des Stasi-Ministers Neiber <strong>und</strong> Mittig mehrmals nach der Situation um<br />
die Nikolaikirche beim Leiter der BV nach, u.a. mit dem Hinweis, daß Krenz wissen wollte, „was los ist“ (BStU<br />
Leipzig AB 3843, 132).<br />
389 Sie fertigten Aufnahmen von den Organisatoren der Demonstration am 15.01.1989 (ohne dafür eine staatliche<br />
Filmgenehmigung erhalten zu haben).<br />
206
132 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information des Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 24.01.1989 über ein Gespräch mit Bischof Hempel am<br />
23.01.1989 im Landeskirchenamt in Dresden (5 Seiten Information <strong>und</strong> 3 Seiten Anlage). Die Information<br />
wurde von K. Löffler unterzeichnet (BArch O-4 973).<br />
Das seit einiger Zeit vorgesehene Gespräch fand am 23.01.1989 im Landeskirchenamt in Dresden statt.<br />
[...] Landesbischof Dr. Hempel dankte mit sichtbarer Bewegung für die Grüße <strong>und</strong> die Würdigung seines<br />
Wirkens. Er sprach den Wunsch aus, bei Gelegenheit eine neue Begegnung mit Genossen Dr. Jarowinsky<br />
zu haben. Zugleich betonte er, daß er stets für eine gerechte Beurteilung der Entwicklung der DDR, für die<br />
Anerkennung der dem Menschen dienenden Leistungen der sozialistischen Ordnung in der DDR als der<br />
dem christlichen Ideal am nächsten liegend auf deutschem Boden eingetreten sei <strong>und</strong> das auch weiterhin<br />
tun werde. Dabei sei es notwendig, in den kommenden Wochen im Blick auf die Wahlen <strong>und</strong> den 40.<br />
Jahrestag einige ihn <strong>und</strong> die Landeskirche Sachsens berührende Fragen zu besprechen, damit er guten<br />
Wissens die kirchlich geb<strong>und</strong>enen Bürger in ihrer Entscheidung begleiten kann. Ganz besonders sei nach<br />
seiner Auffassung notwendig, in der öffentlichen Information neben der Darstellung der unwiderlegbar<br />
vorhandenen sozialen Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit für die Bürger auch das Sprechen über eigene<br />
Schwächen <strong>und</strong> Unzulänglichkeiten, über Mängel <strong>und</strong> daraus erwachsende Anforderungen einzubeziehen,<br />
da die ausnahmslosen „Erfolgsmeldungen“ im Widerspruch zu manchen Lebenstatsachen des Alltags<br />
stehen <strong>und</strong> so die Bürger zum Widerspruch herausfordern <strong>und</strong> Raum für Spekulationen über die<br />
Verbindung der Regierung zum Leben ließen. Nach seiner Meinung sei diese Offenheit <strong>und</strong> Souveränität<br />
der eigenen Leistung <strong>und</strong> den noch zu lösenden Aufgaben gegenüber besonders durch die „Initialwirkung<br />
Gorbatschows“ notwendig, wobei keine „Kopie sowjetischer Methoden in der DDR angefordert“ sei.<br />
[...] Im weiteren Verlauf des Gesprächs wurden von mir dringliche Bitten in bezug auf die unbedingt<br />
notwendige Einwirkung des Landesbischofs <strong>und</strong> des Landeskirchenamtes auf die künftige Verhinderung<br />
des politischen Mißbrauchs des kirchlichen Raumes für gegen die Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung der<br />
DDR gerichteten Aktivitäten von Basis- <strong>und</strong> anderen Gruppen geäußert. Dabei habe ich über die<br />
Vorgänge am 15.1.1989 in Leipzig <strong>und</strong> die konspirative Tätigkeit von feindlichen Kräften zur<br />
Vorbereitung dieser Aktion informiert, da Landesbischof Hempel erklärt hatte, daß ihm von keiner Seite<br />
rechtzeitig solche Informationen bekanntgemacht seien, die ein vorsorgliches Eingreifen ermöglicht<br />
hätten. Es war ihm starke Betroffenheit über den Umfang der bereits langdauernden negativen <strong>und</strong> auf<br />
politische Konfrontation zielenden Aktivitäten von kirchlichen Gruppen in Leipzig <strong>und</strong> deren weitere<br />
beabsichtigte Aktivitäten anzumerken. Er versicherte, daß er - wie in den letzten Monaten mehrfach<br />
praktiziert - auch weiterhin im Sinne der Vernunft wirken werden, wobei ihm aber „keinerlei Machtmittel<br />
zur Durchsetzung seiner Auffassung auch gegenüber Gemeindepfarrern“ zur Verfügung stünden. Er bat<br />
um verständnisvolle <strong>und</strong> wirksame Hilfe im offenen Gespräch mit derartigen Gruppen, „die oftmals für<br />
ihre Aktivität nützliche Felder, wie den Schutz der Umwelt, suchen oder manchmal nur ihre Meinung von<br />
der Seele reden wollen“. Er äußerte, daß die große <strong>und</strong> wachsende Unzufriedenheit bei vielen in diesen<br />
Gruppen auch darin begründet sei, daß ihnen niemand als Gesprächspartner zur Verfügung stehe. Ich habe<br />
dazu verwiesen auf Erfahrungen von kirchlichen Umweltgruppen bei der Zusammenarbeit mit<br />
Forstwirtschaftsbetrieben u.a. gesellschaftlichen Gruppen des Kulturb<strong>und</strong>es <strong>und</strong> in den Territorien, da<br />
verantwortliche gesellschaftliche Mitwirkung im Umweltschutz jederzeit angenommen wird, wenn damit<br />
nicht - wie es [in] der konfrontativ angelegten Aktion „Eine Mark für Espenhain“ 390 - politische[n]<br />
Attacke gegen die Umweltpolitik des Staates verb<strong>und</strong>en sind. [... zu den „Umwelt-“ bzw.<br />
„Friedensbibliotheken“ in Zwickau, Dresden, Großenhain <strong>und</strong> Großhennersdorf] Im Zusammenhang mit<br />
der Offenheit <strong>und</strong> vertrauensvollen Atmosphäre zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche habe ich auf eine mich<br />
verw<strong>und</strong>ernde Arbeitsweise des B<strong>und</strong>es (BEK) aufmerksam gemacht: Trotz vielfacher Bitten ist immer<br />
noch die geübte Praxis, daß wesentliche kirchliche Papiere, darunter Verlautbarungen, Pressemitteilungen<br />
<strong>und</strong> Beschlußentwürfe für künftige Tagungen, z.B. die 3. Session der Ökumenischen Konferenz in<br />
Dresden unmittelbar westlichen Medien übergeben werden, ohne gleichzeitige Übermittlung an meine<br />
Dienststelle, so daß regelmäßig die Erstinformation durch diese Medien mit den üblichen politischen<br />
390 s. Anhang, S. 385<br />
207
Entstellungen <strong>und</strong> Verdächtigungen erfolgt. (An dieser Stelle habe ich eine Auswahl von Meldungen der<br />
Westpresse zu den Leipziger Vorgängen <strong>und</strong> zu Dokumenten des BEK der jüngsten Zeit übergeben.) Ich<br />
habe gebeten, solche Materialien rechtzeitig - mit dem gewünschten Vertraulichkeitsgrad - zu erhalten, um<br />
jeder mißbräuchlichen Interpretation zuvorzukommen. Landesbischof Hempel akzeptierte diese Bitte,<br />
versprach, sich dafür einzusetzen <strong>und</strong> äußerte zugleich seine Verw<strong>und</strong>erung über den Grad der Beachtung<br />
der westlichen Medien in unserem Lande, wofür man in Dresden naturgemäß kein Verständnis habe <strong>und</strong><br />
im übrigen wisse man doch, wie es mit dem „Wahrheitsgehalt“ dieser Presseerzeugnisse seit Jahrzehnten<br />
aussehe. Deshalb habe er auch kein Verständnis für die Art <strong>und</strong> Weise der ADN-Meldung zu M.<br />
Stolpe 391 . (Dazu habe ich die mit sichtbarer Erleichterung zur Kenntnis genommene festgelegte<br />
Argumentation verwendet.) In einem abschließenden Unter-Vier-Augen-Gespräch wurde von mir mit der<br />
Bitte um eine verantwortungsbewußte Prüfung die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Wahl Leipzigs als<br />
Ort des für Juli 1989 vorgesehenen Kirchentages der Landeskirche Sachsen aus Anlaß des 450.<br />
Jahrestages der Reformation gestellt (Text siehe Anlage).<br />
Landesbischof Hempel nahm diese Darstellung aufmerksam zur Kenntnis <strong>und</strong> äußerte, daß sie „selbst<br />
über den möglichen Mißbrauch des Kirchentages in Leipzig bereits gesprochen haben“. Obwohl ihm der<br />
Umfang <strong>und</strong> der Grad der Organisiertheit illegaler Strukturen in Leipzig bisher in dieser dargestellten<br />
Weise nicht bekannt gewesen seien, verstehe er die vorgetragenen Bedenken, die es dem Landesausschuß<br />
für den Kirchentag vortragen werde. Er nannte als besonders problematische Umstände für eine<br />
Ortsveränderung: [...]<br />
Insgesamt verlief das Gespräch in einer ruhigen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre, ohne jegliche Spannungen<br />
<strong>und</strong> Schärfe. Landesbischof Hempel ließ seine Erleichterung über die Fortführung der Begegnungen <strong>und</strong><br />
gezeigte Bereitschaft zu vertraulichem Dialog spüren. Er bat noch einmal, die herzlichen Grüße an<br />
Genossen Dr. Jarowinsky zu übermitteln <strong>und</strong> dankte für den ausgesprochenen Vertrauensbeweis.<br />
[gez.] Löffler<br />
Anlage:<br />
zum Gespräch mit Landesbischof Dr. Hempel zum Kirchentag Leipzig<br />
[...] Nachdem bereits zu den Leipziger Messen im Jahre 1988, der Internationalen Leipziger Dokumentar-<br />
<strong>und</strong> Kurzfilmwochen u.a. Gelegenheiten öffentlich politisch-konfrontative Aktivitäten durchgeführt<br />
wurden, sind die Friedensgebete u.a. nicht den Ausübungen des Glaubens gewidmete politische<br />
Veranstaltungen mit Angriffen gegen den sozialistischen Staat, die Volksbildung u.a. staatlicher<br />
Verantwortung stattgef<strong>und</strong>en haben <strong>und</strong> stattfinden, ist mit der Flugblatt-Aktion <strong>und</strong> der<br />
Zusammenrottung am 15.1.89 der bisherige Höhepunkt der staatsfeindlichen Aktivitäten erreicht worden.<br />
[/] Offensichtlich finden die verantwortungsbewußt handelnden kirchlichen Amtsträger in Leipzig keine<br />
genügende Unterstützung in ihrem Umfeld, sind die inneren ges<strong>und</strong>en Kräfte der Kirche nicht stark<br />
genug, dieser unguten Entwicklung Einhalt zu gebieten, während die auf Zerstörung des bewährten Staat-<br />
Kirche-Verhältnisses hinarbeitenden negativen Kräfte sich bereits illegale Strukturen für ihre feindlichkonspirative<br />
Tätigkeit geschaffen, nahezu DDR-weite Verbindungen aufgebaut <strong>und</strong> Nachrichtenwege in<br />
das imperialistische Ausland errichtet haben, wie die Meldungen aus der Westpresse darstellen. Besonders<br />
bedenklich ist, daß bei derartigen Aktionen eine zunehmende Anzahl von Personen beteiligt ist, die<br />
Mitarbeiter kirchlicher Institutionen sind - wie z.B. aus der Inneren Mission u.a...<br />
Es steht außer jedem Zweifel, daß die Konzentration der feindlichen Aktivitäten auf Leipzig - immer zu<br />
betonen: trotz des Widerstandes vieler kirchlicher Amtsträger der Stadt gegen solche Aktivitäten -, daß die<br />
Errichtung illegaler Strukturen <strong>und</strong> deren Erprobung durch konspirative Aktionen eindeutig auf die<br />
politische Störung des beabsichtigten Kirchentages im Juli gerichtet ist. Eine derartige Aktion im Juli<br />
würde unweigerlich für unabsehbare Zeit zu schweren Belastungen des Staat-Kirche-Verhältnisses führen,<br />
ja, das bestehende gute Vertrauensverhältnis empfindlich stören.<br />
Zur Zeit gibt Pfarrer Wonneberger den negativen - auch außerkirchlichen - Kräften umfangreiche<br />
Unterstützung - auch durch Einlagerung illegaler Schriften.<br />
391 Am 11.01.1989 hatte das „ND“ einen ADN-Kommentar unter der Überschrift „Herr Stolpe <strong>und</strong> der Idealfall“<br />
veröffentlicht, in dem M. Stolpe scharf attackiert wurde.<br />
208
Die ab 2.1.1989 wieder von „Basisgruppen“ gestalteten montäglichen sog. Friedensgebete geben zu<br />
ernsten Sorgen Anlaß 392 . Ihre Übernahme in die Lucas-Kirche wird von diesen Gruppen bereits<br />
ausgestreut. [...]<br />
133 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich Kirchenfragen], über ein Gespräch am 25.01.1989<br />
zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres, H. Reitmann, <strong>und</strong> Landesbischof J.<br />
Hempel 393 <strong>und</strong> OKR Auerbach vom gleichen Tag. Unterzeichnet wurden die 4 maschinengeschriebenen<br />
Seiten von W. Jakel (StAL BT/RdB 21962 <strong>und</strong> in: BArch O-4 986, SAPMO-BArch IV B 2/14/104, ABL H<br />
53).<br />
Das Gespräch fand statt auf Gr<strong>und</strong>lage eines Schriftverkehrs, den Gen. Dr. Reitmann auf Gr<strong>und</strong> der<br />
Ereignisse am 09.11.1988 im Rahmen der Friedensdekade mit Landesbischof Dr. Hempel geführt hatte394 .<br />
Im Zusammenhang mit der Provokation am 15.01.1989 in Leipzig <strong>und</strong> den damit zusammenhängenden<br />
Vorkommnissen war eine neue Gesprächssituation eingetreten.<br />
Gen. Dr. Reitmann eröffnete das Gespräch mit einem Dank an den Landesbischof für die Bemühungen,<br />
die belasteten Staat-Kirche-Beziehungen zu normalisieren, „Schaden zu begrenzen“. Er ging darauf ein,<br />
daß dies beiderseitig geschehen müßte im Sinne von „Vertrauen wagen“. Gen. Dr. Reitmann schilderte die<br />
Entwicklung der Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche <strong>und</strong> teilte dem Landesbischof mit, daß er die<br />
Leipziger Superintendenten informiert hatte, daß es sich um 12 Personen handelt, die alle bis auf Herrn<br />
Rainer Müller beigetragen haben, daß Geschehen aufzuklären395 . Er könne jetzt dem Landesbischof<br />
mitteilen, daß alle 12 Ermittlungsverfahren eingestellt worden sind, wobei diese staatliche Entscheidung<br />
geprägt wurde durch den erreichten Stand der Staat-Kirche-Beziehungen im Raum Leipzig <strong>und</strong> um des<br />
gedeihlichen Verhältnisses wegen, obwohl die strafrechtliche Relevanz voll gegeben ist. Die Aussagen<br />
des Genossen Dr. Reitmann mündeten in der Fragestellung, ob das Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />
noch beherrschbar ist, wie es weitergeführt werden kann, ob es nicht Zeit ist, ein verantwortliches Wort<br />
dazu zu sagen?<br />
Die Erwiderung Landesbischofs Dr. Hempel enthielten zusammengefaßt folgende Aussagen:<br />
− Er ist dankbar <strong>und</strong> überrascht, daß die E-Verfahren niedergeschlagen wurden. Er sehe, daß dies<br />
geschehen ist, um des 06.03.78 wegen.<br />
− Er wolle alles tun, daß Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit eingehalten werde <strong>und</strong> es nicht erneut zu Straftaten<br />
kommt, er könne aber keine Garantien übernehmen.<br />
− Er wolle prüfen, ob das Friedensgebet abgesetzt werden kann, glaube es aber nicht. Sein Bestreben ist,<br />
das Friedensgebet zu qualifizieren, viele Gespräche zu führen.<br />
− Er sagte zu, die Gestaltung des Friedensgebetes während der Leipziger Messe <strong>und</strong> die Durchführung<br />
des sogenannten Messemännerabends persönlich abzusichern 396.<br />
− Er stelle sich voll <strong>und</strong> ganz hinter die Aussage des Rechtsanwaltes Schnur, daß sowohl das Flugblatt<br />
als auch der Schweigemarsch eigenständige politische Entscheidungen bzw. Aktionen der Beteiligten<br />
392 vgl. Dok. 136 <strong>und</strong> Dok. 138<br />
393 Dieses Protokoll ging am 30.01. im StfK ein. Am 31.01. sandte der Stellvertreter des Staatssekretärs, Kalb, eine<br />
Kopie des Protokolls zusammen mit einem Brief Bischof Hempels vom 26.01. an Jarowinsky (ZK der SED).<br />
Kalb schrieb dazu: „Es ist nunmehr notwendig, gemeinsam mit den verantwortlichen örtlichen Organen schnell<br />
einen präzisen Maßnahmeplan zu erarbeiten, der realistische Kräfte in der Leitung der sächsischen Landeskirche<br />
in ihrem Wirken für einen konstruktiven Verlauf des Kirchentages unterstützt <strong>und</strong> einen politischen Mißbrauch<br />
der Veranstaltung konsequent ausschließt.“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/104)<br />
394 Zu diesem Gespräch hatte Dr. Reitmann Bischof Hempel schon im Dezember gebeten. Aufgr<strong>und</strong> von<br />
Terminschwierigkeiten legte Bischof Hempel das Gespräch jedoch auf den 25.01.1989.<br />
395 Gemeint sind die Personen, die durch das MfS inhaftiert wurden, da sie Flugblätter hergestellt bzw. verteilt<br />
hatten. R. Müller machte bei den Verhören keine Aussagen.<br />
396 Dieser Absatz ist im Exemplar von Major Conrad (Abteilung XX/4 der BV des MfS) angestrichen worden.<br />
209
waren, weder eine staatliche noch eine kirchliche Veranstaltung bemüht oder mißbraucht wurde.<br />
− Er wolle informieren, daß er im Gespräch mit Staatssekretär Löffler397 von diesem darauf hingewiesen<br />
worden sei, die Durchführung des Kirchentages doch nach Riesa zu verlegen. Dies werde nicht gehen,<br />
es ist zu spät, es ist international bekannt, die ranghohen Ökumeniker sind im Juni/Juli 1989 in Europa<br />
zur Zentralausschußtagung des Ökumenische Rates in Moskau, wo sollten wir in Riesa die benötigten<br />
Kapazitäten hernehmen; entweder Leipzig - oder gar nicht 398.<br />
Diese Kerngedanken des Landesbischofs können zum Teil wörtlich wiedergegeben werden.<br />
„Zum Problem, unter Weglassen aller Formfragen, stehe dasselbe, was wir seit 15 Jahren sagen. Das<br />
Dauerthema ist: Sagen Sie bitte mehr, was konkret ist hier im Lande, mehr Wahrheiten. Die Gruppen<br />
sagen Dinge, die in der Substanz stimmen, Umweltschutz <strong>und</strong> Meinungsäußerungen. Auf der anderen<br />
Seite verletzen diese Leute natürlich die Formen des Umgangs, so wie wir zum Beispiel mit Ihnen (dem<br />
Staat) reden. Die Form des Gespräches - das ist unser Zwiespalt. Es gibt einzelne, mit denen ich mich<br />
nicht mehr solidarisiere. [/] Wir haben aber Schwierigkeiten, jetzt zu sagen, Schluß mit den<br />
Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Diese Leute haben keinen anderen Ort, etwas zu besprechen. Diese<br />
Leute meinen nicht uns, sondern Sie. Es gibt ein jahrh<strong>und</strong>ertelanges Tabu der Kirchenräume, das hat die<br />
DDR von Anfang an immer respektiert!“<br />
Bischof Dr. Hempel meinte, wenn ein Bischof Gottesdienst verbietet, geht das in die immerwährende<br />
Geschichte ein. Aus der Tatsache heraus, daß diese Leute das bei uns machen, folgere ich doch, daß Sie<br />
dann die Leute auf dem Hals haben. Verbieten hieße, das Phänomen wandert in eine andere Ecke aus. Es<br />
hängt nicht am Hause Nikolaikirche. Kern ist, daß die Leute sagen: „Geben Sie uns einen Ort, wo wir<br />
reden können.“ [/] „Er bitte, der Landeskirche Zeit zu lassen für qualitative Schritte. Anderes Handeln<br />
würde sich herumsprechen in Europa. Sie haben doch unsere Bemühungen bemerkt im Januar. Wir<br />
werden beraten. Wir haben aufmerksam zugehört“. [/] „Ich habe keine Kraft mehr, Sie zu verletzen. Ich<br />
muß aber sagen, wie ich es schon immer gesagt habe: „Irgendwann kommt die Quittung für das nicht<br />
Gute“. [/] Sie sagen uns, es gibt kein Gespräch mit der Volksbildung. Wir hören es. Wir w<strong>und</strong>ern uns<br />
nicht, daß junge Leute so aggressiv werden. Es wird immer wieder erklärt, was die Wahrheit ist, das haben<br />
die Leute zu schlucken. Wo können die Leute reden? Wo werden sie gehört? Wo? [/] „Ich bin Leiter, ich<br />
bekomme auch die Dresche wie Sie. Das Volk ist klug, es sieht, was los ist! - Warum schreiben Sie das<br />
nicht? Kirche ist nicht besser als Sie, wir verstehen die Jugend aber im Kern. Für Verbieten haben wir<br />
geringeres Instrumentarium, theologische Gründe haben wir auch nicht.[„]<br />
Dr. Hempel wolle das machen, was möglich ist, sich zu bemühen, das Friedensgebet zu qualifizieren. Dies<br />
ginge nicht deklamatorisch, verbieten hieße, großen Schaden anrichten. Er verurteile die Kommunikation<br />
mit den Westmedien. Kirche habe nur die Waffen des Lichtes. Sie wollen alles tun, daß es nicht zu<br />
Straftaten komme. Er verwies darauf, daß die Kirche nur das Pfarrerdienstrecht <strong>und</strong> einige Verordnungen<br />
habe. Er habe aber aufmerksam gehört, was der Staat zu ihm sage. „Wir müssen sehen, daß wir<br />
weiterkommen. Wir leben auch im Müntzer-Jahr. In den Gemeinden haben wir heiße Debatten, die uns<br />
die Regierung eingebrockt hat; Müntzer hat ja in die Politik eingegriffen. Was soll ich am 25.05. zur<br />
Predigt in der Nikolaikirche dazu sagen? Ich hoffe, daß die Regierung Organe schafft, die mit den Leuten<br />
reden. Auge in Auge zu reden, ist so wichtig, es muß raus aus dem Bauch. Er betonte in der<br />
Zusammenfassung des bisher Gesagten, Nikolaikirche <strong>und</strong> die Friedensgebete abzusetzen, sehe er keine<br />
Möglichkeiten, dann seien die Leute draußen. Wie wir qualifizieren, müssen wir im Kollegium beraten;<br />
Erfolg könne er aber nicht garantieren. Ein Stück regelmäßiger Prügel gehöre auch zu seiner<br />
Leitungserfahrung. Er sprach sich gegen die Westpresse aus, die redet über alles, sie werde dafür bezahlt.<br />
Zum Abschluß des Gesprächs stellte der Landesbischof Fragen zum Kirchentag. Staatssekretär Löffler<br />
habe zum Ausdruck gebracht, daß man von Leipzig weggehen solle, „darüber haben wir noch nicht oft<br />
397 Bei der meist wöchentlichen Beratung der AG Kirchenfragen beim ZK der SED mit Jarowinsky wurde am<br />
16.1.1989 beschlossen, Löffler zu beauftragen, bei dem schon geplanten Gespräch mit Hempel die „Leipziger<br />
Ereignisse“ als Grind für eine Verlegung des Kirchentages mit anzusprechen (SAPMO-BArch IV B 2/14/19).<br />
Das Gespräch fand am 23.01.1989 statt (s. vorhergehendes Dok.).<br />
398 Diese Position teilte Bischof Hempel am folgenden Tag per Brief auch dem Staatssekretär für Kirchenfragen mit<br />
(StAL BT/RdB 21459).<br />
210
genug geschlafen“. Es ist aber zu spät, international ist es bekannt, nur Leipzig würde in der Reformation<br />
gewürdigt von Luther. Wo sollte man z.B. in Riesa die Unterbringungskapazität hernehmen? Entweder<br />
Leipzig oder gar nicht! Die internationalen Gäste sind im Juni/Juli in Europa, da ÖRK-Tagung in Moskau.<br />
Es gibt keine Alternative zu Leipzig. Landesbischof Hempel betonte in seinen abschließenden<br />
Bemerkungen, es ist wichtig, irgendwo reden zu können, auch als Voraussetzung für die innere<br />
Ges<strong>und</strong>heit.<br />
134 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief des Vorsitzenden des Bezirkssynodalausschusses vom 26.01.1989 an den Kirchenvorstand der<br />
Nikolaikirchgemeinde, in dem gr<strong>und</strong>sätzlich der vorgeschlagenen Friedensgebetsordnung zugestimmt<br />
wurde 399 . Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 35).<br />
Betr.: Friedensgebet - unser Schr. v. 26.11.88400 Zu Ihrem Schreiben vom 08.12.88 401 nimmt der Ausschuß wie folgt Stellung 402:<br />
− Die Gruppen fühlen sich von den Gr<strong>und</strong>sätzen A 1-4 nicht direkt betroffen, da die ursprüngliche<br />
Zielrichtung für nichtkirchl. Gruppen oder Einzelpersonen gedacht war403 (s. Kontext des<br />
Synodalpapiers). Inhaltlich stimmt der Ausschuß jedoch mit dem KV überein, jedoch werden diese<br />
Kriterien als Selbstverständlichkeit für unsere Gruppen <strong>und</strong> zumal für den die Verantwortung<br />
tragenden ordinierten Pfarrer angesehen.<br />
− Die in A 5 aufgeführte generelle Regelung für Nikolai erübrigt sich in einer Übereinkunft, da dieser<br />
Sachverhalt speziell für die Friedensgebete in B 6 geregelt ist. Dazu wäre inhaltlich anzumerken, daß<br />
Vervielfältigungen, die zur Gestaltung des Gottesdienstes dienen, in die Verantwortung des<br />
ordin[ierten] Pfarrers fallen. Eine Entscheidung über Gestaltungselemente des Gottesdienstes kann<br />
nicht kurz vor dem Gottesdienst getroffen werden.<br />
Unter Kenntnis der gemachten Erläuterungen kann der vom KV vorgeschlagenen Ordnung B<br />
zugestimmt werden. Sollten in der Sitzung vom 13.02. keine gr<strong>und</strong>sätzlichen Bedenken durch den KV<br />
erhoben werden, kann nach diesem Ablauf ab 01.04. verfahren werden.<br />
135 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (A. Müller), über ein Gespräch am<br />
30.01.1989 zwischen Mitarbeitern der Bezirksstaatsanwaltschaft (Munkwitz, Kurzke) <strong>und</strong> des RdB<br />
(Reitmann, A. Müller) mit OKR Auerbach, Sup. Richter <strong>und</strong> Sup. Magirius aufgr<strong>und</strong> der Verhaftungen Mitte<br />
Januar 1989. Diese Information vom 31.01.1989 ging an die SED-BL, an das Staatssekretariat für<br />
Kirchenfragen, an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> an die BV Leipzig des MfS 404 .<br />
Unterzeichnet wurde die Information von A. Müller (StAL BT/RdB 20749 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21962,<br />
BArch O-4 1117, ABL H 53).<br />
Zielstellung des Gespräches war, den kirchlichen Vertretern mit weitergehenden Fakten über die<br />
Ergebnisse der Ermittlungsverfahren bekanntzumachen, die im Ergebnis der stattgef<strong>und</strong>enen Provokation<br />
am 15.01.1989 in Leipzig gegen einen den kirchlichen Vertretern bekannten Personenkreis eingeleitet<br />
399 Der Brief gab den Beschluß des BSA vom 13.01.1989 wieder (ABL H 35)<br />
400 s. Dok. 117<br />
401 s. Dok. 121<br />
402 Der Brief entspricht inhaltlich dem Protokoll der BSA-Sitzung vom 13.01.1989 (ABL H 35).<br />
403 Im Protokoll von Pf. Berger heißt es: „... da für unsere Gruppen nicht zutreffend, ursprünglich für nichtkirchl.<br />
Gruppen oder Einzelpersonen inhaltl. werden diese Kriterien als Selbstverständlichkeit für Gruppen <strong>und</strong><br />
verantwortl. ordinierten Pfarrer angesehen“ (ebenda).<br />
404 Dieses Gespräch hatte die HA IX des MfS am Vormittag des 25.01.1989 zusammen mit Gesprächen Kurzkes mit<br />
allen Beschuldigten mit dem Ziel der „Differenzierung“ emp- bzw. befohlen (BStU Leipzig AB 3843, 137).<br />
211
werden mußten <strong>und</strong> die dem Stellv. d. Vorsitzenden des Rates für Inneres im Gespräch mit Bischof<br />
Hempel am 25.01.1989 im Detail so noch nicht vorlagen. Gleichzeitig sollten die kirchlichen Vertreter,<br />
unter Beachtung der juristischen Bewertung gem. den strafrechtlichen Bestimmungen in die Lage versetzt<br />
werden, innerkirchlich diese Prozesse zu verfolgen <strong>und</strong> verantwortungsbewußt darauf Einfluß zu nehmen.<br />
Im Zusammenhang damit wurden die staatlichen Erwartungshaltungen den kirchlichen Vertretern<br />
mitgeteilt bzw. erläutert. Einleitend dankte der Stellvertreter für Inneres den kirchlichen Vertretern über<br />
die Art <strong>und</strong> Weise, wie sie im Umfeld der Ereignisse versachlichend <strong>und</strong> beruhigend gewirkt haben. Dies<br />
sei ein Ausdruck der kontinuierlichen Linie, die schon über eine lange Zeit zwischen der Evangel[isch-<br />
]Luther[ischen] Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> dem Rat des Bezirkes bzw. Rat der Stadt Leipzig Praxis ist.<br />
Darauf hinzuweisen sei wichtig für das weitere Zusammenwirken, um Schaden nicht nur zu begrenzen,<br />
sondern in den Beziehungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche Kontinuität <strong>und</strong> Vertrauen weiter zu gewinnen.<br />
Genosse Munkwitz informierte danach die kirchlichen Vertreter sehr ausführlich über die Ergebnisse der<br />
Ermittlungsverfahren <strong>und</strong> bewertete die Tatbeteiligung der einzelnen Personen differenziert auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage des § 214 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 Strafgesetzbuch 405 . Dabei wurde klar herausgearbeitet, daß daran auch<br />
kirchliche Mitarbeiter beteiligt waren <strong>und</strong> daß durch Verletzungen der Aufsichtspflicht des<br />
Pfarramtsleiters der Markuskirchgemeinde begünstigende Bedingungen geschaffen wurden, die einen<br />
Mißbrauch von kirchlichen Druckvervielfältigungsgeräten möglich gemacht haben.<br />
Gleichzeitig wurde deutlich herausgearbeitet, daß die Inspiratoren die Kirche als Deckmantel für die<br />
Vorbereitung ihrer Aktion nutzten. Der kriminelle <strong>und</strong> konspirative Charakter dieser Aktion sowie der<br />
damit verb<strong>und</strong>ene Vorsatz dieser Personen wurde an Fakten gegenüber den kirchlichen Vertretern<br />
nachgewiesen.<br />
Der Stellvertreter für Inneres leitete daraus gegenüber den kirchlichen Vertretern folgende staatliche<br />
Erwartungshaltung ab:<br />
1. Die kirchliche Aufsichtspflicht über die Benutzung der in den Räumen der Kirche befindlichen<br />
Vervielfältigungstechnik ist verstärkt wahrzunehmen. Eine exakte Nachweisführung über gefertigte<br />
Druckerzeugnisse ist zukünftig zu gewährleisten. Der Personenkreis, der diese Geräte benutzen darf,<br />
ist konkret festzulegen. Es kann nur das vervielfältigt werden, was der verantwortliche Pfarramtsleiter<br />
akzeptiert bzw. verantworten kann. Nur allein der Vermerk „Nur für innerkirchlichen Dienstgebrauch“<br />
schließt einen Mißbrauch nicht aus.<br />
2. Da auch kirchliche Mitarbeiter als Mitorganisatoren in Erscheinung getreten sind, ist die<br />
Dienstaufsichtspflicht der Leiter dieser Einrichtungen gegenüber diesen Personen verstärkt<br />
wahrzunehmen. Des weiteren aber auch gegenüber dem Personenkreis, die in den Basisgruppen der<br />
Kirche mitwirken. Es gilt die Aktivitäten dieser Leute auf den innerkirchlichen Raum zu beschränken<br />
<strong>und</strong> somit ihren Spielraum einzuengen, da sie ansonsten immer mehr zur Belastung des Staat-Kirche-<br />
Verhältnisses werden.<br />
3. Die Friedensgebete in der Nikolaikirche machen deutlich, daß sie von diesem Personenkreis nach wie<br />
vor zum Gegenstand für Angriffe gegen den Staat genutzt werden. Durch die Superintendenten wie<br />
durch das LKA ist weiter intensiv daran zu arbeiten, daß der theologische Gehalt der Friedensgebete<br />
noch weiter in den Vordergr<strong>und</strong> gerückt wird <strong>und</strong> diese Gebete durch befähigte <strong>und</strong> qualifizierte<br />
Pfarrer bzw. Theologen durchgeführt werden. Ausgehend von der derzeitigen Lage sollte<br />
kirchlicherseits ernsthaft geprüft werden, die Friedensgebete in der Nikolaikirche bis auf weiteres<br />
abzusetzen.<br />
4. Durch das LKA <strong>und</strong> den Superintendenten ist nun gegenüber Pf. Wonneberger konkret disziplinierend<br />
Einfluß zu nehmen, da dieser immer mehr zu einem Problem an sich wird 406 . Es zeigt sich immer<br />
deutlicher, daß Wonneberger bei allem politisch Negativen seine Hände mit im Spiel hat, über alles<br />
Bescheid weiß <strong>und</strong> als Berater <strong>und</strong> Kontaktperson für diesen Personenkreis zur Verfügung stand <strong>und</strong><br />
steht. Staatlicherseits wird über Wonneberger mit der Kirche nicht mehr lange geredet.<br />
405 vgl. Anm. 26 <strong>und</strong> 28<br />
406 Das MfS hatte das Ziel, C. Wonneberger aus Leipzig zu vertreiben. So heißt es anläßlich einer Absprache<br />
zwischen Referatsleiter der Abt. XX <strong>und</strong> Eppisch am 23.3.89 „Wonneberger - diskreditieren, mies machen<br />
(kirchl. Disziplinierung anweisen) [/] Ziel: weg von Leipzig“<br />
212
Der Stellvertreter für Inneres machte deutlich, daß durch das LKA <strong>und</strong> durch beide Superintendenten<br />
schnell gehandelt werden muß. Es gilt im Vorfeld der Leipziger Messe, der Kommunalwahlen aber auch<br />
des KTK <strong>und</strong> KT, daß gegenüber den Basisgruppen ernstzunehmende Zeichen gesetzt werden <strong>und</strong> damit<br />
der Rahmen ihres Wirkens durch die Kirche bestimmt wird. Mit Nachdruck wurde darauf hingewiesen,<br />
daß jeder Versuch dieser Kräfte, die staatliche Ordnung zu unterlaufen, durch die betreffenden Organe<br />
konsequent unterb<strong>und</strong>en wird. Darüber sollte auch nicht die Einstellung der Ermittlungsverfahren bei<br />
diesen Kräften hinwegtäuschen. Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurde klar aufgezeigt, daß die<br />
Ermittlungsverfahren nicht aufgr<strong>und</strong> fehlender Straftatbestände eingestellt wurden, sondern um das Staat-<br />
Kirche-Verhältnis nicht weiter zu belasten. Somit sollten daraus insgesamt keine falschen<br />
Schlußfolgerungen gezogen werden.<br />
Durch die kirchlichen Vertreter wurden dazu folgende Standpunkte vertreten:<br />
1. OKR Auerbach machte deutlich, daß die Vorgänge in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche, aber auch die<br />
Vorkommnisse um den 15.01.1989, in der Landeskirchenleitung Wirkung haben <strong>und</strong> daß man sich<br />
stärker dazu profilieren muß <strong>und</strong> dies auch tun wird. Die Superintendenten von Leipzig haben dies<br />
schon mit ihren R<strong>und</strong>schreiben an alle Gemeinden in der Stadt Leipzig, wo sie zu den Vorgängen um<br />
den 15.01.1989 Stellung nehmen, klar getan <strong>und</strong> sich von diesen Leuten distanziert407 . Die Kirche wird<br />
auf diese Herausforderung reagieren. Dies erfordert aber einen langen Weg. Man sollte der Kirche aber<br />
dazu Zeit lassen.<br />
2. OKR Auerbach verwies darauf, daß es innerkirchliche Regelungen gibt, die genau festlegen, welche<br />
Materialien unter den Begriff „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ fallen. Damit wird<br />
gleichzeitig der Adressatenkreis genau bestimmt. Somit stellt man sich als Kirche auch nicht hinter<br />
diesen Personenkreis <strong>und</strong> den [sic!] damit verb<strong>und</strong>enen Aktivitäten. Man wird sich am Dienstag in der<br />
Kirchenleitungssitzung zu diesen Fragen verständigen, vor allem hinsichtlich der verstärkten<br />
Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die Leiter kirchlicher Einrichtungen bzw. Pfarramtsleiter, die<br />
im Besitz solcher Geräte sind. Höchstwahrscheinlich wird ein R<strong>und</strong>schreiben an alle Pfarrämter bzw.<br />
kirchlichen Einrichtungen in der Landeskirche zu dieser Problematik ergehen 408.<br />
3. Nach Auffassung von Auerbach sind die betroffenen Mitarbeiter der Inneren Mission Leipzig-Stadt<br />
bzw. die ehemaligen Studenten des Theologischen Seminars gute Leute (in ihrer Arbeit <strong>und</strong> in ihren<br />
Leistungen). Nach seiner Meinung kann man sie nicht als Kriminelle in diesem Sinne bezeichnen. Sie<br />
beschäftigen sich schon über einen längeren Zeitraum mit den Menschenrechten <strong>und</strong> ihrer<br />
Verwirklichung. Für die Kirche ist aber entscheidend die theologische Frage, in welcher Form <strong>und</strong> mit<br />
welchen Mitteln diese Rechte eingeklagt werden können. Die Formen <strong>und</strong> Methoden, mit denen diese<br />
Leute dies tun wollen, kann aber die Kirche nicht gutheißen <strong>und</strong> somit auch nicht tolerieren. Auf der<br />
anderen Seite kann sich aber die Kirche auch nicht von diesen Leuten trennen, da sie gegenüber diesen<br />
eine Verantwortung wahrzunehmen hat.<br />
4. Sup. Richter gab zu verstehen (ebenfalls Magirius <strong>und</strong> Auerbach), daß man die Sorge des Staates gehört<br />
habe <strong>und</strong> man sie als Kirche teilt. Darüber bestehe ein Konsens. Man wolle das in ihren Kräften<br />
stehende tun, um eine Versachlichung <strong>und</strong> Beruhigung der Lage schnellstens herbeizuführen. Dafür<br />
gibt es nur einen gangbaren Weg, d.h., mit den Gruppen weiter intensiv im Gespräch zu bleiben. In<br />
ihren R<strong>und</strong>schreiben an die Gemeinden haben sie gesagt, was zu sagen ist <strong>und</strong> was sie vom politischen<br />
Dialog halten. Dieses Papier wird auch weiter im Mittelpunkt der Diskussion im innerkirchlichen<br />
Bereich stehen. Inwieweit man damit Erfolg hat ist jetzt noch nicht abzusehen. Auf der anderen Seite<br />
sieht er sich aber auch überfordert. Der Staat gibt den Leuten die „lange Leine“ <strong>und</strong> er soll die Leute an<br />
die „kurze Leine“ legen.<br />
407 s. Dok. 128<br />
408 Pf. Turek hatte Gruppenmitglieder an das Ormig-Gerät der Gemeinde gelassen, ohne sich zu vergewissern, daß<br />
nur die genehmigten Matrizen abgezogen wurden. So wurde Anfang Januar ein Teil der Flugblätter zur<br />
Demonstration am 15.01.1989 auf diesem Gerät hergestellt. Pf. Turek wurde deshalb vom Staat aber auch von<br />
der Kirchenleitung (Operativinf. 87/89 des Ref. XX/2 der KD Leipzig Stadt, abgedruckt in: Besier Wolf, 671f.)<br />
zur Rede gestellt. Das Landeskirchenamt gab daraufhin eine Anweisung an alle Pfarrer heraus, wie sie mit den<br />
Vervielfältigungsgeräten umzugehen haben (LKA Reg.-Nr. 2402/89 - ABL H 1).<br />
213
5. Durch Sup. Magirius wurde klargestellt, daß man alles tun will, um die Friedensgebete wieder in die<br />
richtigen Bahnen zu leiten. Diese Bemühungen trägt auch der Kirchenvorstand der Nikolaikirche mit.<br />
Gelingt dies nicht, wird man die Friedensgebete bis auf weiteres absetzen 409 . Diese Maßnahme, sollte<br />
sie zum Tragen kommen, birgt aber Gefahren in sich. Dies kann zu einer Verlagerung der<br />
Friedensgebete in andere Kirchen der Stadt Leipzig z.B. in die Lukas- oder Michaeliskirche führen. So<br />
etwas kann aber nicht gewollt sein, da man dann wieder am Anfang steht <strong>und</strong> vor noch schwierigeren<br />
Problemen.<br />
6. Zur Person Wonneberger machte Auerbach deutlich, daß die Landeskirche um die Person <strong>und</strong> dem<br />
damit verb<strong>und</strong>enen Problemen weiß. Sie ist gewillt, sich mit Wonneberger „kämpferisch“<br />
auseinanderzusetzen, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Vor Wonneberger <strong>und</strong> diesen Leuten<br />
habe die Kirche keine Angst. Sie ist dem gewachsen. Auch wenn sich die Kirche mit Wonneberger hart<br />
auseinandersetzt, wird sie aber auch gleichzeitig für diesen Mann bis zuletzt eintreten.<br />
Im Verlaufe des Gesprächs, daß trotz des ernsten Anlasses in einer sachlichen <strong>und</strong> vertrauensvollen<br />
Atmosphäre verlief, äußerten die kirchlichen Vertreter nachfolgende Meinung:<br />
OKR Auerbach<br />
Was manche Personen vor der Nikolaikirche versuchen zu veranstalten, also außerhalb der Kirche, ist<br />
nicht die Folge von dem, was in der Kirche gesagt wurde. Die Gruppen sind untereinander uneins <strong>und</strong><br />
zersplittert. Die Kirche steht damit vor einer schwierigen Situation. Viele Pfarrer aus Leipzig kennen die<br />
Friedensgebete in der Nikolaikirche nicht, da sie diese noch nie besucht haben.<br />
Sup. Richter<br />
Nach seiner Meinung wird aus der Gesamtproblematik ein Generationsproblem, vor allem in bezug auf<br />
die Jugend, sichtbar. Man sollte gemeinsam über die Ursachen nachdenken. Tut man dies nicht, können es<br />
morgen schon mehr Straftaten sein. Die Generation heute denkt anders als die in den 50er Jahren. Die<br />
Kirche hat es mit Menschen zu tun. Dort, wo Menschen sind, besteht auch eine Bandbreite von<br />
Meinungen. Ein Gr<strong>und</strong>konsens zu den Fragen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung ist<br />
erreicht. Es gibt aber auch Leute, die dort nicht stehen bleiben wollen, die mehr <strong>und</strong> weiter gehen<br />
möchten. Die Situation am letzten Montag vor der Nikolaikirche, hervorgerufen durch Polizei <strong>und</strong> andere<br />
Kräfte, war für ihn beängstigend. Es geht ihm darum, daß die Stimmung nicht weiter angeheizt wird. Nach<br />
seiner Meinung fehlen die staatlichen Initiativen, die diese Aktivitäten auffangen bzw. Gesprächspartner<br />
für diese jungen Leute in den Gruppen organisieren. Nach seinem Wissen steht auch 1989 wiederum ein<br />
„Pleißemarsch“ ins Haus. Wo ist der Kulturb<strong>und</strong>, der diese Aktivitäten kompensiert?<br />
Sup. Magirius<br />
Die Kirche hat nur die Möglichkeit, mit diesen Leuten zu reden. Gesprächskontakte mit den Gruppen sind<br />
weiter notwendig. Man sollte die Gruppen sich nicht selbst überlassen. Nach seiner Meinung redet sonst<br />
niemand mit diesen Personen. Sie sind aber da. Hinsichtlich der Einflüsse: Sie sind nicht allein nur vom<br />
Westen gegeben. Aus den sozialistischen Ländern kommen Neuerungen, über die in den Gruppen geredet<br />
<strong>und</strong> diskutiert wird. Es sind Fragen, die das tägliche Leben berühren. Es wird alles getan, um die<br />
Friedensgebete in der Nikolaikirche wieder zu dem zu machen, was sie früher waren. In diesem<br />
Zusammenhang äußert er die Bitte, die gesellschaftlichen Kräfte zukünftig nicht mehr so präsent in<br />
Erscheinung treten zu lassen. Am 28.01.1989 habe auch Rechtsanwalt Schnur noch einmal mit dem<br />
betreffenden Personenkreis zur juristischen Sachlage geredet. Dabei ist deutlich geworden, daß dies bei<br />
einigen Personen auf einen schwierigen Boden fällt, d.h., daß sie sich ihres Fehlverhaltens nicht bewußt<br />
werden wollen.<br />
Zum Abschluß wurde durch den Stellvertreter für Inneres auf die jüngsten einseitigen<br />
Abrüstungsinitiativen in der DDR <strong>und</strong> der anderen sozialistischen Länder verwiesen. Dabei wurde<br />
hervorgehoben, daß diese Initiativen auch unter den Amtsträgern bzw. unter den Friedensgruppen in der<br />
409 Dieser Satz wurde Anlaß für eine Kontroverse in der Leipziger Volkszeitung im Januar 1992 (25./26.01.1992, S.<br />
1+2 <strong>und</strong> Leserbriefe in den folgenden zwei Wochen).<br />
214
Kirche ein klares Bekenntnis hinsichtlich der Befürwortung auslösen müßten. Mit diesen Initiativen<br />
werden Forderungen heute konkret in Angriff genommen, für die die Friedensgruppen 1982/83 beharrlich<br />
eingetreten sind. Warum melden sich diese Gruppen heute nicht zu Wort, die gestern gerufen haben?<br />
Warum steht man heute nicht mehr zu dieser Meinung?<br />
Im Ergebnis des Gespräches wurde zum Gr<strong>und</strong>anliegen <strong>und</strong> zur Lageeinschätzung ein Konsens erzielt,<br />
mit der Maßgabe, daß die kirchlichen Vertreter beruhigend, versachlichend <strong>und</strong> disziplinierend gegenüber<br />
diesen [sic!] Personenkreis bzw. Gruppen wirken, auch mit Blick auf das sich bewährende Staat-Kirche-<br />
Verhältnis. Dabei sollte es auch um die Bürger christlichen Glaubens gehen, die aus religiösen <strong>und</strong> nicht<br />
aus politischen Motiven in die Kirche gehen wollen.<br />
136 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 47. Sitzung des Kirchenvorstandes St. Nikolai vom<br />
13.02.1989. An der Sitzung nahm Sup. Magirius nicht teil. Das Protokoll schrieb W. Hofmann (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Besetzung 3. Pfarrstelle [/] 2. Ausschreibung Gemeindeschwesternstelle [/] 3. Neue<br />
Kanzleisituation [/] 4. Bauarbeiten, Stand <strong>und</strong> Vorhaben [/] 5. Gesprächsergebnis FG [/] 6. Etwaige<br />
weitere Gegenstände<br />
[...] Dafür wird unter TOP 4 die Friedensgebet-Situation behandelt. 410 Das Schreiben des<br />
Bezirkssynodalausschusses für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit vom 26.1.89 an den Kirchenvorstand wird<br />
verlesen <strong>und</strong> beraten411 . Es ist eine Antwort auf die gefaßten Gr<strong>und</strong>sätze des KV vom [neue Seite] 8. Dez.<br />
1989412 . Entsprechend der selbstverständlichen Gr<strong>und</strong>sätze 4, 1-5, <strong>und</strong> der Ablaufordnungen B wird bei<br />
den Friedensgebeten künftig verfahren, da im Schreiben des Bezirkssynodalausschusses vom 26.1.89 die<br />
Zustimmung allen dort vertretenen Gruppen vorliegt. Wir weisen daraufhin, daß die nächste KV-Sitzung<br />
am 6. März stattfindet. [...]<br />
Mit 7 Ja-Stimmen <strong>und</strong> 1-Nein-Stimme gibt der KV die Erlaubnis zur Durchführung einer<br />
Informationsveranstaltung zur Wahl in der DDR im Gemeindesaal St. Nikolai.<br />
Lesung 413 Günter Graß am Dienstag, 21.11.89, im Rahmen der Friedensdekade in der Kirche 414.<br />
[...]<br />
137 Friedensgebetstexte<br />
Texte aus dem Friedensgebet am 27.02.1989, welches von Pf. Führer zusammen mit dem<br />
Ausreisegesprächskreis „Hoffnung“ gestaltet wurde. Vorlage sind die maschinengeschriebene Entwürfe, die<br />
teilweise handschriftliche Anmerkungen <strong>und</strong> Zusätze tragen (C. Führer).<br />
1. Begrüßung durch Pfarrer M. Wugk, [dem] stellvertetenden Superintendenten, mit der Tageslosung<br />
2. Lied: O komm, DU Geist der Wahrheit (V. v. Törne)<br />
3. Lesung: Matth. 5,3-12<br />
4. Predigt über Röm. 12,12/19/21<br />
[Pf. Führer:] Liebe Montagsgemeinde des Friedensgebetes!<br />
Wenn wir uns Montag für Montag hier versammeln, dann hat das seinen Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> seine Gründe. Für<br />
viele von uns ist das Friedensgebet ein Bedürfnis geworden, entstanden aus einer persönlichen Situation<br />
der Betroffenheit. Mancher kann seine Betroffenheit in Worte fassen, andere hingegen nicht, etliche<br />
finden sich in dem wieder, was andere formulieren <strong>und</strong> aussprechen. Wir hören jetzt solche Zeugnisse der<br />
Betroffenheit: [folgende Texte sind in der Vorlage auf extra Blättern zu finden]<br />
410 Am Rand wurde „15.02.“ gestempelt, als Datum der Umsetzung des Beschlusses.<br />
411 s. Dok. 134<br />
412 Vermutlich ist der Brief vom 8.12.1988 gemeint, s. Dok. 121<br />
413 Am Rand wurde „14.02.“ gestempelt, als Datum der Umsetzung des Beschlusses.<br />
414 Die Lesung fand am 21.11.1989 in der Nikolaikirche statt.<br />
215
Frau Dr. Zehner [... die Blätter haben jeweils die Kopfzeilen: „Gesprächskreis Hoffnung St. Nikolai<br />
Zeugnis der Betroffenheit“]:<br />
Irgendwann habe ich begriffen, daß es über meine Kräfte geht, weiter das mitzumachen, was man „Weg<br />
zum Sozialismus“ nennt. Und so manches möchte ich da auch nicht mitverantworten.<br />
Es werden durch den Totalitätsanspruch der marxistisch-leninist[ischen] Weltanschauung in allen<br />
gesellschaftlichen Bereichen, vor allem aber im Bildungswesen, ständig Bekenntnisse <strong>und</strong><br />
Verpflichtungen verlangt, hinter denen der Einzelne [sic!] oft gar nicht steht. So erfolgt eine Erziehung zu<br />
Heuchelei, zu Denken <strong>und</strong> Handeln in vorgeschriebenen Bahnen. Das administrierend-verfügende<br />
Regiment von Partei <strong>und</strong> Staat mit einem Informationssystem, das in seiner Ideologieabhängigkeit nur die<br />
Fakten durchläßt, die in seine Richtung passen, führt zu Spannungen zwischen Regierenden <strong>und</strong><br />
Regierten. Es hat sich ein Gemisch aus Apathie, organisierter Verantwortungslosigkeit, Tabuisierung <strong>und</strong><br />
Verleugnung von Problemen ergeben. Eine gesellschaftliche Partizipation ist nicht erwünscht, es wird den<br />
Menschen lediglich die Rolle zustimmenden Mittuns, nicht aber die kritische Partnerschaft eingeräumt.<br />
Mündigkeit wird außerdem gehindert durch ein weit verbreitetes Gefühl der Angst <strong>und</strong> die andauernde<br />
Erfolglosigkeit eigener Bemühungen entmutigt. Das führt zu einer Resignation, aus der ich nicht<br />
herausfinden kann. Meinte ich anfangs noch, Wellenbrecher <strong>und</strong> Gegenpol sein zu müssen, wollte ich<br />
später doch wenigstens in einem begrenzten Bereich Einfluß ausüben. Schließlich nur noch <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong><br />
tragen. Alles mündete im Rückzug auf den privaten Bereich. Ich bin nicht der Typ, der sich mit einer<br />
Fahne, welcher auch immer, auf die Straße stellt. Ich organisiere auch keine Untergr<strong>und</strong>bewegung oder<br />
halte Staatsmaschinerien auf. Ich möchte das sagen <strong>und</strong> tun können, was ich für richtig halte. Ich möchte<br />
keinem anderen Menschen Schaden zufügen <strong>und</strong> suche einen Einklang zwischen mir <strong>und</strong> meinem<br />
Lebensraum. Leben heißt auch Veränderung!<br />
Herr Kunze [... s.o.]: Einige Gedanken: Ich glaube, in der DDR wird zuviel Für- <strong>und</strong> Vorsorge an der<br />
falschen Stelle getrieben. Der Glücksanspruch des einzelnen bleibt auf der Strecke. Mit materieller<br />
Sicherheit, mit Arbeitsplatz <strong>und</strong> Lehrstelle für jeden, mit preiswerten Wohnungen, Straßenbahn <strong>und</strong> Brot<br />
für Pfennige allein ist der Mensch kaum zufriedenzustellen...<br />
Das administrierte Glück für alle hat nicht nur einen faden Beigeschmack, sondern produziert auch<br />
apathische Unzufriedenheit.<br />
Frau Kreyßig [... s.o.]: Einige Gedanken: Für mich ist Sozialismus eine Staatsform, die mit großem<br />
Anspruch angetreten ist, jetzt aber immer mehr erstarrt. Ich kann nicht mehr an ihre Zukunftsträchtigkeit<br />
glauben. Bedauerlich ist, daß der Praxis mehr <strong>und</strong> mehr die Idee verloren geht.<br />
Kommunistisches Ethos <strong>und</strong> christliches hatten viel gemeinsam. Als Erlöser nicht Jesus, sondern die<br />
Arbeiter. Und die sollen das Himmelreich schon auf Erden errichten. Bloß, was errichten sie wirklich? ...<br />
Es wachsen mit: Gleichheit, Gleichmacherei <strong>und</strong> Gleichgültigkeit. Woher soll die Motivation kommen?<br />
Mit Menschen ist das nicht zu machen! ... Obwohl Sozialismus Materialismus lehrt, fordert er unentwegt<br />
Idealismus.<br />
[Pf. Führer:] Ich selbst möchte noch eine Betroffenheit hinzufügen. Was Christoph Hein in seinem Roman<br />
„Horns Ende“ beschreibt, läßt sich in Variationen auch heute erfahren. Ich hörte vor 14 Tagen von einem<br />
Gewi-Lehrer 415 <strong>und</strong> Genossen, 59 Jahre alt. Es ist mit seiner Frau von einer BRD-Reise nicht<br />
zurückgekehrt, ist „drüben“ geblieben. Nun, da beginnen die Gedanken zu laufen. Da hat der Mann den<br />
Schülern jahrelang den Sozialismus verkündet in der bekannten Art <strong>und</strong> Weise. Da hat der Mann<br />
jahrelang christlichen Kindern das Leben schwergemacht. Und nun sieht er in der BRD seiner gesicherten<br />
Beamtenpension in DM-West, versteht sich, entgegen. Wie viele solche Menschen leben noch unter uns?<br />
Wie viele solcher Menschen mögen heute noch den Sozialismus <strong>und</strong> die Vorteile <strong>und</strong> Zukunftsträchtigkeit<br />
dieses Systems dozieren, um bei günstiger Gelegenheit die Früchte des dem Untergang geweihten<br />
Kapitalismus zu genießen?<br />
Wahrscheinlich hat jeder von uns irgendwo ein Gefühl der Betroffenheit. Sei es an einer der<br />
angesprochenen oder anderen Stellen. Viele von uns leben mit der geheimen Last auf der Seele. Wie man<br />
sich da fühlt, beschreibt Aitmatow in der „Richtstatt“ (S. 95): „Wie groß die Erde auch sein mag, wie<br />
schön neue Eindrücke sein mögen - alles ist nichts wert <strong>und</strong> gibt weder dem Verstand noch dem Herzen<br />
415 Lehrer der „Gesellschaftswissenschaften“, d.h. des Marxismus-Leninismus<br />
216
etwas, wenn im Bewußtsein auch nur ein winziger Schmerzpunkt existiert, der das Allgemeinbefinden <strong>und</strong><br />
das Verhältnis zur Umwelt aus dem Verborgenen bestimmt.“<br />
Wie entledigt man sich dieser geheimen Last, wie beseitigt man den Schmerzpunkt? [/] - Durch Ausreise?<br />
[/] - Durch Resignation? [/] - Durch blinde Anpassung zum Zweck der Sicherung eigener Vorteile?<br />
Den Ausreisewilligen wird oft vorgeworfen, sie seien verantwortungslos diesem Land gegenüber <strong>und</strong><br />
ließen es im Stich. Sehen wir uns doch einmal einen DDR-Bürger an, der hier lebt, <strong>und</strong> der so typisch<br />
anscheinend schon ist, daß er bereits vor Jahren im Kabarett glossiert wurde (Wem die Mütze paßt, S.<br />
118 416 ): „Mein Gr<strong>und</strong>satz lautet: Vorwärts - aber mit Rückendeckung! Hinter mir das jeweils letzte<br />
Plenum [des ZK der SED], vor mir meine gesicherte Zukunft! Und so kann ich denn sagen: Plenen<br />
kommen <strong>und</strong> gehen, aber meine Karriere, die bleibt bestehen! Denn das ist der Weisheit letzter Schluß:<br />
Der Weise tut nichts, was er verantworten muß. [/] Shiguli [PKW-Modell] <strong>und</strong> Bungalow sind des Weisen<br />
Zeichen. Meidest du das Risiko, kannst du sie erreichen. Darum denke jederzeit nach, was andre denken.<br />
Und vor allem: Sei bereit, sofort umzuschwenken, wenn der Wind sich dreht. Kurz: Sei up do date! Denn<br />
es wechseln - ihr Naiven - schnell die schönsten Direktiven! [/] Gestern noch alles für die<br />
Datenverarbeitung, heute schon wieder Kopfrechnen! Da heißt es, das Ohr an der richtigen Masse haben!<br />
Als Leiter muß man eben manchmal seiner Zeitung voraus sein. Ahnen ist besser als planen. Einen guten<br />
Gedanken zum falschen Zeitpunkt äußern, das kann die ganze Intelligenzrente kosten! Lieber zehn Fehler<br />
mitmachen, als einen allein. Denn mitgemachte Fehler brauchst du dir nicht zu Herzen zu nehmen. Nimm<br />
sie in den M<strong>und</strong> <strong>und</strong> käue wieder: ich bin klein - mein Motiv war rein - sollte ich denn klüger als alle<br />
sein? Und du wirst sehen: Geteilter Schneid bringt selten Leid. Und so sitz ich sieben Jahr sicher auf dem<br />
Posten. Fahr zwar keinen Jaguar, doch das liegt am Osten. Hab zwei Konten <strong>und</strong> zwei Fraun,<br />
Swimmingpool - ‘nen kleinen - hab ‘ne Villa mit ‘nem Zaun, bloß Charakter keinen. Daß ich den verlor,<br />
brauchte nur Komfort. Denn ich hab ihn - ihr Naiven - eingetauscht für Direktiven! [/] Alle sagen,<br />
Charakterlosigkeit sei etwas Schlechtes. Ich sage: Erwirb sie, um was zu besitzen!“<br />
Wie ist das nun mit der eindeutigen Schuldzuweisung? Stellt sich bei näherem Hinsehen nicht doch die<br />
Frage, wer verantwortungsloser handelt, wer diesem Land mehr Schaden zufügt, der Ausreisewillige oder<br />
der eben beschriebene DDR-Bürger? [/] Gefühle der Betroffenheit <strong>und</strong> die geheime Last der Seele, der<br />
Schmerzpunkt - wie gehen wir damit um? Haben wir da einen Hinweis oder einen Rat bereit, hier im<br />
dieser Kirche des JESUS CHRISTUS? Etwas, was für uns alle gilt, für die, die gehen wollen, wie auch für<br />
die, die bleiben wollen? Für die, die gehen müssen, wie auch für die, die bleiben müssen?<br />
„Seid fröhlich in Hoffnung, standhaft in allen Schwierigkeiten, werdet nicht müde im Beten... [/]<br />
Greift der Strafe GOTTES ... nicht vor, liebe <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>! Denn es heißt: „ICH habe MIR die Vergeltung<br />
selbst vorbehalten“, sagt der HERR. „ICH selbst werde es ihnen heimzahlen“. Laß dich also vom Bösen<br />
nicht besiegen, sondern überwinde es durch das Gute.“ (Röm. 12,12/19/21)<br />
1. „Fröhlich in Hoffnung!<br />
Als Alexander der Große zu einem seiner Feldzüge in den Orient aufbrach, verteilte er alle möglichen<br />
Geschenke an seine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>. Er trennte sich in seiner Freigebigkeit [sic!] von sehr vielem, was es<br />
besaß. Einer seiner <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> sagte zu ihm: „Du wirst selbst nichts mehr behalten!“ „O doch“, erwiderte<br />
Alexander, „ich behalte meine Hoffnungen!“<br />
Wir brauchen eine Hoffnung, die hüben <strong>und</strong> drüben gilt, eine Hoffnung, die unabhängig ist von den<br />
Fahnen, die draußen wehen. Eine Hoffnung über den Ideologien. Eine Hoffnung auf morgen. Eine<br />
Hoffnung, die uns fröhlich macht, aufrichtet, ermutigt, auch wenn uns Ablehnung, Resignation oder<br />
Anpassung einschränken <strong>und</strong> fertigmachen wollen. Im Blick auf den gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen<br />
JESUS CHRISTUS leben Christen nach der Devise: „Das Beste kommt noch!“ Weil wir die Gnade<br />
GOTTES, die Liebe unseres HERRN JESUS CHRISTUS <strong>und</strong> die Gemeinschaft des Heiligen<br />
GEISTES erfahren in unserem Leben, weil uns im Tiefpunkt unseres Lebens, an der dunkelsten Stelle<br />
das Wort JESU erreicht: „Laß dir an MEINER Gnade genügen, denn MEINE Kraft ist in den<br />
Schwachen mächtig“, darum kommen wir immer wieder auf die Beine, innerlich <strong>und</strong> äußerlich. So<br />
wagen wir den Satz: Es gibt keine aussichtslosen Situationen im Leben, sondern nur Menschen, die die<br />
Hoffnungen aufgegeben haben. Echte Christen geben die Hoffnungen nie auf. Ich lade uns alle heute<br />
416 Aus: P. Ensikat, Bürger schützt eure Anlagen oder Wem die Mütze paßt, Berlin 1983, 118f.<br />
217
erneut ein zu CHRISTUS, der Hoffnung über den Ideologien.<br />
2. „Standhaft in allen Schwierigkeiten“<br />
Diese Aufforderung gelingt nur als 2. Schritt, wenn der erste Schritt „fröhlich in Hoffnung“ heißt.<br />
Auch heißt dies, sich den Schwierigkeiten nicht ausliefern, nicht preisgeben. Jemand, der tapfer seine<br />
Schwierigkeiten <strong>und</strong> Leiden aushielt, wurde gefragt: „Leiden verleiht dem Leben Farbe, nicht wahr?“<br />
Darauf der Betreffende: „Das stimmt. Doch ich beabsichtige, die Farbe selbst zu wählen.“ Diese<br />
Haltung atmet ein Stück Freiheit. Standhaft in Schwierigkeiten zu sein, weil Glaube <strong>und</strong> Hoffnung den<br />
Rücken uns stärken, wär’n [sic!] ein schönes Ziel. Menschen ohne Rückgrat hab’n wir schon zuviel.<br />
3. „Werdet nicht müde im Beten“.<br />
Wer noch nie am Abgr<strong>und</strong> des Lebens gestanden hat, der wird die einmalige Möglichkeit des Gebetes<br />
unterschätzen. Vielleicht gehört ein großer Teil von ihnen oder denen, die von Amts wegen hier sind,<br />
zu den Menschen, die Beten als einen Ersatz oder gar Gegensatz zum Handeln ansehen. Dem sei das<br />
Gebet der stummen Kattrin aus Mutter Courage von B. Brecht empfohlen 417 . Erstaunlich, was Brecht<br />
hier über das Verhältnis von Beten <strong>und</strong> Tun auszudrücken vermag. Ja, in Wirklichkeit ist Beten die<br />
Voraussetzung für verantwortliches Handeln, für Mut zur Wahrheit, für aufrechten Gang. Beten schafft<br />
innen, in der Schaltzentrale, Ordnung <strong>und</strong> Klarheit. Und wenn es innen stimmt in mir, dann wirft mich<br />
so leicht nichts um. Wenn es innen in mir jedoch kippelig <strong>und</strong> unsicher ist, dann werde ich zum<br />
Spielball der Ämter <strong>und</strong> Instanzen, dann verliere ich den Kopf in Auseinandersetzungen, <strong>und</strong> auch der<br />
Körper hält es nicht mehr aus; <strong>und</strong> die Organe fangen an zu schreien.<br />
Wer in Not ist, wem die geheime Last der Seele zu schwer wird, der kann nicht auf das Beten verzichten,<br />
wenn er nicht in den Abgr<strong>und</strong> der Verzweiflung <strong>und</strong> der Depression versinken will. Darum gehört das<br />
Gebet unbedingt zu Hoffnung <strong>und</strong> Standfestigkeit.<br />
„Seid fröhlich ... es durch das Gute. [Wiederholung der Bibelverse]“ Amen.<br />
5. Fürbittengebet<br />
Ehe wir mit dem Gebet beginnen, werden wir einen Stein bringen. Wenn wir ihn ansehen, dann denken<br />
wir an das, was uns bedrückt, beschwert, was auf uns lastet. Wir werden unsere Fürbitten dann auch unter<br />
den Stein legen.<br />
Und wir haben Kerzen. Wenn wir sie dann brennen sehen, dann wissen wir: wir haben in Christus eine<br />
unauslöschliche Hoffnung, jenseits aller Ideologien, in uns, bei uns, unter uns. Darum sind wir hier.<br />
Herr Zehner: HERR, wir denken an all diejenigen, die in der Welt Macht durch Gesetz ausüben. Wir<br />
bitten dich, gib denen, die diese Gesetze erlassen <strong>und</strong> verantworten, die Überzeugung, daß die Gesetze für<br />
die Menschen <strong>und</strong> nicht die Menschen für die Gesetze da sind. Herr, für alle, die reisen oder ausreisen<br />
wollen, ist eine neue gesetzliche Regelung Gr<strong>und</strong>lage der Antragstellung geworden. Viele haben nach<br />
einer gerechten <strong>und</strong> überprüfbaren Regelung gerufen <strong>und</strong> sind nun enttäuscht über diese Bestimmungen.<br />
Hilf, daß die Auslegung der Verordnung großzügig <strong>und</strong> gerecht erfolgt, <strong>und</strong> sei bei denen, die schwere<br />
St<strong>und</strong>en überstehen müssen. Wir alle haben die Enttäuschung hinnehmen müssen <strong>und</strong> waren gleichzeitig<br />
dankbar für die aufrichtenden Worte an jedem Montag. HERR, wir bitten Dich, die Friedensgebete noch<br />
lange für uns bestehen zu lassen. Zeige all jenen, die auf Gewalttätigkeiten warten, daß dies für uns keine<br />
Lösung sein kann. HERR, wir rufen zu Dir...<br />
[Gemeinde: Kyrie, Kyrie eleison] Während des Kyrie Fürbitte unter den Stein, Kerze anzünden.<br />
Frau Theuner: HERR, wir ahnen, daß nur der wirklich frei sein kann, dessen Leben einen Sinn hat. Wir<br />
bitten Dich, gib jedem von uns einen Blick für den eigenen Sinn des Lebens <strong>und</strong> gib uns die Kraft, dies<br />
auch in ausweglosen Situationen unseres Daseins nicht zu vergessen. HERR, wir wissen, daß unsere<br />
Freiheit immer Unfreiheit für andere bedeuten kann. Wir bitten Dich, gib uns das richtige Gefühl für<br />
unseren Nächsten <strong>und</strong> dessen Freiheit. Laß uns den gegenseitigen Charakter der Freiheit erkennen. HERR,<br />
wir denken an die vielen Menschen, die in Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart für die Freiheit gekämpft haben<br />
bzw. kämpfen, ohne die Aussicht, diese Freiheit selbst zu erleben. Wir bitten Dich, gib dieser Welt immer<br />
417 Im vorletzten Aufzug von „Mutter Courage <strong>und</strong> ihre Kinder“ wird die Kattrin aufgefordert zu beten, da scheinbar<br />
keine Rettung der Stadt vor den „kaiserlichen Truppen“ mehr in Sicht ist. Kattrin jedoch trommelt, so daß die<br />
Wächter der Stadt auf das sich heranschleichende Heer aufmerksam gemacht wird (B. Brecht, Werke. Stücke 6,<br />
Berlin, Weimar, Frankfurt/Main 1989, 81f.).<br />
218
wieder neue Anwälte der Benachteiligten, der Gequälten <strong>und</strong> Unterdrückten. Hilf, HERR, daß die neuen<br />
KSZE-Vereinbarungen nicht nur Papier bleiben, sondern mit Leben <strong>und</strong> Menschlichkeit erfüllt <strong>und</strong> für<br />
jeden Bürger unseres Landes spürbar werden. HERR, wir rufen zu Dir...<br />
Frau Jokiel: HERR, wir denken an die vielen Menschen, die in unserem Lande apathisch <strong>und</strong> ohne<br />
Hoffnung leben. Wir bitten Dich, gib ihnen Zuversicht in die Zukunft <strong>und</strong> den Mut, an den erforderlichen<br />
gesellschaftlichen Veränderungen aktiv mitzuarbeiten. Hilf, HERR, daß der konziliare Prozeß in allen<br />
Gemeinden in Gang kommt <strong>und</strong> daß sich noch mehr kirchliche Mitarbeiter dafür engagieren. Laß uns alle<br />
erkennen, daß die Kirche ein wichtiges Mandat in unserem Lande hat, <strong>und</strong> gib den Verantwortlichen in<br />
der Kirche die nötige Kraft, den richtigen Weg zu weisen. HERR, wir rufen zu Dir...<br />
Frau Geißler: HERR, Du kennst unseren Wunsch nach einem zivilen Wehrersatzdienst <strong>und</strong> weißt, daß<br />
damit Pflege <strong>und</strong> Führsorge für die älteren Menschen unseres Landes gewährleistet werden könnte. Hilf,<br />
daß im Rahmen der Abrüstung <strong>und</strong> Truppenreduzierung auch dieser wichtige Schritt getan wird. Hilf,<br />
HERR, all denen, die in Einrichtungen der Volksbildung in Gewissenskonflikte geraten <strong>und</strong> Nachteile in<br />
Kauf nehmen müssen, weil sie die vormilitärische Ausbildung der Jugend so nicht akzeptieren können.<br />
Laß die Verantwortlichen zu der Einsicht kommen, daß aus dem jetzigen System der Wehrerziehung ein<br />
neues System der friedlichen Konfliktbewältigung geschaffen werden muß. HERR, wir rufen zu Dir...<br />
Herr Kunze: HERR, wir wissen, daß viele in der Welt in ein gesellschaftliches System hineingeboren<br />
werden, daß sie nicht akzeptieren können. Gib all denen die Chance, das Land freier Wahl zu erreichen.<br />
HERR, wir denken an die ungezählten Menschen, die einen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt<br />
haben. Wir sehen besorgt, wie diese Gruppe in das gesellschaftliche Abseits gedrängt <strong>und</strong> die<br />
Beweggründe, die diese Menschen haben, negiert werden. Hilf, HERR, daß in unserer Gesellschaft ein<br />
offener Dialog darüber möglich wird. Gib, daß die Gespräche mit den staatlichen Stellen von<br />
Menschlichkeit <strong>und</strong> Verständnis geprägt werden. HERR, wir rufen zu Dir...<br />
Pf. Führer: Nun, HERR, wollen wir Stille lassen für alle geheimen Lasten, für jede unausgesprochene Not,<br />
die unter den hier Versammelten da ist. Wir gedenken auch der in unserem Nachbarland CSSR<br />
verhafteten <strong>und</strong> mit hohen Strafen belegten Bürger:<br />
Gebetsstille<br />
HERR, wir rufen zu DIR: (wie nach jedem Gebetsanliegen das gesungene Kyrie)<br />
[Gemeinsames Gebet] Vater unser ...<br />
6. Segen<br />
7. Lied: „Komm, HERR, segne uns...“<br />
138 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 48. Sitzung des Kirchenvorstandes von St. Nikolai vom<br />
06.03.1989. An der Sitzung nahm zeitweise OKR Auerbach teil. Das Protokoll wurde von D. Eichelbaum<br />
geschrieben (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Haushaltplan 89 [/] 2. Anfrage des Rates der Stadt bezüglich Orgelkonzerte [/] 3.<br />
Kindergarten, Personalfragen [/] 4. 2-Monate-Plan für Friedensgebete [/] 5. Umpfarrung [...] [/] 6. Etwaige<br />
weitere Gegenstände<br />
Nach Verlesen des Protokolls durch den Vorsitzenden beginnt die Sitzung mit einem zusätzlichen<br />
Tagesordnungspunkt! OKR Auerbach informiert über ein Gespräch von Vertretern des LKA beim Rat des<br />
Bezirkes, Abt. Inneres, über die Problematik Friedensgebete 418 . Es schließt sich eine längere Aussprache<br />
an. (siehe Schluß des Protokolls). [/] Zu Pkt. 1 [...]<br />
Zu Pkt. 4 [/] Der vom Bezirkssynodalausschuß für Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit vorgelegte Plan für die<br />
Friedensgebete vom 03.04. bis 03.07. wird verlesen. Es wird dazu <strong>und</strong> zu weiteren Inhalten folgendes<br />
festgelegt: Die eingetragenen Gruppen, die ohne verantwortlichen Pfarrer in dem Plan eingetragen sind,<br />
müssen bis spätestens 22.03. einen solchen benennen. Anderenfalls kommt die Gruppe für den Zeitraum<br />
April bis Anfang Juli nicht in Frage. Eine Sonderregelung irgendwelcher Art für die CFK-Gruppe kommt<br />
418 s. Dok. 139<br />
219
nicht in Frage. Der Kirchenvorstand bestätigt die benannten verantwortlichen Pfarrer einschließlich der<br />
(nicht ordinierten) <strong>und</strong> vom Kirchenvorstand als Sonderfälle anerkannten Vikar Dusdal <strong>und</strong> Doz. Dr.<br />
Zimmermann.<br />
Pkt. 5 Der Umpfarrung [...] [/] Pkt 2. <strong>und</strong> 6. verschoben<br />
Als Resümee der Aussprache beim Rat des Bezirkes nahm der Kirchenvorstand mit Verw<strong>und</strong>erung <strong>und</strong><br />
Kopfschütteln den Bericht von Herrn OKR Auerbach auf, daß insbesondere wegen des Friedensgebetes<br />
am 27.2., gestaltet von Pf. Führer mit der Gruppe „Hoffnung“, massive <strong>und</strong> ungerechtfertigte Vorwürfe<br />
gegen Pf. Führer geäußert wurden. Der Kirchenvorstand machte Herrn Auerbach klar, daß der<br />
Kirchenvorstand sowohl hinter dem Anliegen des Friedensgebetes als auch hinter der Person <strong>und</strong><br />
Verkündigung von Pf. Führer steht! [/] Ende der Sitzung 22.30 Uhr [/] [... Unterschriften]<br />
Nachtrag zum zusätzlichen Tagesordnungspunkt: Gespräch mit OKR Auerbach [/] OKR Auerbach bittet,<br />
folgende Erklärung in das Protokoll des Kirchenvorstandes St. Nikolai-St. Johannis, sein Gespräch<br />
betreffend, aufzunehmen: [/] Die Absicht seines Besuches im Kirchenvorstand war, „nach dem Gespräch<br />
beim Rat des Bezirkes am 3.3. die sichtbar gewordenen Meinungen über das Friedensgebet mit dem<br />
Gremium zu besprechen, das eine Mitverantwortung trägt. Dabei habe ich einleitend betont, daß das<br />
Landeskirchenamt<br />
1. das Friedensgebet stets auch vor staatlichen Stellen vertreten hat, selbstverständlich als Gottesdienst der<br />
Nikolaikirchgemeinde <strong>und</strong><br />
2. eine Verbindung zwischen Friedensgebet <strong>und</strong> Kirchentag von uns stets abgelehnt <strong>und</strong> zurückgewiesen<br />
wurde.“<br />
16. März 1989, [gez.] C. Führer, Pfarrer<br />
139 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, vom 07.03.1989 an den Vorsitzenden<br />
des RdB, Opitz, zum Gespräch des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres, Reitmann,<br />
zusammen mit W. Jakel <strong>und</strong> A. Müller, mit dem OLKR Schlichter, OKR Auerbach <strong>und</strong> Herrn Hänisch, in<br />
dem über das Friedensgebet vom 27.02.1989 in der Nikolaikirche gesprochen wurde. Die Information wurde<br />
unterzeichnet von A. Müller (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: SAPMO-BArch IV B 2/14/104, BArch O-4 1117).<br />
Gen. Dr. Reitmann informierte die kirchlichen Vertreter über den Anlaß des Gespräches. Der<br />
Ausgangspunkt ist das Friedensgebet vom 27.02.1989 in der Nikolaikirche, das durch Pfarrer Führer <strong>und</strong><br />
die Gruppe „Hoffnung“ (ausschließlich Antragsteller) inhaltlich gestaltet wurde419 . Ausgehend von Form<br />
<strong>und</strong> Inhalt stellte das Friedensgebet einen massiven Angriff gegen Staat <strong>und</strong> Gesellschaft dar420 . Durch<br />
Pfarrer Führer <strong>und</strong> Mitglieder der Gruppe wurde der Versuch unternommen, die Teilnehmer des<br />
Friedensgebetes zu manipulieren, gegen Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze der DDR aufzutreten bzw. zu handeln.<br />
Pfarrer Führer hat sich hier als Demagoge versucht zu profilieren. Staatlicherseits werden diese Ereignisse<br />
sehr ernst bewertet. Darin wird eine Eskalierung des Gesamtereignisses gesehen <strong>und</strong> zugleich ein<br />
Widerspruch zu den am 21.02.1989 gemeinsam getroffenen Absprachen, vor allem im Hinblick auf die<br />
Einflußnahme gegenüber den Gruppen durch das Landeskirchenamt <strong>und</strong> dem Landesausschuß Kongreß<br />
<strong>und</strong> Kirchentag 421.<br />
419 s. Dok. 137, vgl. Bericht in Quartalseinschätzung I/89 des OV „Igel“, abgedruckt in: Besier/Wolf, 658-660, dort<br />
659<br />
420 Dieser Satz wurde im Exemplar des StfK unterstrichen.<br />
421 An der „Absprachen“ waren Reitmann, Sabatowska, Jahn (StfK) u.a. <strong>und</strong> OLKR Zweynert, Hänisch, Kahle <strong>und</strong><br />
Cieslak beteiligt (Protokoll A. Müller - StAL BT/RdB 38326). Ziel Reitmanns in dem Gespräch war es, daß der<br />
Kirchentag ein regionaler (sächsischer) wird <strong>und</strong> der Landesausschuß für den Kirchentag die Lage um die FG<br />
bzw. der Basisgruppen „beruhigt“. Von den kirchlichen Vertretern wurden Gespräche mit Gruppenvertretern<br />
versprochen. J. Cieslak machte vor allem Pf. Berger als „Agent Provokateur“ für die komplizierte Lage<br />
verantwortlich. Von einer „Absprache“ im konkreten Sinne zur Frage der Basisgruppen ist sowohl in dem<br />
Protokoll des RdB als auch des StfK (BArch O-4 1405) zu dem Gespräch am 21.02.1989 nichts zu finden. Bei<br />
einer Beratung zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> den Stellv. der Vorsitzenden des RdB der<br />
220
Gegenüber den kirchlichen Vertretern wurden staatlicherseits folgende Probleme verdeutlicht:<br />
1. Die Gesamtlage zeigt, daß es sich nicht schlechthin um die Gruppen handelt, die versuchen, die<br />
Situation in Leipzig anzuheizen, sondern einige Pfarrer sich dabei mit kräftig engagieren.<br />
Staatlicherseits ist der Eindruck vorherrschend, daß das Landeskirchenamt auf diese Pfarrer seinen<br />
Einfluß verloren hat.<br />
2. Diese Pfarrer (Führer, Wonneberger, Tureck [sic!], Kaden, Weidel, Dr. Berger) vertreten in<br />
Gottesdiensten in Verbindung mit den Gruppen Positionen, die durch den Staat nicht mitgetragen<br />
werden können. Es hat den Anschein, daß das Landeskirchenamt <strong>und</strong> die Kirchenleitung diese<br />
Entwicklung nicht deutlich genug sieht, was letztlich den Erfahrungen <strong>und</strong> dem erreichten Stand im<br />
Verhältnis von Landeskirche <strong>und</strong> Rat des Bezirkes Leipzig schaden kann.<br />
3. Einige Leute in der Kirche gehen mit den Möglichkeiten, die der Staat bzw. die Verfassung der DDR<br />
der Kirche insgesamt bietet, verantwortungslos um. Das Friedensgebet am 27.02.1989 hat deutlich<br />
gemacht, daß das, was mit dem Landeskirchenamt <strong>und</strong> dem Landesausschuß abgesprochen bzw. im<br />
Kirchenvorstand der Nikolaikirche beschlossen wurde, offensichtlich nicht mehr gilt.<br />
Auch die nachfolgenden geplanten Friedensgebete, die Lesung von Stefan Heym am 17.03.1989 in der<br />
Nikolaikirche <strong>und</strong> der beabsichtigte „Pleißemarsch“ 422 lassen deutlich erkennen, daß die alternativen<br />
Gruppen in der Kirche wieder stärker agieren können. Wenn solche Leute, wie Quester, Pfarrer<br />
Wonneberger, Rudolph, Arnold, Schwabe <strong>und</strong> andere mehr die inhaltliche Seite der Friedensgebete<br />
wieder bestimmen können, ist auch klar, was dabei herauskommt. Es kommt zu einer Verschärfung der<br />
Lage <strong>und</strong> damit zu Spannungen im Verhältnis zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche.<br />
Auch Pfarrer Tureck [sic!] scheint aus den Ereignissen um den 15.01.89 keine Konsequenzen gezogen<br />
zu haben423 . Sonst würde er seinen Gemeinderaum nicht für Gruppen zur Verfügung stellen, die dort<br />
beraten wollen, wie man Wahlveranstaltungen bzw. Wahlhandlungen am 07.05.1989 stören kann 424.<br />
4. Die Information in kirchlichen Zeitungen über das Treffen von alternativen Gruppen in Karl-Marx-<br />
Stadt <strong>und</strong> über die Forderungen, die diese Gruppen auf diesem Treffen gestellt haben, führt zu<br />
Irritationen seitens des Staates, da wertfrei informiert wurde. Das läßt den Schluß zu, daß man sich als<br />
Landeskirche Sachsen hinter die Forderungen der Gruppen in bezug auf den Kirchentag in Leipzig<br />
stellt 425.<br />
Mit der staatlichen Wertung wurden folgende Erwartungen gegenüber den kirchlichen Vertretern<br />
verb<strong>und</strong>en:<br />
1. Das Landeskirchenamt <strong>und</strong> der Landesausschuß halten die gemeinsam getroffenen Absprachen, über<br />
die man sich in den Gesprächen in Vorbereitung des KTK/KT hinsichtlich der Beruhigung der Lage in<br />
sächsischen Bezirke am 18.01.1989 wurde u.a. beschlossen, „auf folgende Schwerpunkte zu orientieren: [...] -<br />
Einflußnahme auf die kirchlichen Verantwortlichen zur Disziplinierung negativer Kräfte (Basisgruppen)“<br />
(Protokoll Röfke - BArch O-4 1404). In einer Information der Abt. II des StfK vom 08.03. heißt es: „Zugleich ist<br />
den staatlichen Organen zugesagt worden, daß sich die Kirchenleitung dafür einsetzen wird, daß keine Störung<br />
des Kirchentages von im kirchlichen Bereich angesiedelten Gruppen ausgehen werden.“ (BArch O-4 1405)<br />
422 Zum Pleißemarsch s. Anhang S. 375<br />
423 s. Anm 408<br />
424 Der Satz „die dort beraten ... am 07.05.1989 stören kann“ wurde im Exemplar des ZK der SED (AG<br />
Kirchenfragen) unterstrichen <strong>und</strong> es wurde am Rand vermerkt: „Das kann ernste Konsequenzen haben!“ Am<br />
28.03.1989 fand im Gemeindesaal St. Markus ein wichtiges Treffen der Leipziger Gruppen zum Umgang mit der<br />
„Kommunalwahl“ statt, das offensichtlich verhindert werden sollte.<br />
425 Bei dem sächsischen Treffen der Basisgruppen in Chemnitz (Karl-Marx-Stadt) wurde von den Gruppen die Art<br />
des Auswahlprinzips ihrer aktiven Teilnahme am Leipziger Kirchentag kritisiert. Politisch engagierte Gruppen<br />
hatten keine Möglichkeit, am „Treffpunkt Glauben heute“ einen eigenen Stand zu bekommen. In dem Artikel „In<br />
Gruppen <strong>und</strong> im ganzen“ („Der Sonntag“ 05.03.1989, S. 2) wurden die Gruppen als Teil der Kirche dargestellt<br />
<strong>und</strong> ihre Kritik an der Kirchentagsgestaltung wörtlich zitiert. B. Albani berichtete in „Die Kirche“<br />
(„Lebensveränderung lernen wir nicht durch Texte“, 19.02.1989, S. 1) sogar von dem Beschluß der Gruppen,<br />
anstelle der Beteiligung am offiziellen Kirchentag nun ein eigenes Programm zu gestalten (Statt-Kirchentag).<br />
Schon in einem Gespräch am 21.02.1989 hatte Reitmann J. Cieslak einen Bericht der ENA (6/89) über dieses<br />
Treffen vorgehalten (BT/RdB 38326).<br />
221
<strong>und</strong> um die Nikolaikirche verständigt hat, ein. Der Einfluß des Landeskirchenamtes auf Pfarrer Führer<br />
ist zu verstärken. Aus dem Verhalten einiger Pfarrer kann man schließen, daß diese nicht wollen, daß<br />
ein Kirchentag in Leipzig stattfindet 426.<br />
2. Durch das Landeskirchenamt ist mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche stärker zu arbeiten. Dies<br />
gilt auch gegenüber den kirchlichen Strukturen in ihrer Gesamtheit. Die Landeskirche muß verstärkt<br />
Überlegungen anstellen, um mehr auf die Gesamtproblematik Einfluß zu bekommen, zumal eine<br />
Vernetzung der Gruppen immer sichtbarer wird <strong>und</strong> sich damit die Lage zuspitzt.<br />
3. Die Friedensgebete während der Messewoche <strong>und</strong> darüber hinaus müssen zu der alten Form<br />
zurückgeführt werden. Die Gruppen dürfen kein Mandat für deren inhaltliche Ausgestaltung<br />
bekommen. Sollte sich so etwas wie am 27.02.1989 wiederholen, wäre das für die Gesamtlage <strong>und</strong> für<br />
das Gesamtverhältnis Staat/Kirche nicht zuträglich. Es geht um 6 Pfarrer in Leipzig, auf die die<br />
Landeskirche ihren Einfluß umgehend verstärken muß. Gelingt ihr das nicht, werden weitere<br />
Gespräche in Frage gestellt. Der Staat ist gewillt, seinen Worten auch Taten folgen zu lassen.<br />
4. Mit Nachdruck wurde darum gebeten, daß der Bischof, die Kirchenleitung <strong>und</strong> der Landesausschuß<br />
Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag über das Gespräch umgehend informiert werden <strong>und</strong> der Stellvertreter des<br />
Vorsitzenden des Rates für Inneres durch Herrn OLKR Schlichter danach telefonisch noch einmal<br />
informiert wird.<br />
Im Verlauf des Gespräches äußerten die kirchlichen Vertreter folgende Meinungen <strong>und</strong> Standpunkte:<br />
OLKR Schlichter<br />
Das LKA sei von diesem Friedensgebet ebenso überrascht gewesen. In Absprache mit dem LKA, den<br />
Superintendenten <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand existiert ein feststehendes Programm, wie das Friedensgebet<br />
ablaufen soll. Es ist eindeutig, daß Pfarrer Führer von diesem Programm abgewichen ist. Im Vorfeld habe<br />
Führer aber nicht informiert. 427 Der Staat weiß um die Schwierigkeit der Kirche zu administrieren. Er hat<br />
nur über das Gespräch die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen. Was in der Nikolaikirche geschieht, dafür<br />
trägt kirchenrechtlich der Kirchenvorstand die Hauptverantwortung. Das heißt, die Kirchenleitung bzw.<br />
das Landeskirchenamt kann nur um Besonnenheit bitten, sie kann Besonnenheit nicht anweisen 428 . Es ist<br />
auch schwierig, an Pfarrer Führer heranzukommen bzw. ihn zu disziplinieren, solange er als Pfarrer von<br />
der Gemeinde <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand getragen wird. Das Friedensgebet in dieser Form, wie am<br />
27.02.1989 stattgef<strong>und</strong>en, wird seitens des Landeskirchenamtes mißbilligt. Die Kirche hat aber die<br />
Antragsteller nicht gerufen. Wird die Nikolaikirche für diese Leute geschlossen, dann suchen sie sich<br />
andere Möglichkeiten. 429 Die Landeskirche steht aber in diesem Zusammenhang vor einer generellen<br />
Sorge: Es gelingt ihr immer schwerer, diesen Leuten, aber nicht nur diesen, Mut zu machen bei der<br />
Überwindung ihrer vielfältigen Probleme.<br />
Durch OLKR Schlichter wurde folgendes hervorgehoben:<br />
426 Dieser Satz ist im Exemplar der AG Kirchenfragen des ZK der SED dick angestrichen. Am 02.03.1989 hatte die<br />
AG Kirchenfragen eine Information für Jarowinsky verfaßt, in der empfohlen wurde, eine Zusage für die<br />
Durchführung des Kirchentages zu geben (die bis dahin noch nicht erfolgt war!). Als Bedingung wurde u.a.<br />
genannt: „kein 'Markt der Möglichkeiten' zur Selbstdarstellung alternativer, außerhalb der kirchlichen Strukturen<br />
tätiger Gruppen“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/104). Am 03.03.1989 fand ein wichtiges Gespräch zwischen dem<br />
Staatssekretär K. Löffler <strong>und</strong> dem SED-Bezirkschef H. Schumann zur „endgültigen Entscheidung über die<br />
Durchführung des Kirchentages“ statt (Gesprächsnotiz von Löffler vom 02.03.1989 - ebenda). Die letzte<br />
Entscheidung über das Stattfinden des Kirchentages lag jedoch bei E. Honecker. Ihn bat H. Schumann am<br />
07.03.1989 brieflich um dessen Zustimmung (BArch O-4 986). Am 15.03.1989 wurde dann eine konkrete Zusage<br />
der staatlichen Unterstützung des Kirchentages gegeben (s. Dok. 145). In einem handschriftlichen Vermerkes auf<br />
einer Information der Abt. II des StfK lautet es: „Antwort E. H[onecker] Nicht kolportieren [/] Ja, aber als<br />
Ausnahme [...] In dieser Woche Gespräch Staatssekretär - Bischof Hempel [...]“ (BArch O-4 1405). Mit dieser<br />
prinzipiellen Zusage war die SED-BL Leipzig für die „Absicherung“ zuständig.<br />
427 Im Exemplar der AG Kirchenfragen des ZK der SED steht links neben diesem Absatz: „Das ist die ständige<br />
Ausrede!“<br />
428 Anmerkung am Rand des ZK-Exemplars: „Lt. Kirchenverfassung kann sie anweisen!“<br />
429 Anmerkung am Rand des ZK-Exemplars: „Na <strong>und</strong> ?“<br />
222
1. Er sieht es genau so wie die staatlichen Vertreter, daß man mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche<br />
stärker in das Gespräch kommen muß. Dies wird auch geschehen.<br />
2. Er selbst kann sich Form <strong>und</strong> Inhalte der Friedensgebete auch anders vorstellen. Darüber wird man mit<br />
dem Kirchenvorstand <strong>und</strong> mit Pfarrer Führer reden. Das Landeskirchenamt wird seinen Einfluß geltend<br />
machen, daß ähnliches nicht noch einmal passiert.<br />
3. Das LKA, aber auch der Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag haben ihre Zusage eingehalten. Es<br />
wurde mit den Gruppen <strong>und</strong> mit den bestimmten Pfarrern bis hin zum Bischof mehrmals gesprochen.<br />
Das Problem besteht nur darin, daß man keine Möglichkeit der Disziplinierung hat. Insofern wird<br />
immer ein Restrisiko 430 bleiben.<br />
4. Das LKA kann dem einzelnen Pfarrer seine persönliche politische Meinung bzw. Haltung nicht<br />
vorschreiben.<br />
Herr Hänisch<br />
Ende August 1988 wurde der Kirchenvorstand der Nikolaikirche für Form <strong>und</strong> Inhalt der Friedensgebete<br />
verantwortlich gemacht. Ebenfalls gab es eine Abmahnung der Superintendenten mit dem<br />
Kirchenvorstand in der Weise, daß das Friedensgebet eine Ordnung erhält. Dies ist auch geschehen. Es ist<br />
aber nicht das erste Mal, daß Führer bei Abwesenheit von Sup. Magirius sich nicht an die Ordnung<br />
gehalten hat, ähnlich wie am 27.02.1989. Sup. Richter habe vorher mit Führer noch einmal gesprochen.<br />
Dieser habe versichert, daß alles in Ordnung gehe. Damit sei Richter durch Führer hintergangen worden.<br />
Nach seiner Meinung habe Führer bewußt diese Schärfe in das Friedensgebet hineingetragen. Nach seiner<br />
Ansicht ist dies eine eindeutige Provokation. Das LKA habe aber mit der Person Führer schon einige<br />
Erfahrungen gemacht. Insgesamt muß das LKA entscheiden, was mit Führer geschehen muß431 .<br />
Kirchenrechtlich hat das LKA keine Möglichkeiten. Hänisch informierte dann über den Verlauf eines<br />
Gespräches, das der Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag mit Gruppenvertretern am 21.02.1989 im<br />
Gemeindesaal der Thomaskirche geführt hat 432.<br />
Hier sei sehr massiv der Vorwurf gekommen, daß der Landesausschuß Gruppen vom KTK/KT aussperren<br />
wolle. Das Argument, daß auf Gr<strong>und</strong> der räumlichen Bedingungen nur eine begrenzte Anzahl von<br />
Gruppen teilnehmen kann, wurde von den Gruppenvertretern nicht akzeptiert. Tief erschüttert sei er vom<br />
Auftreten des Pf. Dr. Berger gewesen, der in diesem Gespräch zur Durchführung eines „Kirchentages von<br />
unten“ aufgerufen hat. Dieser Mann habe nach seiner Beobachtung ein sehr großes Geltungsbedürfnis,<br />
aber auch noch andere persönliche Probleme, die es aber schwierig machen, mit Dr. Berger vernünftig zu<br />
sprechen. Insgesamt hat er den Eindruck gewonnen, daß diese Leute nicht das Gespräch, sondern die<br />
Konfrontation suchen 433.<br />
Herr Dr. Geisler<br />
Die Positionen, die Dr. Reitmann wie auch Herr Hänisch zum Ausdruck gebracht haben, werden von ihm<br />
geteilt. Er befindet sich genau auf dieser Linie. Er möchte darauf aufmerksam machen, daß die von Herrn<br />
Cieslak in den geführten Gesprächen geäußerten Positionen echt sind. Er hat die Hoffnung, daß es dem<br />
Landesausschuß gelingen möge, den größeren Teil der Mitglieder der Gruppen in den KTK/KT zu<br />
integrieren. Er weiß aber auch, daß ein kleiner Teil dieser Gruppen problematisch bleibt. Im Hinblick auf<br />
die in der Kirchenzeitung „Die Kirche“ erschienenen Informationen zum Treffen der Gruppen in Karl-<br />
Marx-Stadt 434 hat der Landesausschuß reagiert. Er hat ein Schreiben an die Redaktion abgesetzt, wo diese<br />
zur Richtigstellung aufgefordert wird.<br />
430 „Restrisiko“ im Exemplar des StfK unterstrichen.<br />
431 Im ZK-Exemplar ist dieser Satz unterstrichen.<br />
432 Hänisch war am 23.02.1989 schon bei A. Müller (RdB) <strong>und</strong> berichtete nahezu denunziatorisch über dieses<br />
Treffen (Gruppenvertreter nannte er u.a. „Chaoten“) (BT/RdB 20749). Eine Kopie der Teilnehmerliste dieser<br />
Sitzung befindet sich in den Unterlagen H. Reitmanns (StAL BT/RdB 20749).<br />
433 Im ZK-Exemplar ist dieser Satz unterstrichen.<br />
434 s. Anm. 425<br />
223
OKR Auerbach<br />
Er war noch zum Zeitpunkt des Friedensgebetes (27.02.1989) im Urlaub <strong>und</strong> konnte deshalb nicht daran<br />
teilnehmen. Insgesamt aber war er davon ausgegangen, daß eine Beruhigung der Lage eingetreten ist. Um<br />
so peinlicher ist es, daß bei Abwesenheit des Superintendenten Pfarrer aus der Reihe tanzen. Er wird ein<br />
Gespräch mit der Gruppe „Hoffnung“ führen. Die Kirche hat aber nicht zu fordern, sondern sie kann nur<br />
zur Geduld mahnen. Mit Pfarrer Führer wird ebenfalls gesprochen. Den auslösenden Faktor sieht er aber<br />
darin, daß die Friedensgebete nach wie vor von Ausreisewilligen mit besucht werden. Er teilt die<br />
Meinung, daß nur im gemeinsamen Bemühen erreicht werden kann, daß die Sache nicht weiter eskaliert.<br />
Es konnte noch nicht erreicht werden, die Gruppen in den Kirchentag zu integrieren. Es darf aber nichts<br />
unversucht bleiben, um dieses Ziel noch zu erreichen. Auch mit Pfarrer Wonneberger habe er schon<br />
mehrere Gespräche geführt. Im letzten Gespräch habe ihm dieser glaubhaft versichert, vom 15.01.1989<br />
erst erfahren zu haben, als er in seinem Briefkasten ein Flugblatt vorfand. Er habe Wonneberger<br />
beauftragt, alles was außerhalb der Kirche geplant ist, gemäß der Veranstaltungsordnung, bei den<br />
zuständigen Stellen anzumelden. Erst müssen alle legalen Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Wird dann<br />
eine staatliche Zustimmung versagt <strong>und</strong> man ist von der Richtigkeit der Sache überzeugt, sollte man die<br />
Veranstaltung auch ohne Zustimmung durchführen. Wonneberger sei von ihm aufgefordert worden, den<br />
geplanten „Pleißemarsch“ anzumelden. Mit der Information über das Treffen der Gruppen in Karl-Marx-<br />
Stadt, wie sie in kirchlichen Zeitungen u.a. im „Sonntag“ zu lesen war, ist er auch nicht einverstanden. Er<br />
konnte darauf keinen Einfluß nehmen, da zu diesem Zeitpunkt der „Sonntag“ bereit gedruckt war. Auf der<br />
anderen Seite gibt es in der Landeskirche keine Zensur. Sie wird nicht zentralistisch geleitet. Es bleibt<br />
dabei, daß die Kirche für alle eine Verantwortung trägt. Sie wird diese Verantwortung auch weiterhin<br />
wahrnehmen. Er sieht aber Möglichkeiten, die Probleme so zu bündeln, daß die Sache durchschaubar<br />
gemacht wird bzw. bleibt.<br />
Durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres wurden die kirchlichen Vertreter<br />
abschließend mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß die Landeskirche Sachsens bei der Position des<br />
B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen bleiben sollte, d.h., die Antragsteller ausschließlich seelsorgerlich zu<br />
betreuen. Deshalb kann auch seitens des LKA nicht mehr darüber hinweg gesehen werden, daß Pfarrer<br />
Führer der Gruppe „Hoffnung“ in der Nikolaikirche ein Aktionsfeld ermöglicht, wo die Gruppe gegen<br />
Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Gesetze der DDR arbeiten kann.<br />
140 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Aktennotiz des Rates der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 08.03.1989 über das Gespräch am<br />
07.03.1989 zwischen dem Stellv. des SBBM für Inneres des SB Mitte, Loyal, den Mitarbeitern des Bereich<br />
Kirchenfragen des RdS Hillebrand <strong>und</strong> Apitz <strong>und</strong> Pf. Führer, Pf. Wugk <strong>und</strong> L. Ramson. Der Durchschlag der<br />
Aktennotiz wurde von Hillebrand unterzeichnet. Die zwei Blätter tragen Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB<br />
20749).<br />
Auf die Vorwürfe zur inhaltlichen Gestaltung des Friedensgebetes vom 27.2.89 in der Nikolaikirche <strong>und</strong><br />
die damit verb<strong>und</strong>ene Beeinträchtigung des Vertrauensverhältnisses zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche reagierten<br />
beide Pfarrer <strong>und</strong> Herr Ramson mit Verw<strong>und</strong>erung. Pfarrer Führer hob hervor, daß die „Befreiung des<br />
Staates von der Vorm<strong>und</strong>schaft der Kirche <strong>und</strong> die Befreiung der Kirche von der Vorm<strong>und</strong>schaft des<br />
Staates“ für die ev. Kirche kein Zurückziehen hinter dicke Kirchenmauern bedeute, sondern die<br />
Beschäftigung mit gesellschaftlichen Problemen einschließt. Jährlich finden in der Nikolaikirche etwa 40<br />
Friedensgebete statt, davon behandeln höchstens 2 Veranstaltungen die Probleme der Antragsteller. Die<br />
„Zeugnisse der Betroffenheit“ haben eine lange Tradition in der Kirche, denn Kirche ist dazu da, daß sich<br />
Menschen in ihrer Not äußern können. Man dürfe diese „Zeugnisse der Betroffenheit“ nicht losgelöst vom<br />
dazugehörigen Bibeltext betrachten.<br />
Pfarrer Wugk stellte sich als amtierender Superintendent voll hinter Pf. Führer. Er bestritt, daß<br />
staatsfeindliche Meinungen während der Veranstaltung vorgetragen wurden. Es seien nur subjektive<br />
Erfahrungen, <strong>und</strong> die Möglichkeit, sie zu äußern, entlaste die Betroffenen. Er räumte ein, daß nicht nur<br />
fromme Christen die Friedensgebete besuchen, ist aber froh über dieses Vertrauen <strong>und</strong> hofft, daß nun<br />
224
staatlicherseits auf die Kirche kein Druck ausgeübt werde, dieses Vertrauen selbst zu unterdrücken. Pf.<br />
Wugk forderte vom Staat mehr Toleranz im Umgang mit den Basisgruppen <strong>und</strong> ein Ende der<br />
Verteufelung der ÜSE 435.<br />
Pf. Führer meinte, man dürfe keineswegs die Basisgruppen mit den ÜSE in Zusammenhang bringen. Zwar<br />
sind beide mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht zufrieden, aber die Mitglieder der Basisgruppen<br />
wollen bleiben <strong>und</strong> verändern, die ÜSE dagegen resignieren. Die Kirche will vermitteln, daß die<br />
Menschen mit ihren Problemen immer kommen können. Das Bedürfnis nach Seelsorge ist sehr groß <strong>und</strong><br />
übersteigt die Möglichkeiten der individuellen Seelsorge. Deshalb werden zahlreiche Gesprächsr<strong>und</strong>en<br />
durchgeführt.<br />
Warum es in der letzten Zeit Provokationen während der Friedensgebete gegeben hat, kann sich Pf. Führer<br />
nicht erklären, ihm seien diese Leute unbekannt. Aber es ist ihm verständlich, daß junge Menschen<br />
aggressiv reagieren, wenn sie nach dem Friedensgebet aus der Kirche kommen <strong>und</strong> so viele Uniformierte<br />
sehen wie am 22.2.89436 . Die Polizeiketten hätten diese Aktion erst provoziert <strong>und</strong> die Situation<br />
zugespitzt. Solche bürgerkriegsähnlichen Maßnahmen dienten nicht dem Frieden in der Stadt. Pf. Führer<br />
stritt ab, daß ein zahlenmäßiges Anwachsen der Teilnehmer am Friedensgebet zu verzeichnen ist, wenn<br />
die Veranstaltung von Basisgruppen durchgeführt wird. Daß auch an den Messemontagen die Zahl der<br />
Besucher steigt, hänge damit zusammen, daß viele Messegäste in Leipzig weilen. Pf. Führer versicherte,<br />
daß auf Beschluß des Kirchenvorstandes in der Nikolaikirche nicht gefilmt werden darf. Pf. Wugk<br />
informierte darüber, daß die Teilnahme der Basisgruppen an der Durchführung der Friedensgebete ab<br />
April vom Kirchenvorstand beschlossen wurde. Im gesamten Gespräch versuchten beide Pfarrer die<br />
Vorwürfe abzuschwächen <strong>und</strong> zu verharmlosen. Wie das verkündete Wort auf die Menschen wirke, sei<br />
nicht vorherzusehen. Jeder Mensch reagiere anders, dafür könne niemand die Verantwortung übernehmen.<br />
Außerdem müsse der Staat die Stärke haben, auch eine öffentliche Artikulation der Kritik zu verkraften.<br />
Pf. Führer äußerte sich weder zur Andacht aus Anlaß der Verhaftungen in der CSSR noch zum Kalender<br />
<strong>und</strong> Malwettbewerb 437.<br />
141 Stasi-Information<br />
Aktennotiz von Hauptmann Hotop der KD Leipzig-Stadt vom 13.03.1989 (BStU Leipzig AOPK 1436/89,<br />
353).<br />
Kowasch erhielt die Auflage, die DDR bis zum 10.3.89 zu verlassen 438 . Inoffiziell war bekannt, daß er<br />
Mitorganisator der für den 13.3.89 geplanten öffentlichtswirksamen [sic!] Aktion im Anschluß an das<br />
Friedensgebet in der Nikolaikirche war <strong>und</strong> sehr bedauerte, nicht mehr daran teilnehmen zu können. Zur<br />
Verhinderung von Überraschungen wurde am 10.3.89 durch [den] Unterzeichner der Wohnbereich in der<br />
Menckestr. überprüft. Am 13.3.89 wurde über den GMS „Zöllner“ organisiert, daß eine legendierte<br />
Wohnungsbegehung gemeinsam mit dem Nachlaßverwalter realisiert wurde, um zu prüfen, ob eventuell<br />
Flugschriften zeitweilig deponiert oder das Quartier durch andere feindl.-negative Personen als Absteige<br />
genutzt wird. Beides wurde nicht festgestellt.<br />
142 Stasi-Information<br />
Information Nr. 14/89 des Leiters der BV des MfS Leipzig (Hummitzsch) vom 14.03.1989, über „eine<br />
provokatorische Personenbewegung am 13.3.1989 im Stadtzentrum von Leipzig“. Mit dem Vordruck-<br />
435 An dieser Stelle folgt ein handschriftlicher Vermerk: „Stellt sich hinter Führer. [/] Als Kirchenmann solidarisch“<br />
436 Am Mittwoch, dem 22.02., fand kein FG statt. C. Führer konnte 1994 den Herausgebern keine Erklärung zur<br />
Entstehung dieser Notiz geben.<br />
437 Es folgt handschriftlich: „hat nicht geantwortet“<br />
438 Im gleichen Zusammenhang erhielten auch andere Ausreiseantragsteller die Ausreisegenehmigung (u.a.<br />
Christfried Heinze).<br />
225
Vermerk: „Streng vertraulich! Um Rückgabe wird gebeten!“. Die Vorlage (4. Exemplar) wurde nicht<br />
unterzeichnet (ABL H 8) 439 .<br />
Am 13.3.1989 fand in der Zeit von 17.00 Uhr bis 17.40 Uhr in der Nikolaikirche das montägliche<br />
Friedensgebet statt, an dem 650 Personen, darunter ein erheblicher Teil von Antragstellern auf ständige<br />
Ausreise, teilnahmen. Das Friedensgebet trug rein religiösen Charakter. Nach kurzem Aufenthalt vor der<br />
Kirche bewegte sich ein großer Teil über die Ritterstraße-Grimmaische Straße in Richtung Markt (ca. 300<br />
Personen). Durch den entsprechend der abgestimmten Einsatzkonzeption erfolgten Einsatz von Kräften<br />
des MfS [Ministeriums für Staatssicherheit], VP [Volkspolizei] in Zivil <strong>und</strong> gesellschaftliche Kräften zur<br />
Abdrängung, Zersetzung <strong>und</strong> Auflösung wurde die Formierung eines geschlossenen Marsches verhindert,<br />
die Personenbewegung in Richtung Thomaskirche unterb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> gegen 18.30 Uhr auf dem Markt nach<br />
Zurücklegung von 300 Metern zur Auflösung gebracht440 . Teilnehmer der Bewegung waren vorwiegend<br />
Antragsteller, darunter einzelne Personen mit Kleinkindern. Plakate oder schriftliche Symbole wurden bis<br />
auf eine Ausnahme nicht festgestellt441 . Als Reaktion auf die Maßnahmen der eingesetzten Kräfte kam es<br />
zu verleumderischen Rufen (u.a. „Stasischweine“, „Stasi raus“). Es kam auch zu Rufen: Freiheit -<br />
Menschenrechte.<br />
Bereits im Vorfeld des Friedensgebetes gab es eine Reihe interner Informationen zu geplanten Aktivitäten<br />
von Journalisten <strong>und</strong> Korrespondenten. Bisher wurden Vertreter von 16 [vermutlich richtig: 15] zur<br />
Frühjahrsmesse 1989 in Leipzig akkreditierten Medien festgestellt (siehe Anlage442 ). Ein Teil befand sich<br />
in der Kirche, nachdem sie vorher ihren Presseausweis von der Kleidung entfernt hatten. Nach dem<br />
Verlassen der Kirche durch die Teilnehmer des Friedensgebetes heizten die Medienvertreter durch ihre<br />
Anwesenheit <strong>und</strong> ihr Verhalten die Teilnehmer des Friedensgebetes an. Die journalistischen Aktivitäten<br />
hielten bis zur völligen Auflösung an 443.<br />
Die Präsenz der VP-Angehörigen in Uniform war vor, während <strong>und</strong> nach der Personenbewegung gegeben.<br />
Entsprechend der Konzeption <strong>und</strong> der Lage erfolgte kein aktives Eingreifen. Mehrere der uniformierten<br />
Kräfte waren zur Sicherung der westlichen Fernseh-Korrespondenten eingesetzt444 . Eine Person wurde<br />
zur Klärung des Sachverhaltes des Tragens eines Plakates (A 3) zugeführt <strong>und</strong> wieder entlassen 445.<br />
439 vgl. auch Information über eine provokatorisch-demonstrative Aktion von Antragstellern auf ständige Ausreise in<br />
Leipzig (MfS, ZAIG Nr. 122/89), abgedruckt in: Mitter/Wolle, 28. Diese Information hat E. Honecker am<br />
14.03.1989 gegengezeichnet. Mittig teilte Hummitzsch am 13.03., 19.30 Uhr, mit, daß das oben abgedruckte<br />
Fernschreiben „im Laufe der Nacht“ abgesetzt werden sollte. Außerdem teilte er mit, daß er mit Krenz telefoniert<br />
hatte, der H. Schumann anrufen wolle (BStU Leipzig AB 3843, 157). Die Information des 1. Sekretärs der SED-<br />
BL ungefähr gleichen Inhalts hatte E. Honecker allen Mitgliedern <strong>und</strong> Kandidaten des Politbüros zugestellt<br />
(Przybylski (1992), 101f.) <strong>und</strong> am 14.03. im Politbüro über die „Vorkommnisse“ in Leipzig berichtet (SAPMO-<br />
BArch J IV 2/2/2319). Mittig bestätigte am 14.03., 7.08 Uhr, das hier wiedergegebene Fernschreiben. Dazu<br />
notierte Hummitzsch: „Linie richtig“ (BStU Leipzig AB 3843, 157). Herger teilte am 16.03. Hummitzsch mit,<br />
daß die Parteiinformation richtig war <strong>und</strong> E. Honecker die „Bilder gesehen“ hat. Hummitzsch notierte die<br />
Bewertung Hergers zum Einsatz gegen die Demonstration: „Konnten wir zum Halten bringen.“ (ebenda, 162)<br />
440 Hummitzsch notierte zu Telefonat mit Mittig am 13.03.1989, 7.08 Uhr: „Keine Prügeleien [/] massiver Einsatz [/]<br />
hohe Präsenz“ (BStU Leipzig AB 3843, 151).<br />
441 In der Meldung der SED-SL heißt es: „Symbole <strong>und</strong> Losungen wurden nicht mitgeführt.“ (STASI intern, 64f.,<br />
dort 64)<br />
442 Die Anlage enthält 15 Namen von Journalisten.<br />
443 s. z.B. H. Schwilk, in: Zurück zu Deutschland, 136-141, 141<br />
444 Diese Aktion wurde durch einen IM-Bericht verursacht, s. S. 235 <strong>und</strong> Anm. 471 <strong>und</strong> fand Eingang in die<br />
Berichterstattung der Journalisten, z.B. Spiegel 12/1989: „Besonders eindrucksvoll wurde die maßvolle Haltung<br />
des Leipziger Bezirkssekretärs am vergangenen Montag dokumentiert. Da brauchte die Stasi eine St<strong>und</strong>e, um das<br />
Protestspektakel von r<strong>und</strong> 600 ausreisewilligen Menschen in der Messestadt zu beenden - nicht zuletzt dank der<br />
Leipziger Vopo. Die uniformierten Beamten bremsten nicht nur die handfeste Einsatzfreude der MfS-Leute<br />
gegen Demonstranten, sie versuchten sogar, westliche Kamerateams vor Stasi-Tritten zu schützen.“<br />
445 Die Presseagentur AP (I. Schwelz) meldete am 16.03., daß Gunter Schröder inhaftiert wurde, da er ein Plakat mit<br />
der Aufschrift „Reisefreiheit statt Behördenwillkür“ trug (s.a. Mitter/Wolle, 28). Die SED-GO der BDVP Leipzig<br />
fragte im Monatsbericht an die SED-BL u.a. an: „- Warum werden im ZH [Zusammenhang] mit<br />
226
Maßnahmen zur Identifizierung von Wortführern <strong>und</strong> Initiatoren wurden eingeleitet.<br />
Insgesamt befanden sich im Zusammenhang mit dem Friedensgebet im Einsatz 250 Mitarbeiter des MfS,<br />
250 gesellschaftliche Kräfte446 sowie 350 VP-Angehörige, darunter 50 Angehörige der VP-Bereitschaften<br />
in Reserve, die nicht zum Einsatz kamen 447.<br />
Beginnend mit dem 13.3.1989 - 19.00 Uhr - wurde in vorgenanntem Zusammenhang eine abgestimmte<br />
Kampagne in den Massenmedien der BRD zur weiteren Forcierung der politisch-ideologischen Diversion<br />
eingeleitet.<br />
Es wird vorgeschlagen, eine ADN-Veröffentlichung vorzunehmen.<br />
143 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Information des Rates des Bezirkes Leipzig, [Bereich] Kirchenfragen, vom 14.03.1989 „zum Friedensgebet in<br />
der Nikolaikirche am 13.03.1989“. Typoskript ohne Unterschrift (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: BArch O-4<br />
1478).<br />
Teilnehmer: ca. 650 Personen<br />
Sup. Magirius begrüßte.<br />
Er verwies nochmals auf die Bedeutung des Friedensgebets <strong>und</strong> dessen Tradition. Das Streben nach<br />
Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Erhaltung der Schöpfung muß aus der Mitte des Evangeliums heraus<br />
geschehen. Er sprach die Überzeugung aus, daß die Teilnehmer diesen Gr<strong>und</strong>satz akzeptieren <strong>und</strong> danach<br />
handeln. Prof. Kühn, Rektor des Theologischen Seminars, hielt im Anschluß daran die Predigt. In den<br />
Mittelpunkt stellte er Jeremia 29. Kapitel, vor allem den Spruch: „Suchet der Stadt Bestes ..., denn wenn<br />
es ihr wohl gehet, so gehet es auch euch wohl“. Ausgehend von diesem Text stellte er die biblische<br />
Geschichte zu Babel dar. Die Stadt Babel sei ein Ort gewesen, wo Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde mit<br />
Füßen getreten wurden. Und doch hat der Prophet die dort gefangenen Juden aufgefordert, der Stadt<br />
Bestes zu suchen. Dies kann man auch in unsere heutige Zeit hineinstellen. Auch heute noch, nach über 40<br />
Jahren, tragen Deutsche an der Schuld, was Hitler <strong>und</strong> der 2. Weltkrieg in Europa <strong>und</strong> in der Welt<br />
angerichtet haben.<br />
Rolf [sic!] Biermann, so Prof. Kühn, habe kurz vor seinem Weggang aus der DDR gesagt, „daß er hier<br />
weg möchte, aber zugleich auch wieder hier sein möchte“. (gemeint die DDR). Nach Kühn komme in<br />
diesem Satz die „Zerrissenheit“ von Menschen in beiden deutschen Staaten, aber auch die Zerrissenheit<br />
der Welt zum Ausdruck. Menschen in dieser Gesellschaft, aber nicht nur in dieser Gesellschaft, haben sich<br />
aufgemacht, der „Stadt Bestes“ zu suchen. Sie nehmen an einer „Suchbewegung“ teil, die nicht nur in der<br />
DDR sondern auch in anderen osteuropäischen Ländern eingesetzt hat. Der konziliare Prozeß entspricht<br />
dieser „Suchbewegung“, wenn er mehr Gerechtigkeit, mehr Demokratie, mehr Informationsfreiheit, mehr<br />
Durchsichtigkeit der politischen Machtstrukturen fordert <strong>und</strong> sich für die „getretene Schöpfung“ einsetzt.<br />
Die Forderung ist aber nur die eine Seite. Die andere Seite ist, daß man sich auch für deren<br />
Verwirklichung einsetzt. Kühn begrüßte die Durchführung von Andachten <strong>und</strong> anderen Veranstaltungen,<br />
die für die in der CSSR Inhaftierten durchgeführt werden. Diese Inhaftierten gehörten auch der<br />
„Suchbewegung“ an. Es muß alles getan werden, daß diese Bewegung nicht gehemmt wird. Er warf dann<br />
die Frage auf, ob sich schon alle, die der „Stadt Bestes“ suchen auch zusammengef<strong>und</strong>en haben zu einer<br />
„Solidargemeinschaft“.<br />
nichtgenehmigten Demonstrationen keine strafrechtlichen Maßnahmen durchgeführt (siehe CSSR)? Durch<br />
Inkonsequenz werden Antragsteller <strong>und</strong> Basisgruppen immer unverschämter. - Warum erfolgte zu Ereignissen<br />
am 13.03.89 keine Presseveröffentlichung? Dadurch würde Falschmeldungen entgegengewirkt.“ (StAL SED A<br />
5847)<br />
446 In der Information der SED-SL Leipzig heißt es, daß die „gesellschaftlichen Kräfte“ in der Leipzig-Information<br />
<strong>und</strong> in der SED-Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte durch die SED-Stadtleitung <strong>und</strong> die Kreisdienststelle des MfS<br />
eingewiesen wurden (Dokument abgedruckt in: STASI intern, 64f.).<br />
447 Der Leiter der BV notierte sich: „200 ges. Kräfte [/] 150 op. MA [Mitarbeiter des MfS] [/] 70 VP (Zivil) [/] 3<br />
Züge S [?] 1 Kpg. VPB [Bereitschaftspolizei] <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong>“ (BStU Leipzig AB 3843, 153).<br />
227
Nach Kühn handeln alle die im Sinne von Jesus Christus, die sich für Verbesserungen in der Gesellschaft<br />
<strong>und</strong> in der Welt einsetzen. Denn für diese Ziele sei Jesus Christus am Kreuz gestorben. In diesem<br />
Zusammenhang machte er auch deutlich, daß es gilt, für diese Ziele zu beten. Das Beten, so Kühn, gehört<br />
mit zu einer Gesellschaft. In einer Gesellschaft, wo nicht gebetet wird, dies sei eine „kranke“ Gesellschaft.<br />
Im Anschluß daran wurden Fürbittgebete gesprochen, u.a. auch dafür, daß<br />
- man darum streiten muß, was das „Beste“ für die Stadt Leipzig, für die Gesellschaft <strong>und</strong> für die Welt ist;<br />
- <strong>und</strong> daß man sich nicht entmutigen lassen soll, wenn das eigene Engagement nicht gewollt, nicht gefragt<br />
ist.<br />
144 Staatliche Einschätzung<br />
Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Rates des Bezirkes Leipzig für Inneres über<br />
geplante Veranstaltungen <strong>und</strong> die Beteiligung von Gruppen an der inhaltlichen Gestaltung der Friedensgebete.<br />
Das Exemplar trägt handschriftliche Notizen - vermutlich von R. Opitz (StAL BT/RdB 38326).<br />
Leipzig, den 15.03.1989<br />
Geplante Veranstaltungen, Pläne <strong>und</strong> Absichten der ev. Kirchen bzw. Gruppentätigkeit<br />
1. Buchlesung mit Stefan Heym 17.03.1989 [/] Nikolaikirche [/] 20.00 Uhr<br />
2. „Tag der Volksbildung“ [/] 01.04.1989 [/] Heilandskirche [/] 10.00-22.00 Uhr<br />
448<br />
Es ist vorgesehen, daß ab 03.04.1989 die Friedensgebete in der Nikolaikirche wieder in Form von<br />
Gruppentätigkeit <strong>und</strong> unter Verantwortung der Gruppen durchgeführt werden. Dazu wurden bisher<br />
folgende Vorhaben bekannt 449:<br />
AG „Gerechtigkeit“ (Rudolf [gemeint: T. Rudolph]) 10.04.1989<br />
AG „Menschenrechte“ (Pf. Wonneberger) 17.04.1989<br />
IG „Leben“ (Arnold, Schwabe) 23.04.1989<br />
Kirchgemeinde Nikolai/St. Johannis 01.05.1989<br />
AG „Solidarische Kirche“ 08.05.1989<br />
Christliche Friedenskonferenz (Münnich, Schneider) 22.05.1989<br />
AK „Friedensdienst“ 29.05.1989<br />
AG „Umweltschutz“ (Quester, Elsässer)<br />
Durchführung des „Pleißenmarsches“<br />
05.06.1989<br />
„Freiheit mit Musik“ 10.06.1989<br />
(Eröffnung Pressefest, Eröffnung Agra)<br />
AG „Umweltschutz“ 450 (Gemeindehaus Lindenau <strong>und</strong> Grünau) 12.06.1989<br />
Kirchgemeinde Nikolai/St. Johannis 19.06.1989<br />
Friedenskreis Gohlis 26.06.1989<br />
Jugendkonvent 03.07.1989<br />
[Unter diesen Text schrieb Opitz [?] in seinem Handexemplar mit stenographischen Kürzeln:]<br />
[... nicht zu entziffernde Wendung] Führer, Wonneberger, Turek [?], Weidel, Kaden,<br />
[folgende Zeile umkreist:] für das [?] Berger<br />
[folgende Zeile:] mit Kirchenvorständen [Wort nicht zu entziffern], daß sie das nicht zulassen.<br />
145 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 16.03.1989 über ein<br />
Gespräch zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen (Löffler), dem Ratsvorsitzenden des RdB (Opitz)<br />
448 Die Veranstaltung nannte sich „Schule in Bewegung“.<br />
449 Der Friedensgebetsplan wurde am 20.02.1989 im BSA beschlossen. (Protokoll Berger - ABL H 2)<br />
450 Dies ist ein offensichtlicher Abschreibfehler, richtig wäre Friedenskreis (o.ä.) gewesen.<br />
228
451<br />
<strong>und</strong> Bischof Hempel . An dem Gespräch am 15.03., 15.00 Uhr, nahmen außerdem teil: H. Reitmann, Dr.<br />
Wilke, W. Jakel, OLKR Schlichter, J. Cieslak. Unterzeichnet wurde die Information von Reitmann (StAL<br />
BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: ABL H 53).<br />
Das Gespräch wurde durch den Staatssekretär eingeleitet. Den kirchlichen Vertretern wurden zu zwei<br />
gr<strong>und</strong>sätzlichen Punkten staatliche Entscheidungen <strong>und</strong> Erwartungshaltungen mitgeteilt:<br />
Erstens informierte der Staatssekretär über die Bereitschaft der staatlichen Organe, die Durchführung des<br />
Kirchentages zum vorgeschlagenen Thema <strong>und</strong> zum Inhalt zu unterstützen 452.<br />
Die Bereitschaft, dem Kirchentag in einer solchen Dimension zuzustimmen, ist Ausdruck des Vertrauens,<br />
der Achtung <strong>und</strong> Bewahrung des gemeinsamen Weges nach dem 06.03.1978 im Bereich der sächsischen<br />
Landeskirche. Der Staatssekretär übermittelte dem Bischof die Feststellung Erich Honeckers, daß er<br />
dieses Vertrauen teilt <strong>und</strong> es zugleich keine Normalität, sondern eine Ausnahme ist, daß der Leipziger<br />
Kirchentag in einer solchen Größenordnung stattfindet.<br />
Zweitens wurde dem Landesbischof <strong>und</strong> seiner Begleitung die außerordentlich starke Besorgnis<br />
übermittelt, daß die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentages nicht durch weitere Aktivitäten<br />
reaktionärer Kräfte gestört wird. Die letzten Ereignisse am Messemontag haben wiederholt gezeigt, daß es<br />
ernst zu nehmende Kräfte gibt, die den kirchlichen Raum mißbrauchen. Das, was sich am Montag trotz<br />
staatlicher Einflußnahme auf die kirchenleitenden Kräfte abgespielt hat, ist geeignet, den Kirchentag<br />
ernsthaft zu gefährden. Genosse Löffler beeinspruchte die gegenwärtige <strong>und</strong> vorgesehene Gestaltung der<br />
Friedensgebete. Er brachte insbesondere das Unverständnis der staatlichen Organe zum Ausdruck, daß<br />
nun wieder die „Gruppen“ das Friedensgebet verantworten sollen.<br />
Dem Bischof wurde eine komplette Aufstellung der vorgesehenen Friedensgebete im ersten Halbjahr<br />
übergeben 453 . Des weiteren wurde herausgearbeitet, daß es eine politische Zumutung ist, wenn der<br />
vorgesehene zweite Pleißemarsch kirchlicher Umweltgruppen parallel zur Eröffnung der Agra <strong>und</strong> des<br />
LVZ-Pressefestes stattfindet.<br />
Die Landeskirche wurde aufgefordert, generell die Arbeit mit den sogenannten Gruppen zu überdenken<br />
<strong>und</strong> sie stärker zu beeinflussen.<br />
Diese Erwartungshaltung wurde sowohl im Hinblick auf den Kirchentag als auch auf die Vorbereitung<br />
einer sogenannten DDR-weiten Aktion für die in der CSSR inhaftierten Personen herausgearbeitet. Dem<br />
Bischof wurde die Abschrift eines Flugblattes übergeben, das auf der Vervielfältigungsmaschine <strong>und</strong> mit<br />
der Vervielfältigungsnummer von Pfarrer Turek hergestellt wurde 454 . Das sind derselbe Pfarrer <strong>und</strong><br />
dieselbe Technik wie bei den Ereignissen im Januar 1989. Genosse Löffler hob die staatliche<br />
Erwartungshaltung hervor, die davon ausgeht, daß der Landesbischof <strong>und</strong> der Kirchentagsausschuß alle<br />
Kraft aufwenden müssen, den Kräften zu wehren, die letztlich dahin arbeiten, den geplanten<br />
Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag zu torpedieren. Es gehe um eine Maximalität der Zusicherung, alles<br />
getan zu haben, jegliche Irritationen im Zusammenhang des Staat-Kirche-Verhältnisses von vornherein<br />
auszuschließen.<br />
Im Anschluß an die Ausführungen des Staatssekretärs für Kirchenfragen sprach der Vorsitzende des Rates<br />
des Bezirkes Leipzig, Rolf Opitz, zu der Notwendigkeit, alles zu tun, daß der geplante<br />
Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag in Leipzig eine gute Atmosphäre hat. Genosse Opitz formulierte die<br />
Erwartungshaltung an die Landeskirche <strong>und</strong> den Kirchentagsausschuß:<br />
− die religiöse Dimension des Kirchentages einzuhalten,<br />
− den Charakter des Kirchentages als Kirchentag der Landeskirche Sachsens <strong>und</strong> die volle<br />
451 Die Information ging u.a. an den Stellvertretenden Leiter der BV des MfS (Eppisch). Auf dem MfS-Exemplar<br />
wurde vermerkt: „Abt. XX zum Verbleib E[ppisch]“.<br />
452 Am gleichen Tag beschloß das Sekretariat der SED-BL Genehmigung <strong>und</strong> Absicherung der „Durchführung eines<br />
Kirchentagskongresses <strong>und</strong> Kirchentag der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens vom 6.-9. Juli 1989 in der Stadt<br />
Leipzig“, Beschluß-Nr. 124/89 (StAL SED A 5527)<br />
453 s. Dok. 144<br />
454 vgl. zu dieser Behauptung Operativinformation Nr. 78/89 (Hinweis- <strong>und</strong> Merkmalskomplex 2) der KD Leipzig-<br />
Stadt vom 11.03.1989, in: Besier/Wolf, 671-673<br />
229
Verantwortung für die Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit vor <strong>und</strong> während des Kirchentages<br />
zu übernehmen.<br />
Landesbischof Hempel führte aus, daß er zwei Dinge sehe, einesteils die ungeklärte Frage, wie weit<br />
Kirche politisch gehen darf, <strong>und</strong> daß er gr<strong>und</strong>sätzlich bei all seinen Aussagen den Gruppen sagen müsse,<br />
daß all die „beschwerenden Dinge“, die die Gruppen so drücken, ja auch <strong>und</strong> immer wieder mit dem Staat<br />
besprochen werden. Er sehe also unter dem Aspekt des 06.03.1978 eine große sachliche Identität, aber<br />
auch sachliche Unklarheit eben zu dem Problem, wie weit könne Kirche politisch sein. Dr. Hempel<br />
erläuterte die „protestantischen Möglichkeiten“ einer Disziplinierung, die er als außerordentlich gering<br />
beschrieb, betonte aber, daß er sehr wohl verstanden habe, der Staat will nun, daß endlich mit den leidigen<br />
Geschichten in der Nikolaikirche Schluß gemacht wird. „Ich habe den Schritt in die Öffentlichkeit immer<br />
gescheut, was daran liegt, daß ich dann auf die Dinge kommen muß, die wir unter uns besprechen.“<br />
Bischof Dr. Hempel sagte zu, daß er mit dem Pfarrer der Nikolaikirche, Herrn Führer, sprechen werde.<br />
Das Friedensgebet am 27.02.1989 war als Gottesdienst gesehen ein „disqualifizierter Akt der Kirche“.<br />
„Wir werden uns weiter um die theologische Qualifizierung des Friedensgebetes bemühen, so wie das<br />
Prof. Kühn am 13.03.1989 getan hat“. Im weiteren Gespräch gelang es den staatlichen Vertretern,<br />
eindringlich hervorzuheben, daß die absolute Notwendigkeit gegeben ist, ein gr<strong>und</strong>sätzliches<br />
theologisches Wort des Landesbischofs zu sprechen, wozu er sich schließlich bereit erklärte 455 . „Ein<br />
theologisches, aber differenziertes Wort. Die Sachen, die diese wollen, haben wir auch besprochen, das<br />
muß ich dazu sagen.“ Es konnte festgestellt werden, daß bei Oberlandeskirchenrat Schlichter <strong>und</strong> Herrn<br />
Cieslak starke Unsicherheit <strong>und</strong> Betroffenheit vorhanden war, die dazu führte, daß Bischof Hempel in<br />
seinen Aussagen keine verbale Unterstützung erhielt, Schlichter <strong>und</strong> Cieslak erst dann sprachen, als sie<br />
durch den Staatssekretär persönlich angesprochen wurden <strong>und</strong> dann aber nur zu Detailproblemen der<br />
Vorbereitung des Kirchentages bzw. der „Notwendigkeit einer Veränderung der Preispolitik“ in der DDR,<br />
so Schlichter, Aussagen trafen. Im Verlaufe des Gespräches wurde eine Reihe von gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Problemen angesprochen <strong>und</strong> diskutiert. In diesem Zusammenhang positionierte sich Landesbischof Dr.<br />
Hempel mehrfach. Einige Aussagen können wörtlich wiedergegeben werden: „Er ist enttäuscht, daß<br />
manches anders geworden ist seit dem 06.03.1978. Unsere Regierung stellt sich auch anders dar. Ich muß<br />
aber bei allem darauf verweisen, auf die staatliche Primärverantwortung.“ „Es gibt Defizite, die sich<br />
mehren, Rede- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit. Ich vermisse bei ihnen ein Stück Selbstkritik. Hätte ich nicht meinen<br />
Glauben, wäre es für mich schwer, hier zu leben.“ „Zur Volksbildung haben sie uns ja mehrfach gesagt,<br />
daß es keine Gespräche gibt. Was fürchten sie eigentlich? Es sind doch auch die ihrigen [sic!], die sie<br />
[sic!] ja ausgebildet haben.“ „Wir sprechen über die gleichen Themen, wie schon immer vorher. Es ist hier<br />
ein Raum nicht da, den viele Leute brauchen. Das haben wir viele Male schon gesagt <strong>und</strong> sagen es immer<br />
wieder.“ Landesbischof Dr. Hempel brachte seine persönliche Betroffenheit über die Ernsthaftigkeit der<br />
staatlichen Aussagen im Zusammenhang mit der Zustimmungserklärung für die Durchführung des<br />
Kirchentages zum Ausdruck. Zur weiteren Vorbereitung des Kirchentages wurde vereinbart, daß am<br />
Dienstag, dem 21.03.1989, eine Beratung mit dem Kirchentagsausschuß stattfindet <strong>und</strong> das vorgelegte<br />
Programm des Kirchentages beraten wird.<br />
Durch den Vorsitzenden des Landeskirchentagsausschusses wurde ausdrücklich betont,<br />
− daß es ein Kirchentag der Landeskirche Sachsens ist, zu dem nur einzelne Teilnehmer <strong>und</strong> keine<br />
Gruppenanmeldungen erfolgen, (bisher liegen 2500 Einzelanmeldungen zum Kongreß vor)<br />
− daß es während des Kongresses den Medien untersagt wird, an den Beratungen teilzunehmen <strong>und</strong> eine<br />
Medienarbeit über Pressekonferenzen erfolgt,<br />
− daß noch keine Übersicht über die ausländischen Teilnehmer besteht, ihre Einladung <strong>und</strong> Einreise aber<br />
ausdrücklich über die Dienststelle des Staatssekretärs für Kirchenfragen zu klären ist,<br />
− daß ein Angebot des Staatssekretärs für Kirchenfragen geprüft wird, Karten für Kirchentagsteilnehmer<br />
zu öffentlichen Kultur- <strong>und</strong> Filmveranstaltungen zu bestellen.<br />
Das Gespräch verlief insgesamt in einer sehr sachlichen <strong>und</strong> vertrauensvollen Atmosphäre. Bischof<br />
Hempel gelang es nicht, eine starke Betroffenheit zu überspielen.<br />
455 Über das Gespräch berichtete Opitz am 03.04.1989 auch an den Vorsitzenden des Ministerrates (StAL BT/RdB<br />
21395). Dort heißt es, daß Hempel ein „gr<strong>und</strong>sätzliches theologisches Wort“... „in Aussicht stellte“.<br />
230
Seine Begleiter waren nicht in der Lage, ihn in der Gesprächsführung zu unterstützen.<br />
146 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Aktennotiz vom Rates der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 20.03.1989 über ein Gespräch am<br />
17.03.1989 zwischen Sabatowska, Sup. Magirius <strong>und</strong> Sup. Richter. Inhalt des Gesprächs waren die<br />
Friedensgebete <strong>und</strong> verschiedene Veranstaltungen der Leipziger Basisgruppen. Unterzeichnet wurde die Notiz<br />
von Hillebrand. Das Exemplar trägt mehrere Unterschriften von Mitarbeitern der BV des MfS, die diese<br />
Aktennotiz zur Kenntnis nahmen, u.a. von Eppisch, Strenger <strong>und</strong> Conrad (ABL H 53) 456 .<br />
Gen. Sabatowska ging zunächst auf die Vorgänge in der Leipziger Innenstadt am Messemontag ein, wobei<br />
es den westlichen Medien gelungen sei, den Teilnehmerkreis des Friedensgebets politisch zu<br />
mißbrauchen. Er unterstrich nachdrücklich die Bedeutung des Friedensgebets in der Nikolaikirche für das<br />
Verhältnis Staat-Kirche in der Stadt Leipzig. Am Beispiel des Versuchs einer politischen Provokation<br />
unter dem Vorwand der Ehrung der Geschwister Scholl machte Gen. Sabatowska die Vorgehensweise der<br />
Antragsteller zur Durchsetzung ihrer Ziele deutlich 457 . Aus seiner Sicht sei die Entscheidung, den<br />
Gruppen ab April wieder die Gelegenheit zur Gestaltung des Friedensgebetes zu geben, nicht geeignet, die<br />
Situation zu entspannen. Schließlich äußerte er seine Bedenken gegenüber solchen im kirchlichen Raum<br />
geplanten Veranstaltungen wie der Aktionstag für die politisch Inhaftierten in der CSSR (19.3.89), der<br />
Pleißegedenkumzug im Juni sowie der Nachmittag „Schule in Bewegung“ 458 am 1.4.89. Er drückte die<br />
staatliche Erwartungshaltung aus, daß die Superintendenten ihren Einfluß geltend machen, damit diese<br />
Veranstaltungen frei von Provokationen bleiben. Die Superintendenten äußerten sich in folgender Weise<br />
dazu:<br />
Sup. Magirius:<br />
− Dank „für die maßvolle Begleitung der Dinge durch den Staat“<br />
− man könne nicht genug darüber staunen, wie bei diesen Aktivitäten durch den Staat zugesehen wird<br />
− Bitte an die Sup., hier mehr zu regulieren <strong>und</strong> einzugrenzen, jedoch immer wieder von staatlicher Seite<br />
angetragen<br />
− hier müsse man endlich weiterkommen (Probleme müßten in der Öffentlichkeit behandelt werden)<br />
− man differenziere genau zwischen Jugendlichen mit echten Anliegen <strong>und</strong> „solchen, die sich unter diese<br />
mischen <strong>und</strong> die westlichen Medien informieren“, diese Vermischung sei furchtbar<br />
− die Frage sei, wie man die, die es ehrlich meinten, fördern könne<br />
− man fühle sich mittlerweile vielfach als „Tempelpolizei“, da „andere Polizei offenbar nicht handeln<br />
kann“<br />
− dieser Zustand sei unbefriedigend<br />
− eigentlich „sitze man sehr nah beieinander“, selbst müsse man sich innerhalb der Kirche rechtfertigen,<br />
<strong>und</strong> Herr Sabatowska müsse dies vor seinen Genossen tun<br />
− in dieser Rolle fühle man sich nicht wohl<br />
− die Gruppen erhalten nicht das Recht, das Friedensgebet selbständig zu organisieren, sondern sie<br />
456 Da von E[ppisch] die Aktennotiz an die Abt. XX adressiert wurde, kann man annehmen, daß sie offiziell dem<br />
MfS übergeben wurde.<br />
457 Für den 23.02.1989 hatte der Küster der Friedenskirche (Leipzig-Gohlis), Christfried Heinze, anläßlich des 46.<br />
Jahrestages der Ermordung der Geschwister Scholl einen Gedenkmarsch bei der VP beantragt. Nach der<br />
Demonstration am 15.01.1989 befürchteten die staatlichen Stellen, daß dies zu einer erneuten<br />
Protestdemonstration führen würde. Das Sekretariat der SED-Kreisleitung beschloß auf seiner Sitzung am 16.02.<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong> einen Maßnahmekatalog, um diese Demonstration zu verhindern (StAL SED N 892). Durch<br />
verschiedene Gespräche mit Heinze (Polizei <strong>und</strong> MfS) <strong>und</strong> anderen Mitgliedern der Friedensgruppe<br />
(Ausreiseantragsteller) erreichten die staatlichen Stellen, daß der Antrag zurückgenommen wurde. Dafür fand am<br />
22.02. in der Friedenskirche ein Scholl-Gedenkgottesdienst statt (Jahn an Löffler am 22.02.1989, BArch O-4 973<br />
<strong>und</strong> Information der SED-SL Leipzig vom 14.02.1989 - StAL SED A 5322). s.a. S. 275<br />
458 Veranstaltung zur Auseinandersetzung mit der staatlichen Pädagogik<br />
231
werden es gemeinsam mit einem erfahrenen Pfarrer vorbereiten<br />
− diese Pfarrer erscheinen vorher bei Sup. Magirius zum Vorgespräch<br />
− er sei auch weiterhin bereit, seine Aufsichtspflicht wahrzunehmen<br />
− zum Umwelttag sei es am besten, wenn man eine Form finden würde, die einen Pleißemarsch<br />
erübrigt 459<br />
− man habe bereits vermutet, daß der Messemontag durch die Westmedien gesteuert wurde<br />
− es sei zu überlegen, ob man unter diesen Bedingungen zur Messe künftig überhaupt noch ein<br />
Friedensgebet durchführen kann<br />
460<br />
Sup. Richter:<br />
− Genugtuung über bestehenden verläßlichen Kontakt Staat-Kirche in der Stadt<br />
− Gespräch von SR [Stadtrat] Packmohr mit der AG Umweltschutz sei ein mutiger Schritt gewesen<br />
− er bedaure, daß angesichts der gesellschaftlichen Situation heute „manche Organisationen auf<br />
Tauchstation gegangen sind“<br />
− Problem Antragsteller sei ein Stück Wirklichkeit, nicht wir setzten dies in Gang<br />
− Gespräche mit dem Küster der Friedenskirche Gohlis geplante Veranstaltung für Geschwister Scholl<br />
hätten Nachholebedarf der Kirche beim Umgang mit Personen des Widerstands erkennen lassen<br />
− er hoffe, daß der staatliche Dialog, der auch kritische Töne aushalten müsse, bei den Menschen<br />
ankommt<br />
− er werde mit dem Kirchenvorstand der Heilandkirche wegen der Veranstaltung „Schule in Bewegung“<br />
sprechen<br />
462<br />
− zum Kirchentag sei es wohl günstig, alle Gruppen an einem Ort zu konzentrieren <strong>und</strong> ihnen einen<br />
entsprechenden Raum anzubieten, „damit sie hier Dampf ablassen können“, leider biete die<br />
Gesellschaft insgesamt keine Plätze für diese Leute<br />
− mit Sup. Magirius sei man sich einig, daß durch das bei Pfr. Turek gedruckte Blatt zum Aktionstag am<br />
19.3.89 „die Kirche etwas damit zu tun habe“<br />
− das Selbstbewußtsein der Leute sei erheblich gewachsen, man könne nicht mehr nach dem Motto „Wir<br />
denken schon für euch!“ mit ihnen verkehren<br />
− neue Reiseregelungen 463 sind positiv, den Menschen würden damit die Augen geöffnet werden<br />
Das Gespräch verlief in einer offenen <strong>und</strong> sachlichen Atmosphäre.<br />
147 Stasi-Information<br />
Auszug aus der Information über die westlichen Journalisten „im Zusammenhang mit provokatorischen<br />
Handlungen feindlich-negativer Personengruppen am 12/13. März 1989 in Leipzig“ (ZAIG Nr. 127/89). Die<br />
Information ging u.a. an Krenz, Herrmann <strong>und</strong> verschiedene leitende Mitarbeiter des MfS (BStU ZAIG<br />
3752).<br />
Nach dem MfS vorliegenden streng internen Hinweisen haben in der DDR akkreditierte Korrespondenten<br />
westlicher Publikationsorgane wesentlichen Anteil an der Initiierung <strong>und</strong> Organisierung der<br />
459 Dieser Absatz wurde per Hand angestrichen.<br />
460 Dieser Absatz wurde per Hand angestrichen.<br />
461 Das Gespräch kam aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe der AGU zu Fragen der Kernenergie zustande. Daran nahmen<br />
Vertreter des Ministeriums für Kohle <strong>und</strong> Energie <strong>und</strong> des StfK auf der einen Seite <strong>und</strong> Sup. Richter, Jugendpf.<br />
Kaden <strong>und</strong> u.a. R. Quester teil (s.a. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 267).<br />
462 Dieser <strong>und</strong> der folgende Absatz wurden per Hand angestrichen.<br />
463 Mit der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30.11.1988 war es für Personen<br />
im Alter über 50 Jahre ab 1.1.1989 möglich, eine Besuchsreise in die B<strong>und</strong>esrepublik zu beantragen (vorher ab<br />
60 Jahre). Außerdem sollte es ab Juli 1989 möglich werden, daß Nichtgenehmigungen gerichtlich überprüft<br />
werden (vgl. Lochen/Meyer-Seitz, 594 u.ö.). Die erste Durchführungsbestimmung (01.04.1989) dieser<br />
Verordnung erweiterte den Kreis der Anteilsberechtigten erneut.<br />
461<br />
232
provokatorischen Handlungen feindlich-negativer Personengruppen, insbesondere Antragsteller auf<br />
ständige Ausreise, zu Beginn der Frühjahrsmesse am 12./13. März 1989 in Leipzig. So wurden bereits<br />
Tage vor den geplanten Provokationen Absprachen geführt zwischen ständig in der DDR akkreditierten<br />
Korrespondenten von Publikationsorganen der BRD <strong>und</strong> dem MfS bekannten <strong>und</strong> dem politischen<br />
Untergr<strong>und</strong> zuzuordnenden Kräften aus Leipzig sowie Antragstellern auf ständige Ausreise mit dem Ziel,<br />
ein abgestimmtes arbeitsteiliges Zusammenwirken <strong>und</strong> feindlich-negative Motivierung der handelnden<br />
gegnerischen Kräfte während der für den vorgesehenen Zeitraum geplanten provokatorischen Aktionen,<br />
insbesondere des als Höhepunkt vorgesehenen „Schweigemarsches“, zu gewährleisten <strong>und</strong> den<br />
Gesamtablauf der Provokationen medienpolitisch vermarktungsfähig als Auftakt einer neuen<br />
Verleumdungskampagne gegen die DDR zu inszenieren. So organisierten die genannten Kräfte für den 12.<br />
März 1989, 10.10 bis 11.45 Uhr einen auf Öffentlichkeitswirksamkeit gerichteten Fahrradkorso mit ca. 20<br />
vorwiegend jugendlichen Personen vom Nikolaikirchhof bis zum Völkerschlachtdenkmal <strong>und</strong> zurück zum<br />
Stadtzentrum (Johannisplatz), der jedoch ohne öffentliche Beachtung blieb. Zu den Aktivitäten der<br />
akkreditierten Korrespondenten aus nichtsozialistischen Ländern während des Fahrradkorsos wurde<br />
folgendes bekannt:<br />
− Das ZDF-Team unter der Leitung von Brüssau realisierte vor Beginn des Fahrradkorsos<br />
Filmaufnahmen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche.<br />
− Die Mehrzahl der Korrespondenten begleitete die ihre Fahrräder schiebenden Jugendlichen über ca.<br />
300 m von der Nikolaikirche bis zum Gewandhaus, dem Ausgangspunkt des sogenannten<br />
Fahrradkorsos.<br />
− Gegen 11.30 Uhr wurde die Rückkehr der Gruppe in der Nähe des Johannisplatzes vom „Spiegel“-<br />
Korrespondenten Mehner fotografisch dokumentiert, der dazu einen günstigen Platz in einem<br />
Gr<strong>und</strong>stück ausgewählt hatte.<br />
Während des von gegnerischen Kräften am 13. März 1989, von 17.45 bis 18.30 Uhr nach dem<br />
montäglichen „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche Leipzig organisierten provokatorischen<br />
„Schweigemarsches“ mit ca. 300 Personen von der Nikolaikirche über die Ritterstraße, Grimmaische<br />
Straße bis zum Markt (in der Information des MfS Nr. 122/89 vom 14. März 1989 wurde über den Ablauf<br />
der Provokation informiert464 ), wurden insgesamt 15 akkreditierte Korrespondenten aus dem<br />
nichtsozialistischen Ausland tätig (siehe Anlage 465).<br />
Dabei kam ihre inspirierende <strong>und</strong> koordinierende Rolle in folgenden Aktivitäten zum Ausdruck: Am 13.<br />
März 1989 wurden bereits vor 17.00 Uhr - zu diesem Zeitpunkt begann das „Friedensgebet“ in der<br />
Nikolaikirche Leipzig - durch die Fernsehteams von ARD <strong>und</strong> ZDF unter der Leitung von Börner bzw.<br />
Schmitz in der Innenstadt von Leipzig, vor allem in unmittelbarer Nähe der Nikolaikirche, Filmaufnahmen<br />
gefertigt. Ein großer Teil (11) der insgesamt 15 namentlich bekanntgewordenen <strong>und</strong> an den Provokationen<br />
beteiligten Korrespondenten aus dem nichtsozialistischen Ausland begab sich mit in die Kirche, wobei sie<br />
vor Betreten der Kirche ihre entsprechend den gewährten Arbeitsbedingungen offen zu tragenden<br />
Akkreditierungsausweise entfernten. Nach dem „Friedensgebet“, d.h. unmittelbar vor der Formierung des<br />
„Schweigemarsches“, postierten sich die Fernsehteams von ARD <strong>und</strong> ZDF vor der Kirche <strong>und</strong> begannen<br />
mit Filmaufnahmen. Sowohl während der gesamten provokatorischen Personenbewegung als auch bei der<br />
Personenansammlung am Markt wurden weitere Filmaufnahmen getätigt. Dabei bewegten sich die Teams<br />
zumeist einige Meter vor der Personengruppe in der von den Organisatoren vorgesehenen<br />
Bewegungsrichtung, z.T. jedoch auch innerhalb derselben. Das offensichtliche Zusammenwirken der<br />
westlichen Korrespondenten mit Kräften der feindlich-negativen Personengruppierung, das auf eine<br />
möglichst wirksame <strong>und</strong> mediengerechte Vermarktung der Provokation abzielte, wurde besonders<br />
während des „Schweigemarsches“ deutlich:<br />
− Der ARD-Korrespondent [... geschwärzt] forderte wiederholt die feindlich- negativen Personen durch<br />
Zurufe zum Stehenbleiben auf, damit er ordentliche Fernsehaufnahmen fertigen könne.<br />
− Die anwesenden R<strong>und</strong>funkkorrespondenten fertigten Tonaufnahmen von den im Zug initiierten, die<br />
Sicherheitsorgane diskriminierenden <strong>und</strong> auf die angebliche Verletzung von Menschenrechten in der<br />
464 ZAIG 122/89 abgedruckt in: Mitter/Wolle, 28<br />
465 In der Anlage wurden die Namen der Journalisten aufgeführt.<br />
233
DDR verweisenden Rufen.<br />
So hatte der Reisekorrespondent des Norddeutschen R<strong>und</strong>funks, Pagel, für diesen Zeitpunkt aus dem<br />
R<strong>und</strong>funkstudio des Pressezentrums eine Direktschaltung zu seinem Sender bestellt. Er überspielte den<br />
Live-Kommentar mit der Originalgeräuschkulisse (einschließlich der Rufe), wobei er seine<br />
Berichterstattung selbst intern als „sensationell“ einschätzte.<br />
− Durch die Korrespondenten [... geschwärzt] (Ost-Europa-Foto/fertigte ständig Fotoaufnahmen) <strong>und</strong> [...<br />
geschwärzt] (Saarbrücker Zeitung) sowie den ARD-Techniker [... geschwärzt] wurden in einer nicht<br />
genehmigten Befragung fortwährend Antragsteller auf ständige Ausreise zu Gründen ihres<br />
Ausreiseantrages, den Zielen ihrer „Demonstration“ <strong>und</strong> den Erwartungen hinsichtlich ihres Auftretens<br />
befragt. Die Antworten entsprachen den üblichen Klischees.<br />
− Der akkreditierte ständige Korrespondent der amerikanischen Nachrichtenagentur AP führte Gespräche<br />
mit in Leipzig anwesenden Exponenten des politischen Untergr<strong>und</strong>es aus Berlin (Rathenow, Scheffke).<br />
Streng internen Hinweisen zufolge sollten Antragsteller auf ständige Ausreise absprachegemäß die BRD-<br />
Fernsehteams gezielt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit behindern <strong>und</strong> deren Kameras beschädigen, um<br />
diese Maßnahmen den DDR-Sicherheitsorganen anzulasten. Zur Sicherung der Teams erfolgte deshalb der<br />
Einsatz von VP-Angehörigen in Uniform 466 . Diese forderten die Teams im Verlauf der<br />
Personenbewegung mehrmals auf, im Interesse ihrer Sicherheit Abstand von der Personengruppe zu<br />
halten. Wiederholt erfolgte durch die VP-Angehörigen das Abdrängen von Personen, die sich den Teams<br />
nähern wollten. Beim Verlassen des Marktes „bedankten“ sich beide Teams bei den VP-Angehörigen für<br />
den Schutz <strong>und</strong> die Gewährleistung ihrer Arbeitsmöglichkeiten.<br />
Sowohl während als auch nach der Provokation wurden intern weitere Feststellungen getroffen, die Pläne,<br />
Absichten <strong>und</strong> persönliche Haltungen westlicher Korrespondenten deutlich machen:<br />
− Der Fotograf [... geschwärzt] (Ost- <strong>und</strong> Europafoto) brüstete sich gegenüber anderen Journalisten der<br />
BRD, daß er den „Schweigemarsch“ nach dem „Friedensgebet“ nicht nur „im Kasten“, sondern auch<br />
mitorganisiert habe.<br />
− Nach Ende der Provokation äußerte [... geschwärzt] im Pressezentrum, daß er solche Aktionen<br />
dokumentieren müsse, das sei sein Geschäft.<br />
− Kurz vor der endgültigen Auflösung der Personenansammlung auf dem Markt äußerte ein Mitglied des<br />
ZDF-Teams gegenüber einem Team-Angehörigen: „Jetzt brauchen wir nicht mehr zu provozieren. Wir<br />
haben, was wir wollen.“<br />
Kennzeichnend für die Inszenierung dieser Provokation <strong>und</strong> die Rollenverteilung im Interesse westlicher<br />
Medien waren auch die Äußerungen einer namentlich bekannten Antragstellerin auf ständige Ausreise,<br />
wohnhaft Leipzig, die mehrmals während der Filmaufnahmen von ARD <strong>und</strong> ZDF hysterisch <strong>und</strong><br />
aggressiv mit anmaßenden Forderungen nach Ausreise in Erscheinung trat (war ständig in vorderer<br />
Reihe/schrie ins Mikrofon, sie habe Kinder <strong>und</strong> wolle zu ihrem Mann, sowie „jetzt haben wir keine Angst<br />
mehr“).<br />
Nach vorliegenden zuverlässigen internen Feststellungen bestätigte diese Person, daß<br />
− sich führende Kräfte aus dem Kreis der Antragsteller auf ständige Ausreise in Vorbereitung dieses<br />
„Schweigemarsches“ mit Vertretern des ZDF mehrmals getroffen hätten, um ein abgestimmtes<br />
Vorgehen zu sichern;<br />
− sie mit der Rolle betraut worden sei, während des „Schweigemarsches“ ihre „Lebensgeschichte“ vor<br />
der ZDF-Kamera darzustellen;<br />
− das Ziel <strong>und</strong> der Wunsch des ZDF-Teams darin bestanden habe, daß es zu einer tätlichen<br />
Auseinandersetzung zwischen den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen <strong>und</strong> den Antragstellern auf ständige<br />
Ausreise komme, die mit Zuführungen ende. Die entsprechenden Filmaufnahmen sollten dazu genutzt<br />
werden, die DDR der Verletzung der Menschenrechte zu bezichtigen.<br />
Zu einer Reihe der in dieser Information genannten akkreditierten Korrespondenten von<br />
Publikationsorganen der BRD liegen aus den letzten Jahren Erkenntnisse zu wiederholten rechtswidrigen<br />
Aktivitäten vor. [... Es folgen einige Beispiele zwischen 1985 <strong>und</strong> 1989]<br />
466 vgl. Dok. 148<br />
234
148 Stasi-Information<br />
Auszug aus der Quartalseinschätzung I/89 der BV des MfS Abteilung XX/4 (Major Strenger, i.A. Tinneberg<br />
<strong>und</strong> Hauptmann Große gro-tr) vom 30.03.1989 über R. Müller (OV „Märtyrer“), <strong>und</strong> seine Aktivitäten in<br />
Leipzig. Diese Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten Quartalseinschätzungen über den OV<br />
Märtyrer der BV Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus<br />
herausgegeben wurden.<br />
− Der Verdächtige beteiligte sich mit weiteren Personen in der Nacht vom 11. zum 12.01.89 an einer<br />
Flugblattaktion im Leipziger Stadtgebiet. Dabei wurde in dem Flugblatt mit dem Titel „Aufruf an alle<br />
Bürger der Stadt Leipzig“ zu einer nichtgenehmigten Zusammenkunft für den 15.01.89 um 16.00 Uhr<br />
auf dem Markt in Leipzig aufgefordert. In diesem Zusammenhang erfolgte am 13.01.89 die Zuführung<br />
des Verdächtigen in die UHA [Untersuchungshaftanstalt] des MfS Leipzig <strong>und</strong> die Einleitung eines<br />
Ermittlungsverfahrens gemäß Paragr. 214 (1) <strong>und</strong> (3) StGB 467 . Die Verteidigung des M. übernahm<br />
Rechtsanwalt Schnur, Wolfgang. Während der Untersuchungshaft war der Verdächtige als einziger<br />
Beschuldigter nicht aussagebereit <strong>und</strong> nicht geständig. Aufgr<strong>und</strong> einer zentralen politischen<br />
Entscheidung erfolgte die Einstellung der Ermittlungsverfahren auf der Gr<strong>und</strong>lage des Paragr. 25<br />
Ziffer 2 StGB 468 <strong>und</strong> gemäß Paragr. 148 (1) 3 StPO sowie am 19.01.89 die Entlassung aus der<br />
Untersuchungshaft. Im Rahmen der Untersuchung der o.g. öffentlichkeitswirksamen Aktion <strong>und</strong> der<br />
dazu inoffiziell erarbeiteten Erkenntnisse wurde erneut das abgestimmte Zusammenwirken mit<br />
PUT 469 -Exponenten in der DDR <strong>und</strong> mit westlichen Journalisten durch die Mitglieder des AK<br />
„Gerechtigkeit“ herausgearbeitet <strong>und</strong> nachgewiesen. Am Abend des 19.01.89 fand dann bei M. in der<br />
Wohnung eine Zusammenkunft aller „Inhaftierten“ statt. M. äußerte dabei: „Ich bin enttäuscht, daß die<br />
Freilassung erfolgte. Somit ist der Schaden für die DDR nur gering!“<br />
− Am 20.01.89 nahm M. in der Markusgemeinde Leipzig an einem „Fürbittgottesdienst“, gemeinsam mit<br />
allen freigelassenen Flugblattverbreitern, teil. In Anwesenheit von Rechtsanwalt Schnur sowie den<br />
Mitgliedern der Initiative „Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte“ Berlin, Fischer, Werner <strong>und</strong> Grimm, Peter<br />
verabschieden die Teilnehmer eine „Erklärung der von den Verhaftungen betroffenen Gruppen“ 470 .<br />
Darin werden eine aktive Solidarität <strong>und</strong> die Einstellung der Ermittlungsverfahren gefordert.<br />
Außerdem wird unterstellt, daß durch den Staat versucht wird, „die Arbeit von gesellschaftlich <strong>und</strong><br />
politisch engagierten Gruppen zu kriminalisieren“.<br />
− Im Auftrag der „Betroffenen“ verliest Arnold, Michael während des „Friedensgebetes“ am 23.01.89 in<br />
der Nikolaikirche Leipzig eine gemeinsame Erklärung, in welcher sie sich zur Flugblattaktion<br />
bekennen <strong>und</strong> ihren Willen bek<strong>und</strong>en, trotz laufender Ermittlungsverfahren so weiter zu arbeiten.<br />
Diese Erklärung ist auch durch M. unterzeichnet (liegt in der DE [Diensteinheit] vor). Nach dem<br />
„Friedensgebet“ finden vor der Moritzbastei in Leipzig Fernsehaufnahmen mit den „Betroffenen“<br />
durch das ARD statt. Die Ausstrahlung dieser Aufnahmen erfolgte am 25.01.89 im ARD in der<br />
Sendung „Brennpunkt“.<br />
− Am 12.03.89 um 20.00 Uhr fand in der Wohnung des Rudolph eine Beratung in Vorbereitung des<br />
13.03.89 statt. Daran nahmen die Walther, Kathrin; Hollitzer, Tobias; Quester, Roland <strong>und</strong> der<br />
Verdächtige teil. Im Anschluß äußerte M. gegenüber einer Quelle unserer DE folgendes 471 : „Nach dem<br />
„Friedensgebet“ am 13.03.89 wird es einen Marsch von der Nikolaikirche zur Thomaskirche geben.<br />
Mit den AStA ist bereits alles abgesprochen. Sie sollen die VP angreifen. Die Fernsehkameras der<br />
BRD sollen herunter gerissen werden. Im Westfernsehen soll dies dann als Aktion der<br />
Sicherheitskräfte dargestellt werden. Die Absprache mit den BRD-Journalisten erfolgt noch heute<br />
467 s. Anm. 28 § 214 (3) lautete: „Wer zusammen mit anderen eine Tat nach den Absätzen 1 oder 2 begeht, wird mit<br />
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft.“<br />
468 „Von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist abzusehen, wenn die Straftat infolge der<br />
Entwicklung der sozialistischen Gesellschaftsverhältnisse keine schädliche Auswirkung hat.“<br />
469 s. Abkürzungsverzeichnis S. 437<br />
470 s. Dok. 130<br />
471 Als Quelle ist der IM „Fuchs“ (B. Becker) zu identifizieren (BStU Leipzig AB 3843, 151f.).<br />
235
durch Rudolph, Thomas“.<br />
− Am 13.03.89 nahm M. am „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche teil. Vor der Veranstaltung gab es am<br />
Eingang der Kirche ein Zusammentreffen zwischen Rudolph, M. <strong>und</strong> einem Korrespondenten der<br />
ARD. Über den Inhalt des Gespräches wurde nichts bekannt. Nach dem „Friedensgebet“ kam es zu der<br />
geplanten, nichtgenehmigten Personenbewegung durch die Leipziger Innenstadt. Die ca. 300<br />
Teilnehmer zogen mit Sprechchören bis zum Marktplatz, wo die Auflösung erfolgte. Der Verdächtige<br />
beteiligte sich nicht an dieser „Aktion“, sondern führte Gespräche in <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche. In<br />
diesem Zusammenhang wurde bekannt, daß er erneut für den 1. Mai 1989 plant, mit einem eigenen<br />
Transparent in Borna zu demonstrieren.<br />
− Am 14.03.89 besuchte der Verdächtige um 19.00 Uhr den „Fürbittgottesdienst für die Inhaftierten in<br />
der CSSR“ in der katholischen Liebfrauengemeinde. [...]<br />
− Zum „Friedensgebet“ am 20.03.89 überstieg M. gemeinsam mit Schwabe, Uwe das Absperrseil in der<br />
Nikolaikirche <strong>und</strong> entfaltete an der Empore über der Jugendkapelle mit einer weiteren unbekannten<br />
männlichen Person ein Transparent. Darauf stand „Freiheit für Havel <strong>und</strong> alle politischen <strong>und</strong><br />
religiösen Inhaftierten in der CSSR“. Arnold, Michael fotografierte den Sachverhalt <strong>und</strong> übergab den<br />
Film an Rudolph, Thomas. Dieser will den Film an westliche Medien übergeben.<br />
− Die bisher eingeleiteten Disziplinierungsmaßnahmen sowie Ordnungsstrafen <strong>und</strong> strafprozessuale<br />
Maßnahmen zeigten beim Verdächtigen keinerlei Wirkung. Erneut trat M. unverzüglich nach seiner<br />
Untersuchungshaft im Januar 1989 mit demonstrativen öffentlichkeitswirksamen Handlungen in<br />
Erscheinung <strong>und</strong> versuchte verstärkt seinen konfrontativen Kurs gegenüber staatlichen Organen<br />
fortzusetzen. Hierbei wurde wiederum die unbelehrbare <strong>und</strong> verfestigte feindlich-negative Haltung des<br />
Verdächtigen deutlich. Begünstigend für die Fortsetzung der Aktivitäten des M. ist die Tatsache, daß<br />
sowohl die Ordnungsstrafen <strong>und</strong> das eingeleitete Ermittlungsverfahren aufgr<strong>und</strong> zentraler politischer<br />
Entscheidungen nicht realisiert bzw. eingestellt wurden. Außerdem nutzt der Verdächtige, da er ohne<br />
Arbeitsrechtsverhältnis ist, seinen gesamten Zeitfond für die Untergr<strong>und</strong>aktivitäten.<br />
− Entsprechend der Jahresplanaufgabenstellung zum OV erfolgte eine Präzisierung der<br />
Bearbeitungskonzeption, ausgewiesen im Komplex „Spuk“ 472 . Durch den stellv. Leiter der Abteilung,<br />
Gen. Oberstleutnant Tinneberg wurde am 10.01.89 mit dem Leiter der HA XX/9, Gen. Oberst Reuter,<br />
eine Koordinierungsabsprache realisiert.<br />
− Zur Realisierung von Maßnahmen der Abteilung 26/B [Einbau von Wanzen] zum OV<br />
(Jahresplanaufgabe) wurden im Wohngebiet des Verdächtigen umfangreiche Aufklärungs- <strong>und</strong><br />
Vorbereitungsarbeiten durchgeführt. Aufgr<strong>und</strong> einer zentralen Weisung erfolgte am 30.01.89 durch die<br />
Abteilung 26 die Aussetzung der geplanten Maßnahme 473.<br />
[...]<br />
149 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einer Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (Ebisch), vom<br />
10.04.1989 über ein Gespräch am 04.04.1989 zwischen Reitmann <strong>und</strong> Theologen der Leipziger Universität<br />
(Prof. Moritz, Prof. Kretzschmar, Prof. Haustein, Dr. Zimmermann, Dr. Wartenberg, Dr. Petzold) 474 . Der<br />
Computerausdruck wurde von Ebisch unterzeichnet <strong>und</strong> trägt Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />
472 Eine genaue Aussage darüber, was alles in diesem Bearbeitungskomplex bearbeitet wurde, läßt sich noch nicht<br />
machen, vermutlich alle politisch-alternativen Gruppen in Leipzig.<br />
473 R. Müller war durch Anwohner auf die Bemühungen des MfS aufmerksam gemacht worden. R. Müller wohnte<br />
zusammen mit mehreren Jugendlichen in einem Haus, in dem zwei leerstehende Wohnungen von ihnen besetzt<br />
waren. „Die Marianne“ - wie die Wohnungen (<strong>und</strong> der Hinterhof) unter Gruppenmitgliedern hieß - war ein<br />
wichtiges Kommunikationszentrum der Basisgruppenmitglieder (auch aus anderen Städten). Die zentrale<br />
Anweisung war vermutlich eine Reaktion auf das Entdecken mehrerer Wanzen durch R. Eppelmann in seiner<br />
Wohnung (Anzeige von M. Stolpe vom 20.12.1988).<br />
474 Am 28.03. gab es eine „traditionelle Begegnung von Marxisten <strong>und</strong> Christen“ auf Einladung von Reitmann, an<br />
der u.a. P. Zimmermann, M. Hausstein, H. Seidel <strong>und</strong> J. Richter teilnahmen.<br />
236
[...] Dr. Zimmermann bezog sich auf die Montagsveranstaltungen in der Nikolaikirche bzw. ihre<br />
Auswirkungen auf der Straße <strong>und</strong> bezeichnete sie als „juristischen Wildwuchs“, da keiner von<br />
kirchenrechtlichen Bestimmungen ausgehe, die eine geordnete Kirchenstruktur brauche. Die<br />
Kirchgemeinde versuche zwar Kirche zu sein, aber hier hätten ja sogenannte Christen der Straße Macht<br />
über die Kirche. Dr. Reitmann sprach die Vertreter der Sektion an, unterstützender wirksam zu werden im<br />
Zusammenhang der Friedensgebete in der Nikolaikirche, diese mehr zu theologisieren, das würde benötigt<br />
zur vorbeugenden Verhinderung von Aktivitäten. Es müssen Prämissen <strong>und</strong> Normen gesetzt werden zu<br />
der Arbeit mit den vielfältigen Gruppen. Bischof Hempel hätte dazu geschrieben <strong>und</strong> auch Krusche 475 . Es<br />
gelte neue Überlegungen anzustellen, wie es weiter gehen soll mit den Gruppen in der Kirche, <strong>und</strong> wie<br />
müßte die Arbeit gestaltet werden. Dr. Zimmermann meinte, daß zu dieser Problematik ein Disput<br />
angebracht sei, wo stärker attraktive theolog. Argumente in der Aufgabenstellung formuliert werden <strong>und</strong><br />
in Lehrüberlegungen eingehen, um das Dilemma zu packen. [...]<br />
150 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 49. Sitzung des KV St. Nikolai vom 10.4.1989 (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1.) Friedensgebete-Plan bis Juli 1989 [/] 2.) Arbeitsgruppen des KV: Personalbestand <strong>und</strong><br />
nächste Vorhaben [/] 3a) Stand der Bauarbeiten [/] b) Vorüberlegungen des Herrn Dr. Pasch <strong>und</strong> Dr.<br />
Magirius zur möglichen Aufstellung des Kunstgutes [/] 4.) Anfrage des Rates der Stadt bezüglich<br />
Orgelmusiken [/] 5.) Gemeindeabend zu „Sommerstück“ von Christa Wolf [/] 6.) Nachfolge für Frl.<br />
Lehnert im KV [/] 7.) Etwaige weitere Gegenstände<br />
Nach der Andacht von Pfarrer Führer wurde das Protokoll der letzten KV-Sitzung verlesen.<br />
Zu Pkt. 1 Sup. Magirius, Pfarrer Führer <strong>und</strong> Herr Ramson informierten über das heutige Friedensgebet.<br />
Es schloß sich eine längere Diskussion an. Besonders wurde der Informationsteil kritisiert, weil sich in<br />
diesem die Gruppen über das zeitliche <strong>und</strong> inhaltliche Maß darstellten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sollte in den<br />
Vorgesprächen (Beginn 16.30) darauf geachtet werden, daß die Gr<strong>und</strong>sätze zum Friedensgebet vom<br />
08.12.88 konsequent durchgesetzt werden. Anschließend wurden die Verantwortlichen des KV für den<br />
Informationsteil des Friedensgebetes bestimmt.<br />
10.4 Herr Ramson [usw... jeweils mindestens ein KV-Mitglied pro FG]<br />
zu Pkt. 2 <strong>und</strong> 3 [...]<br />
Herr Führer informierte über seine Information an das LKA über mehrere Fälle in denen sich Mitglieder<br />
des Erwachsenenseminars <strong>und</strong> der Gruppe „Hoffnung“ an Herrn Führer gewendet haben, weil sie vom<br />
MfS angeworben wurden. [...]<br />
151 Stasi-Information<br />
Auszug aus Bericht der ZAIG des MfS über Vorkommnisse am 1. Mai im Rahmen der Wochenübersicht der<br />
ZAIG (BStU ZAIG 4594, 37-41).<br />
Die mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung eines Wirksamwerdens politisch negativer Kräfte,<br />
insbesondere von Antragstellern auf ständige Ausreise, anläßlich der Feierlichkeiten zum 1. Mai durch das<br />
MfS in Abstimmung mit der Partei sowie im engen Zusammenwirken mit der Deutschen Volkspolizei,<br />
zuständigen staatlichen Organen sowie gesellschaftlichen Einrichtungen <strong>und</strong> Kräften in der Hauptstadt der<br />
DDR, Berlin, sowie in den Bezirken eingeleiteten <strong>und</strong> realisierten differenzierten Aufklärungs- <strong>und</strong><br />
Sicherungsmaßnahmen gewährleisteten im gesamten Territorium der DDR eine hohe staatliche Sicherheit<br />
<strong>und</strong> öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit. [... Es folgt ein Bericht über eine Kerzendemonstration vor dem<br />
Brandenburger Tor in Berlin von 5 Jugendlichen]<br />
Von westlichen Medien als „Gegendemonstration von 100 Personen in Leipzig“ spektakulär hochgespielt,<br />
475 Was hier im einzelnen gemeint war, konnte nicht festgestellt werden.<br />
237
wurde folgender Sachverhalt: Am 1. Mai 1989, gegen 17.00 Uhr kamen Besucher zur Nikolaikirche in<br />
Leipzig, die verschlossen war. Zum montäglichen Friedensgebet am 24. April 1989 war bekannt gegeben<br />
worden, daß am 1. Mai kein Friedensgebet stattfindet. In der Zeit zwischen 17.10 <strong>und</strong> 17.30 Uhr bewegten<br />
sich etwa 50 Personen, darunter Ehepaare mit Kindern, wie Spaziergänger von der Nikolaikirche über den<br />
Markt in Richtung Thomaskirche <strong>und</strong> zurück. Dabei wurden keine öffentlichkeitswirksamen Symbole<br />
oder Losungen mitgeführt <strong>und</strong> keine mündlichen Äußerungen getätigt. Kräfte des politischen<br />
Untergr<strong>und</strong>es wurden nicht festgestellt. Die Öffentlichkeitswirksamkeit der Personenbewegung war<br />
gering. Durch die allgemein starke Frequentierung der Innenstadt wurden die Personen durch andere kaum<br />
wahrgenommen. Angehörige der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sowie gesellschaftliche Kräfte waren im<br />
Einsatz, ohne daß sie aktiv eingreifen mußten. Die über den gesamten 1. Mai in Leipzig anwesenden<br />
Angehörigen eines ZDF-Teams ([...] <strong>und</strong> 3 weitere Personen) fertigten von den genannten, sich zwischen<br />
Thomas- <strong>und</strong> Nikolaikirche bewegenden Personen Filmaufnahmen an. In der Folgezeit zerstreuten sich<br />
die Personen.<br />
Versuche politisch negativer Kräfte, in Demonstrationszüge mit selbstgefertigten Plakaten <strong>und</strong> Symbolen<br />
wirksam werden zu wollen, wurden in 7 Fällen im Anfangsstadium unterb<strong>und</strong>en. [...] In 3 Fällen gelang es<br />
entsprechenden Personen, sich in die Demonstrationszüge einzureihen. (Eine Person in<br />
Ludwigslust/Schwerin sowie 2 Personen in Leipzig [...]<br />
152 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einer Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (A. Müller), vom<br />
04.05.1989 über ein Gespräch zum Thema Kirchentag zwischen dem Vertreter des StfK, Wilke, dem Stellv.<br />
des Vors. des RdB, Reitmann, dem Stellv. des OBM, Sabatowska, den Referenten für Kirchenfragen des RdB<br />
Karl-Marx-Stadt, Klemm, Dresden, Stein <strong>und</strong> Leipzig, A. Müller <strong>und</strong> Vertretern des Landesausschusses<br />
Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag J. Cieslak, Hänisch <strong>und</strong> Kahle am 03.05.1989. Das Exemplar trägt mehrere<br />
Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> wurde nicht unterzeichnet (StAL BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: BA O-4 1405; SAPMO-<br />
BArch IV B 2/14/104).<br />
[...] 476 6. Öffentliche Werbung<br />
Den Vertretern des Landesausschusses wurde mitgeteilt, daß eine öffentliche Werbung an Litfaßsäulen im<br />
Vorfeld des Kirchentages nicht möglich ist. Es wurde auf die Nutzung von kirchlichen Schaukästen<br />
orientiert. Cieslak hob hervor, daß man kirchlicherseits mit mehr Großzügigkeit seitens des Staates<br />
gerechnet habe, zumal für jeden sichtbar ist, daß jeder „Kaninchenzüchterverband“ öffentlich plakatieren<br />
darf. Aufgr<strong>und</strong> der Äußerung von Cieslak wurde durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für<br />
Inneres die gr<strong>und</strong>sätzliche staatliche Auffassung zu der derzeitigen kirchlichen Situation, insbesondere<br />
zum Verlauf der Synode der Landeskirche Sachsens, den zunehmend provokativen Aktivitäten<br />
sogenannter alternativer kirchlicher Gruppen, die auch von hauptamtlichen kirchlichen Kräften unterstützt<br />
werden, <strong>und</strong> zu den sogenannten Friedensgebeten in der Nikolaikirche, dargelegt. Es wurde deutlich<br />
hervorgehoben, daß die staatlichen Organe die derzeitige kirchenpolitische Situation sehr ernst nehmen.<br />
Gleichzeitig habe man den Eindruck, daß dies von kirchenleitenden Kräften nicht so gesehen wird. Ein<br />
korrigierender Einfluß seitens des Bischofs, des LKA oder der Superintendenten sei zur Zeit wenig<br />
spürbar. An Cieslak wurde die dringende Bitte gerichtet, den Landesbischof über die staatliche<br />
Auffassung <strong>und</strong> Erwartungshaltung, die darin besteht, daß kirchlicherseits disziplinierend auf die Gruppen<br />
gewirkt wird, umgehend zu unterrichten. Cieslak, sichtlich beeindruckt, sagte zu, den Bischof darüber zu<br />
informieren. Er <strong>und</strong> andere in der Landeskirche nehmen dies auch sehr ernst. Sie wollen als Kirche nicht<br />
mißbraucht werden, <strong>und</strong> man setzt [sich] auch dagegen zur Wehr. Trotzdem möchte er die Bitte äußern,<br />
daß die getroffene staatliche Entscheidung noch einmal überdacht wird. Sie bringt innerkirchlich<br />
zusätzliche Probleme, die sich insgesamt erschwerend auswirken werden.<br />
476 Auf der Rückseite des Blatt 1 befinden sich handschriftliche Notizen, die mit H. Sch[umann] überschrieben sind.<br />
Dort heißt es u.a.: „Friedensgebet weg oder in andere Kirche. [/] entsprechend machen oder neu nachdenken.“<br />
Vermutlich wurden sie von H. Reitmann verfaßt (s. Anm. 504)<br />
238
Hänisch informierte, daß der Landesbischof vor kurzem mit Vertretern der Gruppen <strong>und</strong> einigen Pfarrern,<br />
die diese Gruppen unterstützen, gesprochen hat. Der Bischof habe deutlich gemacht, daß die<br />
Friedensgebete in der Nikolaikirche diesem Anspruch nicht gerecht werden. Es sind vielmehr<br />
„Aggressionsgebete“. Er habe zur Pflicht gemacht, daß die Gebete der Gruppen durch verantwortliche<br />
Pfarrer zu begleiten sind. Der Bischof betonte, daß sich Pfarrer bzw. Kirchenvorstände die sich an seine<br />
Weisungen nicht geb<strong>und</strong>en fühlen, sich damit außerhalb der Landeskirche stellen. Gleichzeitig wurde aber<br />
auch sichtbar, daß der Bischof an die kirchenrechtliche Stellung des Kirchenvorstandes geb<strong>und</strong>en ist.<br />
[...]<br />
153 Kirchenbucheintragung<br />
Eintragungen aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 07. <strong>und</strong> 08.05.1989. Rechtschreibung wurde<br />
nicht verändert (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Hier in der Kirche finde ich ein kleines Stück Freiheit. [/] (Freiheit fängt dort an, wo Bevorm<strong>und</strong>ung<br />
aufhört) [/] - 3 Jahre Antrag - Michael 7.5.89<br />
[Es folgen zwei fast wortgleiche Einträge vom gleichen Tag]<br />
Wir wünschen <strong>und</strong> hoffen, daß der Frieden den die Menschen in dieser Kirche praktizieren, auch endlich<br />
von den Herrschenden dieses Staates ernstgenommen wird, die nur von ihm reden. [/] Rose-Marie Becker<br />
[/] 8.5.89 I. Becker<br />
Ich hab’s heute geschafft! Danke für den Mut [/] Juliane M<br />
9.5.89 Von dieser Kirche sind wir beeindruckt! [/ ... nicht zu entziffern]<br />
8.5.89 Wir hoffen mit Gottes Hilfe auf baldige Erlaubnis, die DDR verlassen zu dürfen / Fam. Herrmann<br />
Bernburg<br />
8.5.89 Es hat uns sehr gut gefallen [/] Sandra F. aus Strausberg<br />
8.5.89 Schön <strong>und</strong> Beeindruckend Bianca Altner [... Ortsname nicht zu entziffern] bei Berlin<br />
Die „Aktion“ am 7. Mai 89 um 18.00 Uhr, die von den sogenannten Sicherheitsorganen durchgeführt<br />
wurde, hat mir nur wieder gezeigt, daß der Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR nur<br />
richtig war. Ich hoffe für mich u. unsere Familie es in Ruhe u. Frieden bis zum Tag der Entlassung noch<br />
zu ertragen. [/] H. Schmidt, Merseburg<br />
Hier am 7.5.89 hat man das wahre Gesicht der „DDR“ <strong>und</strong> seiner „Demokratie“ gesehen. Man kann sich<br />
vor soviel Diktatur nur abwenden <strong>und</strong> so etwas nennt sich „Deutschen Demokratischen Republik“. Eine<br />
Schande ist es. [/] Dominikus Dickel<br />
Dem kann ich mich nur anschließen. [/] B. [?] Wulff<br />
Da ich Dienst hatte am 7.05. kann ich zwar mir kein Bild machen, was für eine schändliche u.<br />
niederträchtige Aktion diese Staatsileute (erinnert an Gestapo!) durchführten - möchte mich dennoch der<br />
obigen Meinung anschließen u. bedaure jene gewählt zu haben, die gegen jene Verletzung der<br />
Menschenrechte hier in diesem Land nichts unternehmen. Wann endlich wacht man auf! Warum nur<br />
werden einseitig die Verletzungen der demokratischen Gr<strong>und</strong>freiheiten generell nur in den westl. Ländern<br />
angeprangert! Ich kann dieses Gesellschaft nur als heuchlerisch bezeichnen! [/] Gerd Reichel [/] 7202<br />
Böhlen<br />
154 Friedensgebetstexte<br />
477<br />
Manuskript der Initiativgruppe „Leben“, die das Friedensgebet am 08.05.1989 gehalten hat (M. Arnold).<br />
Thema: Auftrag <strong>und</strong> Dienst der Kirche<br />
477 Dieses FG sollte ursprünglich am 23.04.1989 gehalten werden. Da die von der Gruppe benannte Pastorin<br />
Bickhardt (Weinböhla bei Dresden) kurzfristig absagte, wurde das FG am 23.04.1989 durch Pf. Führer gehalten.<br />
Der verantwortliche Theologe am 08.05.1989 war der damalige Vikar E. Dusdal (s. Dok. 138).<br />
239
Michael Arnold: - Einleitung -<br />
Ich möchte heute mit einem Zitat beginnen. Der Vorsitzende des Kirchenb<strong>und</strong>es, Landesbischof Leich,<br />
sagte: „Wenn die evangelische Kirche auch nicht Kirche für den Sozialismus zu sein vermöge, so verstehe<br />
sie sich doch als Kirche Jesu Christi unter den Bedingungen der DDR.“ Das Zitat dient mir als Anstoß,<br />
über den Auftrag <strong>und</strong> den Dienst der Kirche in unserer Gesellschaft nachzudenken. Im Kontakt unserer<br />
Gruppe mit der Kirche, d.h. mit der Kirchenleitung als auch mit den Gemeinden, ist es immer wieder<br />
notwendig geworden, solche gr<strong>und</strong>sätzlichen Fragen neu aufzuwerfen. Ob es um die Einrichtung eines<br />
Kommunikationszentrums in Leipzig geht, ob es um einen Pleißegedenkumzug geht, anläßlich des<br />
Weltumwelttages, oder um die Gestaltung eines Friedensgebetes in der Nikolaikirche, ob es um Solidarität<br />
für die Verfolgten in der CSSR geht oder allgemein um die Vermittlung der gesellschaftlichen<br />
Verantwortung jedes Einzelnen im heutigen Dasein, geht es immer wieder in der Auseinandersetzung mit<br />
der Kirchenleitung um den sehr unterschiedlich ausgelegten Auftrag <strong>und</strong> Dienst der Kirche. Wie sich<br />
heute viele Mitglieder der Kirchenleitung verhalten, wollen wir anhand eines Ereignisses aus dem Jahr<br />
1989 näher beleuchten. Am 15.Januar fand in Leipzig eine Demonstration im Zentrum [der Stadt] statt,<br />
bei der Menschen anläßlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg <strong>und</strong> Karl Liebknecht<br />
demokratische Gr<strong>und</strong>rechte einforderten, wie z.B. das Recht auf freie Meinungsäußerung,<br />
Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Pressefreiheit. Durch diese Demonstration sollte darauf aufmerksam gemacht<br />
werden, daß Forderungen, wie sie schon vor mehr als 70 Jahren bestanden haben, noch heute aktuell sind.<br />
Repräsentativ für viele Christen halten wir ein Schreiben, welches anläßlich der Demonstration <strong>und</strong> der<br />
Verhaftung Beteiligter an die Pfarrämter <strong>und</strong> kirchlichen Einrichtungen der Stadt durch die<br />
Superintendenten dieser Stadt verschickt wurde. In diesem Schreiben heißt es, „Im Blick auf die<br />
Ereignisse der vergangenen Tage in unserer Stadt erklären wir: Das Zeugnis der Kirche ist <strong>und</strong> bleibt<br />
verb<strong>und</strong>en an die nicht austauschbare Botschaft vom Kreuz Christi, von der Liebe Gottes, seiner<br />
Solidarität <strong>und</strong> Versöhnung mit den Menschen <strong>und</strong> vom Ernst, der sich aus unserer Verantwortung<br />
unseres Lebens <strong>und</strong> Zeugnisses in Gottes Gericht ergibt. Wir vertrauen darauf, daß die daraus<br />
resultierende Botschaft der Kirche <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene konkrete Zeugnis eines jeden Christen<br />
weltweite <strong>und</strong> weltverändernde Wirkung hatte <strong>und</strong> immer haben wird. Insofern war, ist <strong>und</strong> bleibt sie ein<br />
unübersehbarer <strong>und</strong> unverwechselbarer Beitrag zu allen konkreten Bemühungen um Entspannung,<br />
Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Menschenwürde. Wir haben uns bisher nicht zu politischer Polarisierung<br />
verleiten lassen <strong>und</strong> werden dies auch um Christi Willen jetzt nicht tun.“ 478 Wenn auch schon dieser letzte<br />
Satz aufschlußreich genug sein müßte, so möchte ich doch noch den Inhalt der Erklärung deutlicher<br />
hervorheben. Es heißt also, der Einzelne darf <strong>und</strong> soll seinem eigenen Gewissen entsprechend politisch<br />
handeln <strong>und</strong> Partei ergreifen, aber die Kirche als Institution, die Gemeinde als juristische Person kann <strong>und</strong><br />
soll dies nicht tun, weil sie nach Meinung von Herrn Superintendent Magirius zur politischen Neutralität<br />
verpflichtet ist. Diese Meinung hat nicht zuletzt dazu beigetragen, daß die Kirche als Großkirche hat<br />
überleben können - aber wer fragt nach den Opfern <strong>und</strong> dem Schaden an jenen Menschen, die durch diese<br />
Kirchenpolitik Schaden erleiden mußten. Diese scheinbare Neutralität der Kirche, von der die Rede ist, hat<br />
natürlich die Loslösung vom Heute, von den aktuellen Problemen <strong>und</strong> von der Geschichte zur Folge.<br />
Unserer Meinung nach ist aber die Verkündigung des Evangeliums, d.h. das Wort Gottes, in der<br />
Geschichte des Christentums nie anders praktiziert worden als das untrennbar mit der jeweiligen Situation<br />
des Menschen verb<strong>und</strong>ene Wort. Ob es sich um die Befreiung Israels aus der Macht des Pharao handelt<br />
oder um die Befreiung der ersten Christen vom Irrglauben an eine imaginäre Heilswirkung. Immer war<br />
das ganze Volk angesprochen, <strong>und</strong> immer war dies verb<strong>und</strong>en mit einer Änderung der Macht- <strong>und</strong><br />
Gewaltstrukturen. Ist nicht gerade die Verkündigung eines zeitlosen, unpolitischen Evangeliums mit daran<br />
schuldig, einen Unrechtsstaat aufrecht zu erhalten? Ich werde im folgenden Äußerungen der<br />
Kirchenkritikerin Dorothee Sölle nutzen 479 , da sie die gleiche Aktualität in der Praxis der Verkündigung<br />
hierzulande widerspiegeln. Wenn es heißt im Text der Superintendenten, „wir haben uns bisher nicht zu<br />
politischer Polarisierung verleiten lassen...“, so meinen wir, daß Jesus Christus in seinem Einsatz für<br />
478 vgl. Dok. 128<br />
479 Die Gruppe beschäftigte sich Anfang 1989 mit D. Sölle, Arbeit <strong>und</strong> Lieben, Stuttgart 1985. D. Sölle hatte im Juni<br />
1984 zu diesem Thema im ThSL eine Gastvorlesung gehalten.<br />
240
Unterdrückte <strong>und</strong> Benachteiligte eindeutig Partei nahm. Nun ergibt sich daraus nicht allein ein neuer<br />
Verkündigungsauftrag für unsere Pfarrer oder eine veränderte Kirchenpolitik der Kirchenleitung, sondern<br />
auch für Sie <strong>und</strong> uns als Christen in diesem Land, politisch engagiert zu handeln. Das ist wohl für viele ein<br />
Prozeß des Umdenkens <strong>und</strong> des Lernens, jedoch ein unabdingbarer Weg, der christlichen Verantwortung<br />
gerecht werden zu können. Wenn wir den Weg der Nachfolge Jesus Christi wirklich gehen wollen, bleiben<br />
wir Verfolgte, heißt das Benachteiligung, heißt das die Last des Kreuzes auf sich nehmen. Wer von Ihnen<br />
will den Weg der Wahrhaftigkeit wirklich noch gehen? Was hindert uns auf diesem Weg? Ist es die Angst,<br />
nicht studieren zu können, die Angst davor, Bekannte jenseits der Grenze nicht mehr besuchen zu können,<br />
die Angst, einen Kirchentag untersagt zu bekommen, die Angst, politisch verfolgt zu sein <strong>und</strong><br />
möglicherweise inhaftiert zu werden? Hier finden wir schon eine Antwort im Evangelium. Im Matthäus-<br />
Evangelium heißt es, „<strong>und</strong> fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten <strong>und</strong> die Seele nicht können<br />
töten.“ 480<br />
Ich möchte zurückkommen auf das bereits zitierte Schreiben der Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter,<br />
in dem es weiter heißt: „Der Respekt vor dem Blutzeugnis der Kommunisten Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa<br />
Luxemburg sowie der Tatsache, daß beide bewußt als Vertreter der materialistischen Weltanschauung<br />
gelebt <strong>und</strong> gekämpft haben, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für jede Form der kirchlichen<br />
Verkündigung.“ Wir als Mitglieder der Initiativgruppe Leben möchten hingegen auch von<br />
Andersdenkenden lernen, wenn sie für die Interessen ihrer Nächsten eingetreten sind. Als Arbeitsgruppe<br />
werden wir weiter für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung eintreten <strong>und</strong> deshalb für<br />
Versammlungsfreiheit, für die Pressefreiheit, für die Vereinigungsfreiheit <strong>und</strong> die Reisefreiheit für alle<br />
Menschen in unserem Land eintreten, da dieses Handeln nicht zu trennen ist von christlicher<br />
Verantwortung. Wenn wir uns lediglich um Alkoholkranke, um psychisch Kranke, um verlassene Alte in<br />
den Pflegeheimen, um die Seelsorge allein kümmern, aber letztlich die Ursache außer acht lassen, bleiben<br />
wir allein ein Trostpflästerchen für die Not auf der Erde <strong>und</strong> in diesem Land - solange bleiben wir<br />
unglaubwürdig vor Gott <strong>und</strong> den Menschen <strong>und</strong> dulden begangenes Unrecht! Im Schreiben an die<br />
Leipziger Gemeinden heißt es weiter, „Darum kann für uns politische Demonstration nicht die geeignete<br />
Form des Zeugnisses der Kirche sein.“ Wir sagen, daß die Botschaft des Evangeliums Christen zu<br />
öffentlichen Bekenntnissen verpflichtet. Dabei beginnt das öffentliche Bekenntnis bei der seelsorgerischen<br />
Arbeit, aber schließt ebenso öffentliche Demonstrationen mit ein. Denken wir an Martin Luther King, der<br />
die Bevölkerung von der Kanzel aus aufrief zu Protestdemonstrationen gegen den Rassismus. Und denken<br />
wir an den Olof-Palme-Friedensmarsch in unserem Land! Ich werde im folgenden zum letzten Mal Bezug<br />
nehmen auf das Schreiben der beiden Superintendenten, denn dort heißt es, „ Wir bitten im Sinne unserer<br />
Positionsbeschreibung um verantwortliche Fürbitte in den Gottesdiensten <strong>und</strong> Gemeindeveranstaltungen.“<br />
Wir sind nicht der Meinung, daß kirchliche Amtsträger der evangelischen Kirche ihre Gemeinden auf<br />
verbindliche Positionsbeschreibungen festlegen dürfen. Fürbitte <strong>und</strong> Gebet stellen für Christen einen<br />
wichtigen Teil des Gottesdienstes dar. Jedoch die Art <strong>und</strong> Weise der traditionellen Gebetsform sollte<br />
unserer Meinung nach ebenfalls neu überdacht werden. Als Bürger dieses Landes, der nach der Zeit der<br />
Konzentrationslager lebt, frage ich mich, was wohl zwischen 1939 <strong>und</strong> 1945 in Deutschland gebetet<br />
worden ist, wofür <strong>und</strong> mit welchen Worten. Ich denke dabei nicht in erster Linie an jene, die für den<br />
„Führer“ beteten, von denen es ja in beiden Großkirchen genug Christen gegeben hat. Eine ernsthaftere<br />
Gefahr scheint mir eigentlich die schweigende Mehrheit der Traditionalisten darzustellen, die beteten, wie<br />
sie es immer getan hatten, die eine Sprache beteten, die niemandem weh tat, kaum verständlich war <strong>und</strong><br />
folgerichtig erlaubt war. Noch immer igelt man sich in der Kirche ein, den Blick senkrecht nach oben,<br />
aber möglichst nicht zur Seite. Das Gebet kann zu einem Alibi werden, das zur Zeit des Verbrechens die<br />
Nutznießer <strong>und</strong> Mitschuldigen davon abhält, irgendetwas gewußt zu haben, es kann zu einer Passivität<br />
verführen, die lieber mit Martin Luther singt, „Verleih uns Frieden gnädiglich“ als mit Franziskus<br />
„Werkzeug deines Friedens“ 481 selber zu werden. Immer noch nicht gebannt ist die Gefahr, das Gebet mit<br />
Magie zu verwechseln. Magisches Beten rechnet mit dem w<strong>und</strong>erbaren Eingreifen eines extram<strong>und</strong>anen<br />
Wesens, das unsere Schwierigkeiten <strong>und</strong> Probleme plötzlich <strong>und</strong> ohne unser Zutun löst. Wir sollten, wenn<br />
480 Matthäus 10,28<br />
481 s. Dok. 24<br />
241
wir derartige Gebete hören oder wenn wir uns selber bei solchen „Stoßseufzern“ <strong>und</strong> Bitten ertappen,<br />
nicht vom gepriesenen „kindlichen Gottvertrauen“ sprechen. Wir müssen lernen vor allem im politischen,<br />
im öffentlichen Gebet, aufzuhören, die eigene Ohnmacht zu verklären <strong>und</strong> auf den alles vermögenden,<br />
allmächtigen Papa, der die Sache schon in Ordnung bringen wird, zu starren. Denn Gott, jedenfalls der,<br />
der mit Jesus lebte, hat keine anderen Hände als die unsrigen, keine anderen Augen <strong>und</strong> keine anderen<br />
Ohren. Gott handelt meiner Meinung nach nicht unmittelbar, [durch] W<strong>und</strong>ertat[en] <strong>und</strong> von oben herab,<br />
er will unsere Hände, unsere Augen <strong>und</strong> unsere Ohren gebrauchen. An einem einfachen Beispiel möchte<br />
ich dies näher erläutern. Hat es einen Sinn zu sagen, „Senke die Rüstungsausgaben, Herr, <strong>und</strong> erhöhe den<br />
Entwicklungsstand in unserem Land“? Das mag ein überspitztes Beispiel sein, <strong>und</strong> doch können wir diese<br />
Form heute noch beobachten, geprägt von einer magischen Erwartungshaltung. Eine weitere Form des<br />
Betens sieht oft so aus: „Gib den Mächtigen Einsicht, Herr, laß sie die Rüstungsausgaben senken <strong>und</strong> die<br />
Hungernden nicht vergessen.“ Auch diese Form ist noch an den Glauben der Magie geb<strong>und</strong>en, wenn dann<br />
noch wie meist der erste Teil der Bitte, der immerhin Entwicklungshilfe in ein Abhängigkeitsverhältnis<br />
zur Rüstung setzt, weggelassen wird, dann wird das in dieser Form häufig gesprochene Gebet „Für die<br />
Hungernden“ nicht nur politisch harmlos, sondern erst recht theologisch [harmlos]. Diese Form verbreitet<br />
ein fröhliches Gottvertrauen, möglichst ohne viel nachzudenken <strong>und</strong> ganz sicher [ohne? 482 ] Erkenntnis<br />
der Sünde. Wie könnte aber der genannte Inhalt zu einem verantwortungsvollen christlichen Gebet<br />
werden? Eine Voraussetzung ist die Information. Wir können für einen einzelnen Menschen, auch für uns<br />
selber heut[e] nicht beten, wenn wir uns nicht genau Rechenschaft geben über die psychischen <strong>und</strong><br />
sozialen Ursachen seiner Probleme <strong>und</strong> Schwierigkeiten; ein Gebet, das eine solch gr<strong>und</strong>legende<br />
Information nicht mit einbezieht, verstößt gegen die Aufmerksamkeit der Liebe.<br />
Ein Gebet könne möglicherweise so aussehen. „Laß uns nicht aufhören, politisch <strong>und</strong> privat die Wahrheit<br />
über die Hungernden <strong>und</strong> von uns Ausgebeuteten zu sagen. Vergib uns nicht, solange wir ihnen nicht<br />
vergeben <strong>und</strong> solange wir Menschen anderer Hautfarbe ausgrenzen. Bring uns diese Schande zu<br />
Bewußtsein, solange zu den Mitschuldigen zu gehören, solange wir deren Probleme <strong>und</strong> Ursachen<br />
schweigsam dulden. Gibt uns die Phantasie für unser Auftreten in der Öffentlichkeit gegen das Unrecht in<br />
unserem Land.“<br />
Warum habe ich nun so ausführlich über das politische Mandat der Kirche gesprochen? Ich möchte meine<br />
Worte als eine Anregung <strong>und</strong> einen Aufruf für jeden heute Anwesenden verstanden wissen. In der DDR<br />
ist der prozentuale Anteil der Christen von ehemals ca. 60% auf 31 % der Bevölkerung zurückgegangen,<br />
<strong>und</strong> die Anzahl der Christen wird weiter absinken, wenn die heutige Kirchenpolitik weiter praktiziert<br />
wird. Ein nicht unwesentlicher Gr<strong>und</strong> für den Rückgang ist darin zu finden, daß den Christen eine<br />
Verkündigung des Evangeliums verb<strong>und</strong>en mit den aktuellen <strong>und</strong> gegenwärtigen Problemen unserer<br />
Menschen fehlt, daß das zeitlose Predigen, bei dem Konflikte bewußt umgangen werden, die Menschen<br />
mit ihren Sorgen allein läßt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Fürbitte[n]:<br />
Gesine Oltmanns: Wir tragen mit Schuld daran, daß so viele Menschen dieses Land für immer verlassen<br />
wollen, weil wir diese Menschen allein gelassen haben mit Problemen <strong>und</strong> Konflikten, die es gilt<br />
gemeinsam zum lösen, weil wir noch immer mit unserem politischen Desinteresse <strong>und</strong> der Resignation<br />
Ungerechtigkeit in unserem Land zulassen. Herr, laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder<br />
aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat die Wahrheit zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu<br />
Duldern des Unrechts macht.<br />
Michael Arnold: Herr, wir sind mit schuld daran, wenn heute noch Menschen an der Grenze unseres<br />
Landes erschossen werden, weil sie keinen anderen Ausweg mehr gef<strong>und</strong>en haben, ihre Probleme zu<br />
lösen. Laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat die Wahrheit<br />
zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des Unrechts macht.<br />
Gesine Oltmanns: Herr, wir sind mit schuld daran, wenn politisch Andersdenkende noch immer<br />
strafrechtlich verfolgt <strong>und</strong> inhaftiert werden, weil wir es bis jetzt unterlassen haben, für eine öffentliche<br />
Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> die Reisefreiheit für alle Bürger dieses<br />
Landes einzutreten. Laß uns beginnen, neu anzufangen <strong>und</strong> nicht wieder aufzuhören, öffentlich <strong>und</strong> privat<br />
482 im Original: „ihnen“<br />
242
die Wahrheit zu sagen, laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des Unrechts macht.<br />
155 Friedensgebetstext<br />
Textauslegung von E. Dusdal (AK „Solidarische Kirche“) zum Friedensgebet am 08.05.1989 in der<br />
Nikolaikirche Leipzig. Xerokopie (ABL H 1).<br />
Exodus 3,7-8b<br />
Und Gott sprach: Ich habe das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, wohl gesehen, <strong>und</strong> ihr Schreien<br />
über ihre Treiber habe ich gehört, ja ich kenne seine Leiden. Darum bin ich herabgestiegen, um es aus der<br />
Gewalt der Ägypter zu befreien <strong>und</strong> es aus diesem Land herauszuführen in ein schönes Land, in ein Land,<br />
das von Milch <strong>und</strong> Honig fließt. Das Volk Israels lebte im Lande Ägyptens. Es hatte sich schon vor Zeiten<br />
dort niedergelassen, um dort zu wohnen <strong>und</strong> zu wachsen. Es hatte sich allmählich dort eingelebt.<br />
Eingelebt auch in die wachsende Unterdrückung. Sie war zur Gewohnheit geworden. Gelebter Alltag.<br />
Unterdrückter Alltag. Es hatte sich arrangiert mit den Verhältnissen. Versucht sein Bestes daraus zu<br />
machen. Sich eingerichtet, sozusagen seine Nische gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> alles andere laufen gelassen: Solln sie<br />
doch sehen, was sie davon haben. Materiell gesehen ging es sogar ganz gut. Es ging eigentlich alles ganz<br />
gut, wenn man nicht nach rechts oder links sah, solange gut, bis der Unmut wuchs <strong>und</strong> die Repressalien<br />
zunahmen. Doch da sprach Gott: Ich habe das Elend meines Volkes gehört, ja, ich kenne seine Leiden.<br />
Darum bin ich herabgestiegen, um es zu befreien. Doch es ist schwer, Altes aufzubrechen, Gewohntes<br />
abzustreifen. Die Gewohnheit der Macht ruht auf der Macht der Gewohnheit. Es ist unsäglich schwer,<br />
einfach aufzustehen <strong>und</strong> loszugehen. Was man kennt, das kennt man, <strong>und</strong> was danach kommt, weiß man<br />
nicht. Unbekanntes ängstigt. Unbekannte Freiheit ängstigt um so mehr, denn sie muß mit Leben gefüllt<br />
werden. Doch mit Gottes Hilfe befreit sich das Volk, <strong>und</strong> es zieht hinaus aus der Unterdrückung. Es läßt<br />
seine Unterdrücker hinter sich zurück. Es läßt zurück, gängelnde Gesetze, die alles Leben in ein<br />
Zwangskorsett pressen, es läßt zurück, die vielen Bürokraten, die immer mehr gelten als man selber, es<br />
läßt zurück einen übermächtigen ungeliebten Staatsapparat. Aber, was findet es vor sich, das Volk, wo<br />
sieht es sich auf einmal hineingestellt? Der Weg in die Mündigkeit, der Weg hin zur Selbstbestimmung<br />
führt zuerst in eine Wüste. Die ersten Erfahrungen sind hart <strong>und</strong> steinig. Man sehnt sich zurück zu den<br />
Fleischtöpfen Ägyptens. Doch die alten Gesetze gelten nicht mehr. Neue müssen erst noch gef<strong>und</strong>en<br />
werden. Gott, der sein Volk die bittere Erfahrung der eigenen Freiheit machen ließ, schenkt seinem Volk<br />
neue Gesetze, die zehn Gebote, denn Freiheit will gefüllt sein. Aber das Volk versagt. Es ist nicht in der<br />
Lage die göttliche Freiheit anzunehmen <strong>und</strong> zu leben, stattdessen schafft es sich eigene Götzen, ein<br />
Goldenes Kalb, <strong>und</strong> versucht in der Anbetung des Konsums seine Freiheit zu finden, ohne zu bemerken,<br />
daß es sich neu verkauft in die Sklaverei. Auch wir sind oft wie dieses Volk <strong>und</strong> haben unsere Ägypter.<br />
Heute ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung. Und es fällt schwer, daran vorbeizureden. Jahr für Jahr jährt<br />
er sich wieder, dieser Tag, an dem das dt. Volk - nun schon vor 44 Jahren- befreit wurde. Wovon befreit<br />
wurde? Es wurde befreit von der schlimmsten Diktatur dieses Jahrh<strong>und</strong>erts, von einem der grausamsten<br />
Systeme der Weltgeschichte, von einem Regime, das Millionen Menschen ermordete. Doch wozu wurden<br />
wir befreit, wir Deutschen, die heute in der DDR leben? Haben wir die Chance der Befreiung genutzt?<br />
Unser Gang ist nach wie vor schleppend, <strong>und</strong> das Ende der Wüste nur hin <strong>und</strong> wieder in Sicht. Sind wir<br />
wirklich befreit von Obrigkeitsdenken? Haben wir unsere Untertanenmentalität schon abgelegt? Sind wir<br />
frei geworden von Ausländerhaß? Befreiung ist ein mühseliger Prozeß, <strong>und</strong> er führt oft genug auch in<br />
Irrwege. Die uns von Gott verheißene Freiheit in seinem Reich werden wir nie erreichen, sie kann uns<br />
Gott nur schenken. Aber wir können uns in der von ihm gemeinten Freiheit hin bewegen.<br />
156 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 50. Sitzung des KV St. Nikolai vom 08.05.89, in dem die<br />
Umbenennung des Friedensgebetes in Montagsgebet beschlossen wird (ABL H 54).<br />
243
Tagesordnung: (abgeändert) [/] 1. Potsdam-Wochenende [/] 2. Situation des FGB [Friedensgebetes] [/] 3.<br />
Terminfragen Uni-Chor [/] 4. Umpfarrung [...] [/] 5. Dichterlesung Grass [/] 6. Anfrage - Stadt -<br />
Orgelmusik vertagt [/] 7. Etwaige weitere Gegenstände<br />
[...] Pkt. 2 [/] Pf. Führer informiert über ein Gespräch mit dem Landesbischof am 14.4. zum Thema<br />
„Friedensgebet“, u.a. über den Vorschlag, FGB in Montagsgebet 483 umzubenennen, über die<br />
Rechtsstellung [?] des Synodalausschusses. Das Gespräch wurde als positiv <strong>und</strong> der gegenseitigen<br />
Klärung dienend eingeschätzt. Ergebnis: Das Friedensgebet geht weiter, es wird von der Kirchenleitung<br />
mitgetragen <strong>und</strong> wird vom Bischof gegenüber dem Staat vertreten. Dem Vorschlag, das Friedensgebet in<br />
„Montagsgebet“ umzubenennen, stimmt der KV mit 7 Stimmen bei 1 Enthaltung zu.<br />
157 Stasi-Information<br />
Bericht von der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS (Ref. XX/2 schön-wl) vom 08.05.1989 über den<br />
inhaltlichen Verlauf der „Montagsandacht“ am 08.05.1989 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet wurde der<br />
Bericht von Leutnant Schönerstedt (ABL H 8).<br />
− Begrüßung durch Pfarrer Führer mit Ankündigung, daß das Gebet durch Vikar Dusdal <strong>und</strong> die Gruppe<br />
„Solidarische Kirche“ durchgeführt wird.<br />
− Bekanntgabe, daß alle am 7.5. Inhaftierten bis auf eine bekannte Person freigelassen wurden484 .<br />
(starker Beifall) Nach dem Lied „Sonne der Gerechtigkeit“ 485 teilte die Bornschlegel, Carola mit, daß<br />
ein Irrtum vorläge <strong>und</strong> das Friedensgebet durch die „Initiativgruppe Leben“ durchgeführt werde.<br />
− Die B. gab an, daß die IGL eine kirchliche Basisgruppe sei.<br />
− Die IGL beschäftige sich mit Fragen wie der notwendigen Umgestaltung in der Gesellschaft <strong>und</strong> der<br />
Kirche, mit Umweltproblemen <strong>und</strong> mit Bürgerrechtsfragen im Zusammenhang mit der KSZE.<br />
− Thema des Friedensgebetes sei „Politisches Mandat der Kirche“.<br />
− Die SED spricht der Kirche ein politisches Mandat ab.<br />
− Kirche sieht ihr Mandat aus Selbstverständnis <strong>und</strong> nicht aus einer Position gegen Staat <strong>und</strong> Partei.<br />
− Die Kirche hat die Verpflichtung, politisch zu sein<br />
− Die Kirche ist offen für alle, sie nimmt sich aller Notleidenden an<br />
− Die B. bezeichnet die Anwesenden als den Teil der Gesellschaft, den man bei Kranken Fieber nennt 486.<br />
− Die Kirche habe die Aufgabe, an der Heilung mitzuwirken<br />
− Der Staat habe die Aufgabe, das Leben im Sinne der Menschen zu gestalten<br />
(starker Beifall, danach Musik)<br />
1. mP [männliche Person]<br />
− Die Kirche hat ein politisches Mandat<br />
− Zitat von Landesbischof Dr. Leich<br />
− Ev. Kirche kann nicht Kirche für Sozialismus sein, sondern Kirche in soz. Verhältnissen<br />
− Am 15.01. fand in Leipzig eine öffentliche Begegnung statt.<br />
− Menschen forderten demokratische Rechte anläßlich des 70. Jahrestages der Ermordung von Karl<br />
Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg wie Recht auf freie Meinungsäußerung, Recht auf Versammlungs-<br />
<strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit, Pressefreiheit.<br />
− Forderungen von vor mehr als 70 Jahren sind heute noch aktuell.<br />
483 Bischof Hempel hatte schon im Brief vom 11.11.1988 eine entsprechende Formulierung verwendet (s. Dok. 113;<br />
s. auch S. 139).<br />
484 Oberleutnant Seidel notierte anläßlich der Dienstversammlung der BV des MfS am 11.05.1989 zur Rede von<br />
Oberst Eppisch (Rechtsschreibung unverändert): „Hetzveranst. am 8.5. in Nikolaikirche. Es waren doppelt soviel<br />
Menschen drin ca. 700 Pfarrer gab Anzahl der inhaftierten bekannt 72 Personen. Wo werden Informationen<br />
preisgegeben??“ (BStU Leipzig AB 3838, MfS 41b)<br />
485 Evangelisches Kirchengesangbuch, Nr. 218<br />
486 vgl. die Rede Prof. U. Kühn, S. 228<br />
244
− Anläßlich der Ereignisse am 15.01. wurde ein Schreiben (von Kirchenleitung in Leipzig) an die<br />
Pfarrämter <strong>und</strong> kirchliche Einrichtungen geschickt.<br />
wP [weibliche Person]<br />
− zitiert genanntes Schreiben<br />
− wir haben uns nicht politisch polarisieren lassen <strong>und</strong> werden es auch jetzt nicht tun<br />
1. mP.<br />
− der einzelne soll also Partei ergreifen, aber die Kirche kann dies nicht tun, weil sie zur politischen<br />
Neutralität verpflichtet ist<br />
− diese Meinung trug zum Überlegen der Kirche bei, aber wer fragt nach den Opfern<br />
− in der Kirchengeschichte gäbe es Gegenbeispiele (Auflistung aus biblischer Geschichte)<br />
− immer ist das ganze Volk angesprochen, <strong>und</strong> immer ist das mit einer Änderung von Machtstrukturen<br />
verb<strong>und</strong>en gewesen<br />
− „Ist nicht gerade die Verkündigung eines zeitlosen unpolitischen Evangeliums mitschuldig, einen<br />
Unrechtsstaat mit vorbereiten zu helfen“. [/] (starker Beifall)<br />
− daraus ergibt sich nicht nur eine Veränderung der Kirchenpolitik, sondern auch Engagement des<br />
Einzelnen [sic!] als Notwendigkeit<br />
− wenn wir diesen Weg gehen, können wir verfolgt werden<br />
− ist es die Angst, die uns abhält?<br />
− ist es die Angst, einen Kirchentag untersagt zu bekommen oder politisch verfolgt zu sein <strong>und</strong> inhaftiert<br />
zu werden?<br />
− Antwort steht im Evangelium<br />
„Und fürchtet Euch nicht vor denen, die den Leib töten“<br />
wP<br />
− zitiert o.g. Schreiben weiter<br />
− der Umstand, daß Luxemburg <strong>und</strong> Liebknecht ihre materialistische Weltanschauung konsequent<br />
lebten, verbietet uns die Inanspruchnahme ihrer Ideen für kirchliche Verkündigung<br />
1. mP<br />
− wir möchten bereit sein, von den Ideen Andersdenkender zu lernen<br />
− wir wollen uns weiter um Redefreiheit, Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Pressefreiheit bemühen<br />
wP<br />
− zitiert weiter<br />
− politische Demonstration kann nicht kirchliches Zeugnis sein<br />
1. mP<br />
− Christen müssen sich öffentlich bekennen<br />
wP zitiert weiter<br />
− Bitte um Verantwortungsbewußtsein bei den Fürbitten<br />
1. mP<br />
− Kirchliche Würdenträger dürfen ihre Gemeinden nicht auf verbindliche Positionsbeschreibungen<br />
festlegen<br />
− Gebetsform sollte neu überdacht werden<br />
− Gefahr, daß die Probleme des Alltags an ein imaginäres Wesen delegiert werden<br />
− im Gebet sollten wir Verantwortung für unsere Welt nehmen<br />
− rhetorische Beispiele<br />
− wir müssen die Ursachen für unsere Probleme mit in unser Gebet aufnehmen<br />
− beispielhaft forderte er auf, gegen das Unrecht in unserem Land aufzutreten [/] (Beifall)<br />
2. mP<br />
− heute ist der 8.5.<br />
− Zitat aus der Bibel zur Befreiung Ägyptens<br />
− Hoffnung auf Gottes Hilfe bei Befreiung<br />
− der Weg zur Mündigkeit <strong>und</strong> Selbstbestimmung führt zuerst in eine Wüste<br />
245
− heute ist der 8.5.<br />
− wir wurden von der schrecklichsten Gesellschaftsordnung befreit, aber wofür wurden wir befreit<br />
− haben wir die Chance der Befreiung genutzt<br />
− sind wir befreit vom Obrigkeitsdenken<br />
− haben wir unsere Untertanenmentalität schon abgelegt<br />
− bei der Freiheit gab es schon oft Irrwege [/] (Beifall)<br />
1. mP fordert zum Lied „Wohin soll ich gehen“ 487 auf (mit Orgelbegleitung)<br />
2. mP<br />
− Fürbitte (zu Klopfgeräuschen vom Nagel eines Kreuzes)<br />
− Kritik am Vorfall bei FG AG Menschenrechte (Pf. Wonneberger), wo einer mP das Sprechen verwehrt<br />
wurde<br />
− wir sind mit schuldig an den Mißständen in dieser Welt, um uns herum.<br />
− wir machen uns schuldig, wenn wir uns abwenden <strong>und</strong> alles dulden.<br />
− Bitte um Bewahrung der Schöpfung.<br />
wP<br />
− Wir tragen mit Schuld, daß viele Menschen dieses Land verlassen wollen.<br />
1. mP<br />
− Wir tragen mit Schuld, daß Menschen an unserer Grenze erschossen wurden, weil sie keinen anderen<br />
Weg zur Lösung ihrer Probleme sehen. Laß uns die Angst überwinden, die uns zu Duldern des<br />
Unrechts macht.<br />
wP<br />
− wir sind schuld, daß politisch Andersdenkende noch immer verfolgt werden<br />
Landeskirchenpräsident Auerbach<br />
− hat 8.5.45 in Leipzig erlebt, als Gericht Gottes<br />
− Geschichte noch nicht aufgearbeitet<br />
− „Die Gedanken, die heute geäußert wurden, hätten auch in der Kirchenleitung geäußert werden<br />
können, wir ringen um unseren Auftrag für unsere Kirche <strong>und</strong> für unser Volk“.<br />
− drei Gedanken von der ökumenischen Vollversammlung<br />
− Hilfe für Arme, Kranke, Schwache, Gefangene<br />
− in gewaltloser Weise den Frieden auszuweiten <strong>und</strong> im persönlichen Leben Gewalt auszuschließen<br />
− Eintreten für das Leben gegen Angst <strong>und</strong> Tod<br />
− Bitte um das, was auch in Dresden praktiziert wird, die Veranstaltung in Ruhe <strong>und</strong> Gelassenheit zu<br />
verlassen <strong>und</strong> geduldig nach Hause zu gehen.<br />
− ist keine Bitte aus der Angst, sondern aus Gelassenheit, die ich von Christen gelernt habe <strong>und</strong> die ich<br />
immer wieder von Gott erbitte.<br />
− Bitte um den Segen<br />
− Bei den Ausführenden des FG handelte es sich um Bornschlegel, Carola; Arnold, Michael; Oltmanns,<br />
Gesine <strong>und</strong> Niemann, Matthias 488<br />
158 Stasi-Information<br />
Information des Leiters der BV des MfS Leipzig, i. V. Oberst Eppisch, vom 08.05.1989 „über die<br />
Unterbindung des Versuches einer organisierten Personenbewegung im Anschluß an das ‘Friedensgebet’ in<br />
der Nikolaikirche am 8.5.1989“. Die Information trägt Bearbeitungsspuren <strong>und</strong> wurde nicht unterzeichnet.<br />
Am rechten oberen Rand wurde „IX“ vermerkt. Vermutlich ging die Vorlage der Kopie in die Abteilung IX<br />
der BV des MfS (ABL H 8).<br />
487 Singt <strong>und</strong> klingt, Nr. 115<br />
488 vgl. Dok. 154 <strong>und</strong> Dok. 155<br />
246
Am 8.5.1989 fand in der Zeit von 17.05. Uhr bis 18.00 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig das traditionelle<br />
montägliche Friedensgebet statt, an dem ca. 700 Personen teilnahmen. Das Friedensgebet wurde von<br />
Mitgliedern der kirchlichen Basisgruppe „Interessengemeinschaft Leben“ gestaltet, die dem politischen<br />
Untergr<strong>und</strong> zuzuordnen ist. Die Darlegungen, die eindeutige politische Angriffe auf die Politik der Partei-<br />
<strong>und</strong> Staatsführung enthielten, waren geeignet, die Teilnehmer in feindlichen <strong>und</strong> oppositionellen<br />
Haltungen zu bestärken 489 . Zum Abschluß forderte Oberkirchenrat Auerbach vom Landeskirchenamt<br />
Sachsen die Teilnehmer auf, ruhig nach Hause zu gehen (ausführliche operative Informationen zum<br />
Verlauf des Friedensgebetes werden erarbeitet). Nach Beendigung des Friedensgebetes verließ die<br />
Mehrheit der Teilnehmer die Kirche <strong>und</strong> das Stadtzentrum. Ca. 300 Personen hielten sich anschließend<br />
vor der Kirche in losen Gruppen diskutierend auf, wobei weitere Personen das Terrain verließen. 18.25<br />
Uhr erfolgte der Beginn einer Personenbewegung in losen Gruppen von ca. 200 Personen über die<br />
Nikolaikirche [handschriftlich: „ca. 100 m“] in Richtung Grimmaische Straße. Bereits 18.28 Uhr war<br />
diese Abgangsmöglichkeit in Richtung Innenstadt <strong>und</strong> auch andere Abgangsstraßen in dieser Richtung<br />
durch Kräfte der VP abgesperrt. Nach Aufforderung 490 durch die VP zur Auflösung erfolgte ca. 18.40 Uhr<br />
der zögernde Rücklauf in Richtung Nikolaikirche <strong>und</strong> dann der Weggang in mehreren Richtungen außer<br />
der Innenstadt. 19.05 Uhr war der Versuch der Personenbewegung endgültig beendet. Während der losen<br />
Ansammlung nach dem Friedensgebet auf dem Nikolaikirchhof <strong>und</strong> der Bewegung wurden keine<br />
Symbole oder Transparente gezeigt, <strong>und</strong> es erfolgten auch keine negativen mündlichen Bek<strong>und</strong>ungen. Die<br />
Öffentlichkeitswirksamkeit des Versuches dieser Provokation sowie der durchgeführten Maßnahmen der<br />
VP im Zusammenwirken mit dem MfS war gering. Es wurde keine Anwesenheit von westlichen<br />
Journalisten festgestellt. Bisherigen Erkenntnissen zufolge handelt es sich bei einem erheblichen Teil der<br />
an der Bewegung beteiligten Personen um Antragsteller auf ständige Ausreise. Die vorbereiteten<br />
Gesamtmaßnahmen erwiesen sich als zweckmäßig. Hervorzuheben ist das exakte Zusammenwirken<br />
zwischen MfS <strong>und</strong> DVP 491 sowie das zügige Handeln der VP-Kräfte bei der Unterbindung der versuchten<br />
Provokation. An der Identifizierung der Anstifter <strong>und</strong> Organisatoren sowie der Teilnehmer wird<br />
gearbeitet 492 , um weitere differenzierte politisch-operative Maßnahmen einzuleiten. Es erfolgten<br />
insgesamt 12 Zuführungen wegen unterschiedlicher Handlungen. (Einschätzung ist noch nicht möglich, es<br />
erfolgt Nachmeldung.)<br />
159 Stasi-Information<br />
Bericht der Untersuchungsabteilung BV des MfS Leipzig, Oberst Etzold, vom 08.05.1989 über die<br />
„Untersuchungsergebnisse im Zusammenhang mit den Verhaftungen im Anschluß an das Friedensgebet am<br />
8.5.1989“. Unterzeichnet wurde die Information von einem Oberstleutnant, dessen Name nicht eindeutig zu<br />
entziffern ist (ABL H 8).<br />
Im Zusammenhang mit den Vorkommnissen nach dem Friedensgebet wurden insgesamt 12 Personen<br />
zugeführt 493.<br />
Alle Personen wurden in Abstimmung mit der HA IX nach einer schriftlichen Belehrung<br />
489 In der Anlage zur Wochenübersicht Nr. 19/89 der ZAIG des MfS „Hinweise auf einen erneuten Versuch<br />
provokatorisch-demonstrativen Verhaltens von Personen im Zentrum von Leipzig“ heißt es: „Alle von<br />
Mitgliedern der sogenannten kirchlichen Basisgruppe 'Interessengemeinschaft [sic!] Leben' im Rahmen des<br />
„Friedensgebetes“ entwickelten Aktivitäten hatten keinerlei religiösen Bezug <strong>und</strong> trugen eindeutig politischen<br />
<strong>und</strong> provozierenden Charakter.“ (BStU ZAIG 4594, 71)<br />
490 handschriftliche Überarbeitung aus „Nach mehreren Aufforderungen...“<br />
491 Dieser Satz wurde handschriftlich verändert in: „... Zusammenwirken zwischen MfS, DVP <strong>und</strong> gesell. Kräfte,<br />
[...]“<br />
492 Handschriftlich wurde geändert in „An der Aufklärung <strong>und</strong> Identifizierung der Teilnehmer wird gearbeitet, [...]“.<br />
493 Die Verhafteten wurden in den Gebäudekomplex der Polizei <strong>und</strong> Staatsanwaltschaft zwischen<br />
Beethovenstr./Dimitroff-/Harkort-Straße <strong>und</strong> Peterssteinweg gebracht. Dort hatte auch die Staatssicherheit einen<br />
eigenen Trakt (u.a. mit den Zellen <strong>und</strong> „Schweinebuchten“ der Untersuchungshaft). Nach Aussagen von<br />
Kriminalpolizisten hatten sie ab dem 08.05.1989 jeden Montag Einsatzbereitschaft. Im Zimmer des Leiters der<br />
Kriminalpolizei quartierten sich während der Vernehmungen der Verhafteten mindestens zwei Mitarbeiter der<br />
247
entlassen.<br />
1. K. [...], S. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Feinblechner im VEB Polygraph, [/] 7010 Leipzig [/] Abt. XII nicht<br />
erfasst<br />
K. [...] wurde zugeführt, da er in Verdacht stand, Sicherungskräfte fotografiert zu haben aus Richtung<br />
Ritterstraße in Richtung Nikolaikirche. Der Film wurde entwickelt. Er enthielt keine relevanten<br />
Aufnahmen. Zu den Vorkommnissen konnte kein Zusammenhang nachgewiesen werden. [/]<br />
Entlassung 21.30 Uhr494 2. S. [...], K. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Pfarrer, ev.-luth. Freikirche [.../] erfaßt für KD Leipzig-Stadt (KK)<br />
[/] AStA 2/89 495, Rahmengliederung 496 gefertigt [/] Entlassung 21.30 Uhr [/] <strong>und</strong><br />
3. S. [...], R. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Haushalthilfe bei seiner Mutter Dr. med. H. S. [.../] erfaßt für KD<br />
Leipzig-Stadt (KK) [/] AStA 2/89, Rahmengliederung gefertigt [/] Entlassung 21.30 Uhr<br />
S. [...], K. [...] holte seine Kinder R. [...] <strong>und</strong> U. [...] vom Friedensgebet ab. Er bemerkte, daß zwei<br />
Zivilisten den Sch. [...] (lfd.-Nr. 5) „mit einem sehr rohen Griff“ abführten. [/] Er mischte sich ein mit<br />
den Worten „aber nicht so“. Daraufhin sei ihm der Arm nach hinten gedreht <strong>und</strong> der Kopf auf die<br />
Motorhaube eines Pkw geschlagen worden. Gleichzeitig habe man ihm eine Kette angelegt <strong>und</strong> wegen<br />
seiner Hilferufe den M<strong>und</strong> zugehalten. Als sein Sohn R. [...] ihm zu Hilfe kam, wurden beide<br />
zugeführt. Das Verhalten der zivilen Kräfte sei auf deren Haß auf alle Leute zurückzuführen, die sich<br />
dort bewegten. Die uniformierten Polizisten dagegen hätten sich korrekt verhalten.<br />
4. W. [...], P. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Taxifahrer, VEB Taxi Leipzig [/] erfaßt für KD Leipzig-Stadt<br />
(VSH) [/] Entlassung 22.30 Uhr<br />
W. [...] will am 8.5.1989 erstmals am Friedensgebet teilgenommen haben. Er hat die Absicht, einen<br />
Antrag auf ständige Ausreise zu stellen. Nach dem Friedensgebet wollte er nach Hause gehen, kam<br />
aber nicht aus dem Sperrkreis. Als in seiner Nähe ein Tumult ausbrach, sei er plötzlich zugeführt<br />
worden. Ihm konnten keine relevanten Handlungen nachgewiesen werden.<br />
5. Sch. [...], M. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Beton-Facharbeiter, VEB Betonstein Dessau [/] erfaßt für KD<br />
Dessau [/] AStA 4/89 [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />
Sch. [...] kam mit Ehefrau <strong>und</strong> 2 Kindern nach Leipzig zur Teilnahme am Friedensgottesdienst mit<br />
Pkw von Dessau. Er schloß sich dem Marschzug in Richtung Grimmaische Straße an, um auf sich<br />
aufmerksam zu machen. Er betrachtete den Marsch als eine Art „stiller Protestmarsch“. Er beteiligte<br />
sich am Klatschen der Menge. Als der Zug umkehrte, befand er sich mit an dessen Spitze <strong>und</strong> wurde<br />
zugeführt.<br />
6. Dietrich, Christian [/] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Student, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt<br />
für BV Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />
7. D. [...], E. [.../] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Vikar, [.../] erfaßt für BV Leipzig, Abt. XX [/]<br />
Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />
8. H. [...], K. [.../...] HW: [.../] NW: [.../] ohne ARV [Arbeitsrechtsverhältnis], ehem. Studentin [.../] erfaßt<br />
für BV Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />
<strong>und</strong><br />
9. I. [...], B. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Betriebshandwerker, [...] erfaßt für KD Leipzig-Stadt, VAE [/]<br />
AStA 2/89 [/] 3/89 Rahmengliederung gefertigt [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />
Die Genannten (6-9) bemerkten die Zuführung des Sch. [...]. Dietrich wollte den Gr<strong>und</strong> der Zuführung<br />
von einem VP-Angehörigen erfragen <strong>und</strong> Sch. [...] Namen wissen. Als er deshalb selbst zugeführt<br />
werden sollte, setzte er sich auf den Fußboden (Grimmaische Straße). D. [...], die H. [...] <strong>und</strong> I. [...], die<br />
in der Nähe waren, folgten seinem Beispiel, wobei lt. Zuführungskräfte die H. [...] eine inspirierende<br />
Staatssicherheit ein. Die Vernehmungen wurden sowohl durch das MfS als durch die Kriminalpolizei<br />
durchgeführt.<br />
494 Nach DDR-Recht durfte eine „Zuführung“ höchstens 24 St<strong>und</strong>en dauern. Die Festnahmen nach den FG Ende<br />
Mai, Juni <strong>und</strong> September dauerten im allgemeinen bis zum Mittag/Nachmittag des folgenden Tages.<br />
495 Ausreiseantragsteller Februar 1989<br />
496 Rahmengliederung war eine MfS-interne Bezeichnung für die Anlage einer Akte aufgr<strong>und</strong> eines<br />
Ausreiseantrages.<br />
248
Rolle spielte. [/] Alle wollten gegen die Zuführung Sch. [...] protestieren bzw. ihre Solidarität mit ihm<br />
bek<strong>und</strong>en.<br />
10. Sch. [...], B. [.../] PKZ: [.../] HW: [.../] NW: [.../] Studentin, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt<br />
für BV Leipzig, [/] Abt. XX, AK „Solidarische Kirche“ [/] Entlassung 23.00 Uhr [/] <strong>und</strong><br />
11. W. [...], M. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] Student, Theologisches Seminar Leipzig [/] erfaßt für BV<br />
Leipzig, Abt. XX [/] Entlassung 23.00 Uhr<br />
Der Sachverhalt konnte mit den Genannten nicht eindeutig geklärt werden. Der Ausgangspunkt für die<br />
Zuführung bestand offensichtlich darin, daß die Sch. [...] gegen die Zuführung einer anderen Person<br />
einschritt. Als sie deshalb durch Kräfte in Zivil zugeführt werden sollte, schrie sie <strong>und</strong> wehrte sich. W.<br />
[...], der die Sch. [...] als seine Frau bezeichnete, kam ihr zu Hilfe. Deshalb wurden beide zugeführt.<br />
Die Sch. [...] stellt den Sachverhalt so dar, als habe sie einen Angriff auf ihre Person befürchtet, da sie<br />
die Zivilisten nicht als Angehörige der bewaffneten Organe erkannt hätte. [/] Sie sei froh gewesen, als<br />
uniformierte Kräfte der VP hinzugekommen sind.<br />
Anmerkung: [/] Bereits während des Einsatzes am 7.5.1989 gebrauchten mehrere der Zugeführten die<br />
Ausrede, daß sie die Zivilisten nicht als Angehörige der Sicherheitsorgane erkannt hätten, als<br />
entlastendes Argument.<br />
12. G. [...], J. [.../] PKZ: [.../] wh.: [.../] ohne ARV [/] erfaßt für KD Leipzig-Stadt (KK) [/] AStA 4/89 [/]<br />
Entlassung 23.00 Uhr<br />
Der Genannte machte sich über die VP lustig. Er integrierte sich in den Marschzug. Er klatschte <strong>und</strong><br />
pfiff <strong>und</strong> will sich an weiteren Aktionen beteiligen, wenn sein Antrag nicht genehmigt wird. Er<br />
bezeichnete das Vorkommnis als „öffentlichen Aufruhr“ <strong>und</strong> hat daran teilgenommen, um eher<br />
ausreisen zu können. [/] Seine Mutter trat am 13.3.1989 feindlich-negativ in Erscheinung.<br />
160 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Information des Stellvertreters des OBM für Inneres vom 08.05.1989 über den Inhalt des Friedensgebetes am<br />
08.05.1989 in der Nikolaikirche. Unterzeichnet wurde die Information von Sabatowska 497 (ABL H 8).<br />
Das Friedensgebet wurde eröffnet durch Pf. Führer, in der Kirche befanden sich ca. 700 Personen. [/] 498<br />
Pf. Führer informierte, daß am gestrigen Sonntag in allen Kirchen für die Wahrheit gebetet wurde, ohne<br />
Schadenfreude <strong>und</strong> ohne Hohn. Die Initiativgruppe Leben, repräsentiert durch zwei junge Frauen <strong>und</strong><br />
Männer, sprach zur Thematik „Das politische Mandat der Kirche“. Nach Darstellung der Pläne <strong>und</strong><br />
Absichten der IG Leben, die sich aus Christen <strong>und</strong> Nichtchristen zusammensetzt, wurde mehrfach an<br />
Zitaten belegt, daß Kirche begründet ein politisches Mandat hat. Auf Gr<strong>und</strong>lage des Evangeliums ist es<br />
begründet, daß Jesus ein politischer Mensch war; der sich aktiv für die Entrechteten <strong>und</strong> Unterdrückten<br />
eingesetzt hat. Auch die Persönlichkeit Martin Luther King wurde zur Begründung des politischen<br />
Mandats der Kirche herangezogen.<br />
Im Zwiegespräch der Referierenden wurde ein Brief Leipziger Gruppen zitiert, der an die Kirchenleitung<br />
Sachsens gerichtet war. Hier wurden Forderungen gestellt, für Presse-, Rede- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit<br />
497 Diese Information wurde von den Herausgebern nur im Bestand des MfS (bzw. Bürgerkomitee) gef<strong>und</strong>en! Der<br />
RdB (Referat Kirchenfragen) verfaßte einen parallelen Bericht über das FG. Dieser Bericht war Anlage des<br />
regulären Informationsberichtes 3/89 des Stellvertreters des Vorsitzenden des RdB vom 09.05.1989 (StAL<br />
BT/RdB 38326). Im Informationsbericht heißt es u.a.: „Zentrum <strong>und</strong> Ausgangspunkt für wiederholte auftretende<br />
Belastungen des Staat-Kirche-Verhältnisses ist die Nikolaikirche zu Leipzig, wo wiederholt die sogenannten<br />
Friedensgebete für Angriffe gegen die staatliche Ordnung benutzt wurden. Da die Friedensgebete seit April 1989<br />
nicht mehr von Pfarrern geführt werden, gestaltet sich das Geschehen in der Nikolaikirche auch weiterhin<br />
problematisch.“ In der Leitungsinformation 3/89 des StfK heißt es: „Neben den negativen kirchlichen Kräften<br />
werden zunehmend außerhalb der Kirche stehende Kräfte sowie Antragsteller aktiv. Besonders aggressiv<br />
verhielten sich diese Kräfte in Leipzig, die ihre Provokation vom Wahltag am 8.5.89 im Anschluß an das<br />
sogenannte „Friedensgebet“ in der Leipziger Nikolaikirche fortsetzten.“ (S. 14f. - BArch O-4 1217)<br />
498 Im Bericht des RdB wurde hier eingefügt: „Die Darlegungen waren insgesamt konfrontativ <strong>und</strong> geeignet,<br />
feindliche <strong>und</strong> oppositionelle Haltungen zu bestärken.“ (s. vorherige Anm.)<br />
249
auch durch die Kirchenleitung einzutreten.<br />
Im anschließenden Fürbittgebet, bezugnehmend auf den Auszug der Israeliten aus Ägypten (Altes<br />
Testament), wurden Reflexionen zur Gegenwart vollzogen, auch „hier gibt es Ägypter“, gemeint ist die<br />
Staatsmacht <strong>und</strong> die Bürokraten. Es gelte zu überdenken, wie man vom Pessimismus <strong>und</strong> vom Phlegma<br />
wegkomme. Man müsse die Angst bekämpfen, offen seine Meinung zu sagen, weil das evtl. den Verlust<br />
eines Studienplatzes mit sich bringt oder die Nichtgenehmigung einer Besuchsreise zu Verwandten in das<br />
Ausland oder die Nichtgenehmigung eines Kirchentages.<br />
Der Abschluß des Friedensgebetes wurde durch Oberkirchenrat Auerbach vom Landeskirchenamt<br />
Dresden in Form einer Rückbesinnung auf den 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung von einer der<br />
schlimmsten Diktaturen in der Geschichte gehalten. Er brachte zum Ausdruck, daß die heute hier<br />
gestellten Fragen zum politischen Mandat der Kirche auch so in der Kirchenleitung hätten gestellt werden<br />
können. [/] Unter Hinweis auf die wesentlichen Prämissen des konziliaren Prozesses, Gerechtigkeit,<br />
Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung, ermahnte er die Anwesenden, in Ruhe <strong>und</strong> Gelassenheit nach<br />
Hause zu gehen.<br />
Ergänzend zu den eröffnenden Ausführungen 499 Pf. Führers muß noch darauf verwiesen werden, daß er<br />
bekanntgab, von den am gestrigen Sonntag zugeführten Personen nur noch eine ihm namentlich bekannte<br />
Person festgehalten werde 500 . [/] Diese Mitteilung wurde von den Anwesenden mit Beifall bedacht. [/]<br />
Beim Friedensgebet waren folgende Geistliche anwesend: [...], Pf. Dr. Berger, [...].<br />
161 ADN-Bericht<br />
Interne Dienstmeldung der ADN mit dem Vermerk „Nur zur Information“ vom 09.05.1989, in dem ein DPA-<br />
Bericht über die Vorgänge in Leipzig am 07./08.05.1989 übernommen wurde ADN (Aktenzeichen:<br />
WL0910/01).<br />
Wieder Proteste in Leipzig - Vorwurf: Wahlfälschung - 16 Festnahmen<br />
Ost-Berlin/Leipzig, 9. Mai 89 (dpa 501 ) - Etwa 500 DDR-Bürger haben am Montagabend in der Leipziger<br />
Innenstadt gegen das nach ihrer Ansicht unkorrekte amtliche Ergebnis der DDR-Kommunalwahlen<br />
protestiert. Ein Demonstrationszug, der sich nach einem der traditionellen Friedensgebete vor der Nikolai-<br />
Kirche in Bewegung setzte, wurde durch Polizeieinsatz gestoppt. Wie es in Berichten aus der Messestadt<br />
am Dienstag weiter hieß, sind mindestens 16 Personen abgeführt worden, darunter auch einige namentlich<br />
bekannte Theologiestudenten. Die Polizei versuchte durch Kettenbildung, den Zug aufzuhalten. [/] Die<br />
neuerliche Demonstration, bei der nach Angaben von Augenzeugen einige h<strong>und</strong>ert Polizisten <strong>und</strong><br />
Sicherheitskräfte im Einsatz waren, richtete sich auch gegen die Festnahmen bei den Protest vom Sonntag<br />
sowie mehrerer Dutzend seit Donnerstag erfolgter sogenannter polizeilicher Zuführungen 502 . Hier gehe es<br />
Polizei <strong>und</strong> Staatssicherheitsdienst vor allem darum, die Initiatoren der Protestveranstaltung ausfindig zu<br />
machen. Um weitermarschierende Demonstranten zu stoppen, sei zeitweilig auch vom Schlagstock<br />
Gebrauch gemacht worden, hieß es. Unter den Demonstranten waren auch wieder viele Ausreisewillige.<br />
[/] Vertreter von Basis- <strong>und</strong> Bürgerrechtsgruppen wiederholten am Dienstag ihren Vorwurf, daß es bei der<br />
Ermittlung des offiziellen Wahlergebnisses in Ost-Berlin, Leipzig <strong>und</strong> anderswo zu „Fälschungen“<br />
gekommen sei. Bei Beobachtungen von öffentlichen Stimmenauszählungen durch Mitarbeiter<br />
verschiedener Gruppen seien in der Messestadt zwischen zehn <strong>und</strong> 20 Prozent Nein-Stimmen festgestellt<br />
499 Diese Ergänzung wurde durch Jakel in seiner Information des RdB nicht übernommen (s. Anm. 497).<br />
500 Die Mitteilung darüber gab Sabatowska am 08.05.1989, 14.00 Uhr J. Richter <strong>und</strong> Pf. Wugk<br />
(Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 265). Es handelte sich um Andreas Braun. S.a. S. 244<br />
501 Am 10.05.1989 erschienen in b<strong>und</strong>esdeutschen Zeitungen verschiedene Berichte über die Demonstrationen am<br />
07. <strong>und</strong> 08.05.1989. Z.B.: FAZ (epd), FR (epd/zba), SZ (Eigener Bericht), Berliner Morgenpost (dort auch ein<br />
ap-Foto von Festnahmen am 08.05.1989)<br />
502 Am 05.05. wurden 13 Leipziger Gruppenmitglieder kurzzeitig festgenommen, verhört <strong>und</strong> verwarnt, nicht an der<br />
Demonstration am 07.05. teilzunehmen.<br />
250
worden 503 . In den bisher in Ost-Berlin vorliegenden Regionalzeitungen aus Leipzig ist nicht über die<br />
Protestveranstaltung vom Sonntag berichtet worden.<br />
162 Notizen aus einer Parteiberatung<br />
Handschriftliche Aufzeichnungen - vermutlich von Opitz - vom 11.05.1989 zur Beratung beim 1. Sekretär der<br />
SED-Bezirksleitung, in denen es darum geht, die Montagsgebete einzustellen (StAL BT/RdB 38326).<br />
[stenographisch:] Wir504 hatten uns verständigt über das weitere Vorgehen [daran schließen sich zwei<br />
stenographische Wortgruppen, als Alternativen unterschieden an, die nicht eindeutig zu entziffern sind]<br />
1. Gespräche mit Landesbischof Hempel - Deutliches Wort notwendig - Gespräche auch mit Synodalen in<br />
allen 3 Bezirken <strong>und</strong> mit allen - Super-Intendenten<br />
[Gespräch mit Landesbischof] Leich 26.5.89<br />
Ziel:<br />
a) „Montagsgebete“ einstellen (kein „Friedensgebet“, wenn gegen DDR <strong>und</strong> die Grenze gebetet wird)<br />
b) Seminar beruhigen - am Tage der Wahl randaliert, muß Konsequenzen haben505 c) Pfarrer disziplinieren<br />
Wonneberger, Berger, Führer, [... Namen nicht zu entziffern Stiehler?], Kaden<br />
[Folgendes wurde vom Verfasser für Punkt a, b, c hinter Klammer gesetzt:] Nachdenken über [... Wort<br />
nicht zu entziffern - Vermutlich stenographisch: Absetzung] Kirchentag - zumindest ohne Rennbahn506 d) 4.6. angemeldeten Pilgermarsch in L[eipzig] = nicht stattgeben<br />
Borna 507 - im Rahmen 1988 nur statthaft<br />
e) Was sind „gutunterrichtete kirchliche Kreise?“ 508<br />
Entweder hinter diese Falschmeldungen <strong>und</strong> Lügen stellen oder dagegen protestieren - sonst kein<br />
Gesprächspartner mehr für uns.<br />
• Basisgruppen „[IG] Leben“ u.a. - unter Dach der Kirche<br />
• Wonneberger, Dr. Berger u.a. disziplinieren<br />
(Bewegung von unten: NF [Nationale Front], befre<strong>und</strong>ete Parteien (CDU) u. Org.<br />
- einheitlich organisieren durch die RdK’s)<br />
503 Die Ad-hoc-Gruppe, die die Wahlauszählung in Leipzig kontrollierte, gab ca. 9,8% Nein-Stimmen (ohne<br />
Sonderwahllokale) an (Mitarbeiter der AKG, AGM des Jugendkonventes Leipzig <strong>und</strong> der IGL, Mitteilung über<br />
Differenzen zwischen der Bekanntgabe des endgültigen Gesamtergebnisses durch den Vorsitzenden der<br />
Wahlkommission <strong>und</strong> der Bekanntgabe der Ergebnisse durch die Wahlvorstände in den einzelnen Wahllokalen<br />
bei der Wahl der Stadtverordnetenversammlung von Leipzig (03.06.1989) - ABL H 1, vgl. Wahlfall 89).<br />
504 Parallele Notizen befinden sich auf der Rückseite der Information vom 04.05.1989 (s. Dok. 152). Im<br />
Fernschreiben an E. Honecker teilte H. Schumann am 25.05.1989 mit, daß die Arbeitsgruppe am 11.05.1989<br />
getagt habe (StAL BT/RdB 38326). Dort heißt es: „Sollten die von der Kirchenleitung zu den sogenannten<br />
'Montagsgebeten' in der Leipziger Nikolaikirche gegebenen Zusage nicht bald realisiert werden <strong>und</strong> diese<br />
'Montagsgebete' weiter in der Hand der negativen Kräfte bleiben, muß ernsthaft die Frage aufgeworfen werden,<br />
ob die Sächsische Kirchenleitung überhaupt noch in der Lage <strong>und</strong> bereit ist, in den Leipziger Kirchen für Ruhe<br />
<strong>und</strong> Ordnung für die Durchführung eines entsprechend religiösen Lebens zu sorgen. Ist das der Fall, sind<br />
Konsequenzen durch die staatlichen Organe erforderlich.“<br />
505 Gemeint ist vermutlich das Theologische Seminar. Auf der Rückseite der Information vom 04.05.1989 (s. Dok.<br />
Fehler! Verweisquelle konnte nicht gef<strong>und</strong>en werden.) heißt es: „[...] Randaliert am Tage der Wahl / [/] [...<br />
Wort nicht zu entziffern] über staatl. Maßnahme nachdenken“. Mitarbeitern <strong>und</strong> Studenten des Theologischen<br />
Seminars, die von den Herausgebern befragt wurden, konnten keinen Anhaltspunkt für diese Notiz geben.<br />
506 Die Abschlußveranstaltung des Kirchentages fand auf dem Gelände der Rennbahn im Scheibenholz statt.<br />
507 In der Nähe der Dreckschleudern von Espenhain am Rande der Braunkohletagebaue fanden jedes Jahr größere<br />
kirchliche Veranstaltungen gegen die Umweltpolitik der SED statt (s. Chronik).<br />
508 Gemeint sind vermutlich Meldungen in Presse <strong>und</strong> Funk der B<strong>und</strong>esrepublik über Wahlfälschungen bei den<br />
Kommunalwahlen am 07.05.1989.<br />
251
163 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Handschriftliches Protokoll der Sondersitzung des KV St. Nikolai am Donnerstag, dem 18. Mai 1989, an der<br />
Landesbischof Hempel teilnahm (ABL H 54).<br />
Anwesenheit: Als Gast Landesbischof Dr. Hempel, OKR Auerbach, [...]<br />
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung, nachdem er die Andacht gehalten hat.<br />
Er übergibt das Wort an den Herrn Landesbischof. Dr. Hempel sieht sich in der Situation der DDR ebenso<br />
wie alle anderen Menschen. Er wünscht, Überlegungen anzustellen, die das Montagsgebet verbessern. Die<br />
Mitarbeit der Gruppe im Sinne des 8. Mai ist schlechterdings unmöglich. (Fußnote: siehe Anlage) 509 . Alle<br />
Mitarbeit im Sinne des Gebets ist nur im Zusammenhang mit den amtierenden Geistlichen möglich. [/]<br />
Die Kirchenvertreter nahmen die Gelegenheit zum ausführlichen Gespräch mit dem Herrn Landesbischof.<br />
Der bislang ausgehandelte Kompromiß mit den Gruppen muß erhalten bleiben, eine Selbstdarstellung<br />
innerhalb des Friedensgebetes zerstört die Verkündigung.<br />
Dr. Hempel: Die Gruppenarbeit in der Form des 8. Mai ist nicht annehmbar. (Fußnote: siehe Anlage) 510 .<br />
Die Gruppen vermengen gekonnt Gr<strong>und</strong>satz- <strong>und</strong> Verfahrensfragen. Die Wiederherstellung des<br />
Kompromisses ist das Äußerste, was darüber hinausgeht, ist nicht akzeptabel. [/] Detailfragen das<br />
Montagsgebet betreffend werden angeführt. Die Vorbereitung ist sehr aufwendig, aber sie liegt in der<br />
Verantwortung der Pfarrer. Gruppen, die nicht sich an den vereinbarten Kompromiß halten, können nicht<br />
mehr in der Verantwortung das Montagsgebet mitgestalten. Dies soll mit den Betreffenden klar - Auge in<br />
Auge - besprochen werden.<br />
Der Kirchenvorstand stimmt Landesbischof Dr. Hempel zu <strong>und</strong> erklärt das Folgende: Die<br />
Wiederherstellung des mit den beim Bezirkskirchenausschuß511 verankerten Gruppen Kompromisses<br />
[sic!] <strong>und</strong> deren strikte Einhaltung nach allen Richtungen ist unabdingbar.<br />
Der bereits vorzulegende Plan ist für die Durchführung der Montagsgebete absolut verbindlich. Gruppen,<br />
die diese Ordnung durchbrechen, ist mit dazu erfolgendem Gespräch die weitere Mitarbeit zu versagen. [/]<br />
Der amtierende Pfarrer des Montagsgebetes muß die Billigung des Superintendenten <strong>und</strong> des<br />
Kirchenvorstandes haben, er trägt die Verantwortung im Konfliktfall 512.<br />
Ende der Sitzung 20.05 Uhr<br />
Protokoll: W. Hofmann<br />
vorgelesen, genehmigt u. unterschrieben [/ gez.] C. Führer [/ gez.] R. Hermann<br />
[Anhang von Pfarrer Haubold im Auftrag von Landesbischof Hempel aus dem Jahre 1992:]<br />
Fußnote 1 [/] Die Vereinbarung zwischen den Gruppen <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand Leipzig-Nikolai lautete:<br />
Die Gruppen können ihre Gebetsversammlungen in der Nikolaikirche halten: die Verantwortung liegt<br />
jeweils beim Pfarrer. Mit diesem ist das Programm vorher zu besprechen. [/] Am 8. Mai waren die<br />
Absprachen mit der Arbeitsgruppe „Solidarische Kirche“ erfolgt. Während des Gottesdienstes wurde<br />
mitgeteilt, daß nicht die Arbeitsgruppe „Solidarische Kirche“, sondern die Arbeitsgruppe „Initiativgruppe<br />
Leben“ das Friedensgebet durchführen wird. Eine Absprache mit dem verantwortlichen Pfarrer war nicht<br />
erfolgt 513.<br />
164 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Aktennotiz vom Rat der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 19.05.1989 über ein Gespräch zwischen<br />
509 Eintrag <strong>und</strong> Fußnote durch Pfarrer Haubold im Auftrag von Landesbischof Hempel im Jahre 1993 angefügt.<br />
510 vgl. vorhergehende Fußnote<br />
511 Zur Struktur der Landeskirche s. Plan * ** c*<br />
512 Das MfS vermerkte zu dieser Kirchenvorstandssitzung in der Quartalseinschätzung zum OV „Igel“, daß Pfarrer<br />
Führer „die Fortführung der 'FG' in der Nikolaikirche“ durchsetzte (Auszug in: STASI intern, 253).<br />
513 E. Dusdal, der für den AKSK die Verantwortung übernommen hatte, stellt den Sachverhalt so dar, daß der<br />
verantwortliche Pfarrer - Superintendentenstellvertreter Pf. Wugk - vor dem FG keine Einwände gegen den<br />
Tausch hatte.<br />
252
Sabatowska <strong>und</strong> Sup. Magirius am 19.05.1989. Sie wurde von Hillebrand unterzeichnet <strong>und</strong> am 23.05. vom<br />
OBM an den Vorsitzenden des RdB weitergeleitet (StAL BT/RdB 38326).<br />
Genosse Sabatowska brachte die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck, das Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche unter diesen Bedingungen, wie sie nunmehr entstanden sind, nicht mehr weiterzuführen.<br />
Außerdem informierte er über die bevorstehende Versagung 514 des Pilgermarsches am 4.6.89 <strong>und</strong> über die<br />
Absicht von Personen aus dem Bereich kirchlicher „Basisgruppen“, am 10.6.89 in der Leipziger<br />
Innenstadt ein „Straßenmusikfestival“ zu veranstalten. Sup. Magirius positionierte sich in folgender<br />
Weise:<br />
Zur Bewertung der allgemeinen politischen Situationen gehöre es für ihn, Herrn Sabatowska wiederum zu<br />
bitten, als Staatsfunktionär <strong>und</strong> als Mitglied der SED, nicht auf Erscheinungen einzugehen, sondern die<br />
Ursachen zu untersuchen (Antragsteller). Er wolle die DDR <strong>und</strong> den Sozialismus als Alternative erhalten,<br />
dieser müsse dann aber auch perspektivisch <strong>und</strong> hoffnungsvoll sein. (In allen sozialistischen Ländern<br />
passiere derzeit soviel, auch wir müßten uns nun endlich öffnen.) Wenn junge Leute ihrem Willen freien<br />
Lauf lassen wollen, so könne er dies z.T. verstehen. Wer aber rede mit ihnen? Nach seiner Meinung<br />
sollten das z.B. die Funktionäre des Pfingsttreffens tun. Die Kirche könne diese Leute jedenfalls nicht<br />
mehr bändigen. Er beobachte, daß viele Antragsteller in letzter Zeit ausgereist seien. Gleichzeitig sehe er,<br />
wie diese Leute wieder nachwachsen.<br />
Gestern habe Bischof Dr. Hempel mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche beraten. Hempel habe die<br />
Position vertreten, daß im Friedensgebet der Nikolaikirche nichts anderes geschehe, als was sonst in der<br />
Kirche ablaufe. Sup. Magirius äußerte, daß man manchmal nicht mehr sicher sei, ob wir noch beim 6.3.78<br />
stehen. Wenn ja, dann sollte man eine konsequente Trennung Staat-Kirche gewährleisten. Es tue ihm leid,<br />
daß das Friedensgebet gerade am 8.5.89 so unerfreulich verlaufen sei. Er fühle sich persönlich<br />
hintergangen. Hempel habe gesagt, ein Absetzen des Friedensgebets komme nicht in Betracht. Man könne<br />
als Kirche nicht darauf verzichten. Die Gruppen würden jedoch nur in die Vorbereitung der<br />
Friedensgebete einbezogen. Das Friedensgebet am kommenden Montag liege in der Verantwortung der<br />
CFK (Dr. Zimmermann).<br />
Er kritisierte die Installierung einer Kamera am Gebäude von Interpelz 515 . Dies führe zu Verkrampfungen.<br />
Er sei für die strenge Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche. Dies bedeute, daß nicht die Kirche, sondern die<br />
Gesellschaft mit den Problemen auf der Straße fertig werden müsse. Persönlich sei er enttäuscht gewesen,<br />
daß Pfr. Bartels versucht habe, am Pfingstmontag Leute an der Nikolaikirche zu formieren. Zum geplanten<br />
Pleißemarsch bemerkte er, daß es unter diesen Leuten welche gebe, die Angst vor den Chaoten hätten.<br />
Jedoch seien wir in unserer Gesellschaft schon weiter gewesen (Palme-Marsch 516 ). Er frage, ob ein<br />
Verbot nicht eine viel größere Wirkung haben könnte als der Marsch von 200 Demonstranten in der<br />
Öffentlichkeit. Unbedingt solle der Staat mit diesen Leuten reden. Er informierte, daß der Kirchenvorstand<br />
der Paul-Gerhardt-Kirche beschlossen habe, die Kirche nur zur Verfügung 517 zu stellen, wenn eine<br />
Genehmigung für die Veranstaltung vorliegt. Mit Pfr. Sievers <strong>und</strong> dem Referenten Dr. Noack [richtig:<br />
Nowak] sei dies noch zu klären.<br />
Hinsichtlich des 10.6.89 meinte er, auch hier sei er für die Trennung Staat-Kirche. Er glaube - <strong>und</strong> er höre<br />
hier erstmals davon -, daß dies etwas ganz Schlimmes werde. Vorbereitet sei dies nach dem bekannten Stil<br />
dieser Leute. Für ihn sei Lässig einer derjenigen, die andere Verhältnisse wollen. Man werde wohl nicht<br />
umhin kommen, Leipzig an diesem Tag wieder zu einer bewachten Stadt zu machen. Auch er teile die<br />
Sorge, daß es zu Belastungen vor dem Kirchentag kommen könne. Hier helfe nur Offenheit des Staates.<br />
Nach seiner Meinung hätten z.B. 80% Wahlbeteiligung der Stimmung im Lande mehr entsprochen. Er<br />
teilte Gen. Sabatowska mit, daß es unüblich sei, wenn ein SBBM einen Kirchenvorstand einlade. Dies<br />
514 K. Kaden hatte den Antrag auf Genehmigung des Pleiße-Pilgerweges gestellt. Ihm wurde erst am 26.05. die<br />
Ablehnung des Antrages mitgeteilt.<br />
515 Auf dem Dach eines Neubaus schräg gegenüber der Nikolaikirche.<br />
516 s. Anhang, S. 375<br />
517 Die Andachten zum Pleißemarsch sollten in der Paul-Gerhard-Gemeinde <strong>und</strong> in der Reformierten Kirche<br />
stattfinden. Sie fanden statt, obwohl der Pilgerweg nicht genehmigt wurde.<br />
253
gehe so nicht. Pfr. Führer habe ein solches für den kommenden Montag geplantes Gespräch beim SBBM<br />
Setzepfand daher abgesagt. Die an den Kirchenvorstand ergangene Einladung übergab Sup. Magirius an<br />
Gen. Sabatowska.<br />
165 Stasi-Information<br />
Bericht des Leiters der Untersuchungsabteilung der BV des MfS, Oberst Etzold (IX/be), vom 24.05.1989 an<br />
den Leiter der BV „über die Untersuchung des Vorkommnisses im Anschluß an das Friedensgebet am<br />
22.05.1989“ (ABL H 8).<br />
Am 22.5.1989 fand in der Leipziger Nikolaikirche von 17.00 Uhr bis gegen 17.50 Uhr das montägliche<br />
Friedensgebet statt, an dem ca. 450 Personen teilnahmen. Im Anschluß daran verblieb eine größere Anzahl<br />
von Personen wie an jedem Montag in losen Gruppen auf dem Nikolai-Kirchhof stehen. Gegen 18.20 Uhr<br />
setzten sich etwa 150 Personen in Bewegung, um über die Grimmaische Straße in die Innenstadt zu<br />
gelangen. Aufgr<strong>und</strong> volkspolizeilicher Sperrmaßnahmen 518 an der Grimmaischen Straße umr<strong>und</strong>ete die<br />
Formation die Kirche <strong>und</strong> versuchte durch die Ritterstraße in Richtung Brühl zu gelangen. Daraufhin<br />
erfolgte die Sperrung der Ritterstraße <strong>und</strong> die Auflösung der Ansammlung durch VP-Kräfte in Uniform.<br />
52 Personen wurden zur Klärung des Sachverhaltes zur Kriminalpolizei des VPKA [Volkspolizeikreisamt]<br />
Leipzig zugeführt. Unter den zugeführten Personen befanden sich 14 aus dem Bezirk Halle, 24 Personen<br />
aus der Stadt Leipzig <strong>und</strong> 14 Personen aus Kreisen des Bezirkes Leipzig.<br />
Die Personen wurden gemäß § 12 VP-Gesetz 519 befragt <strong>und</strong> im Anschluß nach erfolgter Belehrung bzw.<br />
der Mitteilung, daß gegen sie die Einleitung eines Ordnungsstrafverfahrens geprüft wird, entlassen. Die<br />
Entlassungen waren am 23.5.1989 mit Ausnahme von 3 Personen, die der Abteilung IX zur Prüfung des<br />
Strafverdachtes bzw. zur Zeugenvernehmung (1 Person) zugeführt worden waren, gegen 1.15 Uhr<br />
abgeschlossen.<br />
Im Ergebnis der Befragung ist folgendes festgestellt:<br />
Von den 52 zugeführten Personen handelt es sich in 6 Fällen um Personen, die aus Neugierde oder<br />
zufällig in die Ansammlung in der Ritterstraße geraten waren. Alle anderen Personen hatten vorher am<br />
Friedensgebet teilgenommen. In den Befragungen erklärten 22 Personen unverhohlen, daß sie mit ihrer<br />
Teilnahme an der Formation das Ziel verfolgten, gegen die bisherige Nichtgenehmigung ihrer Anträge auf<br />
ständige Ausreise zu protestieren, ihrem Antrag Nachdruck zu verleihen 520 bzw. auf sich aufmerksam zu<br />
machen, z.B.<br />
S. [... /] „Ich gehe seit Oktober 1988 so oft es mir möglich ist zum Friedensgebet in die Nikolaikirche mit<br />
anschließendem Marsch in Richtung Innenstadt. Ich habe bisher an 5 Märschen teilgenommen. Am letzten<br />
Montag wurden meine Personalien am Capitol festgestellt. Ich habe auch in Zukunft vor, an Märschen<br />
nach dem Friedensgebet teilzunehmen, um darauf aufmerksam zu machen, daß ich die DDR<br />
schnellstmöglich verlassen will.“<br />
G. [... /] „Ich nahm daran teil, um damit meinem gestellten Ausreiseantrag Nachdruck zu verleihen. Ich<br />
will mich damit [sic!] bei den Behörden aufmerksam machen. Mir ist bekannt, daß man bei den Märschen<br />
registriert <strong>und</strong> fotografiert wird. Man sieht die Kameras hinter den Vorhängen. Ich will damit zum<br />
518 In der Anlage zur ZAIG-Wocheninformation („Hinweis zu provokatorisch-demonstrativen Aktivitäten nach<br />
Abschluß des sogenannten Friedensgebetes in der Nikolaikirche Leipzig am 22. Mai 1989“ heißt es:<br />
„Entsprechend den unter Führung der Partei vorbereiteten, abgestimmten Maßnahmen der Schutz- <strong>und</strong><br />
Sicherheitsorgane zur Unterbindung [...] erfolgte durch die Deutsche Volkspolizei die Abriegelung der Abgänge<br />
[...].“ (BStU ZAIG 4594, 139)<br />
519 s. Anm. 24<br />
520 Hummitzsch notierte zu einem Telefonat mit dem stellv. Stasi-Minister Neiber am 22.05., 21.20 Uhr: „Harte<br />
Linie [/] Prüfen, warum Antragsteller! [/] 2-3 Tage umgehend rausschmeißen [/] differenzieren. [/] so schnell wie<br />
möglich. [/] nächsten Montag verschw<strong>und</strong>en sein.“ (BStU Leipzig AB 3843, 167) D.h., demonstrierende<br />
Ausreiseantragsteller sollten noch vor dem 29.05. ausreisen. Diese Weisung ging auch an die anderen Bezirke (so<br />
Notizen Hummitzsch zu Telefonaten mit Mielke <strong>und</strong> Neiber am gleichen Abend - ebenda, 167f.).<br />
254
Ausdruck bringen, daß ich es mit meinem gestellten Ausreiseantrag auch ernst meine.“<br />
T. [... /] „Ich habe an dem Schweigemarsch teilgenommen, um zu dokumentieren, daß ich die DDR<br />
verlassen will. Ich betrachte dies als mein Recht der Versammlungs- <strong>und</strong> Glaubensfreiheit, <strong>und</strong> ich<br />
möchte den Staat auf legale Weise verlassen. Somit habe ich mich eben den anderen Antragstellern<br />
angeschlossen, um meinen Willen zu dokumentieren, auszureisen.<br />
L. [... /] „Ich bin unzufrieden, wie mein Übersiedlungsantrag z.Z. bearbeitet wird, denn man hört nichts<br />
<strong>und</strong> wartet nur auf einen positiven Bescheid. Und ich möchte mit meiner Beteiligung an solchen<br />
Friedensmärschen <strong>und</strong> Zusammenkünften meine Meinung, meine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen.<br />
Ich werde mich in Zukunft an derartigen Zusammenkünften beteiligen, bis ich einen positiven Entscheid<br />
habe.“<br />
Aus der Tendenz der Aussagen ist erkennbar, daß die Antragsteller, die an den Friedensgebeten<br />
teilnehmen, durch ihre Beteiligung an derartigen Zusammenrottungen die Konfrontation mit den<br />
Staatsorganen zunehmend suchen. Zumindest ist ihre Bereitschaft zur Mitwirkung daran vorhanden, so<br />
daß, wenn eine Person ein entsprechendes Signal setzt (wie am 22.5 89 durch G. [...] geschehen), auch in<br />
Zukunft mit derartigen Vorkommnissen zu rechnen ist, zumal infolge der getroffenen zentralen<br />
Entscheidung das Beispiel nachahmenswert erscheint <strong>und</strong> erfolgversprechend ist 521 . Aus den Aussagen ist<br />
nicht erkennbar, daß ein solcher Marsch von vornherein geplant war. Es hat sich aber durch<br />
Flüsterpropaganda <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> gezielter Informationen der Westmedien unter den Antragstellern<br />
herumgesprochen, daß nach dem Friedensgebet derartige Märsche stattfinden sollen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e<br />
reisten auch die Personen aus dem Bezirk Halle an. 5 Personen, darunter 2 aus dem Bezirk Halle, waren<br />
bereits am 7.5.1989 bzw. 15.5.1989 aufgefallen.<br />
Insgesamt zeigt sich, daß die montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche, unabhängig davon, ob im<br />
nachhinein eine Provokation stattfindet oder nicht, als ein Forum des Informationsaustausches der<br />
Antragsteller <strong>und</strong> als die Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen, betrachtet wird.<br />
Die insgesamt zugeführten 52 Personen gliedern sich wie folgt auf.<br />
1. Bezirk Leipzig insgesamt 38 Personen<br />
davon aus der Stadt Leipzig24 Personen<br />
aus den Kreisen Leipzig-Land 4 Personen<br />
Borna 4 Personen<br />
Geithain 1 Person<br />
Grimma 1 Person<br />
Delitzsch 1 Person<br />
Altenburg 1 Person<br />
Wurzen 2 Personen<br />
Von diesen 38 Personen sind 28 als Antragsteller auf Übersiedlung registriert, <strong>und</strong> eine Person hat die<br />
Absicht dazu in der Befragung bek<strong>und</strong>et.<br />
2. Bezirk Halle insgesamt 14 Personen<br />
davon aus der Stadt Halle 5 Personen<br />
aus den Kreisen Merseburg 4 Personen<br />
Dessau 3 Personen<br />
Weisenfels 2Personen<br />
Von diesen 14 Personen sind 13 als Antragsteller auf Übersiedlung registriert.<br />
Eine Zuordnung der zugeführten Personen zur sozialen Struktur ergibt folgendes Bild<br />
Bezirk Leipzig Bezirk Halle<br />
Facharbeiter Industrie <strong>und</strong> Landwirtschaft 18 11<br />
Mitglied PGH 2 -<br />
521 Hier ist vermutlich gemeint, daß Ausreiseantragsteller, die demonstrierten, kurzfristig die DDR verlassen<br />
durften/mußten. Nach den Verhaftungen infolge des FG am 12.06.1989 meldete Mielke an Honecker, Krenz u.a.:<br />
„Des weiteren ist vorgesehen, differenzierte Entscheidungen zur ständigen Ausreise unter Beachtung des<br />
Disziplinierungsfaktors vorzubereiten.“ (Information Nr. 297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU ZAIG<br />
3748)<br />
255
selbst. Gewerbetreibende 1 -<br />
Kulturschaffende 2 -<br />
Mitarbeiter Innere Mission <strong>und</strong> Kirche 2 -<br />
Lehrlinge 1 -<br />
keine Angaben vorhanden 7 2<br />
ohne Arbeitsrechtsverhältnis 5 1<br />
Festgestellt werden muß weiterhin, daß sich der Täterkreis auf Personen mit relativ hoher<br />
Lebenserfahrung konzentriert. So sind von den zugeführten 52 Personen<br />
25 Jahre alt = 10 Personen [/] bis 40 Jahre alt = 36 Personen [/] über 40 Jahre alt = 6 Personen<br />
Eine Konzentration von Personen aus bestimmten Betrieben oder Einrichtungen wurde nicht festgestellt.<br />
In keinem Fall waren mehr als 2 Personen aus dem gleichen Betrieb, wobei die überwiegende Mehrzahl<br />
der zugeführten <strong>und</strong> in einem Arbeitrechtsverhältnis stehenden Personen in Volkseigenen<br />
Betrieben/Einrichtungen tätig sind.<br />
Volkseigene Betriebe/Einrichtungen<br />
einschließlich Deutsche Reichsbahn = 33 Personen<br />
PGH <strong>und</strong> BHG = 4 Personen<br />
Innere Mission <strong>und</strong> Kirche = 2 Personen<br />
priv. Firmen, Gaststätten, Selbständige u.a. = 8 Personen<br />
[...]<br />
Anhang<br />
In Auswertung der bisher gesammelten Erfahrungen ist auf folgende Probleme hinzuweisen:<br />
1. Im Falle von Zuführungen sind die zu Befragungen eingesetzten Kräfte konkret <strong>und</strong> rasch mit dem<br />
Sachverhalt vertraut zu machen. Bisher waren die Informationen, die im Führungspunkt der K<br />
[Kriminalpolizei] eingingen, zu unkonkret <strong>und</strong> trafen erst ein, wenn die Befragungen bereits begonnen<br />
hatten. [/] Effektiv wäre es, den Vernehmern eine Videoaufzeichnung vorzuführen.<br />
2. Der Rahmen der möglichen staatlichen Reaktionen/Sanktionen sollte bereits vorher abgestimmt sein, da<br />
dadurch ein zielstrebiges Vorgehen bei den Befragungen gesichert ist. Die Untersuchungsorgane<br />
müssen die Möglichkeit zur Eigenentscheidung aus dem aufgeklärten Sachverhalt erhalten. Nur bei<br />
Strafverdacht sollte eine zentrale Abstimmung erfolgen522 . Dadurch würde erreicht, daß die<br />
Entlassungen früher erfolgen können, Beschwerden vorgebeugt wird <strong>und</strong> der Kräfteeinsatz rationeller<br />
organisierbar wäre.<br />
3. Zu entscheiden ist, ob gegen Personen, die kurzfristig übersiedelt werden, OSV eingeleitet werden <strong>und</strong><br />
die Zahlung Ordnungsstrafen unter Einbeziehung der zuständigen Abteilung Innere Angelegenheiten<br />
durchgesetzt werden soll 523.<br />
4. Es sollte gesichert sein, daß die Auswertung der op. DE [operative Diensteinheit] bis auf Abruf besetzt<br />
bleiben, um rasch Informationen zu erfaßten Personen erarbeiten zu können.<br />
In Abstimmung mit der BKG [Bezirkskoordinierungsgruppe - eine Abteilung der Bezirksverwaltung<br />
des MfS] sollte dazu das methodische Vorgehen festgelegt werden.<br />
166 Staatliche Einschätzung<br />
Gesprächskonzeption vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 25.05.1989 für<br />
das Gespräch mit Bischof Hempel am 25.05.1989 <strong>und</strong> Bischof Leich am 26.05.1989. Die 3 Seiten<br />
Computerausdruck wurden nicht unterzeichnet (StAL BT/RdB 20715 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 38326) 524 .<br />
522 Die Maßnahmen für den Umgang mit den Inhaftierten wurden durch die Hauptabteilung IX des MfS (Berlin)<br />
beschlossen (s. Lieberwirth 223).<br />
523 Mittig teilte am 23.05.1989, 7.24 Uhr, Hummitzsch mit, daß die Ordnungsstrafverfahren weiter durchgeführt<br />
werden sollten (BStU Leipzig AB 3843, 168).<br />
524 Die ersten Notizen der Konzeption stammten vom 11.05.1989 (StAL BT/RdB 38326). Neben diesen<br />
256
Innerhalb der ev. Kirchen in der DDR vollziehen sich gegenwärtig kontroverse Diskussionen um die<br />
Existenz von Gruppen zu thematisieren <strong>und</strong> unter den verschiedenen Gesichtspunkten aufzubereiten.<br />
Diese Anstrengungen werden von Auseinandersetzungen zwischen der „offiziellen“ Kirche <strong>und</strong> den<br />
Gruppen sowie in den Gruppen selbst begleitet. Dabei stehen vor allem die sozialethischen Gruppen im<br />
Vordergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> damit zusammenhängend die Frage nach dem Verhältnis von Kirche <strong>und</strong> Politik, von<br />
Kirche <strong>und</strong> Religion sowie nach den Perspektiven der Entwicklung kirchlicher Strukturen. Die<br />
diskutierten Fragen <strong>und</strong> die in Erwägung gezogenen Schlußfolgerungen für das Handeln der Kirche stehen<br />
ausdrücklich in sehr engem Zusammenhang mit der Gestaltung des Staat-Kirche Verhältnisses <strong>und</strong><br />
berühren nicht selten Probleme der gesamtgesellschaftlichen <strong>und</strong> insbesondere der politischen<br />
Entwicklung unseres Landes. Diese Gr<strong>und</strong>situation spiegelte sich letztendlich auf den Plenartagungen der<br />
„Ökumenischen Versammlung“ für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung in Magdeburg<br />
<strong>und</strong> Dresden, in den Diskussionen um das „politische Mandat der Kirche“ <strong>und</strong> um den Begriff „Kirche im<br />
Sozialismus“ wider. Während die Papiere der Ökumenischen Versammlung „bestürzende<br />
Wahrnehmungsdefizite im Blick auf soziale Errungenschaften unseres Staates“ aufweisen, ein Bild des<br />
„traurigen, bedrückten, entmündigten Einwohners der Republik zeichnen, dessen Leben sich zwischen der<br />
‘unwirtlichen Öffentlichkeit’ <strong>und</strong> der problembeladenen Familie abspielt“ 525 , stellt Landesbischof Dr.<br />
Leich in einem Gemeindevortrag in Jena am 5. März 1989 die Formel „Kirche im Sozialismus“ in Frage<br />
<strong>und</strong> schlägt vor, besser von der „Evangelischen Kirche in der DDR“ zu sprechen. Dabei kritisiert er, daß<br />
die enthaltenen Begriffe „Kirche“ <strong>und</strong> „Sozialismus“ definitorisch nicht geklärt sind, vor allem habe das<br />
Wort Kirche gegenüber früher an Eindeutigkeit weitgehend verloren. Schon 1988 wurde von westlichen<br />
Medien die Fragestellung „Was kann Kirche im Sozialismus sinnvoll heißen?“ 526 mit der Feststellung<br />
begleitet, daß die Bezeichnung „Kirche in der DDR“ weniger irreführend wäre, aber politisch bedeute, daß<br />
damit die Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche am 06.03.1978 als gescheitert erklärt werden<br />
müssen <strong>und</strong> dies „unter den gegenwärtigen Bedingungen den Weg zurück in die Zeit der Konfrontation<br />
wiese“. (Kirche im Sozialismus, S. 180 527 ) Kulminationspunkt der beschriebenen kirchlichen Situation<br />
bilden die Diskussionen um die Frage des politischen Mandats einer Kirche, wobei differenzierte<br />
Unterschiede zwischen den ev. Landeskirchen <strong>und</strong> auch innerhalb der Landeskirchen feststellbar sind.<br />
Konsequenter Vertreter der Befürwortung eines politischen Mandats der Kirche ist gegenwärtig Bischof<br />
Dr. Forck, Berlin-Brandenburg. Bischof Dr. Hempel spricht vom begrenzten politischen Mandat. Die<br />
politisch progressiven Amtsträger <strong>und</strong> Theologen, darunter auch eine Reihe theologisch konservativer<br />
Vertreter, lehnen ihrerseits das politische Mandat einer Kirche eindeutig ab <strong>und</strong> verweisen darauf, daß die<br />
gegenwärtigen Erscheinungsformen, für ein politisches Mandat einzutreten, doch zugelassen habe, daß<br />
− eine hemmungslose, selbstzerfleischende Propaganda betrieben würde, das Wesen der „Perestroika“<br />
oder des „Neuen Denkens“ gegen die DDR umzukehren;<br />
− nicht gefragt wurde, ob mit dieser Propaganda jeweils eine Entwicklung gewollt oder eine<br />
Diskreditierung bezweckt wurde;<br />
− bewußt wurde, wenn abstrakte Umgestaltungsdemagogie, Unsicherheit, Ängstlichkeit <strong>und</strong><br />
Minderwertigkeitskomplexe in einigen Bevölkerungskreisen Einzug finden;<br />
− die Meinung befürwortet wird, der Staat solle die Schleusen öffnen <strong>und</strong> eine sozialistische<br />
Marktwirtschaft einführen <strong>und</strong> Pluralismus gewähren.<br />
kirchenpolitischen Überlegungen fand sich unter den Unterlagen des Referat Kirchenfragen auch drei Seiten<br />
Computerausdruck mit Sachinformationen zu den FG, zum Pleißemarsch, zum Straßenmusikfestival <strong>und</strong> zur<br />
Veranstaltungsverordnung (StAL BT/RdB 21956). Zu einem Telefonat mit Mittig notierte Hummitzsch am<br />
23.05., 14.49 Uhr: „Führer bewegen! [/] [FG] einstellen, [/] wie? [//] Bischof reden, Informieren [/] mit allem<br />
Nachdruck“ (BStU Leipzig AB 3843, 169).<br />
525 Die Anführungszeichen sind im Original nur teilweise gesetzt. Hier handelt es sich offensichtlich um ein Zitat<br />
aus einer internen Information (vermutlich des StfK) über die Ergebnisse der Ökumenischen Versammlung.<br />
526 Gemeint ist der Aufsatz von Richard Schröder, Was kann „Kirche im Sozialismus“ sinnvoll heißen?, in: KiS<br />
4/88, 135-137 <strong>und</strong> in der Samisdat-Zeitschrift „Kontext“ vom 22.11.1988, 45-49 (ABL Box 7).<br />
527 In der Zeitschrift „Kirche im Sozialismus“ 5/88 ist auf Seite 180 ein Artikel unter dem Titel „Kirche im<br />
Sozialismus - Eine überholte Formel?“ abgedruckt. Das Zitat stammt vermutlich ebenfalls aus einer Richtlinie<br />
des StfK.<br />
257
Dies ist nach Meinung o.g. Vertreter Verleugnung des eigenen <strong>und</strong> Griff nach einem fremden Mandat, wo<br />
dem Staat kirchlicherseits als Ankläger, Wächter <strong>und</strong> vor allem als Richter begegnet wird. Politisch<br />
progressive Geistliche, Amtsträger <strong>und</strong> Theologen vertreten die Auffassung, daß die Kirche eine<br />
politische Mitverantwortung besitzt, aber keinen politischen Auftrag. Hiermit erfolgt eine weitgehende<br />
Annäherung an die staatlichen Positionen. Somit kann der Auffassung der sogenannten linken Theologen<br />
auch unsererseits zugestimmt werden, die feststellen, daß „Christen als Bürger ihre politische<br />
Mitverantwortung wahrnehmen, so daß ihr Handeln zum weltlichen Zeugnis ihres Glaubens werden kann,<br />
weil es nicht nach dem Wohl der Kirche, sondern nach dem Gemeinwohl, nicht nach den Rechten der<br />
Kirche, sondern zuerst nach ihren Pflichten fragt, weil sie auch im politischen Leben der „Stadt Bestes“<br />
suchen müssen.“ Zur weiteren Unterscheidung von Kirche <strong>und</strong> Staat wird zur Begründung auch angeführt,<br />
daß eine Kirche immer eine Versammlung von Glaubenden ist um das Evangelium, keine Versammlung<br />
politischer Gesinnungsgenossen um ein Parteiprogramm. Kirche beruht auf dem Bekenntnis zu Jesus<br />
Christus <strong>und</strong> nicht auf dem Konsens hinsichtlich der Erkenntnis von Natur <strong>und</strong> Geschichte. Kirche lebt<br />
nicht vom politischen Konsens ihrer Glieder, sondern muß deren politischen Dissens ertragen. Als sehr<br />
kritisch wird gesehen, daß gegenwärtig in der ev. Kirche eher eine Übereinstimmung hinsichtlich<br />
politischer Gr<strong>und</strong>haltungen als des Evangeliums zu spüren ist. Aus der Sicht der Staatspolitik in<br />
Kirchenfragen muß hier betont werden, daß nicht die Wertung theologischer Positionen über die<br />
Zuverlässigkeit oder Unzuverlässigkeit politischer Äußerungen oder politischer Aktivitäten das Kriterium<br />
ist, sondern die Haltung zu Frieden <strong>und</strong> Abrüstung, zu sozialem Fortschritt, Gerechtigkeit, Humanismus<br />
<strong>und</strong> Demokratie. Das spezifisch religiöse Motiv kann nicht Kriterium für die Wertung der politischen<br />
Haltung sein. Ausgehend von den Gesetzmäßigkeiten unserer Epoche werden die genannten negativen<br />
Erscheinungen innerhalb der Kirche unsererseits verurteilt wegen einer hemmenden gesellschaftlichen<br />
Wirkung <strong>und</strong> unserer Politik entgegengesetzten Zielrichtung.<br />
Politische Äußerungen der Kirche werden problematisch, wenn sie antisozialistische sind oder wenn sie<br />
ein Unverständnis der notwendigen Entwicklung ausdrücken. Wir wollen weltweit <strong>und</strong> auch in der DDR<br />
öffentliches Parteiergreifen der Kirchen für Frieden <strong>und</strong> Abrüstung, für sozialen Fortschritt <strong>und</strong><br />
Demokratie, also ein gesellschaftliches Engagement im Sinne unserer Gesellschaftsstrategie. Dabei muß<br />
betont werden, daß die Zielstellung der Staatspolitik in Kirchenfragen eine Kirche im Sozialismus, aber<br />
keine sozialistische Kirche ist, ein kooperatives Zusammengehen von Staat <strong>und</strong> Kirche, aber kein rotes<br />
Thron-Altar-Bündnis gewünscht wird. Hauptanliegen bleibt ein konstruktives Miteinander bei<br />
festgestellter Eigenständigkeit der Verantwortlichen, der Betonung des Staat-Kirche-Verhältnisses in ihrer<br />
[sic!] Wechselbeziehung <strong>und</strong> nicht als Einbahnstraße. Das heißt, das Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche ist<br />
nicht nur so gut, wie es der einzelne Christ in seiner gesellschaftlichen Situation vor Ort erfährt, sondern<br />
es kann auch nur so gut sein, wie es im Handeln der Christen vor Ort zum Ausdruck kommt.<br />
167 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Xerokopie des Briefes des Vorsitzenden des Kuratoriums des Theologischen Seminars vom 25.05.1989 an<br />
den Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig, Reitmann, mit einer Anlage (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong><br />
in: StAL BT/RdB 21956, ABL H 53).<br />
Sehr geehrter Herr Dr. Reitmann!<br />
In der Sitzung des Kuratoriums des Theologischen Seminars, zu dem als Mitglieder <strong>und</strong> Berater Vertreter<br />
fast aller Gliedkirchen des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR gehören, hat der Rektor des<br />
Theologischen Seminars, Prof. Dr. Ulrich Kühn, über die am 7. <strong>und</strong> 8. Mai 1989 in Leipzig erfolgten<br />
Zuführungen von Studierenden des Theologischen Seminars <strong>und</strong> über das am 17. Mai mit Ihnen darüber<br />
geführte Gespräch berichtet. Die Mitglieder des Kuratoriums waren sowohl über die gegen die<br />
Studierenden ergriffenen Maßnahmen, die sie nach Art <strong>und</strong> Umfang für nicht gerechtfertigt halten, wie<br />
auch darüber, daß dem Theologischen Seminar eine maßgebliche Beteiligung an den Unruhen dieser<br />
beiden Tage in Leipzig angelastet wird, außerordentlich betroffen. Wie aus dem beiliegenden Bericht<br />
hervorgeht, kann von einer solchen maßgebenden Beteiligung von Studierenden des Theologischen<br />
Seminars an den genannten Vorgängen keine Rede sein, weshalb auch die ergriffenen Maßnahmen als<br />
258
nicht sachgerecht erscheinen müssen. Ich möchte Sie, sehr geehrter Herr Dr. Reitmann, darauf hinweisen,<br />
daß die von uns allen <strong>und</strong> gleichermaßen von den Verantwortlichen des Theologischen Seminars<br />
angestrebte Besonnenheit <strong>und</strong> Sachlichkeit in der gegenwärtigen komplizierten Situation durch solche<br />
Vorgänge eine Erschwerung erfährt, an der weder Ihnen noch uns gelegen sein kann. Ich hoffe deshalb,<br />
daß in Zukunft von Ähnlichem abgesehen wird.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
[gez.] Johannes Hempel<br />
Anlage<br />
Feststellungen zu den Vorgängen <strong>und</strong> Vorfällen am 7.<strong>und</strong> 8. Mai 1989 in Leipzig<br />
− Am 7. Mai 1989 (Wahlsonntag) erhielt der Rektor des Theologischen Seminars in seiner Wohnung<br />
zwei Anrufe von Herrn Jakel, Sektor Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Leipzig: er sei beauftragt,<br />
ihm mitzuteilen, daß die Studenten des Theologischen Seminars Bernd Oehler (so vormittags) <strong>und</strong><br />
Thomas Gerlach (so gegen Abend) aufgefordert worden seien, sich zur Klärung eines Sachverhaltes<br />
bei der VP zu melden. Wie dem (schriftlichen) Bericht von Herrn Oehler <strong>und</strong> dem (mündlichen)<br />
Bericht von Herrn Gerlach zu entnehmen ist, ereignete sich folgendes: Herr Oehler war am 5.5. von<br />
zwei Beamten besucht worden. Als er 9.45 Uhr mit dem Rad zu einer Vorbereitungstagung für eine<br />
Kinderwoche für Verhaltensauffällige aufbrach, wurde er auf der Straße gestoppt <strong>und</strong> trotz seines<br />
Protestes, er sei auf dem Weg zu einer kirchlichen Veranstaltung, gezwungen, in ein Polizeiauto<br />
einzusteigen, das ihn in die Ritterstraße <strong>und</strong> dann in die Dimitroffstraße brachte, wo er bis 21.55 Uhr<br />
festgehalten wurde. Es fand eine Befragung über seine Aufenthalte der letzten Tage <strong>und</strong> sein etwaiges<br />
Wissen über „Verteilung von Schriften“ statt. Herr Gerlach wurde ebenfalls von 2 Beamten besucht<br />
(am 7.5.), die sich bald wieder verabschiedeten. Als er mittags mit der Straßenbahn in die Stadt fuhr<br />
<strong>und</strong> am Hauptbahnhof umsteigen wollte, wurde er von zwei Beamten (die von auswärts waren, sich<br />
jedenfalls in Leipzig nicht auskannten) aufgefordert mitzukommen <strong>und</strong> im Gefolge dann über die<br />
Trapo Hbf <strong>und</strong> Revier Ritterstraße in die Dimitroffstraße gebracht, wo er insgesamt 21 St<strong>und</strong>en<br />
festgehalten wurde, davon etwa 2 St<strong>und</strong>en Befragungen. Weder diese beiden Studenten noch irgendein<br />
anderer Student des Theologischen Seminars hatte irgendetwas mit der Vorbereitung der am 7.5.<br />
abends auf dem Marktplatz vorgesehenen Versammlung zu tun 528 . Die unverhältnismäßig lange<br />
Festnahme der beiden Studenten auf bloßen Verdacht hin <strong>und</strong> die gleichzeitige Behinderung des einen<br />
bei der Mitwirkung an einer kirchlichen sozialdiakonischen Veranstaltung muß als ungerechtfertigt<br />
<strong>und</strong> zugleich als erhebliche Belastung <strong>und</strong> Erschwerung eines sachlichen Verhältnisses von Studenten<br />
des Theologischen Seminars zu den staatlichen Organen angesehen werden. Bernd Oehler gehört zwar<br />
zu den politisch selbständig <strong>und</strong> kritisch denkenden Studenten, ist aber wegen seiner Sachlichkeit <strong>und</strong><br />
Besonnenheit bekannt. Herr Gerlach ist noch niemals im Zusammenhang politischer<br />
Auseinandersetzungen in den Vordergr<strong>und</strong> getreten.<br />
− Am Montag, dem 8. Mai, wurden nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche 3 Studenten des Theol.<br />
Seminars (Beate Schade, Mathias Wolf, Christian Dietrich) sowie die z.Zt. exmatrikulierte Studentin<br />
Kathrin Hattenhauer <strong>und</strong> der zukünftige Repetent des Theol. Seminars Vikar Edgar Dusdal zugeführt.<br />
Herr Dusdal hatte im Friedensgebet in der Nikolaikirche die Predigt gehalten. Die Zuführung erfolgte<br />
in der Innenstadt Nähe Nikolaikirche, wo nach dem Friedensgebet sich Friedensgebetsteilnehmer noch<br />
aufhielten. Nach den Berichten bzw. Beschwerden, die dem Rektor des Theol. Seminars bzw. dem<br />
VPKA Leipzig zugingen, war der Nikolaikirchhof <strong>und</strong> die angrenzenden Straßen von Ketten von<br />
uniformierten <strong>und</strong> nichtuniformierten Beamten abgesperrt. Mathias Wolf <strong>und</strong> Beate Schade hatten vor,<br />
in der Spätverkaufsstelle Brühl noch Einkäufe zu machen, um dann nach Hause zu gehen. Dazu kam es<br />
nicht, weil sie zuerst angerempelt <strong>und</strong> dann mit physischer Gewalt festgehalten <strong>und</strong> zugeführt wurden.<br />
Die polizeiliche Aufforderung (durch Lautsprecher), den Platz bzw. die Straße zu verlassen, erfolgte,<br />
nachdem die Zuführung geschehen war. Die Stoßw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Armverrenkungen waren noch am<br />
nächsten Tag zu sehen bzw. zu spüren. Herr Dietrich ist festgenommen worden, nachdem er sich nach<br />
528 Diese Behauptung entsprach dem damaligen Erkenntnisstand des Rektors. Zu der Nicht-“Wahl“-Demonstration<br />
am Wahltag, 18.00 Uhr, wurde von der „Initiative zur demokratischen Erneuerung“ (DI) per Flugblatt <strong>und</strong><br />
M<strong>und</strong>propaganda aufgerufen. Zur DI gehörte auch ein Student des Theologischen Seminars.<br />
259
dem von ihm von der Grimmaischen Straße aus beobachteten Geschehen erk<strong>und</strong>igt <strong>und</strong> einen<br />
willkürlich festgehaltenen jungen Mann nach seinem Namen gefragt hatte. Über die Festnahme wurde<br />
der Rektor des Theolog. Seminars nicht offiziell informiert. Nach Erk<strong>und</strong>igungen u.a. bei<br />
Superintendent Richter (Leipzig West) rief er nachts 23 Uhr bei der VP Dimitroffstraße an; er wurde<br />
vom diensthabenden Offizier belehrt, daß es sich nicht um Festnahmen, sondern um Zuführungen zur<br />
Klärung eines Sachverhaltes gehandelt habe <strong>und</strong> alle Zugeführten wieder auf freiem Fuße seien. Nach<br />
den vorliegenden Berichten wurde während der Zuführung eine „Klärung eines Sachverhaltes“ nicht<br />
bei allen vorgenommen; wo dies geschah, erfolgte sie in sachlichem, fast höflichem Ton. Es wurden<br />
aber auch Bemerkungen beschimpfender Art gehört, wie „Man müßte denen allen in die Fresse<br />
schlagen!“ Es ist nachweislich, daß von den Angehörigen des Theol. Seminars niemand die Absicht<br />
gehabt hat, nach dem Friedensgebet am 8. Mai Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zu stören oder an so etwas wie einer<br />
Demonstration teilzunehmen. Im Gegenteil muß von den Studierenden des Theologischen Seminars<br />
gesagt werden, daß sie die Aktionen vor allem Ausreisewilliger nach den Friedensgebeten<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich ablehnen, geschweige sich daran beteiligen. Daß indessen Studenten des Theol. Seminars<br />
am Friedensgebet selbst teilnehmen, ist selbstverständlich, <strong>und</strong> ebenso, daß sie danach sich vor der<br />
Kirche noch zum Gespräch aufhalten. Insofern erscheint die mit physischer Gewaltanwendung <strong>und</strong><br />
Körperverletzung durchgeführte Maßnahme gegen die Genannten als ungerechtfertigt <strong>und</strong> als<br />
erhebliche Belastung eines vom Theol. Seminar <strong>und</strong> seinen Verantwortlichen angestrebten sachlichen<br />
Stils politisch-gesellschaftlicher Meinungsbildung. Sie dient in keiner Weise der Bemühung um<br />
Besonnenheit in den schwierigen gegenwärtigen Fragen, sondern hat auf die Studierenden eine<br />
psychologisch negative Wirkung. Deshalb kann ein solches Vorgehen nur bedauert werden.<br />
− Im Gespräch mit dem Rektor des Theol. Seminars am 17. Mai hat Herr Dr. Reitmann die Auffassung<br />
geäußert, daß bei den Vorgängen am 7. <strong>und</strong> 8. Mai in Leipzig in starkem Maße Studenten des Theol.<br />
Seminars beteiligt gewesen seien <strong>und</strong> daß dies die weitere Arbeit des Theol. Seminars belaste. Aus den<br />
vorliegenden Berichten geht hervor, daß weder am 7. noch am 8. Mai Studenten des Seminars<br />
vorbereitend oder handelnd an Aktionen auf der Straße beteiligt gewesen sind. Daß einige als<br />
Teilnehmer des Friedensgebetes am 8. Mai sich in der von Polizei gesperrten Region aufhielten, kann<br />
ihnen offensichtlich nicht angelastet werden. Am 7. Mai ist abends auf dem Markt kein Student des<br />
Seminars auch nur angetroffen worden. Es muß deshalb das Befremden sowohl angesichts der gegen<br />
Studenten ergriffenen Maßnahmen wie auch angesichts der Unterstellung, Studenten des Seminars<br />
wären maßgeblich <strong>und</strong> aktiv beteiligt gewesen, geltend gemacht werden. Daß einige Studenten sich an<br />
der Arbeit von Basisgruppen beteiligen, kann die erhobenen Verdächtigungen <strong>und</strong> erst recht die<br />
Maßnahmen in keiner Weise rechtfertigen. Es würde der Versachlichung der Beziehungen dienen,<br />
wenn in Zukunft sorgfältiger vorgegangen würde.<br />
168 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus dem IN-Telegramm von H. Reitmann an den Staatssekretär für Kirchenfragen vom 26.05.1989<br />
über das Gespräch zwischen Opitz <strong>und</strong> Bischof Hempel am 25.05.1989. Auf dem Computerausdruck ist<br />
handschriftlich „Gen. Löffler“ vermerkt worden. Der Ausdruck wurde mit „Rei“ unterzeichnet 529 (StAL<br />
BT/RdB 21956).<br />
Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Gen. Rolf Opitz, führte am 25.05.1989 ein Gespräch mit<br />
dem Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, Dr. Johannes Hempel 530.<br />
Am<br />
529 Verfaßt wurde dieser Bericht - wie das Handexemplar Opitz (StAL BT/RdB 38326) zeigt - von W. Jakel. Beim<br />
StfK ging das „Blitz“-Telegramm am 26.05., 15.30 Uhr ein (BArch O-4 1405). Die SED-BL informierte am<br />
25.05.1989 auch E. Honecker über dieses Gespräch (StAL BT/RdB 38326). Am 31.05. informierte Sup. Magirius<br />
anläßlich der BSA-Sitzung die Basisgruppen über dieses Gespräch (Protokoll Berger vom 29.06.! - ABL H 2).<br />
Der Leiter der BV des MfS wurde nach dem Gespräch sofort mündlich über den Ausgang informiert (BStU<br />
Leipzig AB 3843, 170).<br />
530 Nach dem Fernschreiben des 1. Sekretärs der SED-BL an E. Honecker vom 25.05.1989, hat dieser Opitz<br />
260
Gespräch nahmen teil: Gen. Dr. Reitmann, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres, <strong>und</strong><br />
Oberkirchenrat Auerbach.<br />
Landesbischof Hempel wurde durch Gen. Dr. Reitmann zu diesem Gespräch eingeladen <strong>und</strong> hatte<br />
bereitwillig seine Zusage gegeben. Der Vorsitzende des Rates hatte zum Gesprächsbeginn die guten<br />
Beziehungen des Rates des Bezirkes Leipzig zur evangelischen Landeskirche Sachsens hervorgehoben<br />
<strong>und</strong> betont, daß er unter diesem Aspekt eine Reihe von komplizierten Fragen, wo er in Sorge ist, mit dem<br />
Landesbischof besprechen wolle.<br />
Gen. Opitz trug folgende Punkte als Problemstellungen vor:<br />
1. Ausgangspunkt belastender Erscheinungen für die Staat-Kirche-Beziehung bildet die Nikolaikirche in<br />
Leipzig, wo Personen zusammenkommen, die das kirchliche Haus nutzen, um ihre Ziele zu verfolgen<br />
<strong>und</strong> keine religiösen Gründe haben, an einem Friedensgebet teilzunehmen. Die Geschehnisse, die sich<br />
nach dem Friedensgebet vor der Nikolaikirche abgespielt haben, werden nicht enden, wenn das<br />
Friedensgebet weiterhin dort durchgeführt wird. Gen. Opitz brachte gegenüber dem Landesbischof die<br />
Erwartung zum Ausdruck, solche Veranstaltungen aus der Nikolaikirche zu entfernen <strong>und</strong><br />
zumindestens als Zwischenlösung diese Zusammenkünfte in einer anderen Kirche durchzuführen. Gen.<br />
Opitz forderte Bischof Hempel auf, seinen Beitrag zur Wiederherstellung der Ordnung zu leisten.<br />
2. Zum beabsichtigten 2. Pleißemarsch, der vom Jugendpfarramt der evangelischen Kirche Leipzig <strong>und</strong><br />
der sogenannten IG Leben organisiert wird <strong>und</strong> dessen Aktivitäten schon ausgelöst wurden, bevor eine<br />
Anmeldung bei der VP erfolgte, teilte Gen. Opitz mit, daß keine staatliche Genehmigung erteilt wird,<br />
weil die Teilnehmerzahl nicht begrenzt werden <strong>und</strong> die Ausnutzung zu negativen <strong>und</strong> provokativen<br />
politischen Handlungen nicht ausgeschlossen werden kann. Zugleich ist es unzumutbar, daß mit dieser<br />
Veranstaltung eine „Probe des Kirchentages“ stattfinden soll.<br />
3. Zu einem für den 10. Juni 1989 durch umfangreiche schriftliche Ankündigung <strong>und</strong> „M<strong>und</strong>propaganda“<br />
anberaumten „Musikfestival“ von Straßenmusikanten aus der gesamten DDR [...]<br />
4. Gen. Opitz forderte vom Landesbischof den Umweltgottesdienst am 11.06.1989 in Deutzen, [...]<br />
5. [...] forderte Gen. Opitz den Landesbischof auf, dafür Sorge zu tragen, daß ein von Wurzen nach Börln<br />
vorgesehener Umweltmarsch nicht durchgeführt wird [...].<br />
Der Ratsvorsitzende wies darauf hin, daß sich bei Nichtbeachtung dieser staatlichen Forderungen die<br />
Vorbereitung des Kirchentages verzögert <strong>und</strong> eine weitere Überprüfung der Entscheidung dazu nach<br />
sich ziehen könnte.<br />
Landesbischof Dr. Hempel positionierte sich folgendermaßen<br />
„Ich habe in ihrer Rede den roten Faden erkannt. Möchte mich nicht wiederholen, habe auch nicht zu<br />
allen Details Kenntnis, möchte aber gleich sagen, eine Lösung, die uns beide befriedigt, habe ich<br />
nicht.“ Er sei sehr beunruhigt, es ist eine andere Zeit als vor zehn Jahren. Demokratie wird heute<br />
verstanden als etwas, was die Leute selbst in die Hand nehmen wollen, eine Demokratie von sich<br />
aus 531 . Bischof Hempel bezeichnete die gegenwärtig aktuellen Themen primär politisch. Die Leute für<br />
theologische Dinge zu interessieren ist schwer. Manche Dinge dabei sind staatlich zu verantworten <strong>und</strong><br />
auch ein rein staatliches Problem. Es gibt aber auch Erscheinungen genauso in der Kirche. Er bat um<br />
Überlegung, wenn der richtige Punkt da ist, was nicht heiße, alle Blumen blühen zu lassen. Er verstehe,<br />
daß der Staat härter sein muß, er soll aber bitte prüfen, wo die Toleranzgrenze ist. „Meine Frage an sie<br />
ist, sie greifen zu früh <strong>und</strong> zu hart durch. Das ist mein Eindruck.“ Bezugnehmend auf die Ereignisse<br />
nach dem Friedensgottesdienst am 08.05.1989 führte Landesbischof Hempel an, daß die staatliche<br />
Präsens dabei nicht zu übersehen war. Die Videokamera hing an einem säkularen Gebäude. „Ich halte<br />
es für eine harte Maßnahme, wenn ich als Kirchgänger weiß, ich werde gefilmt. Die indirekten Signale<br />
sind stark. Man spricht von 16 Wagen Polizei. Das ist eine ganze Menge.“ An den Stellvertreter des<br />
Vorsitzenden des Rates für Inneres gewandt, teilte er mit, daß das Kuratorium des Theologischen<br />
„beauftragt“, dieses Gespräch zu führen. Opitz sollte Bischof Hempel „mit den im Zusammenhang der jüngsten<br />
Provokationen in Leipzig gewonnen Erkenntnissen über die Mitwirkung kirchlicher Amtsträger <strong>und</strong> von<br />
Studenten des Theologischen Seminars [...] konfrontieren <strong>und</strong> von ihm eine Klärung dieser Fragen [...] fordern“<br />
(StAL BT/RdB 38326) s.a. Anm. 524<br />
531 Opitz veränderte in seinem Exemplar zu: „eine Demokratie von unten her“ (StAL BT/RdB 38326).<br />
261
Seminars einen Brief geschrieben hat, den er unterzeichnet hat. Das Kuratorium beschwert sich, daß<br />
dem Theologischen Seminar angelastet wird, eine Keimzelle besagter Vorgänge zu sein, <strong>und</strong> darüber,<br />
daß seitens der VP körperliche Härte eingesetzt worden ist. Die Studenten Dusdal <strong>und</strong> Schade haben<br />
ihren Schock weg. Das sind harmlose Studenten. Danach übergab Dr. Hempel diesen Brief an Gen. Dr.<br />
Reitmann.<br />
Hierzu wurde vom Vorsitzenden <strong>und</strong> vom Gen. Dr. Reitmann der Landesbischof über die konkreten<br />
Vorgänge informiert, wobei Gen. Dr. Reitmann darauf hinwies, daß er den Rektor des Theologischen<br />
Seminars, Prof. Kühn, aufgefordert hat, daß die Studenten des Theologischen Seminars nach der<br />
Teilnahme am Friedensgebet doch nach Hause gehen sollen, wenn sie sich mit den Demonstranten<br />
nicht identisch fühlen.<br />
In der weiteren Diskussion, die vom Vorsitzenden immer wieder auf die angesprochenen Punkte<br />
zurück geführt wurde, gab der Landesbischof an, daß er nichts anderes zu sagen habe, als daß sein<br />
Wort moralischer Art ist, ein Kirchenvorstand ist straffrei. Kirche hat nur moralische Autorität auf dem<br />
Gebiet des Gottesdienstes. „Verlegen wir das Friedensgebet, geht es mit einer bischöflichen Weisung.<br />
Das bringt uns Schaden, daß geht durch die Westpresse. Ob in der Friedenskirche oder anderswo, es<br />
geht dann nur anders herum. Ich überlege mir genau, was ich mache. Der eigentliche Punkt, weshalb<br />
wir zusehen, ist der, daß wir in der Sache übereinstimmen. Ich bitte sie [sic!] höflich, nehmen sie es so,<br />
wie ich es sage.<br />
− Wo wird mit den Leuten gesprochen, was ist mit Dresden-Gittersee 532 <strong>und</strong> der Information?<br />
− Junge Leute sagen, ihr Alten hattet 20 Jahre Zeit, <strong>und</strong> was übergebt ihr uns? Mit uns wird ja nicht<br />
gesprochen.<br />
− Wir haben ein[e] faire Kritik an der Volksbildung, beim Umweltschutz hat sich eine Menge<br />
gebessert, aber eben nicht genug.<br />
− Sie haben m.E. zu wenig Kapazität, mit den Massen zu reden.<br />
− Es gibt neue Erfahrungen mit der Wahl, 10 % der Nein-Stimmen sind unterschlagen worden, das ist<br />
unser Eindruck.<br />
− Wir vergöttern Gorbatschow nicht, aber hier fehlt es an einem Instrumentarium. Ich glaube, sie<br />
[sic!] richten die Strafe gegen sich selbst, ich höre es erneut.<br />
In der weiteren Diskussion gingen der Vorsitzende <strong>und</strong> Gen. Dr. Reitmann auf die von Hempel<br />
bezeichneten Probleme ein. Den vorgebrachten Vorwurf einer Wahlmanipulation wies Gen. Opitz in<br />
seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Bezirkswahlkommission bestimmend <strong>und</strong> eindeutig zurück, ohne<br />
dabei den stets sachlich geführten Gesprächsverlauf zu verändern. Er appellierte eindringlich an die<br />
Persönlichkeit des Landesbischofs, Wort <strong>und</strong> Tat zu nehmen in der Verantwortung <strong>und</strong> ersuchte Dr.<br />
Hempel um Verständigung auf eine gemeinsame Linie.<br />
Landesbischof Hempel führte hierzu aus:<br />
„Ich sage nichts zu, habe aber hellwach gehört. So genau wie wir es können, werden wir die innere<br />
Substanz prüfen. Das, was sie [sic!] wollen, können wir so nicht machen, wenn dort Ausreiser sind. Die<br />
kann ich so nicht ausschalten. Ich kann nur Gottesdienst absetzen, wenn er verfault ist, nicht wenn der<br />
Staat es will. Was sie wollen, ist eine Verlagerung des Problems. Wir werden im Amt Bericht erstatten<br />
<strong>und</strong> in der Kirchenleitung beraten, dann sehen wir weiter. Ich werde sie informieren, aber dann muß man<br />
sich auch mal in Ruhe lassen“.<br />
Der Ratsvorsitzende betonte, daß der Staat für einen Gottesdienst in friedlicher Umgebung sorgen werde.<br />
Auch im Interesse der Kirche wird der Staat mit allen Mitteln für Einhaltung der Ordnung sorgen.<br />
Das Gespräch war jederzeit sachlich <strong>und</strong> wurde sehr offen geführt. Bischof Hempel war sehr diszipliniert,<br />
konnte aber psychische Auswirkungen des Gespräches nicht verbergen. Für das Gespräch bedankten sich<br />
beide kirchlichen Vertreter.<br />
532 In Dresden-Gittersee sollte ein Reinstsilizium-Werk gebaut werden, welches ein unverantwortliches ökologisches<br />
Risiko für die Stadt Dresden bedeutet hätte <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> dessen es zu vielfältigen Protesten kam. Am 16.04. fand<br />
aus diesem Gr<strong>und</strong> z.B. in der Dresdener Kreuzkirche ein Gottesdienst statt, an dem sich ca. 4000 Dresdener<br />
beteiligten. Ab Juni 1989 fand dann an jedem 1. Sonntag im Monat ein spezieller Gottesdienst in Dresden-<br />
Gittersee statt (s. auch Rein (1990), 191f.).<br />
262
169 Notizen aus einer Parteiberatung<br />
Auszug aus der Niederschrift zur „Beratung beim 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung“ zum Stand der<br />
Vorbereitung des Kirchentages in Leipzig am 29.05.1989. Die acht Seiten Computerausdruck fertigte die<br />
Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht bei der SED-Bezirksleitung (Urbaneck). Das Exemplar trägt keine Unterschrift<br />
(StAL BT/RdB 20715).<br />
[...] Teilnehmer der Beratung siehe Anlage 533.<br />
Folgende Probleme standen im Mittelpunkt:<br />
1. Information des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes über den Verlauf der Gespräche mit<br />
Landesbischof Dr. Hempel (25.05.89) <strong>und</strong> Landesbischof Dr. Leich (26.05.89)<br />
2. Information des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates für Inneres zum Stand der Vorbereitung des<br />
KTK/KT<br />
3. Informationsaustausch über geplante kirchliche Aktivitäten mit Öffentlichkeitswirksamkeit (2.<br />
Pleißemarsch am 04.06.89, Straßenmusikfestival am 10.06.89 <strong>und</strong> Umwelttag in Börln, Kreis Oschatz,<br />
am 11.06.89) <strong>und</strong> Festlegung von Maßnahmen zur Unterbindung dieser Aktivitäten<br />
zu Punkt 1<br />
Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes informierte über den Verlauf des Gesprächs mit Bischof Dr.<br />
Hempel <strong>und</strong> über dessen gr<strong>und</strong>sätzliche Haltung zu den staatlicherseits angesprochenen Problemkreisen.<br />
Durch Gen. Opitz wurden dabei folgende Probleme gegenüber Bischof Hempel <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene<br />
staatliche Erwartungshaltung angesprochen:<br />
− Die das Staat-Kirche-Verhältnis belastenden montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche -<br />
gegenüber Hempel wurde das staatliche Ansinnen deutlich gemacht, die Friedensgebete auf<br />
unbestimmte Zeit auszusetzen bzw. in eine andere Kirche zu verlagern.<br />
− Den durch alternative Gruppen geplanten 2. Pleißemarsch am 04.06.1989, der von der Paul-Gerhardt-<br />
Kirche zur Ev.-reform. Kirche führen soll - Bischof Hempel wurde mitgeteilt, daß es dazu keine<br />
staatliche Zustimmung gibt. Er wurde aufgefordert, seinen Einfluß dahingehend geltend zu machen 534.<br />
− Das durch negative Kräfte initiierte Musikfestival im Stadtzentrum Leipzig am 10.06.1989 - hier<br />
wurde die Erwartung ausgesprochen, daß der Bischof mit darauf Einfluß nimmt, daß dies nicht<br />
stattfindet. Ihm wurde mitgeteilt, daß es auch dazu keine staatliche Zustimmung geben wird.<br />
− Es wurde die Erwartung verdeutlicht, daß der Umweltgottesdienst in Deutzen am 11.06.1989 in einem<br />
christlich motivierten Rahmen durchgeführt wird.<br />
− Der Umweltmarsch von Wurzen nach Börln im Rahmen der kirchlichen Veranstaltung „Mobil dem<br />
Auto“ durch die zuständigen kirchlichen Stellen abgesagt wird.<br />
Gen. Opitz informierte dann über die Reaktion von Hempel zu den aufgeworfenen Problemkreisen. Dabei<br />
wurde sichtbar, daß Hempel nicht gewillt war, sich gegenüber dem Staat festzulegen.<br />
Es entstand der Eindruck, daß Bischof Hempel die Gesamtprozesse seiner Landeskirche nicht mehr fest in<br />
der Hand hat.<br />
Im Anschluß daran informierte der Ratsvorsitzende über den Gesprächsverlauf mit Landesbischof Dr.<br />
Leich. [/] (Zu beiden Gesprächen liegen ausführliche Informationen vor).<br />
533 In der Anlage werden genannt: Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED, Staatssekretär für Kirchenfragen,<br />
Vertreter des MfS, Abteilungsleiter Staat/Recht der SED-BL, Abteilungsleiter Kultur der SED-BL,<br />
Abteilungsleiter Sicherheitsfragen der SED-BL, Vorsitzender des RdB Leipzig, Stellvertreter des Vorsitzenden<br />
des RdB für Inneres, 1. Sekretär der SED-SL, 2. Sekretär der SED-SL, Chef der BDVP Leipzig, Leiter der BV<br />
des MfS, Abteilungsleiter Innere Angelegenheiten des Rates der Stadt <strong>und</strong> ein leitender Mitarbeiter der Referates<br />
Kirchenfragen beim RdB. Vor der Sitzung fand in der BV des MfS eine vorbereitende Beratung statt, an der<br />
neben dem Chef der BV die Leiter der Abteilungen AuE, XX, IX, AKG, BKG <strong>und</strong> OSL Hillner für die KD Stadt<br />
teilnahmen. Dabei wurde als Maßnahmen u.a. beschlossen, die Kamera gegenüber der Nikolaikirche wieder<br />
abzubauen, den Nikolaikirchhof montags immer mit PKWs vollzustellen <strong>und</strong> ausreisewillige Teilnehmer sofort<br />
ausreisen zu lassen (BStU Leipzig AB 3843, 179f.)<br />
534 Am 29.05.1989, 9.50 Uhr rief Mielke bei Hummitzsch wegen dem Pleißemarsch an. Hummitzsch vermerkte<br />
dazu: „alles im Griff? [/] darf dort zu nichts kommen“ (BStU Leipzig AB 3843, 182).<br />
263
zu Punkt 2<br />
Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres gab eingangs eine Kurzeinschätzung zur<br />
kirchenpolitischen Lage im Territorium. Dabei wurde hervorgehoben, daß die Vielzahl der geführten<br />
politischen Gespräche mit kirchenleitenden Persönlichkeiten <strong>und</strong> Amtsträgern der Gemeinden mit zum<br />
Ziel hatten, die Verantwortung der Kirche für den Weg des 06.03.78, speziell zur Einflußnahme auf die<br />
derzeitige Situation in <strong>und</strong> um die Nikolaikirche, stärker wahrzunehmen. [/] Auch im Umfeld zur<br />
Staatspolitik in Kirchenfragen werden eine Reihe gezielter staatlicher Aktivitäten in Abstimmung mit den<br />
dafür zuständigen Partnern realisiert (Problematik Ersuchsteller). [/] Im weiteren informierte Gen. Dr.<br />
Reitmann über die Gespräche mit dem Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag. So<br />
wurden gegenüber dem Landesausschuß die Festlegungen der Parteikommission vom 18.04.1989<br />
durchgesetzt (keine öffentliche Plakatierung, Begrenzung des Zeltplatzes auf 1200 Personen, Eröffnung<br />
des Kirchentagskongresses in der Messehalle 7). [/] Ebenfalls liegen die Regiepläne für die stattfindenden<br />
Veranstaltungen während des KTK/KT beim Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres vor. Es<br />
fehlt die inhaltliche Konzeption zum „Treffpunkt Glauben heute“. Der Vorsitzende des Landesausschuß<br />
hat sich selbst vorbehalten, darüber mit dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres zu<br />
reden. [/] Gen. Dr. Reitmann verwies dann auf folgende Schwerpunkte der politischen Weiterarbeit in<br />
Vorbereitung des KTK/KT:<br />
Anhand der vorliegenden Regiepläne sind die inhaltlichen Konzeptionen von Veranstaltungen,<br />
insbesondere der „Treffpunkt Glauben heute“, die Eröffnungsveranstaltung zum KTK <strong>und</strong> die<br />
Jugendveranstaltung „Mensch ärgere Dich nicht“ gegenüber dem Landesausschuß zu hinterfragen <strong>und</strong> auf<br />
Veränderungen hinzuwirken.<br />
Die geplanten Podiumsgespräche, Foren <strong>und</strong> Vorträge kritisch zu analysieren <strong>und</strong> darauf gegenüber dem<br />
Landesausschuß/Landeskirchenleitung einzuwirken, daß diese nicht für Provokationen genutzt werden.<br />
Diese sind vor allem „Kirche <strong>und</strong> Kirchentag aktuell“ mit Bischof Dr. Forck, OKSTR<br />
[Oberkonsistorialrat] Stolpe, Bischof Dr. Hempel <strong>und</strong> Vorsitzendem Cieslak, „Konziliarer Prozeß -<br />
Bericht <strong>und</strong> Gespräch zu Basel“ mit Sup. Ziemer aus Dresden, Probst Dr. Falcke, Erfurt (beide<br />
Hauptinitiatoren der ökum. Versammlung von Magdeburg <strong>und</strong> Dresden <strong>und</strong> deren Scharfmacher) <strong>und</strong> das<br />
Podiumsgespräch zum „Marxistischen <strong>und</strong> christlichen Menschenbild“ zwischen dem Marxisten Prof.<br />
Heyde (Dresden) <strong>und</strong> Generalsuperintendenten Dr. Krusche (Berlin).<br />
Des weiteren informierte Gen. Dr. Reitmann über den derzeitigen Stand der staatlichen Maßnahmen zur<br />
technisch-organisatorischen Unterstützung des Kirchentages. Er verwies darauf, daß seitens der<br />
verantwortlichen Fachorgane des Rates des Bezirkes die Konzeptionen erarbeitet wurden, das<br />
Zusammenwirken mit den dafür verantwortlichen Partnern gewährleistet ist, Ortsbegehungen<br />
durchgeführt wurden <strong>und</strong> der Stand es zuläßt, die notwendigen Vertragsabschlüsse zu tätigen.<br />
Ebenso sei das Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen gewährleistet. Die Anmeldung der<br />
Veranstaltungen durch die Kirche ist gemäß VAVO535 gegenüber der Abt. Erlaubniswesen beim VPKA<br />
Leipzig erfolgt. Der Einfluß der VP zu den Fragen der Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit ist<br />
gegenüber dem Veranstalter gesichert.<br />
Diskussion:<br />
Gen. P. Kraußer:<br />
Gen. Kraußer unterstrich, daß die staatlichen Maßnahmen in Vorbereitung des KTK/KT der Landeskirche<br />
Sachsens in Leipzig durch die verantwortlichen Genossen der SED-Bezirksleitung <strong>und</strong> des Rates des<br />
Bezirkes gut <strong>und</strong> solide sind 536.<br />
Es wurde für die Weiterarbeit auf folgende Probleme orientiert:<br />
1. Mit den Verantwortlichen für die inhaltliche Gestaltung der Kirchentagsveranstaltungen gilt es jetzt<br />
verstärkt auf der Gr<strong>und</strong>lage der vorliegenden Regiepläne politisch zu arbeiten. Dies ist vorrangig durch<br />
die Mitarbeiter für Kirchenfragen der Räte der Bezirke Leipzig, Dresden <strong>und</strong> Karl-Marx-Stadt zu<br />
535 Veranstaltungsverordnung<br />
536 Hummitzsch notierte sich zur Rede Kraußer: „Lage/Situation keine Schuld Leipziger Genossen; [/] Landeskirche<br />
hat Lage nicht in der Hand. [/] Verantwortliche f. die einzelnen Kirchentagsveranstaltungen an den Tisch holen.<br />
[/] Differenzieren.“ (BStU Leipzig AB 3843, 183)<br />
264
ealisieren. Es gilt konsequent darauf einzuwirken, daß der Inhalt der Veranstaltungen dem<br />
Kirchentagsthema entspricht <strong>und</strong> dem religiösen Anliegen gerecht wird.<br />
2. Es ist darauf einzuwirken, daß bei politisch problematischen Foren, Podiumsgesprächen <strong>und</strong> Vorträgen<br />
der Veranstalter durch gezielte Einladungen bzw. Ausgabe von Eintrittskarten eine Kontrolle über den<br />
Besucherkreis erhält bzw. diesen damit selbst bestimmt.<br />
3. Es muß sich noch konsequenter mit den bekannten <strong>und</strong> berufsmäßigen Störenfrieden, (Wonneberger,<br />
Turek, Führer, Dr. Berger) mit Unterstützung der Sicherheitsorgane, auseinandergesetzt werden.<br />
4. Es wäre gut, wenn es gelänge, daß die Friedensgebete in der Nikolaikirche auf unbestimmte Zeit<br />
ausgesetzt würden.<br />
5. Die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Ersuchstellern sind parallel dazu weiter so konsequent<br />
fortzuführen 537.<br />
6. Mit den problematischen Personen, die auf dem KT auftreten (Bischof Dr. Forck, Sup. Ziemer, Probst<br />
Dr. Falcke) sind über die Bezirke mit den Personen Gespräche zu führen mit dem Ziel, durch ihr<br />
Auftreten den KT nicht negativ zu beeinflussen. Cieslak sollte aufgefordert werden, den Rahmen für<br />
das Auftreten der o.g. Personen konkret ab- bzw. einzugrenzen.<br />
7. In die Schwerpunktveranstaltungen ist die Teilnahme vieler CDU-Mitglieder, Mitglieder von<br />
progressiven kirchlichen Gruppen (CFK, kirchliche Bruderschaft Sachsens) <strong>und</strong> Vertreter der Sektion<br />
Theologie der Karl-Marx-Universität Leipzig <strong>und</strong> deren kompetentes Auftreten zu sichern.<br />
8. Das System der Schulung der Ordnungskräfte der Kirche durch die VP ist mit zu nutzen, das<br />
Kooperationsnetz sehr eng zu gestalten. Die Kontakte sind zur Einflußnahme auf das richtige <strong>und</strong><br />
sachgerechte Handeln der Kräfte <strong>und</strong> Verantwortlichen zu nutzen.<br />
Gen. K. Löffler:<br />
Er verwies auf die Übereinstimmung mit den Ausführungen des Gen. P. Kraußer. Gen. Löffler gab danach<br />
eine kurze Einschätzung zur kirchenpolitischen Lage aus zentraler Sicht.<br />
Ausgehend davon wurden folgende Probleme hervorgehoben:<br />
1. Die örtlichen Staatsorgane haben sich auf bestimmte Schwerpunktveranstaltungen des KT zu<br />
konzentrieren. Es ist dabei erforderlich, die kirchlichen Leute zu finden, die bereit sind, den 06.03.78<br />
realistisch <strong>und</strong> mit Vernunft weiterzuführen 538.<br />
2. In der gegenwärtigen politischen Situation <strong>und</strong> zum jetzigen Zeitpunkt steht ein Verbot des<br />
Kirchentages durch den Staat außerhalb jeder Diskussion.<br />
3. Neben der CDU sind auch die anderen Blockparteien, in denen ebenfalls christliche Bürger tätig sind, in<br />
die Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des KTK/KT zielgerichtet mit einzubeziehen.<br />
4. Die staatlichen Entscheidungen zu kirchlichen Anträgen sind nicht nur ausschließlich politisch zu<br />
begründen, sondern auch gemäß den geltenden rechtlichen Bestimmungen.<br />
5. In Vorbereitung des KT ist über den amt. Präsidenten des LKA Sachsens zu sichern, daß während des<br />
KTK/KT keine ungenehmigten Druckerzeugnisse vertrieben werden.<br />
6. Es ist jetzt an der Zeit, daß die Veranstaltungen mit dem Landesausschuß zu Fragen der Versorgung,<br />
medizinischen Betreuung usw. mit den notwendigen Vertragsabschlüssen sanktioniert werden sollten,<br />
um dem Landesausschuß <strong>und</strong> der Landeskirche Sicherheit zu geben. Es kann auch damit die Sache<br />
entspannt werden.<br />
zu Punkt 3:<br />
Durch die Vertreter der Sicherheitsorgane wurde das gute Zusammenwirken aller Organe des Bezirkes bei<br />
der Zurückdrängung von Angriffen <strong>und</strong> Provokationen kirchlicher negativer Kräfte <strong>und</strong> Gruppen gegen<br />
die Staats- <strong>und</strong> Rechtsordnung hervorgehoben. [/] Es wurde eine konkrete Situationsanalyse zu den<br />
Vorkommnissen um <strong>und</strong> in der Nikolaikirche gegeben (Friedensgebet) <strong>und</strong> die Ergebnisse der staatlichen<br />
<strong>und</strong> polizeilichen Maßnahmen gewertet. [/] Ausführlich wurden die geplanten kirchlichen Veranstaltungen<br />
(2. Pleißemarsch, Straßenmusikfestival im Stadtzentrum Leipzigs, Umweltgottesdienst in Deutzen,<br />
Umweltmarsch von Wurzen nach Börln) <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen politischen Zielstellungen<br />
537 Hummitzsch vermerkte: „Niko - aussetzen [/] Potential / ASTA weiter abbauen“ (BStU Leipzig AB 3843, 184)<br />
538 Hummitzsch notierte dazu: „Mit dem Kirchentag entscheidet sich die weitere Zusammenarbeit.“ (BStU Leipzig<br />
AB 3843, 185)<br />
265
esprochen <strong>und</strong> Entscheidungsvorschläge, für staatliches Handeln bzw. administratives Vorgehen, gemäß<br />
den gegebenen rechtlichen Möglichkeiten, unterbreitet.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage der gegebenen Informationsberichte <strong>und</strong> im Ergebnis der Diskussion wurden durch<br />
den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung nachfolgende Festlegungen getroffen:<br />
1. Es bleibt bei der getroffenen Entscheidung <strong>und</strong> der damit gegebenen Zustimmung, daß die<br />
Landeskirche Sachsens ihren KTK/KT in Leipzig durchführen kann.<br />
2. Die politische Arbeit ist in Vorbereitung des KTK/KT mit den Amtsträgern zu verstärken, insbesondere<br />
mit den kirchenleitenden Kräften. Es ist darauf weiter einzuwirken, daß dieser Personenkreis seine<br />
Verantwortung so wahrnimmt, daß der KTK/KT ohne Provokationen verläuft.<br />
3. Mit Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Landesausschuß ist weiter im Gespräch zu bleiben. Es ist darauf<br />
hinzuwirken, daß alle inhaltlichen Konzeptionen dem Rat des Bezirkes Leipzig übergeben werden <strong>und</strong><br />
durch die Kirche bei den Foren, Podiumsgesprächen ein entsprechendes Einlaßregime wirksam wird.<br />
4. Zu bestimmten Foren (Marxistisch-christliches Menschenbild“, „Konziliarer Prozeß“, „Thomas-<br />
Müntzer-Vortrag“, „Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion“ usw.) sind Wissenschaftler von<br />
den Hoch- <strong>und</strong> Fachschulen mit einzubeziehen. [/] Gen. Urbaneck <strong>und</strong> Gen. Dr. Reitmann werden<br />
beauftragt, dies zu organisieren.<br />
5. Durch die Räte der Stadtbezirke sind entsprechende Sicherheitskonzeptionen zur Gewährleistung von<br />
Ordnung/Sicherheit in Vorbereitung des KTK/KT zu erarbeiten.<br />
6. Durch Gen. Urbaneck, Gen. Dr. Reitmann <strong>und</strong> Gen. Schnabel ist ein Informationssystem zu erarbeiten<br />
<strong>und</strong> bis Mitte Juni 1989 dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung zur Bestätigung vorzulegen.<br />
7. Die Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien sind auf die derzeitige Situation hinzuweisen mit dem Ziel,<br />
ihre politische Arbeit mit Kirchentagskongreßteilnehmern bzw. Kirchentagsteilnehmern zu verstärken.<br />
Es ist nachzufragen, wieviel Gespräche durch die befre<strong>und</strong>eten Parteien bereits geführt wurden.<br />
Analog ist das auf Kreisebene durchzuführen.<br />
8. Mit den kirchenleitenden Persönlichkeiten ist in Vorbereitung des KTK/KT nochmals eingehend die<br />
Gewährleistung der inneren Ordnung durch Kirche selbst zu beraten.<br />
9. Zur Verhinderung von politischen Provokationen zu den geplanten kirchlichen Veranstaltungen am<br />
04.06.1989 sind die Gespräche mit den zuständigen leitenden kirchlichen Amtsträgern durch die<br />
staatlichen Organe zu führen mit dem Ziel, daß die Kirche ihre Verantwortung zur Verhinderung von<br />
Zwischenfällen konsequent wahrnimmt. [/] Durch das VPKA Leipzig ist mit Pf. Kaden nochmals zu<br />
sprechen. [/] Ihm ist noch einmal die Entscheidung der Untersagung des 2. Pleißemarsches mitzuteilen<br />
<strong>und</strong> Auflagen zur Wahrnehmung seiner Verantwortung zu erteilen. Gleichzeitig sind durch die<br />
entsprechenden Organe, gemäß den rechtlichen Bestimmungen, alle Maßnahmen einzuleiten, die zur<br />
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig sind. Verstöße dagegen sind konsequent zu<br />
ahnden.<br />
In den Kreisen Borna <strong>und</strong> Wurzen sind entsprechende Maßnahmen zur Verhinderung von<br />
Provokationen durch die örtlichen Organe selbst einzuleiten.<br />
Es wurde durch den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung festgelegt, daß die nächste Beratung unter<br />
seiner Leitung am 27. Juni 1989, 9.00 Uhr, stattfindet.<br />
170 Notizen aus einer Parteiberatung<br />
Handschriftliche Aufzeichnung vom R. Opitz (?) zur Beratung beim 1. Sekretär der SED-BL am 29.05.1989<br />
(3 Seiten) (StAL BT/RdB 38326).<br />
Beratung Kirchentag<br />
29.5.1989<br />
P. Kraußer<br />
− Landeskirchenleitung hat Dinge nicht in der Hand bzw. will auch nicht.<br />
− Verantwortliche für die einzelnen Veranstaltungen des KT/KTK an einen Tisch holen:<br />
• Klärungen herbeiführen über Inhalt - Teilnehmer - öffentlich oder nur mit Einladungen<br />
266
− Auseinandersetzungen mit den berufsmäßigen Störenfrieden: Führer, Wonneberger, Berger u.a. =<br />
fester in den Griff kriegen<br />
− Montagsgebet - beste Lösung wäre, einige Wochen auszusetzen<br />
− Basel539 : Ziemer (Dresden) ist dort provokativ aufgetreten -<br />
Basisgruppen in den soz. Ländern sollen sich jetzt „vernetzen“.<br />
• dto. Falcke, Erfurt, hat sich in Basel relativ anständig verhalten.<br />
• Mit Genossen in Dresden <strong>und</strong> Erfurt nochmal verständigen.<br />
− Auf Veranstaltung KT/KTK so viel wie möglich Leute hinbringen von CDU/Sächs.<br />
Bruderschaft/Theolog. Fakultät/andere Parteien (LDPD u.a.).<br />
− Gemeinsam mit BDVP [Bezirksverwaltung der Deutschen Volkspolizei] Einweisung der<br />
Ordnungsgruppen <strong>und</strong> Schulungsgruppen nochmal beraten<br />
K. Löffler<br />
− Mit KT entscheidet sich wesentlich das Klima unserer künftigen Arbeit Staat-Kirche<br />
− Basel hat für negative Kräfte (Ziemer) bestimmte Ernüchterung erbracht - Vertreter der Kirchen aus<br />
soz. Ländern haben sich Ziemer nicht angeschlossen bzw. haben den Raum verlassen.<br />
[Blatt 2:]<br />
− Kirchentag West-Berlin - 300 zusätzl. Teilnehmer aus DDR<br />
• gemeinsame Arbeit E.H. [Honecker] - Schönherr in Vorbereitung des Dokumentes 6.3.1978<br />
− 11.6.89 - Einweihung Dom Greifswald<br />
− keinen Kirchenkampf herbeiführen = außerhalb jeglicher Diskussion<br />
− Auf ihre Verantwortung verweisen für KT/KTK - sie entscheiden damit das künftige Verhältnis.<br />
− Bei manchen Dingen nicht die pol[itischen] Aspekte in den Vordergr<strong>und</strong> stellen - Z.B. Zeltplatz;<br />
Begrenzung aus Gründen Hygiene/Ges<strong>und</strong>erhaltung usw.<br />
− Zugang zu Veranstaltungen durch Ordnungsgruppen der Kirche selbst gewährleisten<br />
− Fragen Vobi [Volksbildung] - nach IX. Päd. Kongreß 541 mit den Betreffenden nochmal neu beraten.<br />
M. Hummitzsch<br />
− Nikolaikirche - Entwicklung konnte bisher nicht aufgehalten werden - im Gegenteil - weiter eskaliert.<br />
− Keine schweigenden Märsche von Antragstellern dulden - [/] auf Präsenz uniformierter Polizei kann<br />
nicht verzichtet werden.<br />
Gen. Kienberg<br />
− von unten her arbeiten - mit Kirchenvorständen -<br />
Breite der Arbeit muß organisiert werden.<br />
[Blatt 3:]<br />
− Pleißemarsch: versuchen, die beiden Gottesdienste zeitgleich durchführen<br />
G. Straßenburg<br />
− [Wort nicht zu entziffern - „Kamera“ ?] verändert<br />
− was in L[eipzig] möglich = republikbekannt<br />
H. Schumann<br />
− [Wort nicht zu entziffern ...]<br />
1. Aktivitäten KT verstärken: Mit Leitern von Veranstaltungen über ihre V. reden 543<br />
539 Die Europäische Ökumenische Versammlung „Frieden in Gerechtigkeit“, von der Konferenz der Europäischen<br />
Kirchen <strong>und</strong> der Europäischen Bischofskonferenz einberufen, fand vom 15.-21. Mai 1989 in Basel statt. Ihr<br />
waren die drei Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung in<br />
Dresden (12.-15.2.1988, 26.-30.4.1989) <strong>und</strong> Magdeburg (8.-11.10.1988) vorausgegangen.<br />
540 A. Schönherr hatte in einem Brief an Honecker um die Teilnahme von 300 Gemeindegliedern am Westberliner<br />
Kirchentag 1989 gebeten. Dieser Bitte war Honecker gefolgt <strong>und</strong> hatte die entsprechenden Stellen ausdrücklich<br />
angewiesen, daß diese Ausreisen möglich gemacht werden sollen (SAPMO-BArch IV B 2/14/57, 74).<br />
541 Der IX. Pädagogische Kongreß unter Regie M. Honeckers fand Mitte Juni 1989 statt.<br />
542 Das gleiche Ziel hatte Mielke <strong>und</strong> teilte dies am gleichen Tag, 16.15 Uhr, Hummitzsch mit (BStU Leipzig AB<br />
3843, 188).<br />
542<br />
540<br />
267
2. Befre<strong>und</strong>ete Parteien nochmal aufmerksam machen<br />
3. RdK’e/[Abkürzung nicht zu entziffern...]-Kabinette einbeziehen<br />
4. Exakte Programme von Cieslak über alle Programme<br />
5. Podiumsgespräche - Fragen von uns vorbereiten<br />
6. Pleißemarsch 4.6.89:<br />
Beide Kirchenleitungen wegen Gleichzeitigkeit der [Abkürzung nicht zu entziffern - vermutlich:<br />
Gottesdienste] nochmal konsultieren - wenn nicht, dann<br />
Gespräch mit Kaden<br />
Mit VP [oder VK] konzentrierte Personenbewegung verhindern<br />
[Folgender Text am Rand in kleinerer Schrift:]<br />
− kein Bischofsgespräch mehr<br />
544<br />
− Kirchentag [in steno:] kann stattfinden<br />
keinen Raum mehr<br />
− 3 Varianten Montagsgebete [?]<br />
1. keins mehr<br />
2. Pause<br />
3. verlegen<br />
− 11.6. Musikanten-Festival<br />
• Pressefestival<br />
• agra - [stenogr. Worte nicht zu entziffern]<br />
171 Ereignisbericht<br />
Protokoll von R. Ziegner, C. Bornschlegel <strong>und</strong> S. Vierling über „die Vorgänge vor der Nikolaikirche nach<br />
dem Friedensgebet am 29.05.1989“ (ABL H 1).<br />
Nach dem Friedensgebet am 29.05.1989 kam es zu einer Ansammlung von am Friedensgebet beteiligten<br />
Personen. [/] Die Polizei, die wie immer zahlreich erschienen war, forderte die Leute auf, den<br />
Nikolaikirchhof zu verlassen, weil eine Gefährdung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit bestünde. [/] Das war<br />
aber mit Sicherheit nicht der Fall! [/] Es wurden weder Passanten noch der Verkehr behindert.<br />
Deshalb hielten wir es nicht für nötig, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> dafür war<br />
der anmaßende Ton der „Staatsbeamten“, die sich drängelnd <strong>und</strong> schubsend einen Weg durch die Menge<br />
bahnten. [/] Kurz nach der ersten Aufforderung kam es zur ersten Verhaftung (Udo Hartmann, Technologe<br />
aus Espenhain). [/] Die Verhaftung erfolgte, ohne daß eine absichtliche Provokation vorausgegangen<br />
wäre. [/] Deshalb blieben wir nun weiter vor der Nikolaikirche stehen bzw. setzten uns auf den Boden.<br />
Daraufhin kamen ca. 25 Polizisten zielstrebig auf uns zu <strong>und</strong> forderten uns auf, uns zu erheben. Dieser<br />
Aufforderung kamen wir nach. [/] Silke Vierling wurde dabei der Arm nach hinten gebogen, <strong>und</strong> auch<br />
sonst gingen die Beamten nicht gerade zimperlich mit den Leuten um. [/] Nun wurden uns gemeinsam mit<br />
9 anderen Leuten die Personalausweise abgenommen. Danach mußten wir auf einen LKW steigen <strong>und</strong><br />
wurden in das VPKA in der Dimitroffstraße gefahren. [/] Dort wurden wir in ein Zimmer geführt, in dem<br />
dann ungefähr 14 Personen auf ihre Befragung warteten. [/] Wir wurden einzeln herausgerufen <strong>und</strong> von<br />
Beamten der Kriminalpolizei befragt. [/] Während des Wartens war es uns nicht erlaubt, uns zu<br />
unterhalten oder zu rauchen.<br />
Als Rainer Müller der Befragung zugeführt werden sollte, kam es zu einem Zwischenfall. Als Rainer<br />
Müller am Fenster vorbei geführt wurde, rief er laut: „Hier bin ich!“ Der am Fenster stehende Polizist <strong>und</strong><br />
zwei andere Beamte stürzten auf ihn zu, zogen ihn an den Haaren <strong>und</strong> über einen Tisch <strong>und</strong> schleiften ihn<br />
aus dem Zimmer 545.<br />
Auf die Frage, was er denn getan hätte, bekamen wir zur Antwort, er hätte einen<br />
543 Hummitzsch vermerkte dazu: „Keine Überbewertung von kirchl. Zusagen“ (BStU Leipzig AB 3843, 186)<br />
544 D.h., bis zum Kirchentag fand kein Bischofsgespräch mehr statt.<br />
545 R. Müller wurde danach von vier Kriminalpolizisten im Keller zusammengeschlagen. Nach seiner Entlassung<br />
268
Genossen der VP tätlich angegriffen!<br />
Die Behandlung während der Befragung war korrekt. Danach wurden wir wieder unabhängig voneinander<br />
in das Zimmer geführt, wo wir wieder warten mußten. Von dort aus wurden wir dann in ein Zimmer<br />
geführt, wo uns ein Beamter dann die Ordnungsstrafverfügung aushändigte: [/] Ramona Ziegner 300.00<br />
M [/] Silke Vierling 500.00 M <strong>und</strong> [/] Carola Bornschlegel 500.00 M 546.<br />
Zwischen 21.00 Uhr <strong>und</strong> 21.30 Uhr wurden wir drei dann unabhängig entlassen.<br />
172 Protokollnotiz aus dem ZK<br />
Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong><br />
Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED (Baron, Kraußer) am 30.05.1989, zum<br />
Kirchentag in Leipzig. Vermerk wurde von Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />
1. Kirchentag Leipzig<br />
Darauf achten, daß die Abschlußveranstaltung so konzentriert wie möglich abgewickelt wird; [/] Die<br />
Sonderzüge zusammengedrückt (zeitlich) werden. [/] Wichtig sind jetzt entsprechende Maßnahmepläne<br />
für die Eröffnungsveranstaltung, das Rahmenprogramm sowie die Abschlußveranstaltung. [/] Der 27. 6.<br />
als nächster Beratungstermin für die Führungsgruppe ist nicht akzeptabel. Es sollte alles beim 20. 6.<br />
bleiben 547. [/] Die progressiven Kräfte in der Kirche, die befre<strong>und</strong>eten Parteien548<br />
sind noch einmal zu<br />
aktivieren, auch die Theologische Fakultät. [/] Mit den Genossen der Sicherheit ist noch einmal das<br />
Hinterland des Montagsgebetes auszuleuchten, sind daraus Argumente für das Gespräch mit den<br />
Verantwortlichen abzuleiten. [/] Gespräche sind jetzt auch mit den Verantwortlichen für die einzelnen<br />
Veranstaltungen unumgänglich.<br />
Verantwortlich: Genosse Löffler [/] Genosse Kraußer<br />
173 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Xerokopie des Briefs von Landesbischof Hempel vom 31.05.1989 an den Vorsitzenden des RdB Leipzig, in<br />
dem er die Entscheidung des Kollegium des LKA bezüglich der Friedensgebete mitteilte. Das Exemplar trägt<br />
einen Eingangsstempel des RdB vom 07.06.1989 (StAL BT/RdB 38326 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21459, BArch<br />
O-4 973).<br />
Sehr geehrter Herr Opitz!<br />
Gegen Ende unseres Gesprächs am vergangenen Donnerstag, dem 25. Mai, habe ich Ihnen einen Bescheid<br />
zugesagt. [/] Wir haben im Kollegium des Landeskirchenamtes noch einmal die Vorgänge um Nikolai 549<br />
beraten <strong>und</strong> mit den von den Ereignissen betroffenen Superintendenten Rücksprache gehalten. Wir<br />
nehmen Ihre Sorgen sehr ernst <strong>und</strong> stimmen Ihnen zu, daß es dringend notwendig bleibt, die<br />
verständlichen <strong>und</strong> unverständlichen Reaktionen von Gruppen auf die Lebensfragen unserer Zeit zu<br />
deuten <strong>und</strong> zu beeinflussen. So habe ich mit den verantwortlichen Pfarrern <strong>und</strong> Superintendenten<br />
festgelegt, daß das Friedensgebet in der Nikolaikirche von der Auslegung biblischer Texte <strong>und</strong> dem<br />
Gespräch über den konziliaren Prozeß bestimmt bleibt. Das seit dem 1. Mai massierte Auftreten von<br />
ließ er sich die Verletzungen von einem Arzt bescheinigen, die Erstattung einer Anzeige wurde ihm jedoch<br />
verwehrt (Bericht F.W.S[onntag], in: Ost-West-Diskussionsforum Nr. 8/9, 15).<br />
546 Die HA IX hatte am 26.05.1989 entschieden, daß EV nicht möglich seien. Am Morgen des 29.05. fand eine<br />
Beratung leitender Stasi-Offiziere bei Hummitzsch statt. Dabei wurde aufgr<strong>und</strong> des Gesprächs mit Bischof<br />
Hempel am 25.05. entschieden: „Keine Poliz. Aktion vorher (VP-Präsenz) [/] Kamera weg [/ Abt.] Inneres<br />
selektieren [/] Parkplatz vollstellen [/] Aufrufer erkennen [/] Marsch unterbinden“ (BStU Leipzig AB 3843, 179).<br />
547 Die Führungsgruppe tagte am 19.06. in Leipzig (SAL RdS, ZR Nr. 8951; BStU Leipzig AB 1071).<br />
548 D.h. alle Parteien, die in der DDR zugelassen waren -besonders jedoch die CDU.<br />
549 In der Kopie, die sich unter den Unterlagen der AG Kirchenfragen beim ZK befindet, ist „Vorgänge um Nikolai“<br />
unterstrichen (SAPMO-BArch IV B 2/14/104).<br />
269
Polizeieinheiten macht es uns aber nach Bedenken aller Umstände <strong>und</strong> Folgewirkungen unmöglich, das<br />
Friedensgebet jetzt zu verlegen oder abzusetzen 550 . Wir behalten die weitere Entwicklung im Blick. Die<br />
Verweigerung einer Genehmigung des Pilgerweges am 4. Juni haben wir zur Kenntnis genommen. Die<br />
Zusammenkünfte in der Paul-Gerhardt-Kirche <strong>und</strong> später in der Reformierten Kirche sollen unter der<br />
Verantwortung des Stadtjugendpfarramtes Leipzig <strong>und</strong> der beiden Superintendenten stattfinden. In der<br />
Paul-Gerhardt-Kirche wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ein gemeinsamer Pilger-Weg nicht<br />
stattfinden kann. Mit dem Leiter der Leipziger Spielgemeinde wurde gesprochen. Die Einladung von<br />
Musikgruppen 551 hat mit dem Auftrag der Spielgemeinde nichts zu tun. In einem Gespräch beim Rat des<br />
Kreises Borna vor unserer gemeinsamen Beratung wurde Herrn Superintendent Vollbach erklärt, daß ein<br />
gemeinsamer Weg von den Kirchen in Borna nach Deutzen nicht genehmigt wurde, obwohl von<br />
kirchlichen Dienststellen zugesichert war, daß dieser Weg unsererseits begleitet <strong>und</strong> nach bisherigen<br />
Erfahrungen ausreichend abgesichert werden könnte. Ebenso wurde in zwei Gesprächen mit Herrn<br />
Superintendent Schulze die geplante Veranstaltung am 11. Juni angesprochen. Nach unseren<br />
Beobachtungen sind bisher Pilgerwege in großer Disziplin verlaufen. Es ist aber immer unsere Übung<br />
gewesen, die staatliche Entscheidung zu respektieren. Die von uns geplanten Veranstaltungen stellen nicht<br />
Ruhe <strong>und</strong> Ordnung in der Stadt in Frage. Aber die objektiven Veränderungen im Leben der Menschen<br />
verlangen seelsorgerliche Begleitung. Auch gemeinsam gelaufene Wege dienen dem entlastenden<br />
Gespräch. Wir bedauern, sehr geehrter Herr Vorsitzender, daß die Situation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche in<br />
Leipzig gegenwärtig kompliziert geworden ist. Im Rahmen des von unserer Überzeugung <strong>und</strong> unserer<br />
Kirchenverfassung her Möglichen werden wir tun, was wir können, eine Eskalation zu vermeiden. Ich<br />
erbitte von Ihnen das Analoge.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Johannes Hempel<br />
174 Kirchenbucheintragung<br />
Eintrag aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 12.06.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Diese Kirche strahlt Ruhe <strong>und</strong> Frieden aus, für den Menschen ein Ort der Besinnung. Mögen die<br />
Menschen sich aus diesem Haus Kraft holen für den Alltag <strong>und</strong> möge es ihnen die Augen öffnen, um zu<br />
erkennen, was gut <strong>und</strong> böse ist, <strong>und</strong> damit sie nicht an der zweifelhaften Wahrheitsliebe unserer Obrigkeit<br />
zerbrechen <strong>und</strong> den Mut verlieren, hier im Land zu leben. Mögen sie soviel Selbstvertrauen aus dieser<br />
Kirche mitnehmen, daß sie sich mutig der Lüge in den Weg stellen, um diesem Spuk ein Ende zu bereiten.<br />
Wenn alle Menschen sich auf ihre Rechte als Mensch besinnen <strong>und</strong> dafür eintreten, bedarf es nur für eine<br />
kleine Gruppe Ausreiseanträge. Dieser Bach der Hoffnung, der hier im Haus lebendig ist, muß zum Strom<br />
anschwellen. Dann werden die Mauern fallen, <strong>und</strong> die Welt wird sich öffnen. Wir werden gleichberechtigt<br />
in unserem europäischen Haus wohnen mit offenen Türen <strong>und</strong> sehen am Horizont eine saubere Umwelt.<br />
[/] 12.6.89 [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />
175 SED-Information<br />
Information von der SED-Stadtleitung Leipzig (H. Schnabel) vom 13.06. über „das ordnungswidrige<br />
Verhalten von Teilnehmern nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche am 12.06.1989“ 552 . Die<br />
Information wurde von H. Schnabel unterzeichnet (StAL SED A 4972).<br />
550 Diese Argumentation des Bischofs spielt in der Führungsgruppe beim 1. Sekretär der SED-BL am 19.06.1989<br />
eine wichtige Rolle. So verwies H. Schnabel darauf, daß „Art+Weise [der] Präsens“ zu „überdenken“ sei<br />
(Mitschrift Sabatowska - SAL RdS, ZR, Nr. 8951, 30a ähnlich schon 27).<br />
551 für das Straßenmusikfestival am 10.06.1989<br />
552 Ein ähnliches Schreiben (Chiffriertes Fernschreiben Nr. 280) sandte der 2. Sekretär der SED-BL Leipzig, H.<br />
Hackenberg, an das ZK der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, mit Bitte zur Information an<br />
den Sicherheitschef Herger (StAL SED A 4972).<br />
270
Durch Information wurde bekannt: [/] Am 12.6.89 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr in der<br />
Nikolaikirche mit ca. 600 Teilnehmern 553 das Friedensgebet statt. Nach der Veranstaltung verließen die<br />
Teilnehmer bis gegen 18.12 Uhr das Objekt. Auf dem Vorplatz verblieben ca. 250 Personen, die in<br />
kleinen Gruppen diskutierten <strong>und</strong> der Anschein gegeben war, daß sich diese auflösten. In Höhe des<br />
Schumachergäßchens formierten sich ca. 50 Personen mit dem Ziel, zum Markt zu demonstrieren.<br />
Zur Verhinderung einer Demonstration wurden durch die DVP Sperrhandlungen in Höhe der<br />
Reichsstraße/Schumachergäßchen durchgeführt. Aufforderungen über Lautsprecher wurde nur zum Teil<br />
nachgekommen, <strong>und</strong> nach der 3. Aufforderung mußten Zuführungen einer Personengruppe vorgenommen<br />
werden wegen aktivem Widerstand durch Unterhaken 554 . Auflösetrupps der DVP brachten die restliche<br />
Ansammlung zur Auflösung. 19.20 Uhr wurde der Einsatz abgeschlossen. An Zuführungen gab es 27,<br />
wobei 11 Personen aus anderen Kreisen <strong>und</strong> Bezirken waren. An gesellschaftlichen Kräften waren 34<br />
Genossen zum Einsatz gekommen.<br />
176 Parteiversammlungsrede<br />
Auszug aus dem Protokoll einer geschlossenen Veranstaltung der SED-Stadtleitung Leipzig am 15.06.1989 in<br />
der SED-Bezirksleitung Leipzig 555 . Die Eröffnung <strong>und</strong> die Schlußbemerkung sprach der 2. Sekretär der<br />
SED-Stadtleitung. Referent der Parteiaktivtagung war der für Propaganda zuständige Sekretär der SED-<br />
Bezirksleitung J. Pommert. Das Referat trug den Titel „Ausführung zu aktuellen Fragen der politischen<br />
Massenarbeit der Partei“ (StAL SED N 932).<br />
[H. Schnabel, 2. Sekretär der SED-Stadtleitung:] Liebe Genossinnen <strong>und</strong> Genossen!<br />
Das Sekretariat der Stadtleitung unserer Partei entschloß sich zu dieser heutigen Beratung, um eine<br />
einheitliche Orientierung für alle Leitungen der Partei, der staatlichen Organe <strong>und</strong> der<br />
Massenorganisationen für die Verwirklichung der Aufgaben zu geben, die sich aus dem Beschluß des<br />
Sekretariats des Zentralkomitees vom 31. Mai 1989 zur Auswertung der 8. Tagung des Zentralkomitees<br />
der SED ergeben. Ich begrüße Euch im Auftrag des Sekretariats dazu alle recht herzlich. Unser besonderer<br />
Gruß gilt Genossen Jochen Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung, der im Rahmen unserer<br />
Zusammenkunft zu einigen aktuellen Fragen der politisch-ideologischen Arbeit, der Massenarbeit der<br />
Partei sprechen wird. An unserer Beratung nehmen die Mitglieder des Sekretariats der Stadtleitung, der<br />
Sekretariate der Stadtbezirksleitungen, Genossen der Parteileitungen der bewaffneten Organe, der<br />
staatlichen Organe <strong>und</strong> aus Parteiapparaten teil. Gleichzeitig begrüßen wir in unserer Mitte die<br />
Vorsitzenden der Massenorganisationen unserer Stadt <strong>und</strong> Funktionäre der Nationalen Front der DDR. [...<br />
553 Das MfS meldete „ca. 650 Besucher“ an Honecker, Krenz, Jarowinsky, Dickel, Kraußer u.a. (Information Nr.<br />
297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU ZAIG 3748). Mit der VVS o008-46/89 teilte Mielke nach dieser<br />
Demonstration den Leitern der BV des MfS mit, daß es zu einer „erheblichen Zunahme von Versuchen der<br />
Organisation <strong>und</strong> Durchführung öffentlichkeitswirksamer provokatorisch-demonstrativer Handlungen“<br />
gekommen sei (Pleißemarsch, Wahlbeobachtung <strong>und</strong> Gegendemonstration, Straßenmusikfestival...). Es werden<br />
Umgruppierungen der MfS-Kräfte befohlen, um Demonstrationen erfolgreich zu verhindern (s. Schreiben des<br />
Leiters der Magdeburger BV in: Pechmann/Vogel 147-153).<br />
554 Das MfS teilte mit: „Bei den Personen, die den wiederholten Aufforderungen nicht nachkamen, handelt es sich<br />
offenk<strong>und</strong>ig um solche, die durch ihre demonstrierten Handlungs- <strong>und</strong> Verhaltensweisen (u.a. Buhrufe, lautes<br />
Gelächter, provokatorische Annäherung an die gebildete Absperrkette) eine Konfrontation herbeiführen wollten.<br />
Ein Teil dieser Personen widersetzte sich bewußt den Aufforderungen in der Erwartung, dadurch schneller die<br />
Genehmigung zur ständigen Ausreise zu erhalten.“ (Information Nr. 297/89 vom Leiter des MfS, Mielke - BStU<br />
ZAIG 3748)<br />
555 Am gleichen Tag forderte der Stasi-BV-Chef die Leiter der KDs auf, die 1. Sekretäre der SED-Kreisleitungen<br />
über die oppositionellen Gruppierungen zu informieren. „Anliegen der Informierung der 1. Sekretäre der Bezirks-<br />
<strong>und</strong> Kreisleitungen der SED ist es, unter Führung der Partei die Wirksamkeit des Vorgehens mit den Partnern des<br />
Zusammenwirkens <strong>und</strong> den gesellschaftlichen Kräften gegen feindliche, oppositionelle <strong>und</strong> andere negative<br />
Kräfte sowohl auf Bezirks- als auch auf Kreisebene weiter zu erhöhen <strong>und</strong> zu diesem Zweck die erforderlichen<br />
verbindlichen Festlegungen zu treffen.“ (VVS-o006 58/89 - ABL H 8).<br />
271
es folgen noch 3 Seiten Begründungen für die Veranstaltung]<br />
[J. Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung:] Liebe Genossinnen <strong>und</strong> Genossen!<br />
Von politischen, sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Realitäten <strong>und</strong> ihrem schändlichen Mißbrauch durch<br />
einige wenige soll hier die Rede sein. [... 9 Seiten über den „entwicklungsgeschichtlichen“ Unterschied<br />
zwischen der B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> der DDR] Seit nunmehr 40 Jahren, das muß hinzugefügt werden, ist<br />
unsere Politik den aggressiven imperialistischen, vom Antikommunismus verblendeten Machthabern<br />
kapitalistischer Länder, vor allem aber in der BRD, ein ernsthaftes Hindernis, ihren Herrschaftsgelüste in<br />
Europa nachzukommen, <strong>und</strong> weil sie das nicht konnte, haben sie [in] einem schroffen Gegensatz zum<br />
Potsdamer Abkommen den Separat-Staat BRD als Speerspitze gegen den Sozialismus aus der Taufe<br />
gehoben. Die DDR als humanistische Alternative zum kapitalistischen System entstanden, paßte ihnen<br />
damals vor 40 Jahren <strong>und</strong> paßt ihnen heute nicht in ihr politisches <strong>und</strong> vor allen Dingen in ihr<br />
Machtkonzept. [/] Solange 556 unsere Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht existiert, ist den politischen Gegnern im<br />
Gr<strong>und</strong>e genommen jedes Mittel recht, um der DDR <strong>und</strong> dem Sozialismus zu schaden, Knüppel zwischen<br />
die Beine zu werfen, die Entwicklung aufzuhalten oder gar zurückzudrehen. Damit müssen wir seit<br />
Jahrzehnten leben. Schon immer haben diese restaurativen Kräfte Leute mobilisiert <strong>und</strong> großgezogen,<br />
unterhalten <strong>und</strong> ausgehalten, die in ihrem Interesse sich zu schäbiger Arbeit gegen den Sozialismus<br />
mißbrauchen ließen <strong>und</strong> mißbrauchen lassen. Und von denen gibt es auch einzelne in der Stadt, andere,<br />
die sich hier versammeln, obwohl sie in vielen Bezirken unseres Landes wohnen. Personen, die<br />
egoistische antisozialistische Interessen verfolgen, ein subjektivistisches Zerrbild vom Sozialismus<br />
erfinden <strong>und</strong> permanent gegen Recht <strong>und</strong> Gesetz unseres Landes vorgehen. Im schroffen Widersatz zur<br />
Wirklichkeit <strong>und</strong> zur Realität <strong>und</strong> zu den Möglichkeiten, die auch sie haben, schrecken sie nicht davor<br />
zurück, die Errungenschaften des Sozialismus, die von uns allen unter großen Mühen, auch Opfern<br />
erreicht wurden, zu negieren, in den Dreck zu ziehen <strong>und</strong> zu verunglimpfen. Vorsätzlich stören sie zu<br />
diesem Zwecke die öffentliche Ordnung uns Sicherheit. Sie wollen soziale Unruhe verbreiten <strong>und</strong> Zweifel<br />
an den Werten des Sozialismus schüren. Gewollt oder ungewollt, das ist uninteressant. Objektiv stehen sie<br />
auf sozialismus-feindlichen Positionen in trauter Gemeinsamkeit mit der anderen Seite der Barrikade.<br />
Wir wissen sehr wohl, das Kohlzitat sollte nur als jüngster Beweis stehen, daß unser politischer Gegner<br />
verstärkt im Rahmen seines subversiven Vorgehens gegen uns seine Versuche verstärkt, eine sogenannte<br />
innere Opposition zu schaffen <strong>und</strong> auch zu versuchen, sie zu legalisieren, solche Kräfte für gegen die<br />
Republik gerichtete Aktionen einzuspannen <strong>und</strong> auch, um eine politische Untergr<strong>und</strong>tätigkeit zu<br />
inspirieren <strong>und</strong> zu organisieren mit dem Ziel, ein Druckpotential zur Aufweichung, Zersetzung <strong>und</strong><br />
politischen Destabilisierung der sozialistischen Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung zu schaffen. Dazu<br />
werden auch der KSZE-Prozeß <strong>und</strong> seine Dokumente schamlos mißbraucht. Ich will dazu nur einen Satz<br />
sagen. Von keiner Schlußakte, von keiner Menschenrechtskonvention wird nationale Gesetzgebung außer<br />
Kraft gesetzt. Dieses souveräne Recht jedes Staates nimmt unsere Republik für sich in Anspruch als<br />
Ausdruck, daß es ein Völkerrechtssubjekt gleicher Qualität ist wie jeder andere Staat dieser Welt, der sich<br />
als solcher versteht. Zu diesem Mißbrauch, zu dieser Ermunterung, gegen den Sozialismus aufzutreten,<br />
ihn zu destabilisieren, ihn in Mißkredit zu bringen, zählen natürlich auch das, was der USA-Präsident<br />
Bush von sich gab, als er jüngst in der B<strong>und</strong>esrepublik Glasnost für Ost-Berlin verlangte. Oder was<br />
Kanzler Kohl in seiner jüngsten Regierungserklärung von sich gab oder wie schon erwähnt in seiner<br />
jüngsten Montagsrede. Diese Zielsetzung machen sich die gegen uns auftretenden Personen <strong>und</strong> Gruppen<br />
liebend gern zu eigen oder stellen sich in den Dienst solcher antisozialistischen Politik.<br />
In der Stadt Leipzig vor allem, aber auch im Bezirk sind entsprechend den Orientierungen der<br />
imperialistisch aggressiven Zentren zum Teil seit längerem existierende Personengruppen <strong>und</strong> Personen<br />
mit feindlichen <strong>und</strong> oppositionellen Handlungen verstärkt dazu übergegangen, öffentlichkeitswirksame<br />
Handlungen zu organisieren, ihren Einfluß auszuweiten, die staatliche Ordnung zu unterlaufen, um so<br />
öffentliche Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung aufzuweichen, zu stören. Wie eh <strong>und</strong> je leisten ihnen dabei aktive<br />
Schützenhilfe die reaktionären Kräfte <strong>und</strong> die in ihrem Sold stehenden Medien, namentlich vom Boden<br />
556 Dieser Absatz <strong>und</strong> weitere Abschnitte der Pommert-Rede fanden nahezu wörtlich ihre Wiederholung in dem<br />
Einleitungsreferat von H. Fröhlich (1. Sekretär der SBL Leipzig-Mitte) vor der SED-Stadtbezirksleitungssitzung<br />
Leipzig-Mitte am 14.07. (Protokoll der Sitzung S. 3-8, StAL SED N 2571)<br />
272
der BRD <strong>und</strong> von Westberlin aus. Im verhängnisvollen Wechselspiel der antisozialistischen Kräfte<br />
übernehmen die bürgerlichen Medien der BRD einen besonders unheilvollen Part des politischen<br />
Brunnenvergifters in unserer Republik <strong>und</strong> versuchen permanent, unsere internationale Autorität zu<br />
schädigen wie auch antisozialistische Auftritte regelrecht zu organisieren. [/] Es bleibt bei der alten<br />
Klassenweisheit <strong>und</strong> bei unserem parteilichen Standpunkt, Massenmedien sind Klassenmedien, <strong>und</strong> sie<br />
vertreten immer die Interessen der herrschenden Klasse. Wessen Interessen können wohl die Medien der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland vertreten? Die der herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, des Revanchismus,<br />
des Antikommunismus. Antikommunistisch ausgerichtet, setzen sie sich willkürlich über völkerrechtliche<br />
Festlegungen hinweg <strong>und</strong> übertreten die Gesetze der DDR, indem sie die großzügigen<br />
Akkreditierungsbestimmungen mißachten. Sie verbreiten in großer Zahl Lügen <strong>und</strong> übelste Hetze,<br />
belasten damit die Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten <strong>und</strong> ihre weitere Normalisierung. Ihr<br />
Strickmuster ist zu bekannt, als daß es uns beirren könnte. Denn wie immer, wo antisozialistische<br />
Gruppierungen auftreten, sind auch Mikrofone <strong>und</strong> Kameras der BRD-Medien ganz zufällig an Ort <strong>und</strong><br />
Stelle. Gegenüber <strong>und</strong> überall dort, wo Gesetze der DDR verletzt werden, wenn die öffentliche Ordnung<br />
gestört werden soll, wenn für sie Möglichkeiten gegeben sind, gegen die DDR öffentlich zu Felde zu<br />
ziehen. Und sollte das nicht möglich sein, dann ist die Sache so arrangiert, das im rechten Augenblick rein<br />
zufällig der Amateurfilmer mit schußbereiter Kamera auftaucht. Und auf dem Weg in die Redaktionen<br />
<strong>und</strong> Funkhäuser nach West-Berlin, Mainz <strong>und</strong> Hamburg vollzieht sich dann eine ganz erstaunliche<br />
Metamorphose. Aus Westreportern entpuppen sich organisatorische Helfer der hier im Lande aufgebauten<br />
Regimekritiker. Aus Informationsberichten werden Bürgerrechtspamphlete antisozialistischer Haltungen,<br />
<strong>und</strong> aus notorischen Störenfrieden hier zu Lande wollen sie Leute aufbauen <strong>und</strong> hochstilisieren, die sie mit<br />
dem Begriff der Freiheitsapostel schmücken. Und so prangt es dann auf der Seite 1 bei „Bild“, tönt es von<br />
Rias <strong>und</strong> im Deutschlandfunk, <strong>und</strong> ARD <strong>und</strong> ZDF giften fleißig mit.<br />
In unserer Stadt gibt es nicht wenige Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, auch Bürger, die uns danach Fragen<br />
stellen. Zum Beispiel auch, was es zu bedeuten hat, wenn sich im Zentrum unserer Stadt Menschen<br />
demonstrativ versammeln, um Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zu stören <strong>und</strong> letztlich, denn darauf läuft es immer<br />
wieder hinaus, die Präsedenz [sic!] der Staatsmacht zu provozieren, herauszufordern. Wer sind diese<br />
Leute? Es sind Menschen erst einmal, denen unser sozialistisches Programm unseres sozialistischen<br />
Entwicklungsweges zu unsozial ist, denen unsere Bildungspolitik zu inhaltsreich <strong>und</strong> zu politisch ist,<br />
denen Sicherheit <strong>und</strong> soziale Geborgenheit in unserem Staate nichts bedeuten, denen selbst unsere<br />
Friedenspolitik nichts sagend ist. Die sie schmähen <strong>und</strong> verunglimpfen. Alles mit dem Ziele, sich eigene<br />
Organisationsstrukturen schaffen zu können. Es sind also Menschen, denen der ganze Sozialismus in den<br />
Farben der DDR nicht paßt, die an allem etwas auszusetzen haben, die vor allen Dingen durch Nörgeln<br />
<strong>und</strong> Mißmachen [sic!] sich auszeichnen. Ihnen allen ist aber eigen, daß sie immer mit großer<br />
Selbstverständlichkeit die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft, soweit sie materieller Natur<br />
sind, in Anspruch nahmen <strong>und</strong> in Anspruch nehmen. Einige dieser Leute haben den Antrag auf ständige<br />
Ausreise aus der DDR gestellt, also Bürger, die ihrem Staat heute die kalte Schulter zeigen <strong>und</strong> morgen<br />
den Rücken kehren wollen. Für sie ist Krawall dabei treibendes Motiv. Unter jenen, die dort auftreten,<br />
sind auch Bürger, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, also auf Kosten <strong>und</strong> auf Ergebnissen jener<br />
Gesellschaft leben, denen sie verteufeln [sic!]. Einige von ihnen sind zuvor bereits straffällig gewesen.<br />
Wie schon gesagt, ein großer Teil der provokativsten Elemente hat seinen Wohnsitz nicht in unserer Stadt,<br />
sondern kommt aus den verschiedensten Gegenden unseres Landes nach Leipzig. Wie man sieht, wird<br />
sehr gezielt vorgegangen. [/] Leipzig soll gegenwärtig zum Tummelplatz dieser Elemente werden, gezielt<br />
wird auf die DDR, den Sozialismus <strong>und</strong> Partei <strong>und</strong> ihre Politik [sic!].<br />
Der 557 weitaus größere Teil der zum aktiven Kern gehörenden Personen verfügt über eine abgeschlossene<br />
theologische Ausbildung bzw. befindet sich in der theologischen Fachausbildung, unter ihnen auch solche,<br />
die aus disziplinarischen oder leistungsmäßigen Gründen von theologischen Bildungseinrichtungen der<br />
Kirche, manche zum Teil zeitweilig, exmatrikuliert wurden. Manche machen auch so etwas wie ein<br />
Fernstudium, damit sie mehr Zeit haben für konspirative antisozialistische Tätigkeiten. Teile dieses<br />
557 Dieser Absatz wurde nahezu wörtlich aus einer Stasi-Information vom 13.06.1989 entnommen (Zum Wirken<br />
feindlicher, oppositioneller <strong>und</strong> anderer negativer Kräfte im Bezirk - ABL H 8)<br />
273
aktiven Kerns sind als Angehörige kirchlicher Einrichtungen tätig oder Studenten des theologischen<br />
Seminars der Sektion Theologie der KMU oder einiger naturwissenschaftlicher Bereiche. Einzelne sind<br />
als Hilfspersonal in kirchlichen Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen tätig. Was wollen diese Leute erreichen? Sie<br />
wollen erst einmal mäßig die öffentliche Ordnung stören, sie wollen Recht <strong>und</strong> Gesetzlichkeit unseres<br />
Staates im Sozialismus in Frage stellen. Sie wollen durch Stimmungsmache, durch Provokation Unruhe<br />
verbreiten, Bürger verunsichern <strong>und</strong> schließlich die politische Lage hier zu Lande destabilisieren. Und<br />
dazu soll vor allen Dingen die politisch-moralische Einheit der Parteien unseres Volkes untergraben<br />
werden. Sie wollen das, um ihre individualistischen durch <strong>und</strong> durch egoistischen Interessen gegen die<br />
gesellschaftlichen Interessen, gegen die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens durchzudrücken.<br />
Dazu ist ihnen jedes Mittel recht, <strong>und</strong> kein Ton ist ihnen dafür zu laut <strong>und</strong> schrill. Realitäten zählen für sie<br />
ebensowenig wie Anstand. In einem illegal verbreiteten Schreiben zur Organisierung des<br />
Straßenmusikfestivals am 10.6. dieses Jahres wurde von den Organisatoren die provokatorische Absicht,<br />
der Charakter der Konfrontation unverhüllt zugegeben, indem den angeschriebenen Personen <strong>und</strong><br />
Gruppen gleich mitgeteilt wurde, daß man sich um Genehmigung gar nicht bemühe, man sie auch nicht<br />
wolle <strong>und</strong> brauche. Daß es den Organisatoren nur darum geht, herzukommen, sich zu versammeln <strong>und</strong> die<br />
Absichten der Organisatoren hier k<strong>und</strong> zu tun. Gegen unsere Politik, gegen unsere Gesellschaft, gegen<br />
Recht <strong>und</strong> Gesetz aufzutreten, die DDR zu verleugnen. Das ist überhaupt charakteristisch für den Kern<br />
dieser Leute, um die es hier geht, die sich alle auszeichnen durch eine ganz gezielte Mißachtung der<br />
staatlichen Ordnung, die sie auch nach Gesprächen mit unseren Genossen in den staatlichen Organen<br />
aufrechterhalten <strong>und</strong> der sie auch nicht nachkommen, wenn durch die verantwortlichen <strong>und</strong> zuständigen<br />
Organe den Veranstaltungen eine Absage erteilt wurde. Anmaßend, arrogant <strong>und</strong> provokatorisch sollen<br />
die Absichten <strong>und</strong> Ziele dieser Gruppierungen gegen unsere Gesellschaft, gegen unsere Ordnung, gegen<br />
die Gesetze durchgesetzt werden. Der Vollständigkeit halber, aber nicht nur aus diesem Gr<strong>und</strong>e, um die zu<br />
charakterisieren, sei gesagt, daß von all diesen Leuten hier in den letzten Wochen <strong>und</strong> Monaten kein Wort<br />
des Protestes gehört oder der Verurteilungen, wenn ein Schönhuber in aller Öffentlichkeit <strong>und</strong> unter dem<br />
Schutz der Polizei faschistische Parolen verbreitet, den [sic!] Neonazis in Landes- <strong>und</strong> Stadtparlamente<br />
der BRD <strong>und</strong> West-Berlin einziehen. Kein Wort des Schams [sic!], kein Wort der Verurteilung, kein Wort<br />
persönlicher Betroffenheit, wenn der Thälmann-Mörder Otto unbehelligt <strong>und</strong> von den Gerichten der BRD<br />
freigesprochen in der BRD leben kann. Und diese Leute maßen sich an, uns über Menschenrechte <strong>und</strong><br />
Menschenwürde belehren zu wollen. Ausgerechnet diese Leute wollen dem Sozialismus beibringen, wie<br />
Demokratie <strong>und</strong> Freiheit auszugestalten sind. Das ist infamste Heuchelei, gepaart mit Mißachtung<br />
zivilisierter Umgangsformen sowie elementarster demokratischer Gesinnung <strong>und</strong> Gesittung.<br />
Unsere sozialistische Gesellschaftsordnung soll durch solche Aktivitäten, die permanent auf Konfrontation<br />
zielen, wie eben am 15.1.89 beim sogenannten Schweigemarsch anläßlich des Todestages von Karl <strong>und</strong><br />
Rosa oder bei der Durchführung des sogenannten Pleißemarsches anläßlich des Weltumwelttages oder<br />
nach den sogenannten Friedensgebeten montags in der Nikolaikirche zum politischen Verruf unserer<br />
Ordnung <strong>und</strong> politischen Destabilisierung genutzt werden. Unsere Bereitschaft zum Dialog <strong>und</strong> zur<br />
Verständigung mit allen gesellschaftlichen Kräften unseres Landes, unabhängig von ihrer Weltanschauung<br />
<strong>und</strong> politischen Orientierung, wird bewußt unterlaufen, verunglimpft <strong>und</strong> in Mißkredit gebracht, um ihre<br />
Wirkung zu vermindern. Diese Rechnung wird ohne den Wirt gemacht. Wir werden den bewährten<br />
Gr<strong>und</strong>sätzen unserer Politik, auch der Kirchenpolitik, auch des Dialogs der Kräfte unterschiedlichster<br />
Weltanschauung, von diesem Kurs werden wir keinen Millimeter abweichen, wir werden ihn konsequent<br />
beibehalten. Ebenso wenig werden wir den Gr<strong>und</strong>satz aufgeben, daß wir Ignoranz <strong>und</strong> Unbelehrbarkeit<br />
gerade dort, wo sie sich in Provokationen <strong>und</strong> politischem Abenteuertum manifestieren, die Macht der<br />
sozialistischen Gesellschaft entgegenstellen. Es soll niemand unsere Bereitschaft zum Dialog<br />
mißverstehen, der seine Hand gegen die sozialistische Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Macht erhebt. Daher verdient<br />
der aktive Einsatz der Genossen unserer Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen nicht nur Anerkennung <strong>und</strong><br />
Dank, für das, was sie in den letzten Wochen geleistet haben <strong>und</strong> leisten, sondern er muß durch aktives<br />
politisches, staatsbewußtes Handeln in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, in jeder Situation<br />
durch aktive Teilnahme <strong>und</strong> Unterstützung durch unsere Genossen sowie alle Bürger der Stadt eine<br />
sinnvolle Ergänzung <strong>und</strong> Unterstützung erfahren.<br />
Welcher Mittel bedienen sich diese Leute vor allem. Sie mißbrauchen permanent z.B. uns teure <strong>und</strong><br />
274
inhaltsschwere politische Begriffe, wie Freiheit <strong>und</strong> Demokratie, Menschenrecht <strong>und</strong> Menschenwürde,<br />
Antifaschismus <strong>und</strong> Humanität. Sie treten das Andenken eines revolutionären Führers der deutschen<br />
Arbeiterklasse ebenso in den Dreck, wie sie antifaschistische Traditionen verunglimpfen oder indem sie<br />
gegen Recht <strong>und</strong> Ordnung in unserem Lande provozieren. Bürger in Uniform <strong>und</strong> Zivil, die die<br />
Gesetzlichkeit <strong>und</strong> staatliche Ordnung gewährleisten, beleidigen <strong>und</strong> dann als Krönung ihrer Heucheleien,<br />
ihres Pharisäertums die Internationale anstimmen, gegen deren Ideale sie gerade Amok [sic!] laufen. Ihre<br />
wahren Absichten kann der Mißbrauch sozialistischer Werte nicht verschleiern. Zu offensichtlich sind ihre<br />
antisozialistischen Ziele, mit denen sie sich über gesetzliche Regelungen, über die Normen des<br />
gesellschaftlichen <strong>und</strong> des Zusammenlebens der Bürger hinwegsetzen, indem sie staatliche<br />
Entscheidungen <strong>und</strong> Weisungen grob <strong>und</strong> vorsätzlich mißachten. So auch am 15. Januar 1989 im<br />
Leipziger Stadtzentrum, als mehrere h<strong>und</strong>ert Leute das Andenken an Karl <strong>und</strong> Rosa schändeten, indem sie<br />
konterrevolutionäre Parolen verbreiteten, die sie eigentlich geistig, politisch <strong>und</strong> weltanschaulich in die<br />
Reihen der Mörder von Karl <strong>und</strong> Rosa stellen, <strong>und</strong> die sich dann zu einer nicht genehmigten<br />
Demonstration gegen jene Ordnung zusammenrotteten, für die Karl <strong>und</strong> Rosa gemeuchelt wurden. So<br />
auch zum diesjährigen Todestag der Geschwister Scholl am 23. Februar, als sie eine als Gedenkfeier<br />
ausgegebene Veranstaltung benutzen wollten zu neuerlichen Provokationen 558 . Allerdings wurde deutlich,<br />
daß an diesem 23. Februar, von denen, die dort provozierten, die wenigsten etwas über das Leben bzw.<br />
den antifaschistischen Kampf der beiden vom Humanismus erfüllten Studenten Scholl wußten. In<br />
nachfolgenden Gesprächen mußten nicht wenige zugeben, daß sie gar nicht wußten, daß es in unserer<br />
Stadt, wie überall im Lande, seit langem Kollektive gibt, die den Namen Geschwister Scholl tragen, <strong>und</strong><br />
manchem stand die Verw<strong>und</strong>erung dann auch auf dem Gesicht, daß die Geschwister-Scholl-Ehrung seit<br />
langem ein unverzichtbarer Teil unseres im Lande hochgeachteten <strong>und</strong> verwirklichten antifaschistischen<br />
Vermächtnisses sind. Gerade hier wurde deutlich, daß manche, zumeist Jugendliche, nicht genau wissen,<br />
warum <strong>und</strong> wofür sie mißbraucht werden 559 . Ein Gr<strong>und</strong> mehr für uns alle, im politischen Dialog noch<br />
überzeugender aufzutreten, noch differenzierter zu wirken, <strong>und</strong> ganz konsequent den Gr<strong>und</strong>satz zu<br />
558 s. Anm. 457<br />
559 Dieser Absatz wurde ebenfalls fast wörtlich von H. Fröhlich zitiert. Fröhlich setzte seine Rede am 14.07. an<br />
dieser Stelle mit folgenden Worten fort: „Viele Kirchen, aber in erster Linie die Nikolaikirche, werden dazu als<br />
Ausgangs- <strong>und</strong> Sammelpunkt genutzt, um Verunsicherung der Bürger, um Mißachtung der staatlichen Ordnung,<br />
um permanente Unruhe zu erzeugen, die möglichst in politische Instabilität einmünden soll. Wir haben mehrfach<br />
unsere Dialogbereitschaft unterstrichen, wurden zurückgewiesen <strong>und</strong> auch entgegen jeder Christenpflicht<br />
getäuscht oder unehrlich behandelt. Dabei wird zweifellos verkannt, daß unsere Dialogbereitschaft keine<br />
Schwäche ist <strong>und</strong> auch eine Grenze hat. In dieser Hinsicht stehen in nächster Zeit vordringlich folgende<br />
Aufgaben: - Die entschiedene Zurückweisung gegnerischer Angriffe in Wort <strong>und</strong> Tat, die DDR hat<br />
problematische Situationen gemeistert, sie ist aber niemals ernsthaft erschüttert worden, weil wir so handeln. - Es<br />
geht um eine größere Mobilität <strong>und</strong> Einsatzbereitschaft der Partei <strong>und</strong> aller gesellschaftlichen Kräfte. [...]“<br />
(ebenda) H. Schnabel sagte in seinem Bericht der SED-SL vor der Stadtleitungssitzung am 11.07.1989 in<br />
Leipzig: „Es geht uns um die Erhöhung der persönlichen Ausstrahlungskraft aller Kommunisten, um zu jederzeit<br />
feindlichen Argumenten die Stirn bieten zu können. Daß letzteres so manchen Genossen nicht immer leicht fällt,<br />
bezeugen auch solche Positionen von Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, die vertreten, daß unsere Partei ihren<br />
Standpunkt zur VR China überprüfen sollte, Massenverhaftung <strong>und</strong> Hinrichtungen nicht mit dem Sozialismus<br />
vereinbar wären. Wer bleibt denn [sic!], Genossinnen <strong>und</strong> Genossen, eine antisozialistische Bewegung, die<br />
solche Begriffe wie Menschenrechte, Offenheit <strong>und</strong> Freiheit mißbraucht, deshalb weniger konterrevolutionär als<br />
zum Beispiel 1953 in unserer Republik oder 1957 in Ungarn. Glaubt denn einer ernsthaft daran, daß diejenigen,<br />
die damals ungarische Kommunisten an Straßenlaternen aufknüpften <strong>und</strong> heute in Peking Soldaten verbrannten<br />
<strong>und</strong> erschlugen, das gesellschaftliche Leben von Millionen Menschen lahmlegten, wirklich an einen Dialog<br />
interessiert sein [sic!]. Glaubt einer wirklich, daß die Politik des neuen Denkens den Klassenkampf in unserer<br />
Zeit außer Kraft setzt, die sozialistische Revolution nicht mehr zu schützen braucht. Die Entwicklung in der VR<br />
Ungarn, nationale Ausschreitungen in einigen Sowjetrepubliken, aber auch solche Erscheinungen wie vor der<br />
Nikolaikirche in unserer Stadt belehren uns eines anderen. Bewußt oder unbewußt machen sich solche Gruppen<br />
zu Handlangern der reaktionärsten imperialistischen Kreise, die den Sozialismus so tiefgründig reformieren<br />
wollen, daß von ihm nichts mehr übrig bleibt.“ (Protokoll der Stadtleitungssitzung S. 73 - StAL SED A 5115/N<br />
928).<br />
275
eleben <strong>und</strong> zu vertreten <strong>und</strong> tagaus, tagein zu realisieren, alle zu erreichen, jeden mitzunehmen, sich für<br />
seinen Staat, für seine Gesellschaft, für unseren guten Weg der Menschlichkeit, des Friedens, der<br />
Völkerfre<strong>und</strong>schaft, den Weg des Sozialismus zu entscheiden.<br />
In der ganzen Zeit, da in diesem Jahr die Kommunalwahlen vorbereitet wurden, war zu verzeichnen, daß<br />
die Gegner des Sozialismus, unserer sozialistischen Demokratie, der Freiheit unseres Volkes sich<br />
anmaßten, Richter <strong>und</strong> Anwälte in Sachen Demokratie sein zu können. Jene Demokratie, die sie nicht<br />
wollen, die sie nicht mögen, gegen die sie permanent auftreten. So traten Vertreter sogenannter<br />
Basisgruppen der Kirche unter dem Anspruch einer angeblichen Demokratisierung des sozialistischen<br />
Staates auf. Mit diesem Anspruch wurde unser Wahlgesetz, das die demokratischen Entscheidungsrechte<br />
der Bürger gerade bei diesen Wahlen wesentlich erweiterte, angegriffen, verfälscht <strong>und</strong> verteufelt, wurden<br />
Verfassungsgr<strong>und</strong>sätze in Frage gestellt. So auch am Wahltag selbst, als Bürger bei der Stimmabgabe<br />
Wahlhelfer bei ihrer ehrenamtlichen Arbeit behinderten <strong>und</strong> sogar versucht wurde, massiv <strong>und</strong> offen in<br />
Wahlhandlungen einzugreifen. Freie, gleiche <strong>und</strong> geheime Wahlen, wie es in unserer Verfassung steht.<br />
Das charakterisiert die Leute als Personen ohne Moral. Aber auch als versucht wurde, durch direkte<br />
provokatorische Handlungen die sozialistische Staatsmacht anzugreifen, wurde deutlich, worum es diesen<br />
Leuten geht. Immer <strong>und</strong> überall trat die antisozialistische Haltung <strong>und</strong> die provokatorische Absicht zu<br />
Tage, gepaart mit diktatorischem Verlangen <strong>und</strong> Gebaren. Gerade ein solches Verhalten charakterisiert<br />
jene Kräfte im Hintergr<strong>und</strong>, besonders jene, die das „Straßenmusikfestival“ am 10. 6. im Leipziger<br />
Stadtzentrum in Szene setzten. Denn sie lassen andere sehr gerne ihre Geschäfte erledigen. Sie haben in<br />
ganz eindeutiger provokatorischer Absicht Gruppen aus der ganzen Republik nach Leipzig in Marsch<br />
gesetzt, um entgegen der staatlichen Weisung Maßnahmen antisozialistischer Parolen, verb<strong>und</strong>en mit<br />
diktatorischen Wörtern, zu verbreiten. Auch an diesem Tage suchten sie die Konfrontation mit unserer<br />
Staatsmacht, um den feindlichen Medien den gewünschten <strong>und</strong> benötigten Informationen politischen<br />
Sprengstoff gegen die sozialistische DDR zu liefern. Es ist auch nicht zu übersehen, daß nun schon seit<br />
Monaten kirchliche Einrichtungen zum bevorzugten Treffpunkt jener Leute auserkoren wurden. Eines<br />
dieser Zentren ist die Nikolaikirche im Leipziger Stadtzentrum, wo sich Montag für Montag diese Kräfte<br />
formieren, um unter dem Dach der Kirche ihren Forderungen <strong>und</strong> Vorstellungen zu frönen. In der<br />
Mehrzahl der Fälle hat das mit einem religiösen Bekenntnis recht wenig zu tun. Denn die Auftritte<br />
außerhalb der Kirche machen offensichtlich den Sinn dieser Veranstaltungen aus. Sie zielen auf<br />
antisozialistische Demonstrationen, Provokationen <strong>und</strong> Konfrontation ab.<br />
Gerade in jüngster Zeit äußern nicht wenige Bürger in Briefen ihre Sorge <strong>und</strong> ihren Unwillen darüber. Sie<br />
fühlen sich seit längerer Zeit durch diese Gruppierungen gestört, die im Prinzip nicht religiös geb<strong>und</strong>en<br />
sind <strong>und</strong> die die Kirche nur als Sammelpunkt für die antisozialistischen unhumanen Machenschaften<br />
benutzen. Nicht wenig christlich geb<strong>und</strong>ene Bürger wandten sich auch an ihre kirchlichen Amtsträger mit<br />
der Bitte, Schluß zu machen, daß das friedliche Leben der Bürger durch Kräfte gestört wird, die die<br />
kirchlichen Einrichtungen, den Namen der Kirche mißbrauchen. Aber wir übersehen dabei nicht, daß<br />
zahlreiche sogenannte Basisgruppen aus dem Bereich der Evangelisch-lutherischen Landeskirche sich<br />
rücksichtslos für ihre antisozialistische Tätigkeit Raum <strong>und</strong> Betätigungsfelder schaffen wollen. Die<br />
meisten von ihnen setzen sich auch konfrontativ mit der Politik unseres Staates wie mit den<br />
Kirchenleitungen auseinander. Sie versuchen, daß Verhältnis Staat <strong>und</strong> Kirche zu belasten, eine ges<strong>und</strong>e<br />
Entwicklung dieses Verhältnisses, wie es sich nach den Märzgesprächen entwickelte560 , wie sie Genosse<br />
Honecker <strong>und</strong> Bischof Gienke in Greifswald begründeten <strong>und</strong> bekräftigten 561,<br />
zu zerstören. Zu dem<br />
560 Hier sind vermutlich die Gespräche am 6.3.1978 <strong>und</strong> 3.3.1988 zwischen Vertretern des BEK <strong>und</strong> Honecker<br />
gemeint.<br />
561 Anläßlich der Einweihung des rekonstruierten Greifswalder Domes (11.06.1989) war u.a. E. Honecker von<br />
Bischof Gienke eingeladen worden. Im Anschluß an die Einweihung fand im Greifswalder Rathaus ein Treffen<br />
mit Honecker statt. An diesem Treffen durfte jedoch der offizielle Vertreter des BEK bei der Domeinweihung,<br />
Bischof Forck, nicht teilnehmen, weshalb auch z.B. Landesbischof Leich der Einladung nicht folgte. Bischof<br />
Gienke nahm jedoch an diesem Treffen teil. In der KKL wurde dieser Alleingang Gienkes heftig kritisiert. Im<br />
Unterschied zu den beiden „Märzgesprächen“ war Bischof Gienke nicht von den Kirchen zu solch einem<br />
Gespräch legitimiert. Als er sich dann in einem Brief an Honecker gegen kritische Artikel in den<br />
Kirchenzeitungen wandte (im „Neuen Deutschland“ am 19.07.1989 veröffentlicht), verlor er auch in seiner<br />
276
soliden, vertrauensvollen <strong>und</strong> aufrichtigen Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche gehören die Anerkennung der<br />
Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche, die Respektierung der Verfassung sowie der sinnvolle Dialog<br />
gleichberechtigter Partner. Die Aktivitäten einiger Gruppen haben mittlerweile dazu geführt, daß den<br />
Vertretern der offiziellen Kirche der Umgang mit diesen Kräften zunehmend aus der Hand gleitet. Unsere<br />
Position ist klar, <strong>und</strong> hier befinden wir uns in Übereinstimmung mit den Kirchenleitungen. Gr<strong>und</strong>lage des<br />
vertrauensvollen Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche sind nach wie vor die am 6.3.1978 getroffenen<br />
Vereinbarungen zwischen dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Genossen Erich Honecker, <strong>und</strong> den im<br />
B<strong>und</strong> Evangelischer Kirchen vereinten Landeskirchen. Neuerliche Bekräftigung erfuhr diese Position vor<br />
aller Welt bei der Wiedereröffnung des Greifswalder Domes in Anwesenheit <strong>und</strong> durch das Wort des<br />
Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Honecker.<br />
Genossen! Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche, das bedeutet für uns: Die Kirchen besitzen Eigenständigkeit.<br />
Sie regeln ihre inneren Angelegenheiten. Innere Angelegenheiten sind Glaubensfragen, Verkündigung,<br />
Personalangelegenheiten <strong>und</strong> Finanzen. Damit uns keiner mit Inneren [sic!] Angelegenheiten kommt <strong>und</strong><br />
da glaubt auch, Innere Angelegenheiten sei [sic!] die Konterrevolution organisieren zu können. Dazu<br />
gehört, die Tätigkeit der Kirchen in Übereinstimmung mit der Verfassung <strong>und</strong> der sozialistischen<br />
Gesetzlichkeit selbst zu regeln. Der Staat mischt sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Kirche ein,<br />
die Kirche nicht in die des Staates. [/] Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche bedeutet, die Kirchen sind als<br />
Institution zur Bewahrung <strong>und</strong> Pflege des Glaubens nicht in das System der politischen Organisationen<br />
des Sozialismus integriert <strong>und</strong> haben keinen Anteil an der Machtausübung. [... 3 Seiten zum Staat-Kirche-<br />
Verhältnis] Staatliche Ordnung, Ruhe, Sicherheit <strong>und</strong> Geborgenheit werden allzeit durch den<br />
sozialistischen Staat <strong>und</strong> durch die aktive Unterstützung der Werktätigen garantiert. Und wenn manch<br />
einer glaubt, es sei nicht richtig, wenn unsere Sicherheitsorgane entschlossen <strong>und</strong> entschieden gegen<br />
solche Elemente vorgehen, der sei daran erinnert, daß z.B. in den USA solche Leute, die die dort<br />
bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellten, unter der Anklage, für eine ausländische Macht tätig zu<br />
sein, vor Gericht gestellt werden <strong>und</strong> für mindestens 10 Jahre in Haft genommen werden. Nur, Genossen,<br />
unser Prinzip ist nicht zuerst der Ruf nach der Macht oder nach dem Staatsanwalt, sondern die politische<br />
Klärung, ideologische Einheit <strong>und</strong> Geschlossenheit, die politische Regelung, der Dialog. Aber wer dann<br />
nicht hören will, der sollte sich auch des Nachsatzes von Friedrich II. erinnern, der muß fühlen. [...1 Seite<br />
zum Kirchentag] (Beifall)<br />
177 Protokollnotiz aus dem ZK<br />
Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen Löffler <strong>und</strong><br />
Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED (Baron <strong>und</strong> Kraußer) am 16.06.1989. Das<br />
Protokoll wurde vom Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />
1. Auf das von Bischof Hempel angekündigte Schreiben zum Kirchentag in Leipzig sollte umgehend<br />
durch Genossen Löffler reagiert werden. Vor allem ist zu verhindern, daß es in die Öffentlichkeit gelangt.<br />
Hempel <strong>und</strong> anderen Vertretern der sächsischen Kirchenleitung ist deutlichzumachen, was uns mit Sorge<br />
erfüllt:<br />
− daß bei Provokationen der letzten Zeit, auch im Anschluß an das Friedensgebet in der Nikolaikirche,<br />
immer wieder kirchliche Mitarbeiter maßgeblich beteiligt sind (z.B. beim letzten Montagsgebet 5 -<br />
Sprachenkonvikt Berlin, 3 - Theologisches Seminar Leipzig, 3 - Katechetenschule Wernigerode)<br />
− daß wir uns, ausgehend von Greifswald, auf die langfristige Entwicklung <strong>und</strong> nicht auf<br />
Verdächtigungen, Unterstellungen <strong>und</strong> Mißtrauen, wie das in der KKL-Sitzung geschehen ist,<br />
orientieren<br />
− in dieser Zeit, in diesem Klima vor den gesellschaftlichen Höhepunkten 562 hat Leipziger Kirchentag<br />
besondere Bedeutung<br />
Heimatkirche das Vertrauen (28.07.). Nach einem Mißtrauensvotum der Greifswalder Synode trat er Anfang<br />
November 1989 zurück.<br />
562 Gemeint war vor allem der sogenannte „40. Jahrestag der Republik“ am 7. Oktober 1989.<br />
277
Verantwortlich: Genosse Löffler<br />
178 Stasi-Information<br />
Chiffriertes Telegramm Nr. 540 des Leiters der BV Leipzig des MfS „zum Verlauf des Montagsgebetes in der<br />
Nikolaikirche am 19.06.1989“ vom gleichen Tag (Dringlichkeit: AN). Auf dem Telegrammvordruck sind als<br />
Empfänger angegeben: Stellvertreter des Ministers, Generaloberst Neiber, die Leiter der Hauptabteilungen IX<br />
<strong>und</strong> XX, ZAIG, ZKG <strong>und</strong> ZOS (ABL H 8).<br />
Das Gebet fand unter Beteiligung von 650 Personen in der Zeit von 17.00 bis 17.50 Uhr statt. Nach der<br />
Eröffnung durch Pfarrer Führer, welcher darauf verwies, daß dieses bis zur Sommerpause nochmals am<br />
26.6. <strong>und</strong> 3.7. <strong>und</strong> danach wieder ab 18.8.1989 stattfindet, wurde das Montagsgebet durch das „Christliche<br />
Umweltseminar“ Rötha unter Leitung von Pfarrer Steinbach in Zusammenarbeit mit der<br />
Nikolaikirchgemeinde gestaltet. Es befaßte sich im wesentlichen mit Umweltfragen <strong>und</strong> verlief ohne<br />
operativ-bedeutsame Probleme. Unter den Teilnehmern befand sich - operativen Hinweisen zufolge -<br />
Landesbischof Hempel, der offiziell nicht vorgestellt wurde <strong>und</strong> von den Teilnehmern weitgehend<br />
unerkannt blieb. Während des Gebetes wurden durch Personen von Basisgruppen kleine Papierstreifen<br />
verteilt mit dem Text „Wir rufen alle Betroffenen auf, in ihrem eigenen Interesse ruhig <strong>und</strong> nicht in<br />
Gruppen nach Hause zu gehen <strong>und</strong> so der gewollten Provokation entgegenzutreten“. Bis gegen 18.25 Uhr<br />
verlief sich die Mehrzahl der Teilnehmer. Unmittelbar vor der Kirche verblieben noch ca. 60 Personen<br />
sowie am Rand des Nikolaikirchhofes 30 bis 50 Personen 563.<br />
Die vor der Kirche Stehenden formierten <strong>und</strong> bewegten sich in Richtung Schuhmachergäßchen/Markt564 .<br />
Daraufhin wurden die vorbereiteten Maßnahmen565 entfaltet <strong>und</strong> die Bewegung nach ca. 80 m im<br />
Schuhmachergäßchen durch die DVP zum Halten gebracht. Mehrfacher Aufforderung zur Auflösung<br />
leistete ein Teil nicht Folge; vereinzelte Personen setzten sich auf die Straße566 bzw. zündeten Kerzen an.<br />
Gegen 19.20 Uhr wurde die Ansammlung durch Zuführungen aufgelöst. Nach ersten Einschätzungen<br />
verlief die Provokation in der gleichen Art <strong>und</strong> Weise wie zum Montagsgebet am 12.6.1989. Von den<br />
insgesamt 33 zugeführten Personen sind 22 in der Stadt bzw. dem Bezirk Leipzig sowie 7 im Bezirk<br />
Halle, 3 im Bezirk Dresden <strong>und</strong> 1 Person in der Hauptstadt Berlin wohnhaft; unter ihnen befinden sich 25<br />
Antragsteller auf ständige Ausreise. Im Ergebnis der Untersuchung erfolgt zur Vorbereitung<br />
differenzierter Entscheidungen eine Abstimmung mit der HA IX 567.<br />
Im Rahmen des volkspolizeilichen Streifendienstes wurde gegen 16.40 Uhr an der Ecke<br />
Windmühlen/Grünewaldstraße das Fahrzeug des „Stern“-Korrespondenten [...] festgestellt. Nach<br />
Auskunft der HA II liegt keine Abmeldung nach Leipzig vor. Bei der Rückkehr des [...] zu seinem<br />
563 Diese Mitteilung unterschlug die ZAIG des MfS in ihrer Wochenübersicht (Anlage) (BStU ZAIG 4595, 83f.)<br />
564 Im Bericht des Leiters der Untersuchungsabteilung IX der BV des MfS Leipzig (Oberst Etzold) über die<br />
Verhaftungen am 19. Juni 1989 heißt es: „Gegen 18.15 Uhr bewegte sich eine Gruppe von etwa 50 Personen vom<br />
Kirchenvorplatz aus [...]“ (ABL H 8)<br />
565 Die Maßnahmen wurden zwischen den für „Sicherheit“ Zuständigen im Bezirk <strong>und</strong> der Stadt Leipzig am 16.06.<br />
abgestimmt. Dabei wurde auch der Einwand bedacht, daß „poliz.[eiliche] Präsenz [...] Vorschub für<br />
Demonstration“ liefert (so Bericht von H. Schnabel auf KEL-Sitzung am 19.06. nach Aufzeichnung von<br />
Sabatowska - SAL RdS, ZR, Nr. 8951, 26a+27a). Die Polizeiketten wurden deshalb erst etwas später<br />
„aufgezogen“.<br />
566 Oberst Etzold berichtete: „Dort wurde die Gruppe durch eine im Rahmen von polizeilichen<br />
Sicherungsmaßnahmen handelnde Absperrkette von Volkspolizisten aufgehalten <strong>und</strong> erstmals um 18.26 Uhr über<br />
Lautsprecher zur Auflösung der Ansammlung <strong>und</strong> zum Verlassen des Ortes aufgefordert. Die Personengruppe<br />
leistete dieser Aufforderung nicht Folge <strong>und</strong> setzte der vorrückenden Sperrkette durch Stehenbleiben <strong>und</strong><br />
Hinsetzen Widerstand entgegen, woraus die Absicht erkennbar war, eine Konfrontation mit den<br />
Sicherungskräften zu provozieren.“ (s. Anm. 564)<br />
567 s. Anhang, S. 370; J. Tobisch, O. Böhme <strong>und</strong> A. Müller trugen am 21.06.1989 in das Gästebuch der<br />
Nikolaikirche: „Wir sind wieder frei. Leider hat dieser Staat, den ich jetzt erst richtig kennengelernt habe, eine<br />
sehr zweifelhafte Demokratie.“<br />
278
Fahrzeug gegen 19.25 Uhr erfolgte eine Kontrolle durch die DVP. Er gab an, sich privat in Leipzig nach<br />
Abmeldung beim MfAA aufzuhalten.<br />
179 SED-Information<br />
Information von Böhm, Abteilung Agitation/Propaganda des Sekretariats der SED-Bezirksleitung, an J.<br />
Pommert, Sekretär der SED-Bezirksleitung, über ein Pressegespräch am 23.06. in Vorbereitung des Leipziger<br />
Kirchentages vom 26.06.1989 (StAL SED A 6399) 568 .<br />
− Teilnehmer am Gespräch: [/] Günter Mieth, Superintendent Zwickau; Johannes Cieslak, Vorsitzender<br />
des Landesausschusses; Johannes Richter, Superintendent Kirchenbezirk Leipzig-West;<br />
− Herr Cieslak äußerte sich zunächst ausführlich zu Anliegen <strong>und</strong> Inhalten des Kirchentages 1989 [...]<br />
Im Anschluß daran stellten die Journalisten Fragen:<br />
LVZ: Wie wird Unterstützung durch staatliche Organe der Stadt / des Bezirkes eingeschätzt? Unter Bezug<br />
auf Leserzuschriften: Wie wird die Einhaltung von Gesetzlichkeit, Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit garantiert -<br />
auch im Umfeld der Nikolaikirche?<br />
Herr Cieslak: Kirche kennt viele Gruppen, z.B. Friedensgruppen, Umweltgruppen, sie stellen sich in Halle<br />
5 des Messegeländes vor („Treffpunkt Glaube heute“), inhaltliche Vorgaben dabei: Ausgangspunkt ist<br />
die Bibel. Aber es gebe auch andere Gruppen, die sich im Auftreten nicht wie Christen verhalten<br />
würden.<br />
Herr Hempel 569 : Inhaltlich decken wir uns weitgehend mit den Aussagen jener Gruppen (Themen<br />
Friedensdienst, Bausoldaten, Gerechtigkeit). Aber wie diese Gruppen das tun, findet nicht unsere<br />
Zustimmung. Christen sprechen Probleme so an, daß sie sich vorher Gedanken machen, ob sie mit<br />
dem, was sie sagen, auch ankommen (Bezug auf Gorbatschow - Kennt Herr Gorbatschow die<br />
Bergpredigt?)<br />
Im Umfeld der Nikolaikirche halten sich Leute auf, die sich sagen, da mußt du hin, um registriert zu<br />
werden. Das sind einzelne, die als Trittbrettfahrer kirchliche Veranstaltungen nutzen, um sich selbst<br />
darzustellen, um sich registrieren zu lassen, um so eher wegzukommen.<br />
Zwischenfrage LVZ zur staatlichen Unterstützung. [... im Folgenden geht es ausschließlich um den<br />
Kirchentag]<br />
180 Stasi-Information<br />
„Information zum Verlauf des Montagsgebetes“ am 26.06.1989 aus der BV Leipzig des MfS. Das Typoskript<br />
trägt keine Unterschrift, jedoch Bearbeitungsspuren. Am rechten oberen Rand wurde mit der Hand „IX“<br />
vermerkt (ABL H 8).<br />
Das durch den ‘Friedensarbeitskreis’ Gohlis unter Leitung von Pfarrer Weidel gestaltete <strong>und</strong> bei<br />
Teilnahme von ca. 650 Personen von 17.00 - 17.35 Uhr durchgeführte Montagsgebet befaßte sich im<br />
568 Diese Fragest<strong>und</strong>e der „Medienvertreter“ wurde am 22.06. von H. Reitmann (Rat des Bezirkes) <strong>und</strong> H. Urbaneck<br />
(SED-BL) vorbereitet (Information an J. Pommert vom 22.06. - StAL SED A 6399). Dort hieß es u.a.: „c)<br />
Leser/Hörer äußern sich außerordentlich besorgt über Aktionen im Umfeld der Nikolaikirche (siehe Brief J.<br />
Urban an LVZ [am folgenden Tag dort veröffentlicht, s. Anm. 577]) Mit welchen Maßnahmen sichern<br />
Veranstalter, daß in Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentages das elementare Recht der Bürger der Stadt<br />
auf Ruhe, Ordnung <strong>und</strong> Einhaltung der Gesetzlichkeit garantiert ist? Mit welchem Teilnehmerkreis (ausländische<br />
Teilnehmer/Gäste) ist zum Kirchentag zu rechnen? Wie wird durchgängig abgesichert, daß der regionale Bezug<br />
in inhaltlicher Aussage, Charakter der Veranstaltung (siehe Landeskirche Sachsens) im gesamten Verlauf des<br />
Kirchentages erkennbar deutlich wird? d) Empfohlen wird, den an der Pressekonferenz teilnehmenden Vertretern<br />
von LVZ, ND, ADN Sender [Leipzig] nach der Konferenz eine zusätzliche Möglichkeit zur Konsultation mit<br />
Gen. Pommert einzuräumen.“<br />
569 In der Auflistung der Teilnehmer wurde Bischof Hempel nicht aufgeführt.<br />
279
wesentlichen mit dem Anliegen des Verbandes der Freidenker570 der DDR, insbesondere im Verhältnis<br />
zur Kirche, <strong>und</strong> verlief ohne operativ bedeutsame Probleme.<br />
Bei den von Pfarrer Führer gegebenen Informationen ist operativ zu beachten, daß<br />
− es einen Protestbrief an die Botschaft der Volksrepublik China gegen die Vollstreckung der<br />
Todesurteile gebe,<br />
− mögliche Aufforderungen an Bürger zur Nichtteilnahme an den Montagsgebeten durch Mitarbeiter<br />
staatlicher Organe zwecks Weiterleitung an die Landeskirche Sachsen gemeldet werden sollen;<br />
− er seinen Protest gegen einen Artikel in der LVZ vom 24./25.06.89571 zum Ausdruck bringt - dieser<br />
diene nicht dem Frieden in der Stadt (Artikel gibt politische Antwort auf provozierendes Verhalten in<br />
Leipzigs Innenstadt).<br />
Die Mehrzahl der Teilnehmer verließ bis gegen 18.30 Uhr den kirchennahen Raum.<br />
Ca. 30-40 Personen verblieben572 , formierten <strong>und</strong> bewegten sich wie nach den Montagsgebeten am 12.<br />
<strong>und</strong> 19.06.89 in Richtung Schumachergäßchen/Markt.<br />
Entsprechend der vorbereiteten Maßnahmen wurden sie nach ca. 50 m zum Halten gebracht <strong>und</strong> mehrfach<br />
zur Auflösung aufgefordert. Dieser Aufforderung wurde zögernd Folge geleistet.<br />
Durch Nichtbefolgung bzw. 573 provozierendes Verhalten erfolgte die Zuführung von [handschriftlich<br />
eingefügt: „insgesamt“] 5 Personen aus dem Stadt-/Landkreis Leipzig, darunter ein Antragsteller auf<br />
ständige Ausreise [handschriftlich eingefügt: „<strong>und</strong> 1 Antragsteller auf ...“ letztes Wort auf Kopie<br />
unleserlich]. Im Ergebnis der Untersuchung werden differenzierte Entscheidungen in Abstimmung mit der<br />
HA IX getroffen 574.<br />
181 Protokollnotiz aus dem ZK<br />
Auszug aus dem Vermerk zur Sitzung bei Jarowinsky mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Löffler, <strong>und</strong><br />
Mitgliedern der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED, Baron <strong>und</strong> Kraußer, am 27.06.1989, in der<br />
über eine Veröffentlichung in der Leipziger Volkszeitung gesprochen wurde. Der Vermerk wurde von<br />
570 Der „Verband der Freidenker“ wurde aufgr<strong>und</strong> eines Politbürobeschlusses (06.12.1988) eingesetzt. Die Wahl der<br />
Vorsitzenden geschah in den jeweiligen SED-Leitungen. Er wurde von einigen Kirchenvertretern als eine<br />
Bedrohung empf<strong>und</strong>en, da hier an antikirchliche Traditionen angeknüpft werden sollte (s.a.<br />
E.Neubert/J.Garstecki, Staat <strong>und</strong> Freidenker getrennt? (KiS 2/89, S. 49-51), Götz Planer-Friedrich, Worum geht<br />
es den Freidenkern?, (KiS 2/89, S. 45-48)).<br />
571 Gemeint ist der Artikel „Was trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum“ in der „Leipziger Volkszeitung“ am<br />
24./25.06.1989 (abgedruckt u.a. in: Rummel, S. 1990, 153-155; Sievers 28f.). In der Posteingangsanalyse der<br />
„Leipziger Volkszeitung“ zum Juni 1989 (StAL SED A 6662) heißt es zu Reaktion auf diesen Artikel: „R<strong>und</strong> 80<br />
Leserbriefe gingen in der Redaktion zum Beitrag über Frau A.K. (Vorgänge an der Nikolaikirche) ein. 10 Leser<br />
äußerten sich positiv dazu <strong>und</strong> die restlichen negativ. Letzere ähneln sich von der Argumentation bis zur<br />
Wortwahl ziemlich <strong>und</strong> lassen darauf schließen, daß es sich um eine gesteuerte Aktion handelt.“ vgl. a. Anm. 577<br />
572 Der Leiter der Untersuchungsabteilung der BV des MfS, Oberst Etzold, behauptete: „Gegen 19.30 Uhr bewegten<br />
sich 20-30 Personen vom Kirchenvorplatz aus in das Schumachergäßchen in Richtung Markt.“ (Bericht des<br />
Leiters der Abteilung IX/AI/ba-rie der BV des MfS Leipzig - ABL H 8). Der 2. Sekretär der SED-BL meldete an<br />
das ZK: „Ca. 40 Personen formierten <strong>und</strong> bewegten sich in Richtung Schumachergäßchen/Markt.“ (Chiffriertes<br />
Fernschreiben Nr. 307 - StAL SED A 4972) So auch die ZAIG des MfS (BStU ZAIG 4595, 105).<br />
573 ursprünglich: „<strong>und</strong>“<br />
574 Nach dieser „Zusammenrottung“ wurde Sven Kulow für mehrere Monate verhaftet. Die AGM teilte kurze Zeit<br />
später mit: „Während drei Festgenommene am darauffolgenden Tag mit Ordnungsstrafen zwischen 300,- <strong>und</strong><br />
500,- Mark entlassen wurden, befindet sich Sven Kulow in Untersuchungshaft. Gegen ihn läuft ein<br />
Ermittlungsverfahren nach den §§ 217 Abs. 2 (Zusammenrottung), 212 Abs. 1 (Widerstand gegen staatliche<br />
Organe), 137 (Beleidigung), 139 Abs. 3 (Beleidigung <strong>und</strong> Verleumdung staatlicher Organe in der Öffentlichkeit).<br />
Alle von uns befragten Zeugen sagen hingegen aus, daß Sven Kulow nur von Bereitschaftspolizei mit dem Kopf<br />
nach unten unter Tritten <strong>und</strong> Schlägen geschleift <strong>und</strong> anschließend auf einen Polizei-LKW geworfen wurde.“<br />
(Erklärung abgedruckt u.a. bei Heiduczek (1990), 85) S. a. „Offener Brief an die Bevölkerung der DDR aus<br />
Anlaß des Kirchentages“ (AGM <strong>und</strong> AKG vom 06.07.1989 - Rein (1990), 182-185)<br />
280
Kraußer unterzeichnet (SAPMO-BArch IV B 2/14/9).<br />
2. Die Veröffentlichung in der „Leipziger Volkszeitung“ 575 ist taktisch unklug <strong>und</strong> eine ausgesprochene<br />
Dummheit.<br />
Mit BL [Bezirksleitung] der SED sollte geklärt werden, daß eine entsprechende Darstellung erfolgt.<br />
Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />
3. Zum Kirchentag sollte Genosse Hackenberg eine weitere Information an Genossen Honecker senden.<br />
Weiterführende Maßnahmen der Einflußnahme <strong>und</strong> Absicherung<br />
Inhalt: Absicht, Zielstellung, Inhalt Hauptveranstaltungen, Empfang Oberbürgermeister, Arbeit des<br />
Stabes<br />
Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />
4. Mit Genossen Rettner ist zu besprechen, ob es Möglichkeiten gibt, eine Teilnahme Epplers am<br />
Kirchentag zu verhindern.<br />
Verantwortlich: Genosse Kraußer<br />
182 Stasi-Information<br />
Auszug aus der Quartalseinschätzung II/89 des Leiters der Abteilung XX/4 (gr-la) der BV für Staatssicherheit<br />
Leipzig vom 30.06.1989 zu Aktivitäten von R. Müller (OV „Märtyrer“). Der Text wurde vermutlich per<br />
Computer erstellt. Unterzeichnet ist die Einschätzung von Große <strong>und</strong> Tinneberg. Am oberen rechten Rand des<br />
ersten Blattes wurde „EDV“ vermerkt. Diese Quartalseinschätzung ist Teil der „Ausgewählten<br />
Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV Leipzig“, die von IFM e.V./Forschungszentrum zu den<br />
Verbrechen des Stalinismus herausgegeben wurden.<br />
2. Im Berichtszeitraum setzte der Verdächtige seine Aktivitäten im Sinne einer politischen<br />
Untergr<strong>und</strong>tätigkeit fort <strong>und</strong> gehörte zu den Inspiratoren <strong>und</strong> Hauptorganisatoren operativ-relevanter,<br />
feindlich-negativer Aktivitäten im Raum Leipzig. [/] Unter dem Einfluß des Rudolph, Thomas (OV<br />
„Juris“ BV Leipzig, Abt. XX/9) stehend, realisierte er Vorbereitungshandlungen <strong>und</strong> war unmittelbar bei<br />
der Organisierung von Aktionen der Leipziger PUT 576 -Exponenten beteiligt. Die Zielstellungen seiner<br />
demonstrativen Handlungen bestehen in der<br />
− Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte <strong>und</strong> Erhöhung der Massen- <strong>und</strong><br />
Öffentlichkeitswirksamkeit bei durchgeführten Aktionen;<br />
− Schaffung einer breiten Basis für die „innere Opposition“ in der DDR zur Störung deren Innen- <strong>und</strong><br />
Außenpolitik.<br />
Schwerpunkte bildeten dabei beim Vorgehen <strong>und</strong> Wirksamwerden des Verdächtigen im Berichtszeitraum<br />
die Themen<br />
− angebliche Menschenrechtsverletzungen in der DDR sowie anderen sozialistischen Staaten;<br />
− die sozialistische Demokratie, insbesondere die Volkswahlen am 07.05.89;<br />
− der Umweltschutz (Pleißemarsch, Anti-KKW-Aktion Börln).<br />
Folgende wesentliche Handlungen des Verdächtigen im Berichtszeitraum belegen diese Einschätzung:<br />
− M. ist nach wie vor fest im AK „Gerechtigkeit“ integriert. Am 10.4.89 gestaltete der AK das<br />
montägliche „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche, wo der Verdächtige im Anschluß an diese<br />
Veranstaltung eine Unterschriftensammlung gegen Menschenrechtsverletzungen im Iran durchführte<br />
<strong>und</strong> zum Wirtschaftsboykott <strong>und</strong> Abbruch der diplomatischen Beziehungen aufforderte. Am 11.4.89<br />
wurde in einer internen Beratung des AK beschlossen, daß M. <strong>und</strong> Rudolph eine monatliche finanzielle<br />
Unterstützung von 125,- Mark aus der AK-Kasse erhalten.<br />
− Am 29.5.89 nahm M. am „Friedensgebet“ in der Nikolaikirche teil <strong>und</strong> wurde im Anschluß daran<br />
durch Kräfte der VP zugeführt. Gegen M. wurde in diesem Zusammenhang ein OSV<br />
[Ordnungsstrafverfahren] eingeleitet <strong>und</strong> 300,- M Ordnungsgeld verfügt. [...]<br />
575 s. Anm. 571<br />
576 s. Abkürzungsverzeichnis im Anhang<br />
281
183 SED-Information<br />
Aktennotiz vom Chefredakteur der „Leipziger Volkszeitung“, R. Röhrer, vom 30.06.1989 über ein Gespräch<br />
mit Superintendenten Magirius am 30.06.1989 (StAL SED A 6399).<br />
Das Gespräch fand am 30.6. in der LVZ-Chefredaktion statt <strong>und</strong> dauerte 1 1/2 St<strong>und</strong>en. Es war auf Bitte<br />
von Herrn Magirius zustandegekommen, der diesen Wunsch nach Veröffentlichung des Artikels „Was<br />
trieb Frau A. K. ins Stadtzentrum“ 577 (LVZ vom 24.6) dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />
Bezirkes für Inneres, Dr. Hartmut Reitmann, mit der Bitte um Vermittlung eines solchen Gespräches<br />
vorgetragen hatte. Genosse Dr. Reitmann nahm an dem Gespräch aktiv teil. [/] Das Gespräch verlief<br />
insgesamt in einer offenen, aufgeschlossenen Atmosphäre. Obgleich meinerseits keinerlei<br />
Einschränkungen oder Korrekturen am genannten Artikel <strong>und</strong> seinen Aussagen gemacht wurden, war der<br />
Superintendent offensichtlich am sachlichen, wenngleich konträren Gespräch interessiert, nicht aber an<br />
einer Verhärtung der Positionen.<br />
Er hatte einleitend sein „Unverständnis“ für den in der LVZ veröffentlichten Artikel mit 3 Überlegungen<br />
begründet:<br />
1. Die Zahl der Antragsteller, die aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen werden wollen, habe<br />
dramatisch zugenommen. („Wenngleich Sie ja solche Zahlen nicht bekanntgeben.“) Niemand aber<br />
spricht mit ihnen über dieses Problem <strong>und</strong> die Gründe, die sie zum Ausreiseantrag veranlaßten. So<br />
haben sie „bei der Kirche Hoffnung gesucht“.<br />
Der Artikel in der LVZ berührt diesen Sachverhalt mit keinem Wort, sondern stellt die Teilnehmer am<br />
„Friedensgebet“, die sich anschließend noch „in Gruppen außerhalb der Kirche unterhalten wollen“, als<br />
Menschen hin, die die Konfrontation mit der Gesellschaft suchen.<br />
2. Er, Magirius, „bedaure auch jeden einzelnen Fall, der einen Menschen dazu veranlaßt, seinen Platz<br />
außerhalb unseres Landes zu suchen“. Aber zu viele Gründe gäbe es („von der Umweltbelastung bis<br />
zur Versorgung“) hierzulande, die die individuelle Entscheidung reifen lassen, die DDR verlassen zu<br />
wollen. Um das zu verändern, „muß man folglich die Ursachen beseitigen, die solche Entscheidungen<br />
herbeiführen“. Darauf sei der Artikel in der LVZ leider überhaupt nicht eingegangen.<br />
577 In dem Artikel hieß es u.a.: „Es wären eine ganze Menge ehrenwerter Gründe denkbar, warum Frau A. K. aus<br />
Wurzen am vergangenen Montagabend in der Leipziger Innenstadt anzutreffen war. Sie ist jung <strong>und</strong> hat<br />
dementsprechende Einkaufswünsche oder will sich einen neuen Film ansehen oder in der Eisbar den Feierabend<br />
genießen. Zeit hat sie, denn sie nutzt nach der Geburt ihres zweiten Kindes das hierzulande mögliche 'Babyjahr'.<br />
Aber nicht solche ehrenwerten Gründe bestimmten den Weg der Frau, sondern ein höchst verurteilenswerter. Sie<br />
fuhr in eindeutig provokatorischer Absicht nach Leipzig, um gemeinsam mit Vertretern bestimmter<br />
Gruppierungen - darunter solche aus Halle, Dessau <strong>und</strong> Dresden - im Zentrum der Bezirksstadt die öffentliche<br />
Ordnung zu stören, die Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit der Bürger anmaßend zu beeinträchtigen <strong>und</strong> auf Konfrontation mit<br />
unserem Staat DDR <strong>und</strong> mit unserer Gesellschaft zu gehen. Das hatten Gruppen solcher Personen in den<br />
vergangenen Monaten schon einige Male versucht <strong>und</strong> hatten dazu im Januar schamlos auch das Gedenken an<br />
Karl Liebknecht/Rosa Luxemburg oder im März die Frühjahrsmesse mißbrauchen wollen. Jetzt also war zu<br />
diesem Zweck auch Frau A. K. angereist. Alle Vorzüge genießen, aber unsere Gesellschaft negieren. [...] Diese<br />
Leute werden zu willkommenen Handlangern jener Kräfte in der BRD, die unsere sozialistische DDR von innen<br />
heraus so langanhaltend <strong>und</strong> tiefgreifend „reformieren“ wollen, bis die Agonie eintritt <strong>und</strong> vom Sozialismus<br />
nichts mehr übriggeblieben ist. Genau das ist ihr Ziel, seitdem es die DDR gibt <strong>und</strong> seitdem dieses Land ein<br />
neues Kapitel deutscher Geschichte schreibt. [...] Leipziger Bürger fordern Ordnung, Ruhe <strong>und</strong> Sicherheit [/]<br />
Aber der A. K. <strong>und</strong> ihresgleichen geht es ja nicht um solcherart staatsbewußtes Verhalten. Sie suchen nicht die<br />
Kooperation mit den gesellschaftlichen Kräften, sondern die Konfrontation mit einer Gesellschaft, in der sie ohne<br />
Zukunftsangst aufwachsen konnten <strong>und</strong> in der sie in Friedensgewißheit <strong>und</strong> in sozialer Sicherheit leben können.<br />
Darauf legen sie es an. Begriffe, die sie auf der Zunge tragen - mehr Meinungspluralismus, mehr Offenheit, mehr<br />
Erneuerung, mehr Reisen - können darüber nicht hinwegtäuschen <strong>und</strong> machen aus Provokateuren keine<br />
Unschuldsengel. Von Unverständnis bis zur hellen Empörung über die Unruhestifter sind folgerichtig Briefe<br />
bestimmt, die Leipziger Bürger an staatliche Organe geschrieben haben <strong>und</strong> mit denen sie fordern, solche<br />
Umtriebe nicht zuzulassen. Einige Auszüge aus diesen Briefen: Frau Ferber schreibt: „Wir älteren Bürger sind<br />
beunruhigt über die Ansammlungen vor der Nikolaikirche. Man fühlt sich belästigt <strong>und</strong> muß die Abendst<strong>und</strong>en<br />
meiden, durch die Innenstadt zu bummeln“. (vgl. a. Anm. 571)<br />
282
3. Er müsse den Artikel als Absicht werten, der Kirche eine Schuld für Vorfälle zuzuweisen, die<br />
„außerhalb der Kirche sich abspielen <strong>und</strong> zudem durch die eingesetzten Sicherheitskräfte<br />
öffentlichkeitswirksam werden“. Zu diesem Eindruck komme er insbesondere durch jene Passagen des<br />
Artikels, in denen Bürger mit ihren Forderungen nach Ruhe <strong>und</strong> Ordnung zitiert werden, die diese<br />
Forderung ausdrücklich an ihn als Superintendent der Nikolaikirche richten.<br />
Zu allen drei Gründen, die Herr Magirius für sein Nichteinverstandensein mit dem Artikel anführte, bezog<br />
ich offensiv, mit Argumenten <strong>und</strong> Fakten, Position. Genosse Dr. Reitmann griff in gleicher Weise in das<br />
Gespräch ein.<br />
Die Behauptung des Superintendenten, die LVZ habe die öffentliche Meinung gegen die Kirche<br />
beeinflussen wollen, wies ich mit der Feststellung entschieden zurück, daß wir uns als Parteizeitung der<br />
SED strikt den Gr<strong>und</strong>sätzen verpflichtet fühlen, die am 6. März 1978 im Gespräch Erich Honeckers mit<br />
Repräsentanten der Kirchenleitungen in der DDR zum Verhältnis Staat/Kirche bekräftigt wurden. Die<br />
jüngsten Gespräche des Generalsekretärs anläßlich der Domweihe zu Greifswald haben die<br />
Gegenwärtigkeit dieser Gr<strong>und</strong>sätze unterstrichen 578 . [/] Der Artikel in der LVZ, so habe ich<br />
hervorgehoben, war „nicht an die Kirche adressiert, sondern war eine Antwort auf Fragen vieler Genossen<br />
meiner Partei, was es mit den Vorfällen der letzten Zeit im Leipziger Stadtzentrum auf sich habe“. [/] Herr<br />
Magirius äußerte nach unseren Antworten <strong>und</strong> Gegenargumenten keinerlei Absichten oder Erwartungen,<br />
die auf irgendeine Form der öffentlichen Zurücknahme des Artikels hinauslaufen würden. Er bek<strong>und</strong>ete<br />
stattdessen Zufriedenheit mit der Atmosphäre des Gesprächs, zu dessen Abschluß er mich noch um ein<br />
paar Informationen über die „Leipziger Volkszeitung“ bat (Geschichte, Auflage, Verbreitungsgebiet). Ich<br />
gab ihm diese Informationen <strong>und</strong> überreichte bei der Verabschiedung ein Souvenir vom LVZ-Pressefest<br />
1989, das mit Freude <strong>und</strong> Dank angenommen wurde.<br />
184 Kirchenbucheintragung<br />
Drei Eintragungen aus dem Gästebuch VI der Nikolaikirche vom 03.07.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Über den Mut u. die Offenheit der DDR-Kirche können wir Besucher aus der Schweiz nur noch staunen!<br />
Macht weiter so!<br />
3.07. 89 [/] Ich hoffe, das [sic!] Abtl. Inneres meine Ausreise endlich genähmigt [sic!]. Ich bin bereits von<br />
Mutter + Bruder seit 7 Wochen getrennt, trotzdem wir gemeinsam den Antrag stellten. Heute wurde mir<br />
von Inneres gesagt, sollte ich in die Nikolai-Kirche gehen, würde mein Antrag weiter hinausgezögert<br />
werden. Helft mir! [/] R. [... Nachname nicht zu entziffern]<br />
3.07.89 [/] Ich hoffe auf die Einsicht der DDR-Behörden! [/] [... Unterschrift nicht zu entziffern]<br />
185 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 52. Sitzung des KV St. Nikolai vom 03.07.1989, in der es um<br />
die weitere Gestaltung der Friedensgebete ging (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Situation im Kindergarten [/] 2. Weiterführung des Montagsgebetes [/] 3. Kirchentag<br />
Leipzig [/] 4. Wohnungsangelegenheiten [/] 5. Information Romanisches Kruzifix [/] 6. Aufnahmeantrag<br />
B[... /] 7. Antwort R[... /] 8. Persönliche Mitteilung Frau Heumann [/] 9. Verabschiedung Frau Lehnert [/]<br />
10. Etwaige weitere Gegenstände<br />
[...] Zu 2. Betr. des Zeitungsartikels in der LVZ wurden im Zusammenhang mit den Reaktionen darauf<br />
Informationen durch Sup. Magirius gegeben. Ein Gespräch mit dem Chefredakteur der LVZ ist unter<br />
Vermittlung des Rates des Bezirkes zustande gekommen 579 . Auf Gr<strong>und</strong> der Vorgänge beschließt der KV<br />
aktiv zu werden <strong>und</strong> den Staatssekretär für Kirchenfragen, Kurt Löffler, zu einem Gespräch zu bitten. Ein<br />
578 s. Anm. 561<br />
579 s. Dok. 183<br />
283
Autorenkollektiv entwirft das Schreiben . 580<br />
Auf Vorschlag des Bezirkssynodalausschusses bestätigt der KV die folgenden Termine für das<br />
Montagsgebet<br />
4. September - Nikolai Sup. Magirius<br />
11. „ - Gruppe Gerechtigkeit<br />
18. „ - Katholiken<br />
25. „ - Menschenrechte (Pf. Wonneberger)<br />
2. Oktober - Umwelt (Pf. Kaden)<br />
9. „ - Frieden Gohlis (Pf. Weidel)<br />
16. „ - ESG (Pf. Bartels)<br />
23 „ - Nikolai Pf. Führer<br />
6. November - Abgrenzung<br />
Verantwortliche Pfarrer wurden nachgemeldet. Außerdem wird festgelegt, 14 Tage vor dem 28. August<br />
den neuen Beginn der Montagsgebete (4.9.) als Aushang in der Kirche bekannt zu machen 581.<br />
[...]<br />
186 Stasi-Information<br />
Durchschrift des Fernschreiben des Leiters der BV des MfS Leipzig an den stellvertretenden Minister für<br />
Staatssicherheit Generaloberst Mittig, an Generalleutnant Neiber <strong>und</strong> weitere leitende Mitarbeiter im MfS<br />
(HA IX, XX, ZAIG, ZKG, ZOS) über den „Verlauf des Montagsgebetes“ am 03.07.1989. Als Dringlichkeit<br />
wurde auf dem vorgedruckten Formular „AN“ angegeben. Am rechten oberen Rand wurde per Hand „IX“<br />
vermerkt (ABL H 8).<br />
Das am 03.07.89 von 17.00 bis 17.40 Uhr vor ca. 800 Personen durchgeführte Montagsgebet wurde vom<br />
Superintendenten Magirius eröffnet. Dabei nahm er Bezug auf den Artikel in der LVZ vom<br />
24./25.06.89 582 <strong>und</strong> auf das von ihm mit dem Chefredakteur der LVZ diesbezüglich geführte Gespräch583<br />
,<br />
welches er als sachlich bezeichnet, ohne daß übereinstimmende Standpunkte erzielt worden wären. Den<br />
weiteren Verlauf gestaltete Pfarrer Führer, der darauf verwies, daß die Kirche nicht nur innerhalb ihrer<br />
Mauern, sondern in allen Bereichen wirken müsse. [/] Andere operativ bedeutsame Informationen zum<br />
Vorlauf des Gebetes liegen nicht vor. [/] Nach Beendigung des Gebetes erfolgte innerhalb der Kirche die<br />
Verteilung des Programmes für den in der Zeit vom 07.-09.07.89 stattfindenden „Kirchentag von<br />
unten“ 584 in der Leipziger Lukaskirche. [/] Bis gegen 18.10 Uhr verließ die Mehrzahl der Teilnehmer den<br />
kirchennahen Raum. [/] Die sich weiterhin auf dem Vorplatz aufhaltenden ca. 200 bis 250 Personen<br />
versuchten sich zu formieren <strong>und</strong> in Richtung Schumachergäßchen/Markt zu bewegen 585.<br />
580 vgl. Dok. 187<br />
581 In den Protokollen des KV findet sich kein Beschluß, bis wann die Sommerpause der FG gehen sollte. Dieser<br />
Beschluß legt jedoch nahe, daß ursprünglich geplant war, am 28.08. mit den FG zu beginnen. s.a. S. 291<br />
582 s. Anm. 571<br />
583 s. Dok. 183<br />
584 Die Veranstaltungsreihe in der Lukaskirche wurde „Statt Kirchentag“ genannt.<br />
585 In der Anlage des Wochenberichts der ZAIG 27/89 („Hinweis auf das montägliche Friedensgebet ...“) ist von ca.<br />
200 Teilnehmern die Rede (BStU ZAIG 4596, 27). Der Chef der Untersuchungsabteilung der BV des MfS<br />
berichtete: „Im Anschluß daran [an das FG] kam es auf dem Kirchenvorplatz bis Ecke Schuhmachergäßchen zu<br />
einer Ansammlung von mehreren H<strong>und</strong>ert Personen, darunter einem Großteil von Antragstellern auf ständige<br />
Ausreise aus der DDR bzw. Personen, die sich mit derartigen Absichten tragen. Während der Ansammlung<br />
wurden Tendenzen eines Marschzuges erkennbar. Die gegen 18.15 Uhr ergangene erste Aufforderung der DVP<br />
zur Auflösung der Personenansammlung <strong>und</strong> das etappenweise Vorrücken der Sperrkette der DVP wurden aus<br />
der Personenansammlung heraus mit Pfiffen, 'Buh'-Rufen <strong>und</strong> Sprechchören, wie 'Nazis raus' kommentiert. Eine<br />
Identifizierung Beteiligter an den Sprechchören gelang nicht. Nachdem weitere Aufforderungen durch die DVP,<br />
darunter das persönliche Ansprechen Beteiligter, keine Wirkung zeigten, wurden ab 18.00 Uhr 14 Personen aus<br />
der Ansammlung heraus dem VPKA Leipzig zugeführt <strong>und</strong> gem. § 95 StPO Befragungen unterzogen, in deren<br />
Ergebnis drei Ermittlungsverfahren eingeleitet, 8 Ordnungsstrafverfügungen erlassen <strong>und</strong> 3 Belehrungen<br />
284
Durch vorbereitete <strong>und</strong> kurzfristig entfaltete Maßnahmen der DVP wurde die Ansammlung sofort im<br />
Schumachergäßchen zum Halten gebracht. Trotz mehrfacher Aufforderung zur Auflösung <strong>und</strong> dem<br />
Einsatz von Auflösegruppen der DVP löste sich die Ansammlung nur sehr zögernd auf. [/] Durch<br />
offensive Maßnahmen der Zurückdrängung durch die DVP <strong>und</strong> erneute Aufforderung wurde die<br />
Ansammlung bis 19.30 Uhr endgültig aufgelöst. Es erfolgte kein Einsatz polizeilicher Hilfsmittel, eine<br />
H<strong>und</strong>estaffel kam zur Absicherung der polizeilichen Maßnahmen kurzfristig im Rücken der handelnden<br />
Kräfte zum Einsatz. [/] Im Zeitraum des gesamten polizeilichen Einsatzes erfolgten 14 Einzelzuführungen<br />
wegen Behinderung polizeilicher Maßnahmen bzw. dem Anbrennen von Kerzen. [/] Von den Zugeführten<br />
sind 11 Personen aus der Stadt Leipzig, darunter drei Antragsteller auf ständige Ausreise sowie zwei aus<br />
dem Bezirk Dresden <strong>und</strong> eine Person aus dem Bezirk Magdeburg. [/] Im Ergebnis der Untersuchung<br />
werden differenzierte Entscheidungen in Abstimmung mit der HA IX 586 getroffen.<br />
187 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Brief des Kirchenvorstand St. Nikolai-St. Johannis vom 11.07.1989 an die Regierung der DDR, Staatssekretär<br />
für Kirchenfragen, Staatssekretär Löffler, in dem dieser zu einem Gespräch eingeladen wird. Der Brief ging<br />
laut Eingangsstempel am 17.07. im Staatssekretariat für Kirchenfragen ein (BArch O-4 973).<br />
Sehr geehrter Herr Staatssekretär!<br />
Das Friedensgebet in unserer Stadtkirche St. Nikolai hat seinen Ursprung in der Friedensdekade. Seit 1982<br />
findet es wöchentlich montags statt. Wir haben eine Form der Andacht gef<strong>und</strong>en, die Menschen<br />
unterschiedlicher Auffassung <strong>und</strong> Verfassung anspricht <strong>und</strong> zu dem missionarischen Aspekt der<br />
Konzeption „Offene Stadtkirche“ gehört. Von Jesus Christus her sind wir allen Menschen das Evangelium<br />
schuldig <strong>und</strong> sehen den Menschen ganzheitlich. Dazu gehören auch seine gesellschaftlichen Belange.<br />
Menschen begegnen uns auch, die sich in gesellschaftspolitischem Bereich w<strong>und</strong>gerieben haben. Sie<br />
kommen - auch als Nichtchristen - zu uns in die Kirche <strong>und</strong> suchen Verstehen <strong>und</strong> Gespräch. Diesem<br />
Anliegen stellen wir uns mit unseren Möglichkeiten, da es der Kirche von Anfang an geboten ist, sich<br />
Menschen in innerer oder äußerer Not im Namen Jesu zuzuwenden. Wir sehen es auch als unsere Aufgabe<br />
an, zu Verhältnissen in unserer Gesellschaft beizutragen, unter denen Menschen keine Anträge mehr auf<br />
Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen. Wir sind realistisch genug zu wissen, daß diese<br />
unsere Haltung nicht von allen verstanden, geschweige denn gewürdigt wird. In letzter Zeit wird von<br />
verschiedener Seite sehr unterschiedlich über unsere Stadtkirche St. Nikolai berichtet. Der<br />
Kirchenvorstand ist immer dann besonders betroffen, wenn die Berichterstattung - wie im Artikel der LVZ<br />
vom 24./25. Juni 1989 587 - vordergründig der Verunklarung statt dem Verstehen <strong>und</strong> dem Frieden dient.<br />
Daß es auch anders geht, bewies der Artikel in der LVZ vom 4. Juli 1989 („Wer auf Vernunft <strong>und</strong> guten<br />
Willen setzt, sucht das Gespräch“) 588 . Da auch wir zum Dialog keine vernünftige Alternative sehen <strong>und</strong><br />
die gemeinsame Überwindung der Probleme für notwendig halten, hat sich der Kirchenvorstand zu diesem<br />
außergewöhnlichen Schritt entschlossen, Sie, Herr Staatssekretär, um ein Gespräch zu bitten.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung<br />
Pfarrer [gez.] C. Führer<br />
ausgesprochen wurden.“ (Bericht des Leiters der Abteilung IX/AuI/ba-rie der BV des MfS Leipzig, Oberst<br />
Etzold. ABL H 8)<br />
586 Zentrale Untersuchungsabteilung des MfS. Sie entschied im allgemeinen über das Strafmaß bei erfolgten<br />
Verhaftungen nach den Friedensgebeten (s. oben, Anm. g4***). Jede „Zuführung“ mußte der HA IX gemeldet<br />
werden (Besier/Wolf 569).<br />
587 vgl. Anm. 571<br />
588 Der Artikel von Roland Krayer stellt die verschiedenen Gespräche Honeckers mit den Vertretern der<br />
evangelischen Kirchenleitungen 1978 <strong>und</strong> 1988 <strong>und</strong> das Gespräch mit Bischof Gienke in eine Reihe. Darin heißt<br />
es u.a.: „Manche Turbulenzen dürfen den Blick nicht dafür trüben, daß sich insgesamt ein konstruktives<br />
Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche in unserem Staat entwickelt hat. Die Erfahrungen beider Seiten besagen: Wer<br />
auf Vernunft <strong>und</strong> guten Willen setzt, sucht stets das Gespräch.“<br />
285
188 Kirchenbucheintragung<br />
Kirchenvorstands/Vorsitzender<br />
Die Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 15.08.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
15.8.89 Ihr seid auf dem richtigen Weg. [... Es folgen 11 Unterschriften, teilweise mit Ortsangaben<br />
(Reichenbach). Danach eine ungarische Eintragung, ein Name <strong>und</strong> eine estnische Eintragung]<br />
Haltet durch! Es ist doch zum erstenmal wirklich alles in Bewegung. Erhaltet uns diesen Teil von<br />
Deutschland - uns allen. [/] Christa u. Adolf Braun, Hattenhofen in Baden-Württemberg<br />
[... Es folgen 12 Eintragungen, d.h. Namen von Bürgern aus Flensburg, USA, Wien, Armenien, Italien <strong>und</strong><br />
UdSSR]<br />
Macht weiter so, haltet Euch!!! 15.8.1989 [/] Kerstin Granzow [/] Niebüll/BRD<br />
Feodor Schmidt Unna/Westfalen dto. 15.8.89<br />
15. August 89 Fürth Bayern - Leipzig [/] Es stimmt, alles ist in Bewegung! Die Verbindungen werden nie<br />
zerreißen, solange mein Herz für Leipzig schlägt. Der Tag wird kommen, wo alle Glocken im Land<br />
erklingen werden <strong>und</strong> unser Land vereint sein wird. Unser großer Gott wird uns dabei helfen. Ich stehe<br />
hier, ich kann nicht anders. [/] In tiefer Verb<strong>und</strong>enheit Lothar Weigel<br />
[... es folgen noch 16 Eintragungen, meist nur Namen u.a. aus Ungarn, Spanien <strong>und</strong> Argentinien]<br />
189 Basisgruppenerklärung<br />
Erklärung zu einem Fasten in der Leipziger Thomaskirche, welches K. Hattenhauer, J. Koch <strong>und</strong> M. Dietel<br />
am 27.08.1989 begannen. Unter der Erklärung wurden Ort, Datum <strong>und</strong> die Namen <strong>und</strong> Adressen von K.<br />
Hattenhauer <strong>und</strong> J. Koch mit Hand angefügt (ABL H 1).<br />
Beim aufmerksamen Hören - Sehen - Empfinden in diesem Land, beim Erleben seiner Menschen <strong>und</strong> des<br />
Sich-Selbst-Erlebens mit all seinen Abhängigkeiten, Konfrontationen, Zwängen, Ängsten,<br />
Beschneidungen <strong>und</strong> dem damit fehlenden Spielraum an Möglichkeiten in der eigenen Persönlichkeit<br />
drängt sich der Vergleich einer Leibeigenschaft auf. Wir sind verplant in Strukturen, die uns bedrängen,<br />
vereinzeln <strong>und</strong> ohnmächtig machen. Sie äußern sich im Aufdiktieren von Meinungen <strong>und</strong><br />
Handlungsweisen, im Ausgeliefertsein an eine bis ins Detail vom Staat kontrollierte gesellschaftliche<br />
Öffentlichkeit. Dies sind wohl auch hauptsächliche Ursachen fehlender Partizipation in Politik <strong>und</strong><br />
Wirtschaft. Sprechend hierfür sind Erscheinungen wie Teilnahmslosigkeit am gesellschaftlichen<br />
Zusammenleben, Erstarrung des geistig-kulturellen Lebens, fehlende Arbeitsmotivation, Resignation,<br />
Hoffnungslosigkeit bis hin zu erschreckend massiven Ausreisewellen. Auswegslosigkeit, Sinnentleerung,<br />
fehlende Mitsprache- <strong>und</strong> Gestaltungsmöglichkeiten sind Zeichen eines Systems der Bevorm<strong>und</strong>ung.<br />
Es macht Schaudern zu bedenken, daß die Einheit des Wollens von Volk <strong>und</strong> Partei als Gr<strong>und</strong>stein der<br />
Gesellschaft gelegt ist, tatsächlich aber daß die Parteiführung als das für uns einzig gesetzgebende Organ<br />
gilt. Schaudern darum, weil diese exklusive Minderheit ein Deutungs- <strong>und</strong> Interpretationsmonopol für sich<br />
in Anspruch nimmt. Wir suchen nach Wegen <strong>und</strong> Zeichen, die aus dieser Apathie führen. Wir selbst<br />
fühlen uns besetzt <strong>und</strong> überfremdet. Wir wollen nicht länger verharren in einem Zustand der<br />
Teilnahmslosigkeit <strong>und</strong> Gleichgültigkeit. Wir sind auf der Suche nach neuen Ansätzen. Deshalb wählen<br />
wir als Zeichen eines möglichen Neuanfangs das Fasten. Denn Fasten heißt für uns Umkehr: Wir stellen<br />
uns damit in eine Tradition christlichen Handelns, die auf Erneuerung zielt <strong>und</strong> die die Umkehr<br />
Wirklichkeit werden lassen will. Fasten ist ein den ganzen Menschen, in der Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />
reinigendes Handeln, das uns befreit von den uns umgebenden Zwängen <strong>und</strong> uns öffnet für eine neue<br />
Selbstwahrnehmung. Mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme wollen wir unseren Körper als Gefäß<br />
bereitmachen für neue Inspirationen.<br />
„Die Ideale einer besseren Welt <strong>und</strong> die Träume davon sind nämlich eine nicht wegzudenkende<br />
Dimension jedes wirklichen Menschseins, ohne sie <strong>und</strong> ohne die Transzendenz des ‘Gegebenen’, die sie<br />
286
vorstellen, verliert das menschliche Leben Sinn, Würde <strong>und</strong> seine Menschlichkeit selbst.“ (V. Havel ) 589<br />
Wir können das Bedroht- <strong>und</strong> Betroffensein nicht mehr anders ertragen, als fastend <strong>und</strong> betend.<br />
Wir beten um Einkehr, Abkehr <strong>und</strong> Umkehr.<br />
Wir beten um Abkehr von der uns erfaßten Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Resignation in unserer Gesellschaft. Wir<br />
beten um Weisheit <strong>und</strong> Mut, damit wieder Heimat werde, was vielen nur noch Enge <strong>und</strong> Gefängnis ist.<br />
Wir beten um Gottes Beistand <strong>und</strong> um die erneuernde <strong>und</strong> gestaltende Kraft der Vergebung für unsere<br />
Gesellschaft. Mögen alle, die wie wir nicht mehr ertragen können, was uns bedroht <strong>und</strong> bedrängt, sich auf<br />
den Weg des Neuanfangs wagen.<br />
Laßt uns der Stadt Bestes suchen 590.<br />
190 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Kopie des Briefes des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig, Seidel, vom 25.08.1989 an Bischof Hempel mit<br />
der Bitte, die Friedensgebete nicht am 04.09.1989 beginnen zu lassen 591 (StAL SED 5126).<br />
Sehr geehrter Herr Landesbischof!<br />
Es sind erst wenige Wochen vergangen, seitdem wir anläßlich des Kongresses <strong>und</strong> Kirchentages der<br />
sächsischen Landeskirche mehrfach Gelegenheit hatten, uns zu begegnen. Der positive Verlauf dieser<br />
kirchlichen Großveranstaltung zeigt einmal mehr, daß ein vertrauensvolles <strong>und</strong> konstruktives Miteinander<br />
zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche selbst in einer bewegten Zeit vieles ermöglicht. Erneut hat es sich als eine<br />
tragfähige Gr<strong>und</strong>lage für die weitere Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat <strong>und</strong> Kirche in unserem<br />
Lande erwiesen. [/] Ich weiß, daß Ihnen als Landesbischof wie auch als ehemaligen Bürger unserer Stadt<br />
das Montagsgebet in der Nikolaikirche sehr am Herzen liegt. Mit besonderem Respekt habe ich<br />
vernommen, mit welchem Einsatz Sie persönlich beruhigend auf die dort entstandene Situation<br />
einwirkten. [/] Da Provokationen durch bestimmte Personen auch am kommenden Messemontag<br />
befürchtet werden müssen, habe ich mich in einem Brief an den Kirchenvorstand von St. Nikolai - St.<br />
Johannis mit der Bitte gewandt, den Wiederbeginn des Montagsgebetes am 4.9.1989 auszusetzen. [/] Es<br />
589 Dieses Havel-Zitat hatte die „Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung der<br />
Gesellschaft (DI)“ im Februar 1989 über ihre Gr<strong>und</strong>satzerklärung gesetzt (s. Mitter/Wolle, 164f.).<br />
590 Ursprünglich sollte die Fastenaktion am 13. August, zum Jahrestag des Mauerbaus beginnen. Als Ort wurde die<br />
Thomaskirche gewählt, da es dort keine FG gab. Damit eine öffentliche Wirkung erreicht würde, begannen die<br />
drei Jugendlichen (Theologiestudenten bzw. ehemalige Theologiestudenten) eine Woche vor dem Beginn der<br />
Leipziger Messe. Das ZDF filmte den Einzug von K. Hattenhauer <strong>und</strong> J. Koch am Morgen des 27.08.1989 in die<br />
Thomaskirche. Zu einer Sendung am Abend - wie geplant - kam es jedoch nicht. Da der dritte Student (M. Dietel)<br />
fehlte. Dieser kam jedoch im Laufe des Tages. Der Küster führte die drei Studenten in die Sakristei, die neben<br />
dem Altar in der ersten Etage im Turm ist. Dort übergaben sie die hier dokumentierte Erklärung. Dieser<br />
informierte dann den Hauptpfarrer Ebeling, der sofort eine „Dienstbesprechung“ durchführte, bei der beschlossen<br />
wurde, daß die Sakristei verschlossen wird. Pf. Ebeling verlangte ein sofortiges Verlassen der Kirche. Der<br />
Superintendent Richter wollte ebenfalls, daß die Aktion schnell beendet wird. Er versuchte, die Studenten zu<br />
überreden. Als argumentative Gr<strong>und</strong>lage verwendete er unter anderem die Erklärung der Studenten <strong>und</strong> meinte,<br />
es sei unchristlich, seinen Körper so „wegzuwerfen“. Abgebrochen wurde die Fastenaktion am 28.08. gegen<br />
14.30 Uhr vor allem deshalb, weil M. Dietel sie nicht mehr mittrug <strong>und</strong> sich bei den Verhandlungen auf die Seite<br />
von Pf. Ebeling <strong>und</strong> Sup. Richter stellte. Zu diesem Zeitpunkt kam die Nachricht über die Fastenaktion im RIAS.<br />
Daraufhin wurden die staatlichen Stellen aktiv <strong>und</strong> nahmen Kontakt mit Pf. Ebeling <strong>und</strong> Sup. Richter auf <strong>und</strong><br />
erfuhren so am Abend des 28.08.1989, daß die Fastenaktion beendet sei (Aktennotiz von E. Weiser zum<br />
Gespräch mit dem Superintendenten des Kirchenbezirkes Leipzig-West, Sup. Richter, <strong>und</strong> dem Pfarramtsleiter<br />
der Thomaskirche, Pfr. Ebeling, in der Superintendur, Leipzig-West am 29.08.1989 - StAL SED 5126; vgl.<br />
Dietrich (1991)). Dies wurde am 29.08. an das StfK, die AG Kirchenfragen beim ZK der SED <strong>und</strong> an das MfS<br />
gemeldet (Jakel an Opitz am 29.08.1989 - StAL BT/RdB 22377, s.a. Dok. 197). Am 31.08.1989 behauptete der<br />
Stasi-Minister Mielke, daß die Studenten „fast einen Krieg führen wollten“ (Mitter/Wolle, 138). Zur Tradition<br />
des Fastens in Leipzig s. Anm. 88.<br />
591 Die beiden Briefe wurden nachträglich durch das Sekretariat der SED-SL bestätigt (am 31.08.89 - Beschluß-<br />
Protokoll Nr. 18/89, S. 14 - StAL SED N 901)<br />
287
ist mir ein aufrichtiges Bedürfnis, Sie in der Anlage vom Inhalt dieses Briefes zu informieren in der<br />
Hoffnung darauf, daß Sie, Herr Landesbischof, mein darin geäußertes Anliegen hilfreich begleiten.<br />
Mit vorzüglicher Hochachtung [/ gez.] Dr. Seidel [/] Oberbürgermeister<br />
191 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Kopie des Briefes des OBM der Stadt Leipzig, Seidel, vom 25.08.1989 an den KV St. Nikolai, mit der Bitte,<br />
die Friedensgebete nicht am 04.09.1989 beginnen zu lassen (StAL SED A 5126).<br />
Sehr geehrter Herr Vorsitzender <strong>und</strong> werte Mitglieder des Kirchenvorstandes von St. Nikolai - St.<br />
Johannis!<br />
Mit Besorgnis verfolge ich die wiederhaltigen Versuche von Personen, die Montagsgebete in der<br />
Nikolaikirche zu mißbrauchen <strong>und</strong> unter Mißachtung der Rechtsordnung der DDR <strong>und</strong> Ausnutzung der<br />
Öffentlichkeit Druck auf staatliche Organe auszuüben. In dieser Zeit, die gekennzeichnet ist vom Versuch<br />
bestimmter Kreise der BRD, mittels einer großangelegten Kampagne in den Medien die Politik der DDR<br />
zu diffamieren, sind Provokationen vor der internationalen Öffentlichkeit unter Mißbrauch des<br />
Montagsgebetes am Messemontag nicht auszuschließen. Angesichts der Gefahr einer solchen<br />
Entwicklung, die dem Ansehen unserer Stadt als internationaler Messemetropole <strong>und</strong> der Nikolaikirche<br />
Schaden zufügen könnte, bitte ich Sie im Vertrauen auf Ihr Verantwortungsbewußtsein als<br />
Kirchenvorsteher <strong>und</strong> als Bürger der DDR, Ihre Entscheidung, mit dem Montagsgebet am 4.9.1989 wieder<br />
zu beginnen, nochmals zu überdenken. Ich erkläre meine Bereitschaft, mit Ihnen dazu in ein direktes<br />
Gespräch zu treten. Ihrem Vorschlag für ein solches Gespräch sehe ich entgegen. Eine Kopie dieses<br />
Briefes übersende ich Herrn Landesbischof Dr. Hempel.<br />
Hochachtungsvoll [/ gez.] Dr. Seidel [/] Oberbürgermeister<br />
192 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Auszug aus einer Information des Rates des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 28.08.1989 über<br />
ein Gespräch zwischen Reitmann, OLKR Schlichter <strong>und</strong> OKR Auerbach am 22.08.1989, in dem der<br />
Kirchentag 1989 ausgewertet wurde. Unterzeichnet wurde die Information von Jakel <strong>und</strong> („zur Kenntnis<br />
genommen“) Reitmann (StAL BT/RdB 21395 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 21727, BArch O-4 1117).<br />
Zu Beginn des Gesprächs würdigte Gen. Dr. Reitmann die Durchführung des Kirchentages <strong>und</strong><br />
Kirchentagskongresses in Leipzig, die vereinbarungsgemäß verlief, Störungen, konfrontative Pläne <strong>und</strong><br />
Absichten weitgehend verhindert werden konnten.<br />
OLKR Schlichter brachte seinerseits den kirchlichen Dank an Gen. Dr. Reitmann zum Ausdruck. Er sei<br />
froh, daß der Kirchentag so gelaufen sei.<br />
[...] Zur Wiederaufnahme der montäglichen Friedensgebete in der Nikolaikirche Leipzig, beginnend mit<br />
dem 4.9.89, erläuterte Gen. Dr. Reitmann die politische Brisanz dieses Tages im Kontext der Leipziger<br />
Messe <strong>und</strong> forderte die kirchlichen Vertreter auf, über die Verantwortung dazu gründlich nachzudenken,<br />
eine Verlegung des Beginns der Friedensgebete zu erwägen.<br />
OLKR Schlichter <strong>und</strong> OKR Auerbach brachten zum Ausdruck, daß die Tatsache der<br />
Verantwortungsübernahme für den 4.9. durch Sup. Magirius für sie keine inhaltlichen Bedenken bringt.<br />
Der Sup. Magirius, so Auerbach, hat das LKA informiert, daß der 4.9.89 vom KV so beschlossen ist. Man<br />
könne jetzt den KV nicht mehr anders beeinflussen. Was sich um die Nikolaikirche sammelt, würde vom<br />
Friedensgebet nicht beeinflußt werden. 14 Tage vorher könne man nichts mehr machen. Dann ist es doch<br />
so, daß der Casus 50 Jahre Beginn 2. Weltkrieg doch niemanden kalt lasse. Wir haben keinen Gr<strong>und</strong>,<br />
etwas zu verändern. Seines Erachtens müsse man die Spannung aushalten. Es wäre von staatlicher wie von<br />
kirchlicher Seite nicht gut, überreaktiv zu sein. „Die Ausreisethematik ist so hart, daß sie auch ohne das<br />
andere thematisiert wird.“<br />
Im Zusammenhang mit der Bitte, Sup. Ziemer, der während des sogenannten Messemännerabends in<br />
288
Leipzig auftritt, mit dem Gesamtbild vertraut zu machen <strong>und</strong> ihm auch die staatliche Erwartungshaltung<br />
zu verdeutlichen, forderte Gen. Dr. Reitmann die beiden kirchlichen Vertreter ernsthaft auf, alles zu tun,<br />
daß keine Begünstigung für Demonstrativhandlungen vor der Nikolaikirche erfolgen. Zum Abschluß des<br />
Gesprächs bat OKR Auerbach für die Sozialhelferin Frau Unger um Unterstützung bei der Abwendung<br />
einer Ordnungsstrafverfügung über 800,- Mark, die ihr gegenüber nach einer Zuführung am 7.5.89 durch<br />
die VP ausgesprochen wurde. Dies wurde von Gen. Dr. Reitmann abgelehnt <strong>und</strong> zurückgewiesen, mit<br />
klaren rechtlichen Positionen begründet.<br />
Gen. Dr. Reitmann verwies die kirchlichen Vertreter auf einen zunehmenden Mißbrauch kircheneigener<br />
Vervielfältigungsgeräte zur Herstellung ungenehmigter <strong>und</strong> unbesehbarer Druckerzeugnisse <strong>und</strong> forderte<br />
sie auf, gründlicher zu besehen, welche Inhalte verbreitet werden sollen <strong>und</strong> vor allem durch wen. OLKR<br />
Schlichter wurde angesprochen, für die Durchsetzung seiner Weisung zum Gebrauch von<br />
Vervielfältigungsgeräten <strong>und</strong> der Nomenklatur von innerkirchlichen Dienstsachen Sorge zu tragen 592.<br />
Das Gespräch verlief in offener Atmosphäre. Beide Herren wirkten locker <strong>und</strong> unverkrampft sowie<br />
gesprächswillig.<br />
193 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 53. Sitzung des KV St. Nikolai vom 28.08.1989, in dem die<br />
staatliche Bitte, das Friedensgebet zu verlegen, abgelehnt wurde. Das Protokoll wurde von W. Hofmann<br />
angefertigt <strong>und</strong> u.a. von C. Führer <strong>und</strong> F. Magirius unterzeichnet (ABL H 54).<br />
Tagesordnung: 1. Personal- <strong>und</strong> Wohnraumsituation [/] 2. Liste Montagsgebete [/] 3. Zwischenbescheid<br />
Staatssekretariat f. KF [/] 4. Umpfarrung [/] 5. Lesung Günter Grass [/] 6. Verschiedenes [/] 7. Etwaige<br />
weitere Gegenstände<br />
[...] Zu 2.) Für die beschlossenen Termine des Montagsgebetes werden Kirchvorsteher gebeten, begleitend<br />
teilzunehmen. Eine Liste dazu wird erstellt. [/] Mitteilung über die Aufnahmen des österreichischen<br />
Fernsehens im Gottesdienst des vergangenen Sonntags. [/] Herr Müller, Kirchenfragen beim Rat des<br />
Bezirkes, bittet um Verlegung des Montagsgebetes von 17.00 Uhr auf 18.00 Uhr, um nach der<br />
Ladenschlußzeit [18.00 Uhr] die Teilnehmer zu entlassen. Verlesung eines Briefes des<br />
Oberbürgermeisters Dr. Seidel betr. der Entscheidung des KV, das Montagsgebet nach der Sommerpause<br />
am 4. September zu beginnen593 . [/] Der Kirchenvorstand entscheidet sich, dem Wunsch von Herrn<br />
Müller auf zeitliche Verlegung nicht zu entsprechen. [/] Hinsichtlich des Briefes vom OBM Dr. Seidel<br />
wird eine Aussprache geführt. Der einzige vorgeschlagene Gesprächstermin für Donnerstag 17.30 Uhr im<br />
Neuen Rathaus kann nicht wahrgenommen werden. [/] Das Gesprächsangebot des KV wird für Freitag<br />
17.30 Uhr vereinbart. Teilnehmer die KV-Mitglieder Magirius, Führer, Pester, Grünert, Pörner, Dr.<br />
Bormann, Eichelbaum, Ramson. [/] Für die Gruppe Gerechtigkeit, die für das Montagsgebet am 11.9.89<br />
verantwortlich ist, ist kein Pfarrer gemeldet worden. [/] Die Durchführung durch diese Gruppe ist somit<br />
nicht möglich.<br />
Zu 3.) Staatssekretär Löffler, Staatssekretariat für Kirchenfragen, bestätigt telefonisch das Schreiben des<br />
KV594 <strong>und</strong> stellt Antwort für Anfang September in Aussicht. [/] - Bericht über das Gespräch der Vertreter<br />
des KV mit Herrn Urban 595 im Zusammenhang mit dem Zeitungsartikel die Montagsgebete betreffend.<br />
194 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Antwortbrief Pfarrer Führers an den Oberbürgermeister vom 29.08.1989. Die Vorlage der Herausgeber war<br />
eine Xerokopie, die zusammen mit den Briefen des Oberbürgermeisters von diesem an den 1. Sekretär der<br />
592 vgl. Anm. 408<br />
593 s. Dok. 191<br />
594 s. Dok. 187<br />
595 vgl. Dok. 231<br />
289
SED-Stadtleitung gesandt wurde (StAL SED A 5126).<br />
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!<br />
Ihren Brief vom 25.VIII.1989, den wir am 28.VIII.1989 durch persönliche Überbringung erhielten, haben<br />
wir erhalten <strong>und</strong> am gleichen Abend im Kirchenvorstand beraten. Ein Aussetzen des Montagsgebetes am<br />
04. September ist aus mehreren Gründen nicht möglich:<br />
1. Seit zwei Monaten ist dieser Termin öffentlich bekannt, u.a. in den Kirchennachrichten, Aushängen etc.<br />
2. Die Menschen kommen am Montag 17 Uhr. Ein Aussetzen unsererseits würde auf völliges<br />
Unverständnis stoßen <strong>und</strong> zu einer Verschärfung der Situation führen <strong>und</strong> unkontrollierte Deutungen<br />
begünstigen.<br />
3. Ein Mißbrauch des Montagsgebetes ist von uns noch nicht festgestellt worden. Wir haben allerdings mit<br />
steigender Beunruhigung sehen müssen, daß durch die sichtbare Polizeipräsenz vom 7. Mai 1989 an<br />
steigende Spannungen zu verzeichnen sind. An den wenigen Montagen, an denen die Polizei die<br />
Kirche nicht abriegelte, war nach 30 Minuten der Kirchplatz leer, ohne daß es zu irgendwelchen<br />
Irritationen gekommen wäre. Wir haben die maßgeblichen Stellen auch des Rates des Bezirkes schon<br />
mehrfach darauf hingewiesen.<br />
Ihr Gesprächsangebot nehmen wir an. Wir haben in Anbetracht der Kürze der Zeit nur noch Freitag, 01.<br />
September, um 17.30 Uhr ermöglichen können. Teilen Sie mir bitte noch mit, ob der Termin für Sie<br />
möglich ist <strong>und</strong> wo das Gespräch stattfinden sollte. Dieses Schreiben wird vereinbarungsgemäß von Herrn<br />
Fenzlau, Abteilung Kirchenfragen, am heutigen Tag 15.30 Uhr persönlich abgeholt <strong>und</strong> Ihnen überbracht.<br />
Hochachtungsvoll Pfarrer [gez.] Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />
195 Stasi-Notizen<br />
Auszug aus Mitschrift des Oberstleutnant Seidel zur Dienstversammlung am 02.09.1989, auf der der Leiter<br />
der BV (Hummitzsch) sprach (BStU Leipzig AB 3838, MfS 54a).<br />
Montag bei Niko [/] Der Kirchenvorstand ist nicht bereit das Gebet ausfallen zu lassen. Auf Wunsch des<br />
Staates keine positive Reaktion. Total verhärtete Situation wird sich kaum ändern. Thema ist so<br />
ausgereizt, daß wir kaum Neues machen können. Alle Bedingungen für weitere Provokationen sind<br />
gesetzt. Ziel hohe Risikobereitschaft, Anlegen mit MfS, VP. Auf heißen Montagabend einstellen. Kirche<br />
wird voll sein zum Bersten umlagert von Journalisten. Magirius wird harmlose Rede halten aber es genügt<br />
einziger Funke um es „Denen mal zu zeigen“ um eine große Stori [sic!] zu machen. Alle Leiter müssen<br />
alle Möglichkeiten nutzen, bekannte Personen davon abzuhalten 596 . Es darf uns nicht außer Kontrolle<br />
geraten.<br />
196 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Aktennotiz vom Rat der Stadt Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 04.09.1989 über ein Gespräch zwischen<br />
dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand von St. Nikolai am 01.09.1989. Die<br />
Notiz wurde von Fenzlau unterzeichnet (StAL BT/RdB 21957 <strong>und</strong> in: BArch O-4 1117, ABL H 53).<br />
Betr.: Gespräch des OBM mit Vertretern des Kirchenvorstandes der Nikolaikirche am 1.9.1989 - 17.30<br />
Uhr - 19.10 Uhr<br />
Anlaß des Gesprächs war der Brief des OBM an den Kirchenvorstand der Nikolaikirche <strong>und</strong> der<br />
Antwortbrief des Kirchenvorstandes an den OBM.<br />
Seitens der Nikolaikirche waren anwesend: Sup. Magirius, Pfr. Führer, Herr Eichelbaum, Dirk, Herr<br />
Grünert, Wilfried, Herr Ramson, Lutz, Frau Dr. Bormann, Maria, Frau Pörner, Ursula<br />
596 Die in OV bzw. OPK „Märtyrer“, „Kerze“, „Trompete“, „Dieb“, „Opponent“ <strong>und</strong> „Meise“ „bearbeiteten“<br />
Personen sollten z.B. durch die Abt. VIII während des 3./4.9. beobachtet werden (BStU Leipzig AB 1137 unter<br />
Referatsleiterbesprechung der Abt. XX am 02.09.1989)<br />
290
Staatlicherseits waren zugegen: OBM - Gen. Dr. Seidel, Stellv. d. OBM f. Inneres - Gen. Sabatowska,<br />
Mitarbeiter Kirchenfragen - Gen. Fenzlau<br />
Durch den OBM wurde eingangs nochmals auf die Fragen eingegangen, die der Anlaß seines Schreibens<br />
an den Kirchenvorstand der Nikolaikirche waren. Wie bereits in dem Antwortbrief des Kirchenvorstandes<br />
an den OBM zu lesen ist, sieht sich der Kirchenvorstand nicht in der Lage, das Montagsgebet am 4.9.1989<br />
abzusetzen, aber insgesamt gab es die Versicherung, im Rahmen dieses „Friedensgebetes“ beruhigend auf<br />
die Teilnehmer einzuwirken. Es wird auch verhindert werden, daß Westmedien Zugang zum<br />
Friedensgebet haben. [/] Im einzelnen gab es folgende Aussagen:<br />
Pf. Führer: Teilt zunächst mit, daß über 50 % des Kirchenvorstandes zu diesem Gespräch anwesend sind.<br />
Der Kirchenvorstand umfaßt insgesamt 13 Personen. Das Friedensgebet ist aus der Friedensdekade<br />
erwachsen <strong>und</strong> wird seit 1982 in der Nikolaikirche durchgeführt. Seit 1987 (Luxemburg-Liebknecht-<br />
Demonstration in Berlin 597 ) gibt es die Zuspitzung der Lage. Seine Gr<strong>und</strong>position: Der Mensch ist<br />
ganzheitlich. Nicht DDR-Bürger auf der einen Seite <strong>und</strong> Christ auf der anderen Seite. Beides ist nicht<br />
voneinander zu trennen. In der Kirche selbst habe es bisher keine Provokationen <strong>und</strong> keinen Mißbrauch<br />
des Friedensgebetes gegeben. Es gab innerkirchliche Probleme im vergangenen Jahr, aber diese seien jetzt<br />
beseitigt. Das Friedensgebet sollte nach der Sommerpause eigentlich am 28.8.1989 wieder beginnen, es<br />
wurde bereits um 1 Woche hinausgerückt <strong>und</strong> wird nun erstmalig am 4.9.1989 wieder stattfinden. Sup.<br />
Magirius selbst wird es durchführen.<br />
Sup. Magirius: Es hat sich in unserer Gesellschaft eine Situation ergeben, daß eine Anzahl Menschen, aus<br />
welchen Gründen auch immer, unsere Republik verlassen wollen. Sicher spielen auch materielle Dinge<br />
eine Rolle. Aber das ist nicht alles. Es gibt bei uns Dinge, die die Menschen müde machen.<br />
Informationspolitik, Benachteiligung im beruflichen Fortkommen, Bürokratismus,<br />
Schwierigkeiten in den Betrieben u.ä.<br />
Wir haben uns nicht ausgesucht, daß sich solche Antragsteller in unserer Kirche zu den Friedensgebeten<br />
versammeln.<br />
Die Kernfrage ist, was geschieht, wenn die Leute die Kirche verlassen. Durch Konfrontation mit der<br />
Polizei werden die Leidenschaften nur noch hochgeputscht. Ganz schlecht ist aber, daß von der Polizei<br />
zugeführte Personen sofort die Ausreise erhalten. Das spricht sich rum.<br />
KV-Mitglied Eichelbaum: Das Problem besteht darin, warum wollen diese Menschen aus der DDR weg.<br />
Man kann nicht alles auf Beeinflussung von außen abschieben. Man muß auch die Ursachen, die bei uns<br />
selbst liegen, erforschen <strong>und</strong> sie verändern.<br />
Problem Umweltschutz, einseitige Hilfe für Berlin<br />
KV-Mitglied Ramson: Der Ausfall des Friedensgebetes am 4.9.1989 hätte noch schlimmere<br />
Auswirkungen, als wenn es stattfindet. Die Leute sind aggressiver geworden. Man muß auf jeden Fall<br />
versuchen, die Anwesenheit der VP zu verringern.<br />
KV-Mitglied Frau Dr. Bormann: Ich bin traurig um jeden DDR-Bürger, der unser Land verläßt. Und da<br />
kann man nicht lächelnd sagen: Das sind ja nur 2%. Uns geht es um jeden Menschen. Wir erfüllen als<br />
Nikolaikirche in bestimmter Weise eine spezielle Funktion. Ich glaube, daß wir auch Aggressionen<br />
abbauen könnten. Es ist nicht einfach für die Verantwortlichen, sich in der Nikolaikirche vor 1000<br />
Menschen hinzustellen <strong>und</strong> zu ihnen zu sprechen. Ich wünsche mir, daß das auch einmal von<br />
Staatsfunktionären erfolgte. Es ist auf jeden Fall falsch, Polizei einzusetzen. Was für Provokationen<br />
befürchten Sie eigentlich? Viele Bürger sind schockiert über diesen Polizeieinsatz.<br />
KV-Mitglied Grünert: Ich wäre sehr dafür, daß sich das alles nicht vor der Nikolaikirche abspielt. Das<br />
müßte vielmehr vor dem Rathaus stattfinden. Ging dann auf Ursache ein, die seine Mutter veranlaßten, die<br />
Republik zu verlassen. (Bürokratismus in Reiseangelegenheiten)<br />
Pf. Führer: Sie, Herr Oberbürgermeister, haben eine anspruchsvolle Weltanschauung. In dessen<br />
Mittelpunkt steht der Mensch. Was sich aber auf dem Nikolaikirchhof abspielt, ist nicht mehr das Ringen<br />
um den Menschen. Das sind Polizeistaatmethoden. Wie sprechen wir mit solchen Menschen? Unser<br />
Vorteil ist, daß wir nicht die Macht haben, deshalb öffnen sich uns gegenüber die Menschen. Sie kommen<br />
aber leider erst dann zu uns, wenn es schon zu spät ist. Das ist nicht nur bei Ehescheidungen so. Das ist<br />
597 Die Demonstration, aus deren Anlaß es zu Verhaftungen in Berlin kam, fand am 17.01.1988 [!] statt.<br />
291
auch so im Falle des Antrages auf Übersiedlung. Sie kommen erst dann, wenn sie schon 2-3 Jahre den<br />
Antrag gestellt haben. Aber wir sprechen mit ihnen, hören ihnen zu. Beim Staatsorgan fühlen sich diese<br />
Menschen meist nur „agitiert“. Wir können aber kaum jemanden veranlassen, hier zu bleiben. Man muß<br />
auf jeden Fall die Ursachen ansprechen, auch wenn es weh tut. Man kann das aber nicht so tun, wie in<br />
dem Artikel in der LVZ „Was treibt Frau K. ins Stadtzentrum?“ Das war die Frau des Parteisekretärs der<br />
Möbelwerke in Wurzen. Dieser Parteisekretär war von einer Reise in die BRD nicht zurückgekehrt. Wir<br />
haben von dieser Tatsache aber keinen Gebrauch gemacht, um die Stimmung nicht weiter anzuheizen.<br />
Unsere Erfahrungen sind auf jeden Fall: Lassen Sie die Polizei weg, dann tritt schnell Ruhe vor der<br />
Nikolaikirche ein.<br />
Der OBM griff mehrfach in die Diskussion ein <strong>und</strong> legte die Dinge aus unserer Sicht dar. Auf Gr<strong>und</strong> der<br />
fortgeschrittenen Zeit (die Mitglieder des Kirchenvorstandes wollten am Gedenkgottesdienst anläßlich des<br />
50. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieges in der Nikolaikirche teilnehmen) konnten nicht alle Fragen<br />
ausdiskutiert werden.<br />
Ein Vorschlag zur Weiterführung des Gesprächs zu einem späteren Zeitpunkt wurde von Pf. Führer<br />
abgeblockt 598 mit der Bemerkung, daß es nicht üblich sei, daß Kirchenvorstände mit staatlichen Organen<br />
sprechen.<br />
Das Gespräch verlief insgesamt in einer von beiden Seiten offenen, freimütigen <strong>und</strong> sachlichen Form.<br />
197 Staatliche Einschätzung<br />
Auszug aus einem Informationsbericht des Stellvertreters des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig<br />
für Inneres, Reitmann, zur Situation auf dem Gebiet der Staatspolitik in Kirchenfragen Juli/August 1989 vom<br />
05.09.1989. Die Information trägt den Stempel „Dienstsache Expl. Nr. 6/89/01“, den Eingangsstempel des<br />
Staatssekretärs für Kirchenfragen vom 11.09.1989 <strong>und</strong> verschiedene Bearbeitungsspuren (BArch O-4 1117).<br />
Evangelische Kirchen [/] zu 1.<br />
Im Mittelpunkt der kirchlichen Arbeit des Berichtszeitraumes standen die geplanten kirchlichen<br />
Aktivitäten, die Einwirkung auf die Situation um die Nikolaikirche zu Leipzig <strong>und</strong> die Führung des<br />
politischen Gesprächs zur Erläuterung der wirtschafts- <strong>und</strong> gesamtpolitischen Strategie von Partei <strong>und</strong><br />
Staat. Die Situation in den kirchlichen Gremien ist weiterhin gespannt <strong>und</strong> von der Tendenz gezeichnet,<br />
zunehmend gesellschaftspolitische Themen aufzugreifen <strong>und</strong> sich darüber auszutauschen. Progressive<br />
Kräfte <strong>und</strong> Gruppierungen beschreiben oft eine „Wirkungslosigkeit“ ihrer Haltungen <strong>und</strong> Meinungen. Es<br />
sind auch Haltungen spürbar, einem Gespräch mit Vertretern der Staatsorgane auszuweichen. [...] Die<br />
Situation um die Nikolaikirche betreffend führten der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />
Bezirkes für Inneres Gespräche mit dem amtierenden Präsidenten des LKA Sachsens <strong>und</strong> OKR Auerbach<br />
sowie der Stellvertreter des OBM der Stadt Leipzig für Inneres mit den Leipziger Superintendenten.<br />
Gleichzeitig brachten die Stellvertreter Inneres der Räte der Kreise <strong>und</strong> Stadtbezirke in ihren Gesprächen<br />
mit Superintendenten <strong>und</strong> leitenden Amtsträgern die staatliche Erwartungshaltung gegenüber den<br />
Ereignissen um die Nikolaikirche zum Ausdruck, wobei gleichzeitig eine Bewertung der gegenwärtigen<br />
Hetzkampagne gegen die DDR erfolgte.<br />
Einige beispielhafte Positionen: [/] Superintendent Magirius, Leipzig-Stadt:<br />
„Es ist schmerzlich für ihn zu sehen, wie zum 40. Jahrestag der DDR der einstmalige Schwung beschädigt<br />
ist. Ein Stück Gr<strong>und</strong>vertrauen in der Bevölkerung ist verlorengegangen. Er hat den Eindruck, die Führung<br />
wisse nicht, was im Lande geschieht. Besonders belastend ist für ihn die Medienpolitik. Diese gebe die<br />
Stimmung der Bevölkerung nicht wieder. Er habe von Marxisten gehört, wie theoretisch klar die<br />
Kategorien gesellschaftliches Bewußtsein, Alltagsbewußtsein u.a.m. gehandhabt werden sollen. Er wolle<br />
keine andere DDR, sondern diese wieder in Fahrt bringen. Es kann uns doch nicht egal sein. wenn so viele<br />
Leute weggehen wollen. Er habe die Bitte <strong>und</strong> sage es nun schon zum often Male, Erfolge <strong>und</strong> Probleme<br />
598 „abgeblockt“ wurde im Exemplar der Abt. XX/4 des MfS dick unterstrichen. Aufgr<strong>und</strong> der Vermerke auf dem<br />
Exemplar kann davon ausgegangen werden, daß die Aktennotiz am 4.9. beim MfS war.<br />
292
in richtigem Verhältnis zu nennen. Auch der Brief der KKL an die Regierung der DDR599 hätte eine<br />
Antwort finden müssen“. Bezug nehmend auf die Wiederaufnahme der Friedensgebete gab Magirius an,<br />
daß er den Beschluß des Kirchenvorstandes von St. Nikolai, die Friedensgebete am 4.9.89 wieder<br />
durchzuführen, teile <strong>und</strong> er für die Durchführung am 4.9.89 selbst die Verantwortung übernimmt. Mit<br />
dem, was auf der Straße ablaufe werde, könne man sich nicht identifizieren600 . Hier warte man auf ein<br />
Zeichen vom Staat. Innerhalb der Kirche nehme man die volle Verantwortung wahr. (Zur Position der o.g.<br />
Vertreter des LKA Sachsens siehe Gesprächsinformation in der Anlage 601)<br />
Zu 1.5)<br />
Aufgr<strong>und</strong> einer „unbefristeten Fastenaktion“ von drei Personen in der Thomaskirche zu Leipzig (zwei<br />
ehemalige Theologiestudenten <strong>und</strong> ein Studierender des Theologischen Seminars Leipzig), die am<br />
27.08.1989 begann <strong>und</strong> am 28.08.1989 durch das Eingreifen des Sup. Richter <strong>und</strong> des Pf. Ebeling<br />
„einsichtsvoll beendet wurde“, wurde mit beiden Amtsträgern durch den Rat der Stadt, Kirchenfragen,<br />
eine Aussprache geführt. Richter <strong>und</strong> Ebeling gaben hierzu an:<br />
− Die Meldung des RIAS vom 28.08.1989 habe zwar verkürzt, im wesentlichen aber richtig, die Absicht<br />
bzw. die Beweggründe für die Aktion wiedergegeben.<br />
− Als ersichtlich wurde, daß eine kirchliche Indiskretion die Meldung publik machte, habe man unter<br />
Zeitdruck stehend in besonders intensiven Verhandlungen auf die jungen Leute eingewirkt, die Aktion<br />
zu beenden.<br />
− Der Zeitdruck <strong>und</strong> die sich abzeichnende positive Wende seien ausschlaggebend dafür, daß sich<br />
Richter bzw. Ebeling nicht an den Stellvertreter OBM gewandt hätten.<br />
− Sie seien sehr erschrocken gewesen, mit welcher Entschlossenheit diese jungen Leute gewillt waren,<br />
ihre Absichten bis zum Ende durchzustehen.<br />
− Die drei Personen sind keine Chaoten oder Schreier. Ihre ruhige <strong>und</strong> leise Sprache sei Ausdruck großer<br />
Resignation. „Nur mit Gottes Hilfe <strong>und</strong> durch ein Reden mit Engelszungen konnten wir etwas<br />
erreichen.“<br />
− Sie möchten die Frage stellen, wie lange man ihnen als Geistliche noch Gehör schenken werde. In<br />
Gesprächen mit dem Staat auf verschiedenen Ebenen hätten sie wie auch andere Geistliche immer<br />
wieder die Probleme, Sorgen <strong>und</strong> Entwicklungen signalisiert. Jetzt stelle sich einmal die<br />
Gr<strong>und</strong>satzfrage, was denn das viele Reden bewirkt hat. Gar nichts.<br />
− Als Beispiel dafür, was sie meinen, müsse die Art <strong>und</strong> Weise der Berichterstattung des DDR-<br />
Fernsehens über den Leipziger Kirchentag dienen. Obwohl Cieslak einige Monate vor Beginn des<br />
Kirchentages einen entsprechenden Antrag gestellt hat, ist die Information über den Kirchentag völlig<br />
den Westmedien überlassen worden. Eine große Chance, Politik zu transportieren u.a.m. ist vergeben<br />
worden. Diese Vorgehensweise stieß auf großes Unverständnis. [...]<br />
Zu 2.<br />
Trotz staatlicher Einflußnahme auf die sächsische Landeskirchenleitung <strong>und</strong> den Kirchenvorstand der St.<br />
Nikolaikirche zu Leipzig, die Weiterführung des Friedensgebetes nicht auf den 04.09.1989 zu<br />
terminisieren, muß eingeschätzt werden, daß der Appell an eine politische Mitverantwortung der Kirche<br />
im Zusammenhang mit der Durchführung der Leipziger Herbstmesse nicht das entsprechende Ergebnis<br />
gebracht hat.<br />
Sup. Magirius, der das Friedensgebet maßgeblich selbst gestaltete, trug mit seinen Ausführungen nicht zur<br />
Beruhigung <strong>und</strong> Versachlichung bekannter negativer Tendenzen bei, vielmehr sprach er sich fürbittend für<br />
diejenigen jungen Leute aus, die aus ihrer Sicht zu einer Verbesserung der Gesellschaft beitragen wollen.<br />
Er forderte auf, daß sie gehört werden <strong>und</strong> daß ihnen keine strafrechtlichen Konsequenzen angedroht<br />
werden. Fürbitten für einen Dewati aus der CSSR 602,<br />
„der schon das dritte Mal verhaftet worden ist“, für<br />
599 Welcher Brief gemeint ist, ist aus dem Zusammenhang nicht zu ersehen. Der Brief vom 02.09.1989 kann wohl<br />
schlecht gemeint sein.<br />
600 Dieser Satz wurde am Rand zweifach angestrichen.<br />
601 s. Dok. 192<br />
602 Der tschechische Bürgerrechtler Stanislav Devaty wurde 1989 dreimal inhaftiert. Er kam im Sommer aufgr<strong>und</strong><br />
internationalen Protestes <strong>und</strong> eines Hungerstreikes frei. Kurz darauf wurde er jedoch zu 20 Monaten Haft<br />
293
das in Polen Begonnene <strong>und</strong> für seinen persönlichen Fre<strong>und</strong> Tadeusz Masowiecki müssen linienführend<br />
zu der im Anschluß an das Friedensgebet, an dem ca. 1000 Personen teilnahmen, stattgef<strong>und</strong>enen<br />
Provokation gesehen werden 603.<br />
[...]<br />
198 Stasi-Information<br />
Anlage 5 zur Wochenübersicht der ZAIG des MfS über „das sogenannte Montagsgebet“ am 04.09. vom<br />
05.09.1989 (BStU ZAIG 4598, 40f.).<br />
Am 4. September 1989 fand nach einer mehrwöchentlichen Sommerpause in der Zeit von 17.00 Uhr bis<br />
gegen 17.45 Uhr in der Nikolaikirche in Leipzig erneut ein montägliches Friedensgebet statt. Daran<br />
nahmen ca. 1000 Personen teil. Es stand unter dem Thema „Brücken abbrechen“ (Bezugnahme auf den<br />
50. Jahrestages des Ausbruchs des zweiten Weltkrieges) <strong>und</strong> unter Leitung von Superintendent Magirius.<br />
Gebet <strong>und</strong> Fürbitten hatten, bis auf das Aufwerfen der Frage, weshalb in der DDR nicht über die Ursachen<br />
der „Ausreisewelle“ gesprochen werde, keine politischen Züge.<br />
Nach Veranstaltungsende verblieb die Mehrzahl der Teilnehmer auf dem Nikolaikirchhof, formierte sich<br />
danach <strong>und</strong> bewegte sich - analog den zurückliegenden Friedensgebeten - in Richtung Markt. Kurzzeitig<br />
wurden dabei Transparente entfaltet (Texte u.a. „Für ein offenes Land mit freien Menschen“,<br />
„Reisefreiheit statt Massenflucht“), die durch Sicherheitskräfte eingezogen wurden. Durch entsprechend<br />
vorbereitete Maßnahmen wurde die Personenansammlung nach ca. 50 Metern zum Halten gebracht. Auch<br />
eine Änderung der Bewegungsrichtung wurde sofort unterb<strong>und</strong>en. Danach gruppierten sich ca. 250<br />
Personen um am Ereignisort anwesende westliche Korrespondenten. Ein harter Kern dieser<br />
Personensammlung (ca. 30 bis 40 Bürger, darunter Kinder) provozierte durch Rufe wie „Wir wollen raus“,<br />
„Freiheit“, „Nehmt uns mit in die BRD“ 604 . (Die vorgenannten Aktivitäten der DDR-Bürger wurden<br />
wesentlich durch die Anwesenheit <strong>und</strong> das Verhalten westlicher Korrespondenten - insgesamt befanden<br />
sich am Ereignisort 40 westliche Korrespondenten, darunter 32 Korrespondenten aus der BRD <strong>und</strong><br />
Westberlin <strong>und</strong> drei Mitarbeiter ungarischer Medien 605 - inspiriert <strong>und</strong> unterstützt. So erfolgte die Anfahrt<br />
der Teams von ARD <strong>und</strong> ZDF vor dem Montagsgebet direkt bis auf den Nikolaikirchhof - Weisungen von<br />
Kräften der DVP wurden bewußt mißachtet -, <strong>und</strong> Aufnahmetechnik wurde gezielt demonstrativ entladen,<br />
um auf die Anwesenheit der BRD-Medienvertreter aufmerksam zu machen. Nach Veranstaltungsende<br />
kam es zu einer aktiven Aufnahmetätigkeit - Film/Tontechnik -, die demonstrativ <strong>und</strong> gezielt auf die in<br />
Bewegung geratene Personenansammlung, sehr aktiv agierende Einzelpersonen <strong>und</strong> auf Aktivitäten der<br />
Sicherheitskräfte ausgerichtet war). Gegen 20.00 Uhr verlief sich der Rest der Personenansammlung ohne<br />
weitere Vorkommnisse. Es wurden keine Personen zugeführt. Die entsprechend der Lageeinschätzung<br />
vorbereiteten Maßnahmen <strong>und</strong> Handlungsvarianten für den Einsatz der Sicherheitskräfte erwiesen sich als<br />
zweckmäßig (vom vorgesehenen Einsatz gesellschaftlicher Kräfte wurde Abstand genommen).<br />
(Streng internen Hinweisen zufolge schätzen die „Spiegel-Korrespondenten [... geschwärzt] <strong>und</strong> [...<br />
geschwärzt] die montäglichen Friedensgebete <strong>und</strong> damit zusammenhängende Aktivitäten als völlig sinn-<br />
verurteilt. H.-F. Fischer berichtete darüber unter dem 04.09.1989 in der Zeitschrift der AGM <strong>und</strong> AKG „Forum<br />
für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte“ (Nr. 1, vom 16.09.1989 - ABL Box 10)<br />
603 Der letzte Satz wurde an der Seite dick angestrichen. Die Predigt von Fr. Magirius ist abgedruckt in:<br />
Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 16-19, ein Auszug aus den Fürbitten in: Sievers (1990), 30<br />
604 vgl. Bericht P. Bornhöft in: taz vom 9.9.1989 (taz-DDR-Journal zur Novemberrevolution, 8f.); Das Organ der<br />
FDJ „Junge Welt“ behauptete am 06.09.1989, daß „Mauer weg“ <strong>und</strong> „Weg mit den Kommunisten“ gerufen<br />
wurde <strong>und</strong> kommentierte: „Das sind Worte gegen die Gesetze der DDR, gegen die Verfassung, das ist<br />
Verleumdung von Millionen Menschen, die unseren Staat mit aufbauten, die fleißig arbeiten, die im Gegensatz zu<br />
Ausreißern [sic] gern in unserer Republik leben <strong>und</strong> diese, ungestört von Egoisten <strong>und</strong> politischen Rowdys,<br />
immer attraktiver <strong>und</strong> fre<strong>und</strong>licher machen wollen.“<br />
605 In der gleichen Wochenübersicht hieß es, daß aufgr<strong>und</strong> der Leipziger Herbstmesse am 04.09.1989 „insgesamt<br />
282 ausländische Korrespondenten (einschließlich Techniker)“ „im Pressezentrum der Leipziger Messe“<br />
„akkreditiert“ waren, „darunter 221 aus nichtsozialistischen Staaten“ (BStU ZAIG 4958, 42).<br />
294
<strong>und</strong> wirkungslos ein. Diese dienten ihrer Auffassung nach lediglich den Westmedien dazu, die<br />
Beziehungen DDR-BRD zu untergraben. Die in Erscheinung tretenden DDR-Bürger seien keine<br />
ernstzunehmenden Opponenten. Ferner hätten die Geschäfte im Ost-West-Handel gegenüber politischen<br />
Querelen bzw. Versuchen, der Stadt Leipzig das Messerecht zu entziehen, das Primat).<br />
199 Stasi-Notizen<br />
Auszug aus der handschriftlichen Aufzeichnung des Referatsleiters des Referats 7 zur<br />
Referatsleiterbesprechung der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS am 11.09.1989 (BStU Leipzig AB<br />
1056).<br />
[...]<br />
− Montagsgebet<br />
Bereitschaft in der DE [Diensteinheit] alle MA<br />
− Zugang zu FG wird gewährleistet / Inneres [Pfeil] Super[intendenten]<br />
− Aufforderung an Rumstehende<br />
− Funkwagen [... mit ?] Aufforderung zum Verlassen:<br />
Eingreifgruppen der VP<br />
Sperrketten der VP-Bereitschaft eventuell mit Hilfsmittel<br />
Sperrkreis für NSW-Medien<br />
− Personeneinsatz - KMU[niversität] als Zeugen<br />
− Brief von Leich an Staatsführung zur Veränderung <strong>und</strong> Thesen Ausdruck angespannter Situation<br />
Staat/Kirche 606<br />
− Druck auf Organisierung opp. Basisgruppen Bildung von SPD u.a. [...]<br />
200 Ereignisbericht<br />
Bericht von Katharina Führer vom 11./12.09.1989 über die Ereignisse nach dem Friedensgebet am<br />
11.09.1989 607 (Schreibmaschinendurchschlag) (ABL H 1).<br />
„Es muß was geschehn...“<br />
Heute wurden wir Zeugen des bisher härtesten Polizeieinsatzes nach einem Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche. Bereits mittags wurde auf dem gegenüberliegendem „Brühlpelz“ die Kamera montiert,<br />
wurde der gesamte Kirchplatz gesperrt, Autos abgeschleppt. Seit dem frühen Nachmittag stehen<br />
Motorräder der Polizei auf dem Platz, während Friedensgebetsbesucher von außerhalb gewarnt werden, in<br />
die Nikolaikirche zu gehen, dies bliebe nicht ohne Konsequenzen. In der Stadt gibt es Kontrollen. Nach<br />
dieser Art umfangreichen Vorbereitungen kann um 17.00 Uhr das Friedensgebet beginnen. Das<br />
Kirchenschiff <strong>und</strong> die erste Empore haben sich gefüllt, unser Landesbischof begrüßt persönlich die<br />
Montagsgemeinde, gemahnt zu friedlichem Nachhausegehen nach Beendigung der Andachtsst<strong>und</strong>e.<br />
Superintendent Magirius verliest den Brief der evangelischen Kirchenleitungen an den Generalsekretär, in<br />
dem es unter anderem heißt, daß um „offene <strong>und</strong> wirklichkeitsnahe Diskussionen über die Ursachen von<br />
Unzufriedenheit <strong>und</strong> Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft“ gebeten wird 608 . Es wird geklatscht,<br />
danach gesungen, Pfarrer Führer predigt über einen alttestamentlichen Text, der davon erzählt, daß Gott<br />
uns immer gerade dann seine helfende Hand reicht, wenn es nach menschlichem Ermessen keinen<br />
Ausweg mehr zu geben scheint. Wir singen, halten Fürbitte <strong>und</strong> erheben uns zum Segen. Ruhig verlassen<br />
606 Der Brief der KKL vom 02.09.1989 wurde am 04.09. in einem Brief W. Leichs an die Gemeinden der<br />
Gliedkirchen des BEK bekanntgegeben (abgedruckt z.B. in: Sievers 31-33). Er wurde im FG am 11.09. verlesen<br />
<strong>und</strong> von Landesbischof Hempel, der am FG teilnahm, kommentiert.<br />
607 vgl. Berichte in: Rummel 1990, 163-165; Sievers (1990), 34f., Neues Forum Leipzig, 297<br />
608 s. Anm. 606<br />
295
die über 1000 Menschen die Kirche, von der Hoffnung ermutigt, die der Pfarrer ausspricht: Wir lassen uns<br />
von niemandem einreden, unser Friedensgebet würde mißbraucht, denn dieses Gotteshaus ist ein Haus der<br />
Hoffnung <strong>und</strong> soll es bleiben, offen für alle.<br />
Kleine Grüppchen stehen auf dem Kirchplatz. Es wird geschwatzt, geraucht, man sucht Bekannte. Die<br />
schaulustige Leipziger Bevölkerung hat sich auch heute außerhalb der dichten Reihen Bereitschaftspolizei<br />
versammelt. H<strong>und</strong>e bellen, eine Stimme aus dem Megaphon eines der grünen Wagen ist zu vernehmen:<br />
„Bürger! Verlassen Sie den Nikolaikirchhof! Bei Nichtbefolgen polizeiliche Maßnahmen!“ Sie wird<br />
übertönt durch Buh-Rufe <strong>und</strong> lautes Pfeifen von inner- <strong>und</strong> auch außerhalb der Barrieren stehenden<br />
Menschen. Stehen. Warten. Die Aufforderung der Polizei wird mehrfach wiederholt, sie richtet sich nun<br />
auch an die Menschen, die in den Seitenstraßen stehen: „Behindern Sie nicht unsere Maßnahmen! Ich<br />
lasse die Straße räumen!“ Einige wenige gehen. Nun erfolgen die „Maßnahmen“. Die kaum bereiten<br />
Bereitschaftspolizisten, die uns nicht in die Augen sehen können, werden von den in der zweiten Reihe<br />
stehenden Grauhemden, die wohlbestückte Schultern erkennen lassen, <strong>und</strong> den „Unauffälligen“ mittels<br />
gebrüllter Befehle <strong>und</strong> drängender Hände auf die Menge zugeschoben. Sie kreisen die Gruppe ein. Immer<br />
enger. Die „Hintermänner“ greifen sich indessen Einzelne [sic!] aus der Masse heraus. Teilweise erscheint<br />
dies gezielt - teilweise ohne System - vor sich zu gehen. Jeweils drei Polizisten schleifen eine/n weg. Wer<br />
sich wehrt, wird an den Haaren fortgezogen, Hände werden auf dem Rücken zusammengedreht, Finger<br />
werden umgebogen. Manche lassen sich schweigend abführen, andere werden auf die Lkws getragen,<br />
Schreie von Frauen, Männern <strong>und</strong> auch Kindern werden laut. Es gelingt den Abgedrängten nicht, schon<br />
Festgenommene wieder freizubekommen - wie am vergangenen Montag. Dabei schallen keine<br />
Sprechchöre über den Platz, keine Spruchbänder werden entrollt. Weiter in die kleine Nebenstraße. Ich<br />
bemerke einen Mann im Rollstuhl, der über den nunmehr fast leeren Nikolaikirchhof geschoben wird. Er<br />
kommt nirgendwo durch. Gegen seinen Willen wird er, barsch angefahren, in die Gegenrichtung<br />
weggeschoben von einem Uniformierten. Der ihn Begleitende wird an seinem bandagierten (Gips?) Arm -<br />
was ihm große Schmerzen zu bereiten scheint - auf einen der heranfahrenden Mannschaftswagen gezerrt.<br />
Binnen einer St<strong>und</strong>e sind alle Friedensgebetsbesucher abgedrängt oder aufgeladen. (An Montagen, an<br />
denen die Polizei nicht zugegen war, zerstreuten sich die Menschen nach spätestens einer halben St<strong>und</strong>e in<br />
verschiedene Richtungen. Wer provoziert hier eigentlich wen?) Am Abend hören wir die Berichte von der<br />
österreichisch-ungarischen Grenze. Noch mehr Menschen werden unser Land verlassen. Was aber tun<br />
dann wir, die wir noch(?) hier sind?<br />
Leipzig, 11.09.89<br />
Heute - the day after - erfahren wir von über 100 Verhaftungen, einer, der am Nachmittag wieder<br />
freikommt, erzählt: Alle werden in die Harkortstr. gebracht 609 , wo bei korrekter Behandlung Protokolle<br />
aufgenommen werden. Gegen Mitternacht fährt man sie in eine Turnhalle nach Paunsdorf, einem<br />
Außenbezirk von Leipzig. Sie lagern sich auf den Matten, bekommen Bockwurst <strong>und</strong> Brötchen, Tee.<br />
Zwischen 4.00 <strong>und</strong> 5.00 Uhr morgens entläßt man die ersten. Kalter Tee am Vormittag. Schroffe bis<br />
freche Bemerkungen der Wachhabenden, sie begleiten zur Toilette, Waschgelegenheiten gibt es keine.<br />
14.00 Uhr verabreicht man den Zugeführten eine Bratwurst mit Brötchen, sie werden zurück in die<br />
Harkortstraße gebracht. Nach einem Schnellermittlungsverfahren, zu dem ein Staatsanwalt hinzugezogen<br />
wird, werden gemäß Paragraph 217 wegen „Zusammenrottung“ Geldstrafen von 3000 bis 5000 Mark<br />
erhoben. Die gesetzliche Höchststrafe jedoch beträgt 500 Mark. Bisherige Erfahrungen ergeben: die<br />
Leute, verständlicherweise froh, wieder „draußen“ zu sein, zahlen, ohne eine schriftliche Aufforderung<br />
erhalten zu haben. Andernfalls wird eine zweijährige Haftstrafe angedroht. Es sind noch nicht alle frei.<br />
„Alle, die von Freiheit träumen [/] sollen’s Feiern nicht versäumen [/] sollen tanzen auch auf Gräbern - [/]<br />
Freiheit ist die einzige, die fehlt...“<br />
201 Ereignisbericht<br />
Gedächtnisprotokoll zu den Ereignissen am 11. <strong>und</strong> 12.09.89 in Leipzig von K. Boche: Typoskript (ABL H<br />
609 s. Anm. 493<br />
296
610<br />
1) .<br />
Wie jeden Montag wurde auch am 11.09. ab 17.00 Uhr der traditionelle Gottesdienst in der Nikolaikirche<br />
durchgeführt.<br />
Auffällig für uns alle war das riesige Aufgebot an Bereitschaftspolizei, VP <strong>und</strong> Stasi, die schon lange vor<br />
Beginn der Andacht rings um die Nikolaikirche Stellung bezogen hatten. Mehrere Mannschaften der BePo<br />
[Bereitschaftspolizei] waren mit Lkws in den Seitenstraßen postiert, unter ihnen befand sich auch ein<br />
Transportfahrzeug mit H<strong>und</strong>en!<br />
Die Montagsandacht selber nahm ihren normalen Verlauf <strong>und</strong> endete etwa gegen 18.00 Uhr. Bis aus der<br />
überfüllten Kirche die Besucher herausgeströmt waren, verging etwa eine Viertelst<strong>und</strong>e. In dieser Zeit<br />
hatten sich schon sämtliche BePo-Einheiten zu massiven Absperrketten formiert <strong>und</strong> das gesamte Gelände<br />
um die Kirche hermetisch abriegelten. Unweit der Kirchenbesucher filmte die Stasi mit Videokamera in<br />
die Menge hinein, außerdem wurden wir am laufenden Band von VP- <strong>und</strong> Stasibeamten fotografiert. Wir<br />
selber blieben ruhig <strong>und</strong> gelassen, ließen uns nicht provozieren <strong>und</strong> waren in kleinere Grüppchen<br />
aufgeteilt.<br />
Plötzlich erfolgte über Lautsprecher eine VP-Durchsage, welche befahl, daß wir unverzüglich den Platz zu<br />
räumen haben <strong>und</strong> uns auflösen sollen. Das stieß unsererseits auf Unverständnis, da unser friedliches<br />
Zusammenstehen keinerlei demonstrativen Charakter hatte!<br />
Gleichzeitig beobachteten wir, daß sich weitere mit Gummiknüppeln bewaffnete BePo-Einheiten um uns<br />
herum formierten <strong>und</strong> auch die vielen Stasi’s sich auf uns zu bewegten. Sek<strong>und</strong>en später stürzten die<br />
ersten Stasi- <strong>und</strong> VP-Angehörigen in die langsam unruhig werdende Menge <strong>und</strong> zerrten auf brutalste Art<br />
die ersten Leute hinaus auf die bereitgestellten Lkws. Daraufhin ergriffen auch die in der Menge<br />
postierten Stasi’s einzelne Bürger <strong>und</strong> zerrten sie teilweise zu viert oder zu fünft zu den Lkws. Die im<br />
nächsten Augenblick erfolgten Lautsprecherdurchsagen wurden daraufhin von uns mit Pfui-Rufen <strong>und</strong><br />
Pfiffen übertönt. Auch setzten sich die BePo’s eingehakt in Bewegung <strong>und</strong> drängten die nun in hilflose<br />
Panik versetzte Menge von drei Seiten in eine kleinere Seitenstraße. Immer wieder brachen von allen<br />
Seiten die Beamten durch die BePo-Ketten durch <strong>und</strong> zerrten wahllos alles heraus, was sie gerade so<br />
erwischten! Fast jedem der Festgenommenen wurden die Arme bis zur Schmerzgrenze verdreht, auch<br />
Mädchen <strong>und</strong> Frauen wurden geschlagen <strong>und</strong> äußerst brutal behandelt. Ein Punk wurde von VP-Leuten<br />
hinter einen Bauwagen gezerrt <strong>und</strong> dort mißhandelt. Festgenommen wurden auch - so ganz nebenbei -<br />
völlig unbeteiligte Neugierige, Leute die sich mehrere h<strong>und</strong>ert Meter weg befanden, einkaufende<br />
Hausfrauen.<br />
Einmal beobachtete ich, wie sich Polizisten an einer Rentnerin vergriffen! Dann, als die Seitenstraße so<br />
verstopft war, daß kein Entkommen mehr möglich war, zerrte man auch mich heraus. Auf Umwegen<br />
wurden wir schubweise in die Dimitroffstraße gefahren, ein Riesenbau, welcher VPKA, Stasi, U-Haft <strong>und</strong><br />
Gericht miteinander verbindet. Dort wurden unsere Personalien aufgenommen <strong>und</strong> wir warteten in einem<br />
Schulungsraum auf das weitere Geschehen. Etwa eine halbe St<strong>und</strong>e später wurden wir von Kripobeamten<br />
aufgerufen <strong>und</strong> zur Befragung geholt. Die Behandlung war im großen <strong>und</strong> ganzen sachlich.<br />
Nach den kurzen <strong>und</strong> routinemäßigen Protokollaufnahmen wurden wir in Achtergrüppchen<br />
zusammengestellt <strong>und</strong> erneut auf Lkws der BePo verladen. Auf unser Anfragen nach dem Wohin wurde<br />
uns nicht geantwortet. Nach einer längeren Fahrt ins Ungewisse kamen wir schließlich in Leipzig-<br />
Paunsdorf an. Dort wurden wir in eine VP-Turnhalle geführt, wo schon etwa 40 Inhaftierte auf<br />
Holzbänken saßen. Nach <strong>und</strong> nach kamen neue Grüppchen - gegen Mitternacht waren wir in der Turnhalle<br />
59 männliche <strong>und</strong> 20 weibliche Verhaftete! Die Frauen <strong>und</strong> Mädchen wurden etwas später von uns isoliert<br />
<strong>und</strong> in einem Nachbarraum untergebracht. Die Bedingungen in der Turnhalle grenzten an Mißachtung der<br />
menschlichen Würde. Die 24 St<strong>und</strong>en, die wir in der Halle verbrachten, brannten durchweg grellste<br />
Neonröhren; auch waren keinerlei Lüftungsfenster oder ähnliches vorhanden. Schmutzigste Toiletten, die<br />
wir nur einzeln <strong>und</strong> in Begleitung betreten durften, keine Abtrockenmöglichkeit, ausgesprochenes<br />
610 Die Koordinierungsgruppe für die Fürbittgebete hatte Fragebögen für die kurzzeitig Inhaftierten entworfen <strong>und</strong><br />
ließ einige Dutzend ausfüllen. Einige der Befragten gaben eigene Berichte bei der Koordinierungsgruppe ab<br />
(ABL H 1).<br />
297
Rauchverbot - alles Dinge, die wir als absolut schikanös empfanden.<br />
Die Bewachung selber war zahlreich, vor der Ausgangstür liefen H<strong>und</strong>e herum. Die einzige Schlaf- bzw.<br />
Ruhemöglichkeit waren total schmutzige <strong>und</strong> von Ungeziefer <strong>und</strong> H<strong>und</strong>ehaaren bedeckte Sportmatten.<br />
Etwa gegen 1 Uhr nachts (mit dem letzten Transport) wurden etwas zu Essen <strong>und</strong> ein Kübel Tee gebracht.<br />
Jeder von uns bekam eine kalte Bockwurst <strong>und</strong> ein schon etwas ältliches Brötchen dazu... Irgendwann<br />
früh wurden ein paar Namen aufgerufen, die Aufgerufenen bekamen allem Anschein nach ihre Ausweise<br />
wieder <strong>und</strong> durften gehen. Ein paar St<strong>und</strong>en später die nächsten - diese wurden aber wieder auf einen<br />
LKW der BePo verladen <strong>und</strong> weggefahren.<br />
Um die Mittagszeit des Dienstages herum gab es wiederum was zu essen: eine lauwarme Bratwurst <strong>und</strong><br />
ein hartes Brötchen...<br />
Im Abstand von mehreren St<strong>und</strong>en wurden weitere Transporte zusammengestellt, so daß wir dann gegen<br />
18.00 Uhr noch ca. 10 Mann waren. Mit einer Begleitung von etwas 20 BePo- <strong>und</strong> VP-Leuten wurden wir<br />
per LKW wieder zurück in die Dimitroffstraße gefahren <strong>und</strong> in einen Schulungsraum gesteckt. Minuten<br />
später wurde jeder einzeln von Stasi- <strong>und</strong> Kripo-Leuten aufgerufen. Es erfolgte eine Mitteilung, daß gegen<br />
uns ein Ermittlungsverfahren wegen § 217 (Zusammenrottung) eingeleitet worden ist. Wir hatten die<br />
Möglichkeit, nochmal im Strafgesetzbuch nachzulesen, was die Konsequenzen für uns sind.<br />
In der von mir abverlangten Stellungnahme erklärte ich dem MfS-Mitarbeiter, daß ich mich weigere, den<br />
Vorfall vom Vortag als Zusammenrottung anzuerkennen! Ich erklärte nochmals, daß unserem friedlichen<br />
Aufenthalt vor der Nikolaikirche keinerlei kriminelle Absicht vorlag. Das war alles, was ich dazu zu sagen<br />
hatte! Dann wurde ich wieder in den Schulungsraum geführt. Etwa 10 Minuten später wurde ich von dem<br />
Stasi <strong>und</strong> einem VP-Angehörigen in das Gebäude der U-Haft Beethovenstraße gebracht, mußte dort etwa<br />
5 Minuten warten <strong>und</strong> wurde einer Staatsanwältin zugeführt. Diese erklärte mir, daß gegen mich ein<br />
Strafbefehl erlassen worden ist <strong>und</strong> schob mir die schriftliche Ausführung davon über den Tisch.<br />
Ich nahm zur Kenntnis, daß ich wegen Verstoß des § 217/1 eine Geldstrafe in Höhe von 3000,-DM zu<br />
zahlen hätte! Dann nahm die Staatsanwältin das Formular wieder an sich <strong>und</strong> erklärte mir, daß die<br />
Zahlung der oben genannten Summe binnen einer Woche zu erfolgen hätte. Ansonsten würde die<br />
Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe umgewandelt werden - so ihre Erklärung zu meinem mündlichen Protest.<br />
Abschließend reichte sie mir einen Zettel, auf welchem stand, daß ich die Strafe anerkennen werde <strong>und</strong><br />
auf sämtliche Rechtseinsprüche verzichte - ich unterschrieb natürlich nicht. Wie ich dann später<br />
bedauerlicherweise erfuhr, ließen sich die meisten der Betroffenen durch den auf sie ausgeübten<br />
psychischen Druck beeinflussen <strong>und</strong> unterschrieben.<br />
Zwischen 18.30 Uhr <strong>und</strong> 19.30 Uhr wurden wir dann völlig entnervt entlassen.<br />
202 SED-Information<br />
Fernschreiben vom 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, an das Mitglied des Politbüros<br />
<strong>und</strong> Sekretärs des ZK, H. Dohlus, vom 12.09.1989 über den Ablauf des Friedensgebetes am 11.09.1989<br />
(StAL SED 4972).<br />
Werter Genosse Horst Dohlus!<br />
Wie ich bereits in meinem Fernschreiben vom 11.9. informierte 611 , fand am Montag, dem 11.9.89 von<br />
17.00 bis 17.45 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig das sogenannte Montagsgebet statt, an dem ca. 1000<br />
Personen teilnahmen. Wie gemeinsam abgestimmt, erfolgte bereits ab 16.00 Uhr eine starke Präsenz der<br />
611 Dieses Fernschreiben konnten die Herausgeber nicht finden, vermutlich ist es die Gr<strong>und</strong>lage einer ZK-<br />
Hausinformation gewesen, in der es u.a. hieß: „Information des Leiters der Abt. f. Sicherheitsfragen der BL<br />
Leipzig, Gen. Reinhard, am 11.9.89, um 19.25 Uhr [/] Am Montagsgebet, am 11.9.89, um 17.45 Uhr, haben in<br />
der Nikolaikirche in Leipzig ca. 1000 Personen teilgenommen. Während des Gebetes wurde die VP tätig, um<br />
schaulustige Gruppen aufzulösen. Nach 17.45 verblieben ca. 600 Personen auf dem Kirchhof. [...] Zum Schutz<br />
der Sicherheitskräfte wurden H<strong>und</strong>eführer eingesetzt. In einem FS [Fernschreiben] an das ZK werden weitere<br />
Informationen gegeben. Der BD der Abt. f. Sicherheitsfragen, Gen. Namokel, wurde informiert. [/] gez. Brückner<br />
[/] Verteiler: [/] Abt. f. Sicherheitsfragen [/] AG Kirchenfragen“ (SAPMO-BArch IV B 2/14/21)<br />
298
Volkspolizei im Zentrum der Innenstadt. In gleicher Weise wurden bereits während des Montagsgebets<br />
anwesende Schaulustige (ca. 100) durch Auflösegruppen der DVP vom Nikolaikirchhof verwiesen.<br />
Während des Gebetes wurden durch Superintendent Magirius der bekannte Brief der Konferenz der<br />
Kirchenleitungen an den Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Erich Honecker, <strong>und</strong> das<br />
Begleitschreiben in vollem Wortlaut verlesen. Danach nahm der anwesende Landesbischof Hempel das<br />
Wort zum Brief <strong>und</strong> forderte abschließend die Teilnehmer zu besonnenem Verhalten nach Abschluß des<br />
Gebetes auf.<br />
Zwischen 17.45 <strong>und</strong> 18.00 Uhr hatte ca. die Hälfte der Teilnehmer den Nikolaikirchhof (Kirchenvorplatz)<br />
verlassen. Ab 18.00 Uhr wurde durch die DVP über Lautsprecherwagen mehrfach zum Verlassen des<br />
Nikolaikirchhofes aufgefordert. Die Anzahl der Personen verringerte sich bis 18.30 Uhr weiter. Die noch<br />
auf dem Kirchenvorplatz verharrenden ca. 250 Personen wurden durch Auflösegruppen <strong>und</strong> Räumketten<br />
der VP vom Kirchenvorplatz zurückgedrängt. Sympathie wurde provozierenden Bürgern durch Klatschen<br />
gegeben, die den Maßnahmen der VP nur zögernd nachkamen <strong>und</strong> die Zuführungen provozierten. Erste<br />
Zuführungen machten sich deshalb erforderlich. 18.45 Uhr war der Nikolaikirchhof geräumt. Nach 19.00<br />
Uhr im Ergebnis der weiteren Abdrängung <strong>und</strong> Räumung hielten sich in der Kleinen Ritterstraße noch ca.<br />
60 Personen auf, die der erneuten Aufforderung zum Auseinandergehen nicht nachkamen612 . Durch<br />
weitere Zuführungen wurde die Personenansammlung schließlich 19.30 Uhr endgültig aufgelöst.<br />
Während der Handlung verfolgten mehrere h<strong>und</strong>ert Schaulustige an Zugängen des Handlungsraumes den<br />
Handlungsablauf. Entfaltete Sperrketten der VP verhinderten ihr mögliches Eindringen in den<br />
Handlungsraum. Die von den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen abgestimmten umfangreichen Maßnahmen<br />
<strong>und</strong> Handlungsvarianten erwiesen sich als zweckmäßig. Das kluge <strong>und</strong> besonnene Verhalten dieser<br />
Genossen verdient Dank <strong>und</strong> Anerkennung. Es wurden keine westlichen Journalisten festgestellt. Es<br />
erfolgte kein Einsatz polizeilicher Hilfsmittel. Demonstrative Handlungen mittels Transparente traten<br />
nicht auf. Von den 89 erfolgten Zuführungen (davon 19 weibliche Personen) befanden sich 11 Personen<br />
aus anderen Bezirken. Ab 24.00 Uhr erfolgte die Entlassung von 48 Personen nach Belehrung. Von den 78<br />
zugeführten Personen aus dem Bezirk Leipzig sind 26 Antragsteller auf ständige Ausreise. Zu dem<br />
restlichen Personenkreis werden differenzierte rechtliche Entscheidungen getroffen. Bei 7 Personen<br />
erfolgt die Prüfung des Straftatbestandes 613.<br />
Es zeigt sich:<br />
1. Trotz mehrfacher Gespräche <strong>und</strong> Einflußnahme auf die kirchlichen Amtsträger konnte eine zeitliche<br />
<strong>und</strong> örtliche Verlegung der Montagsgebete wiederum nicht erreicht werden. (Letztmalige Gespräche<br />
mit den Superintendenten Magirius <strong>und</strong> Richter am 9.9.89 geführt)<br />
2. Die bisher angewandten rechtlichen Mittel <strong>und</strong> die massive Präsens der VP haben nicht zur<br />
Zurückdrängung <strong>und</strong> Unterbindung von Provokationen im Anschluß an das Montagsgebet auf<br />
öffentlichen Plätzen <strong>und</strong> Straßen geführt.<br />
3. Das gegenwärtig aggressive <strong>und</strong> provokante Verhalten der Teilnehmer im Anschluß an das<br />
Montagsgebet schließt zukünftig die Anwendung weiterer polizeilicher Hilfsmittel nicht aus.<br />
203 Notizen aus einer Parteiberatung<br />
Auszug aus dem Protokoll der regulären Sitzung der SED-Bezirksleitung am 12.09.1989, in der erstmals seit<br />
Jahren „ausführlich“ über die Opposition in der DDR gesprochen wurde (StAL SED A 5551).<br />
612 Die ZAIG des MfS (Wochenbericht) meldete, daß „im Ergebnis zentral abgestimmter vorbeugender<br />
Maßnahmen“ die Polizei zum Einsatz kam. Dort heißt es weiter: „Gegen 19.00 Uhr hielten sich lediglich in der<br />
angrenzenden Kleinen Ritterstraße noch ca. 70 Personen auf.“ (BStU ZAIG 4598, 76)<br />
613 In der „Leipziger Volkszeitung“ hieß es am 12.09.1989 auf der Lokalseite: „In den gestrigen Abendst<strong>und</strong>en<br />
versammelten sich in der Leipziger Innenstadt mehrer Personengruppen, um die öffentliche Ordnung <strong>und</strong><br />
Sicherheit zu stören. Den Aufforderungen der DVP zur Auflösung wurde zum Teil nicht Folge geleistet. Die<br />
rechtswidrige Zusammenrottung wurde aufgelöst. Es waren Zuführungen erforderlich. Die rechtlichen<br />
Konsequenzen werden geprüft.“<br />
299
Tagesordnung<br />
1. Verlesen des Berichts der Bezirksleitung Leipzigs an das Politbüro der SED über Erfahrungen <strong>und</strong><br />
Ergebnisse der Auswertung der 8. Tagung des ZK in Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR <strong>und</strong><br />
des 12. Parteitages der SED<br />
2. Beschlußfassung zum Bericht der Bezirksleitung an das Politbüro der SED<br />
3. Bericht des Sekretariats der Bezirksleitung - Berichterstatter Kurt Meyer<br />
4. Diskussion<br />
5. Schlussbemerkung<br />
[... Seite 52ff., Bericht von K. Meyer:]<br />
In Vorbereitung des 40. Jahrestages der Gründung der DDR gilt es vor allem die Mängel, Mißstände <strong>und</strong><br />
Erschwernisse schneller zu erkennen <strong>und</strong> zu beseitigen. Solche, die das Wohlbefinden unserer Bürger <strong>und</strong><br />
ihrer Verb<strong>und</strong>enheit mit ihrer soz. Heimat beeinträchtigen. Vor Entscheidungen, die das Leben der Bürger<br />
betreffen, sind unsere Bürger in noch stärkerem Maße einzubeziehen. In diesem Zusammenhang ist die<br />
kommunalpolitische Öffentlichkeitsarbeit weiter spürbar zu qualifizieren. Die Einschätzung der 8.Tagung<br />
des ZK, daß wir gegenwärtig sehr intensive Bestrebungen gewisser Politiker kapitalistischer Länder<br />
erleben, politischen, ideologischen <strong>und</strong> ökonomischen Druck auf die soz. Länder auszuüben <strong>und</strong> sie zur<br />
Übernahme kap. Gesellschaftsvorstellungen <strong>und</strong> Strukturen von bürgerlichem Pluralismus <strong>und</strong><br />
bürgerlichen Ideologien zu veranlassen, das widerspiegelt sich auch im Wirken feindlich negativer Kräfte<br />
im Bezirk. Der Gegner verstärkt im Rahmen seines subversiven Vorgehens die Versuche der Schaffung<br />
<strong>und</strong> Legalisierung einer sogenannten inneren Opposition <strong>und</strong> zur Inspirierung <strong>und</strong> Organisierung<br />
politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit mit dem Ziel der Schaffung eines Druckpotentials zur Aufweichung,<br />
Zersetzung <strong>und</strong> politischen Destabilisierung der soz. Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung. Nach den erzielten<br />
Einbrüchen in anderen soz. Ländern Polen, Ungarn konzentriert er unter Mißbrauch des KSZE-Prozesses,<br />
insbesondere des Wiener Abschlußdokuments, seine Angriffe vor allem gegen die DDR. Die jüngste<br />
Hetzkampagne <strong>und</strong> Massenhysterie in Form einer Frontberichterstattung zur Organisierung massenhaften<br />
Verlassens der DDR dient auch dem Ziel, den Einfluß oppositioneller Kräfte zu erweitern <strong>und</strong> damit die<br />
Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen zu begründen. Es ist ein immer engeres <strong>und</strong><br />
abgestimmteres Zusammenwirken innerer feindlicher Kräfte mit Politikern von NATO-Staaten, besonders<br />
der BRD, diverser feindlichen Organisationen, Zentren der ideologischen Diversion, vor allem durch<br />
Vertreter der Massenmedien festzustellen. Verstärkt wird auf die internationale Verflechtung feindlicher<br />
Gruppen in den verschiedenen soz. Ländern hingewirkt, die immer umfassendere Vernetzung der<br />
verschiedenen Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen in der DDR organisiert. Auch im Bezirk Leipzig sind<br />
entsprechend der Orientierungen feindlicher Zentren zum Teil schon seit Jahren existierende<br />
Personengruppen <strong>und</strong> Personen mit feindlichen oder oppositionellen Haltungen in jüngster Zeit verstärkter<br />
dazu übergegangen, öffentlichkeitswirksame Handlungen zu organisieren <strong>und</strong> ihren Einfluß auszuweiten.<br />
Dabei kam es wiederholt zu Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit. Zu derartigen Aktivitäten<br />
gehört insbesondere der provokatorische sogenannte „Schweigemarsch“ am 15.1.1989 anläßlich des<br />
Todestages von Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg, der versuchten Organisierung einer sogenannten<br />
Protestveranstaltung von Nichtwählern am 7.5.1989 auf dem Markt von Leipzig, der Versuch der<br />
Durchführung eines sogenannten 2. Pleißemarsches am 4.6.1989 anläßlich des Weltumwelttages, die<br />
Durchführung eines nichtgenehmigten sogenannten Straßenmusikfestivals am 10.6. diesen Jahres, die<br />
Formierung von sogenannten „Schweigemärschen“ nach Friedensgebeten in der Nikolaikirche, an denen<br />
vorwiegend Antragsteller auf ständige Ausreise teilnehmen, die seit vergangenem Jahr in der Kirche ein<br />
schützendes Dach hatten <strong>und</strong> haben <strong>und</strong> von einigen feindlichen Kräften aus kirchlichen Kreisen<br />
Unterstützung erhielten. Zur Frühjahrsmesse erfolgte dabei ein enges Zusammenwirken mit westlichen<br />
Journalisten <strong>und</strong> Kamerateams. Ein Höhepunkt der Aktivitäten des politischen Untergr<strong>und</strong>s bildete die<br />
Organisierung eines sogenannten „Gegenkirchentages“ während des ev. Kirchentagskongresses Anfang<br />
Juli in der Lukaskirche in Leipzig. Im Mittelpunkt standen dabei die fortgesetzte Ablehnung der<br />
Wahlergebnisse, die Unterstützung negativer Entwicklungen in anderen soz. Ländern, die Fortsetzung von<br />
Angriffen auf Teilbereiche unserer soz. Gesellschaftsordnung - ich nenne nur die Stichworte Umwelt,<br />
Wehrdienst, Reisefreiheit, Medizinische Versorgung - sowie aktive Unterstützung nichtgenehmigter<br />
feindlich negativer Handlungen, so unter anderem durch Geldsammlungen für die Begleichung von<br />
300
Ordnungsstrafen. Alle diese Provokationen wurden von den westlichen Massenmedien breit publiziert,<br />
wobei in der Regel durch stark überhöhte Teilnehmerzahlen der Eindruck eines massenhaften Umfanges<br />
erreicht werden sollte, um dies zum Anlaß zur Diskriminierung des Soz. <strong>und</strong> Angriffen auf die Schutz-<br />
<strong>und</strong> Sicherheitsorgane genutzt [sic!]. Das konzeptionelle Vorgehen der unterschiedlichen Gruppen<br />
konzentriert sich weitgehend in Übereinstimmung mit westlichen Hauptrichtungen der ideologischen<br />
Diversion auf folgende gesellschaftliche Bereiche <strong>und</strong> politische Fragen:<br />
− Förderung <strong>und</strong> Entwicklung von Vorstellungen zu einer Änderung der soz. Ordnung <strong>und</strong> Erneuerung<br />
des Soz. Dabei erfolgt eine immer stärkere Berufung auf Umgestaltungsprozesse in der UdSSR <strong>und</strong><br />
anderer soz. Länder bei Negierung unserer Linie. „Soz. in den Farben der DDR“.<br />
− Demagogische Verwendung der Begriffe „Glasnost“, „Demokratisierung“, „Bürgerrecht“, „Freiheit für<br />
Andersdenkende“ bis hin zu Forderungen nach Meinungsfreiheit, Wahlrecht, Reisefreiheit <strong>und</strong> unserer<br />
Sicherheits- <strong>und</strong> Verteidigungspolitik, wobei oft die Vorschläge einseitiger Vorleistungen der soz.<br />
Länder negiert oder abgewertet werden<br />
− Forderung nach Entmilitarisierung der Gesellschaft<br />
− Beseitigung der vormilitärischen Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung<br />
− Abschaffung der Wehrpflicht<br />
− Einrichtung eines zivilen bzw. sozialen Friedensdienstes<br />
− Recht auf Wehrdiensttotalverweigerung<br />
− Im Bereich der Volksbildung/Erziehung der Jugend konzentrieren sich diese Dinge insbesondere auf<br />
die Forderung nach Aufgaben des Totalitätsanspruchs der Marx.-Len.-Weltanschauung von der<br />
gesellschaftlichen Institution zur Erziehung<br />
− Beim Umweltschutz, wobei anknüpfend an tatsächliche Umweltbelastungen die Politik der Partei in<br />
Umweltfragen angegriffen wird, Negierung des Geleisteten, Forderung nach Erhöhung entsprechender<br />
Investitionen, Darstellung als Interessenvertreter der Bevölkerung. Verstärkt wird<br />
Kernkraftproblematik in den Mittelpunkt gestellt - Raum Oschatz/Wurzen - aber auch in der Stadt<br />
Leipzig.<br />
Die mit Aktivitäten im Sinne politischer Untergr<strong>und</strong>tätigkeit aktiv auftretenden Personen, einschließlich<br />
der Organisatoren <strong>und</strong> Inspiratoren, sind in Form sogenannter Basisgruppen fast ausschließlich bei<br />
verschiedenen ev. Kirchgemeinden angesiedelt.<br />
Der Anhang ist relativ instabil <strong>und</strong> setzt sich ebenfalls aus Christen zusammen. Antragsteller auf ständige<br />
Ausreise gehören gegenwärtig nicht zum Kern solcher kirchlicher Gruppen. Sie werden aber als Potential<br />
bei Provokationen genutzt. Der weitaus größte Teil der zum aktiven Kern gehörenden Personen verfügt<br />
über eine abgeschlossene theologische Ausbildung. Überwiegend handelt es sich um junge Menschen, die<br />
als Angestellte kirchlicher Einrichtungen tätig oder Studenten, vor allem des theologischen Seminars bzw.<br />
der Sektion Theologie der KMU [Karl-Marx-Universität] sowie von verschiedenen<br />
naturwissenschaftlichen Bereichen sind. Vereinzelt sind diese als Hilfspersonal in<br />
Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen bzw. in Klein- <strong>und</strong> Mittelbetrieben tätig. Arbeiter oder Beschäftigte aus<br />
Großbetrieben gehören nicht zu den aktiven Mitgliedern personeller Zusammenschlüsse. Es ist deshalb<br />
notwendig, die Beschlüsse des Sekretariats der Bezirksleitung vom 1.2. <strong>und</strong> 15.3. 614 dieses Jahres zur<br />
offensiven politischen ideologischen Arbeit mit allen Bürgern unter besonderer Berücksichtigung jener,<br />
die negativen bzw. feindlichen Einflüssen unterliegen, angesichts der aktuellen Entwicklung mit noch<br />
größerer Konsequenz <strong>und</strong> Zielstrebigkeit durchsetzen.<br />
204 Innerkirchliche Information<br />
Brief Sup. Richters vom 15.09.1989 an alle Pfarrämter seines Kirchenbezirkes, in dem er empfiehlt, für die<br />
Personen, die am 11.09.1989 inhaftiert wurden, Fürbitte zu halten (ABL H 1).<br />
Betr.: Empfehlung zur Fürbitte<br />
614 s. Anhang, S. 359<br />
301
Zur Fürbitte im Zusammenhang mit dem allgemeinen Kirchengebet in den Gottesdiensten empfehle ich<br />
folgenden Text, der dem Gebet vorausgehen sollte:<br />
„Am Montag, dem 11. September wurden in Untersuchungshaft genommen:<br />
Carola Bornschlegel, Ramona Ziegner, G<strong>und</strong>ula Walter, Udo Hartmann, Kathrin Hattenhauer, Axel<br />
Gebhardt, Jutta Gätzel, Mirko Kätzel, Frank Elsner <strong>und</strong> andere, deren Namen uns nicht bekannt sind.<br />
Gegen sie wird wegen Zusammenrottung ermittelt. Sie hatten nach dem Montagsgebet in der<br />
Nikolaikirche der Aufforderung nicht Folge geleistet, den Nikolaikirchhof unverzüglich zu verlassen.<br />
Wir beten für die Inhaftierten <strong>und</strong> für die mit ihnen befaßten Untersuchungsrichter,<br />
− daß die Wahrheit gef<strong>und</strong>en werde <strong>und</strong> zum Tragen komme,<br />
− daß die Gerechtigkeit regieren möge,<br />
− daß Angst <strong>und</strong> Haß nicht das Leben unter uns vergiften möge,<br />
− daß Erneuerung des Denkens <strong>und</strong> Handelns dem alten Denken in Machtstrukturen folgen möge,<br />
− daß Vertrauen <strong>und</strong> Versöhnung in unserem Volk wohne <strong>und</strong> wachse.“<br />
Mit brüderlichen Grüßen, [/] Ihr [gez.] Joh. Richter<br />
205 Persönlicher Brief<br />
Brief von K. Eigenfeld (Neues Forum Halle) an T. Rudolph vom 15.09.1989, in dem sie schreibt, daß<br />
Veränderungen in der DDR nicht mehr aufzuhalten sind (ABL H 1).<br />
Lieber Thomas!<br />
Die Information über die Verhaftungen in Leipzig habe ich erhalten. Ich habe keine andere<br />
Kontaktadresse als Deine, <strong>und</strong> ich denke auch, daß Du meine Bestürzung <strong>und</strong> Anteilnahme für die<br />
Inhaftierten entgegennimmst <strong>und</strong> weiterleiten kannst. Ich weiß nur zu genau, was es bedeutet, in so einer<br />
„Obhut“ zu sein. Jede St<strong>und</strong>e dort ist überflüssig <strong>und</strong> längst überholt. Ich denke ganz fest, daß breite<br />
Veränderungen nicht mehr aufzuhalten sind, ob nun Ochs oder Esel615 oder MfS. Es ist auch gut zu<br />
erleben, welch breite Zustimmung das NEUES FORUM erlebt.<br />
Am 24.9. komme ich nach Leipzig 616.<br />
Bis dahin grüße ich Euch alle dort in Leipzig.<br />
[gez.] Katrin Eigenfeld<br />
206 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
IN-Telegramm von der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig (Munkwitz) vom 15.09.1989 an den Stellvertreter<br />
für Inneres des RdB Leipzig, Reitmann, über ein Gespräch zwischen Reitmann, Bischof Hempel <strong>und</strong> Sup.<br />
Richter am 13.09.1989 617 . Die Vorlage trägt drei Stempel („IN-Telegramm“, „Dienstsache“ <strong>und</strong><br />
„Eingegangen 18.IX.89“). Auf der Kopie wurde von Major Conrad „19.9.“ vermerkt. Die Kopie trägt noch<br />
weitere Bearbeitungsspuren (ABL H 53).<br />
Dienstsache<br />
Entsprechend dem Auftrag vom 12.09.1989 fand am 13.09.1989 im Schulungsobjekt des Rates des<br />
Bezirkes Leipzig, Großsteinberg am See, Kreis Grimma, ein Zusammentreffen mit dem Landesbischof der<br />
Landeskirche Sachsen, Dr. Hempel, statt 618.<br />
615 Wiederaufnahme des Honecker-Zitats „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.“ (Am<br />
14.08.1989 während der Übergabe eines 1-Mega-Chips aus DDR-Produktion.)<br />
616 Gemeint ist das erste Treffen der neugegründeten politischen Vereinigungen (Neues Forum, Sozialdemokratische<br />
Partei, Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt) in den Räumen der Markus-Gemeinde auf Einladung der<br />
„Initiative zur demokratischen Erneuerung“ am 24.09.1989.<br />
617 Der Telegramm-Stil wurde durch die Herausgeber getilgt. Das Telegramm ging u.a. auch an den<br />
Generalstaatsanwalt der DDR (1. Stellvertreter Borchert).<br />
618 Das Protokoll des Gesprächs von Sup. Richter ist abgedruckt in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 272-279. Nach<br />
302
Das Zusammentreffen wurde durch die Vermittlung <strong>und</strong> Unterstützung des Stellvertreters des<br />
Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres, Gen. Dr. Reitmann, <strong>und</strong> die unmittelbare Bereitschaft<br />
des Bischofs zum Gespräch möglich.<br />
Letzterer unterbrach seine Teilnahme an einem Pastoralkolleg in Krummhennersdorf für diese Zeit. An<br />
dem Gespräch nahmen Staatsanwalt des Bezirkes, Gen. Munkwitz, Leiter der Abteilung IA beim<br />
Staatsanwalt des Bezirkes, Gen. Kurzke, Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, Gen. Dr.<br />
Reitmann, sowie Landesbischof Dr. Hempel, Dresden, Oberlandeskirchenrat Hoffmann, Dresden,<br />
Superintendent Richter, Leipzig, teil. Das konzentrierte, jederzeit offene <strong>und</strong> sachliche Gespräch<br />
erstreckte sich von 15.00 bis 17.00 Uhr. Durch den Bischof wurde ausdrückliche Gesprächsbereitschaft<br />
erklärt <strong>und</strong> bis zum Schluß nachgewiesen. Nach Eröffnung durch Dr. Reitmann wurde vom<br />
Bezirksstaatsanwalt über die Vorkommnisse am 11.09.1989 an der Nikolaikirche Leipzig <strong>und</strong> die dort<br />
gefallenen Äußerungen bis hin zur Aufforderung, die Angehörigen der Sicherheitsorgane „totzuschlagen“<br />
<strong>und</strong> die daraufhin notwendigen Maßnahmen zur Auflösung der Zusammenrottung informiert. Der Bischof<br />
wurde von notwendigen Inhaftierungen <strong>und</strong> dem Erlaß von Strafbefehlen gegen bestimmte Personen in<br />
Kenntnis gesetzt. Unter Bezugnahme auf das KH [?] Januar dieses Jahres mit den Superintendenten<br />
Magirius <strong>und</strong> Richter geführte Gespräch <strong>und</strong> die bislang seitens der Staatsorgane <strong>und</strong> Justiz geübte<br />
Geduld wurde vom BSTA [Bezirksstaatsanwalt] erklärt, daß nun die Grenze der Toleranz <strong>und</strong> des<br />
Zumutbaren für die Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit in der Stadt <strong>und</strong> für ihre Bürger erreicht sei. Die Erwartungen<br />
aus vorangegangenen Gesprächen <strong>und</strong> der bisherigen Toleranz seien nicht erfüllt worden. Die<br />
permanenten Gesetzesverletzungen führen nunmehr zu den notwendigen, gesetzlichen strafrechtlichen<br />
Reaktionen. Die Ausführungen wurden im Verlauf des Gesprächs weiter präzisiert <strong>und</strong> f<strong>und</strong>iert. Die<br />
strafprozessualen <strong>und</strong> strafverfolgenden Maßnahmen wurden vom Bischof <strong>und</strong> seiner Begleitung zur<br />
Kenntnis genommen. Fragen nach der Notwendigkeit des Fortbestandes der Haftbefehle wurden mit der<br />
Begründung der Wiederholungsgefahr beantwortet. Die Beschuldigung einzelner VP-Angehöriger der<br />
unkorrekten Verhaltensweise bei der Auflösung der Zusammenrottung wurde sachlich, aber bestimmt<br />
zurückgewiesen. Auf den Versuch des Bischofs, andere Probleme in das Gespräch einzubeziehen, z.B.<br />
daß Gesprächszusagen seitens der Regierung nicht eingehalten würden <strong>und</strong> sich die Situation zwischen<br />
Kirche <strong>und</strong> Staat zuspitze, wurden mit dem Hinweis auf den Gesprächsgegenstand <strong>und</strong><br />
Kompetenzgrenzen beantwortet 619 . Seitens der Kirchenvertreter wurde wiederholt die weitere<br />
Gesprächsbereitschaft betont. Es kann eingeschätzt werden, daß das Ziel des Gesprächs erreicht wurde.<br />
Unsererseits wurde offensiv, mit Fakten untersetzt <strong>und</strong> sachlich diskutiert.<br />
Der Landesbischof mit seiner Begleitung trugen zu einer konstruktiven, offenen <strong>und</strong> sachlichen<br />
Atmosphäre bei. Sie akzeptierten die getroffenen Maßnahmen, äußerten jedoch zugleich Bedenken über<br />
den Weg zur Bekämpfung der Straftaten <strong>und</strong> hielten Gespräche mit den Beteiligten für richtiger. Sie<br />
waren hilf- <strong>und</strong> ratlos, was die von ihnen zu lösenden Probleme, z.B. die Verhinderung des Mißbrauchs<br />
diesem Protokoll wurde den kirchlichen Vertretern bekanntgeben, daß am 11.09.1989 89 Personen verhaftet<br />
wurden. Davon kamen 19 in Stasi-Untersuchungshaft <strong>und</strong> 22 Personen wurden per Strafbefehl zu mehreren<br />
1000,- Mark verurteilt. Der Staatsanwalt sagte laut Protokoll Richter u.a.: „Gebet in Nikolai hat seit Frühjahr<br />
1988 sein jetziges Gepräge. Von da aus hat es in dieser Zeit schon mehrfach Aktionen gegeben, wie zum Beispiel<br />
Demonstrationen. Bisher wurde Toleranz geübt. Wir haben jetzt begründete Sorge, daß alles eskaliert. Sollen <strong>und</strong><br />
dürfen wir diesem Treiben bedingungslos zusehen? Wer ist in der Lage, eine Eskalation auszuschließen? Wir<br />
wollen doch kein Peking! Heute schreien sie nur: 'Schlagt sie tot.' Morgen tun sie es! Vielleicht werfen sie<br />
Steine? Brandsätze? Was dann? Während der Sommerpause in Nikolai sind wöchentlich Gruppen angereist, die<br />
hofften, in Nikolai gehe etwas los. Jetzt haben wir keine Alternative mehr. Die Form des Auftretens vor der<br />
Nikolaikirche muß gebrochen werden. Jetzt führen die Leute Plakate mit. Was werden sie morgen bei sich<br />
haben? Wo ist der Anfang? Wo hört es auf? Und nächsten Montag wird es wieder dasselbe sein!“ (ebenda, 277)<br />
Ein Bericht über dieses Gespräch wurde in einem R<strong>und</strong>brief an die Pfarrämter gegeben (Sievers (1990), 36) <strong>und</strong><br />
Bischof Hempel berichtete am 18.09.1989 vor der Synode des BEK (Hempel (1994), 202f.).<br />
619 Bischof Hempel hatte darauf hingewiesen, daß eine Absetzung der FG nicht den erwarteten Effekt haben könne,<br />
da „1/4 aller Bürger es einfach satt haben“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 277). Er forderte das Gespräch <strong>und</strong><br />
verwies auf die Gesprächsverweigerung des Staates seit 1986 gegenüber der KKL.<br />
303
kirchlicher Einrichtungen <strong>und</strong> Veranstaltungen, betraf . [/] Der Auftrag wurde erfolgreich erfüllt.<br />
620<br />
207 Basisgruppenerklärung<br />
621<br />
Unveröffentlichter Brief des Neuen Forum Leipzig an die Bürger der DDR vom 17.09.1989 (ABL H 17).<br />
An die Bürger der DDR!<br />
Seit Wochen <strong>und</strong> Monate können wir verfolgen, wie Tausende von Menschen das Land verlassen,<br />
Menschen, die für sich <strong>und</strong> das Land keine auf Dauer akzeptable Perspektive sehen. Dagegen versucht die<br />
Staatsführung der DDR seit jeher einer anwachsenden Bürgerrechtsbewegung mit repressiven<br />
Maßnahmen zu begegnen. Neben oft praktizierten Methoden der Einschüchterung wie sogenannte<br />
Zuführungen durch das Ministerium der Staatssicherheit, vorläufige Festnahmen <strong>und</strong> Verhaftungen<br />
wurden in der letzten Zeit wieder verstärkt Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Strafbefehle erlassen. [/] Der Katalog der<br />
Bespitzelung <strong>und</strong> Einschüchterung beginnt dabei mit Aufzeichnungen von Telefongesprächen, Installation<br />
von „Wanzen“ in Wohnungen <strong>und</strong> Pfarrämtern, Beschattung im öffentlichen Leben, Ausgangssperre <strong>und</strong><br />
Hausarrest bis hin zur Druckausübung auf Verwandte <strong>und</strong> Anwerbversuche zur Mitarbeit beim<br />
Ministerium für Staatssicherheit. Diesen erpresserischen Maßnahmen entsagen immer mehr Menschen,<br />
die es an der Zeit anhalten, den unhaltbaren Alleinvertretungsanspruch der SED offen abzulehnen <strong>und</strong><br />
dafür neue Lösungswege für die Problemfelder Politik, Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur vorzuschlagen <strong>und</strong><br />
einfordern. Wissenschaftler, Kunst- <strong>und</strong> Kulturschaffende, Ärzte, Juristen, Ingenieure <strong>und</strong> Pfarrer<br />
bekennen sich in wachsendem Maße zu einer notwendigen Oppositionsbewegung. Dieser nicht mehr<br />
aufhaltbaren Entwicklung versuchen trotzdem Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane in einer Art Blindwut<br />
beizukommen, statt eine Auseinandersetzung mit den ursächlichen Problemen <strong>und</strong> Fehlern in der<br />
Öffentlichkeit zu führen. [/] Dafür stehen die jüngsten Ereignisse in Leipzig. [/] Am 11. September<br />
wurden nach einer gottesdienstlichen Veranstaltung von den ca. 1300 Besuchern etwa 100 Personen<br />
vorläufig festgenommen. Der Einsatz der Polizei- <strong>und</strong> Sicherheitskräfte war gekennzeichnet durch<br />
Brutalität <strong>und</strong> Menschenverachtung. Ungerechtfertigt wurden einzelne Bürger geschlagen, an den Haaren<br />
gezogen, getreten <strong>und</strong> anschließend festgenommen. Die überwiegende Mehrheit wurde per Strafbefehl<br />
nach § 217,1 („Zusammenrottung“) zu Geldstrafen zwischen 1000,- <strong>und</strong> 5000,- Mark verurteilt.<br />
Zusätzlich befinden sich noch mindestens 10 Bürger in Untersuchungshaft, bei denen ebenfalls nach §<br />
217,1 ermittelt wird <strong>und</strong> denen eine Höchststrafe von 2 Jahren droht. Die Friedensgebete der<br />
Nikolaikirche, die schon seit Jahren jeden Montag stattfinden, stellen für staatliche Vertreter schon seit<br />
längerer Zeit unliebsame Veranstaltungen dar. Politische Themen <strong>und</strong> Probleme werden dort<br />
angesprochen <strong>und</strong> zur Diskussion den Besuchern mitgegeben, gerade jene Probleme, die in der<br />
außerkirchlichen Öffentlichkeit keinen Platz finden dürfen. [/] Da die Kirchenleitung der Nikolaikirche<br />
nicht gewillt ist, den innerkirchlichen Dialog um gesellschaftliche Probleme aufzugeben, richten sich die<br />
Terrormaßnahmen nun gegen die Besucher der Veranstaltungen. Wir erklären uns deshalb solidarisch mit<br />
den Besuchern <strong>und</strong> Veranstaltern der Nikolai-Friedensgebete, die sich aktiv <strong>und</strong> untrennbar am Prozeß der<br />
Demokratiebestrebungen beteiligen. [/] Von der Staatsanwaltschaft fordern wir die sofortige Freilassung<br />
aller noch inhaftierten Bürger vom 11. September 1989, die Einstellung der Ermittlungsverfahren <strong>und</strong> die<br />
620 Nach dem Protokoll von J. Richter hat J. Hempel auf die Forderung, sich von den Demonstrationen zu<br />
distanzieren, sinngemäß folgendes gesagt: „Sie erwarten von mir ein Wort. Wenn ich es schriebe, müßte ich<br />
authentisch sein. Autorität aber ist das zerbrechliste Gut, das es gibt. Man muß damit sorgsam umgehen. Man<br />
darf den Einsatz nicht scheuen, wenn es sein muß. Aber ich habe jetzt dieses Wort nicht. Und das liegt daran:<br />
Zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche - nicht auf dieser Ebene [zu H. Reitmann] - spitzt sich etwas zu, was wir nicht wollen!<br />
Das ist die überschichtige Problemlage!“ (ebenda, 278) Sup. Richter charakterisierte die Situation mit folgender<br />
Metapher: „Wir sitzen alle in einem Boot oder in einem Schiff. Aber irgend jemand hat das Ruder festgekeilt.“<br />
(ebenda, 279)<br />
621 Der Brief konnte nicht veröffentlicht werden, da verschiedene Berliner Mitglieder des Neuen Forums (B. Bohley,<br />
J. Seidel) keine regionale Erklärung des Neuen Forums wünschten bzw. einen DDR-weiten Konsens-Prozeß<br />
forderten. Der Brief wurde von M. Arnold <strong>und</strong> C. Dietrich unterzeichnet.<br />
304
Annullierung der bereits erlassenen Strafbefehle <strong>und</strong> Geldstrafen wegen einer angeblichen<br />
„Zusammenrottung“. [/] Von der Regierung fordern wir die Bestrafung der für den Polizeieinsatz<br />
Verantwortlichen, da diese polizeiliche Maßnahmen einen Verstoß gegen die Menschenwürde <strong>und</strong> gegen<br />
die freie Glaubens- <strong>und</strong> Religionsausübung darstellen.<br />
Wir bitten Sie, Bürger dieses Landes, um die Solidarität für die Inhaftierten <strong>und</strong> Verfolgten in Leipzig.<br />
208 Ereignisbericht<br />
Aktennotiz von Pf. Führer über die Vorgänge um das Friedensgebet in St. Nikolai am 18.09.1989 vom<br />
gleichen Abend. Vorlage ist eine Xerokopie des Typoskriptes (ABL H 1).<br />
1. In der Kirche waren etwa 1800 Menschen, so daß wir die 2. Empore auch noch öffnen mußten. [/] Vom<br />
LKA abgeordnet OKR Kreß.<br />
2. Ablauf622: Begrüßung: C. Führer623<br />
Andacht: Grünauer Katholiken mit Pater Bernhard624 Schlußwort: Pf. Wugk im Namen der Superintendenten.<br />
3. Die Atmosphäre im Gotteshaus war ruhig, es gab Beifall, der nicht „aufgeheizt“, sondern auch sachlich<br />
an der rechten Stelle war. Es wurde mitgesungen, das Vaterunser vereinte die meisten.<br />
4. Sowohl in der Begrüßung, noch deutlicher absprachegemäß im Schlußwort wurde gebeten, die<br />
Hoffnung von der Kirche auch auf den Platz vor der Kirche auszudehnen, den Einsatz der<br />
Sicherheitskräfte gegenstandslos zu machen, zügig in allen Richtungen nach Hause zu gehen.<br />
5. Alle verfügbaren Ausgänge wurden geöffnet (A, B, D). Schon während der Andacht wurde mir 2x<br />
berichtet, daß draußen alles abgeriegelt ist <strong>und</strong> 17.30 Uhr die erste Zuführung beobachtet wurde.<br />
6. Der „Auszug“ aus der Kirche verlief erstaunlich in unserem Sinn, alles war in Bewegung, die<br />
Andachtsbesucher konnten ungehindert durch die Polizeikette nach Hause. Als noch kleine Grüppchen<br />
auf dem Platz waren, gingen OKR Kreß, Pfr. Wugk <strong>und</strong> ich auf den Platz <strong>und</strong> baten die Menschen,<br />
nach Hause zu gehen.<br />
Ich machte einen R<strong>und</strong>gang um die Kirche <strong>und</strong> stellte fest, daß so gegen 18.30 Uhr der Platz um die<br />
Kirche leer war bis auf einzelne Personen. Ich überzeugte mich, daß die Menschen nach wie vor die<br />
Polizeiketten durchdringen konnten von „innen nach außen“. Pf. Berger brachte einige, die es nicht<br />
wagten, durch die Absperrung.<br />
7. Dann geschah das für uns völlig Unverständliche: die Polizei ließ mit einem Mal alle „von außen“, also<br />
die Zuschauer, von allen Seiten auf den Nikolaikirchhof. Der Platz füllte sich, es kam zu Geschrei -<br />
erstmals!-, Lieder wurden angestimmt.<br />
Seltsam: die zivilen Beamten griffen nicht ein! Dann zogen alle ab in die Ritterstraße. Die in<br />
Nachrichten 625 genannten Zuführungszahlen - etwa 100 Personen - werden jetzt entstanden sein.<br />
8. Inzwischen kam die Polizei in unser Haus, da sich etliche Personen im Haus aufhielten. Ich konnte eine<br />
friedliche Regelung erreichen. Pf. Wugk, ich begleitete einen „Zug“ mehrerer Personen mit OKR<br />
Kreß, der, als wir alle Polizeiketten hinter uns hatten, noch anbot, die jungen Leute mit zum Bahnhof<br />
zu nehmen. Sie wollten zuerst deshalb nicht die Kanzlei <strong>und</strong> das Haus verlassen, weil - wie sich später<br />
bei einem anderen ereignete - sie befürchteten, zugeführt zu werden, wenn wir wieder weg sind.<br />
9. Wir suchten danach das Gespräch mit dem Einsatzleiter. Ein Offizier - ob er der Leiter war, wissen wir<br />
nicht - hörte sich an, was wir (Wugk, ich) zu sagen hatten: daß der Platz leer war, die später<br />
Einströmenden nicht in der Kirche waren, weder unsere Aufrufe in noch außerhalb der Kirche gehört<br />
haben. Er versprach, es weiterzuleiten.<br />
10. Gegen 19.15 Uhr erreichte mich die Nachricht, daß M. Arnold beim Verlassen unseres Hauses<br />
622 Zu diesem FG liegt ein Tonbandmitschnitt vor (beim Herausgeber). E. Weiser (RdB Leipzig) berichtete in einem<br />
IN-Telegramm am 19.09. dem StfK über das FG (BArch O-4 973).<br />
623 abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 21f. <strong>und</strong> Kuhn (1992), 35f.<br />
624 Predigt abgedruckt: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 22-25<br />
625 Quelle der Nachrichtenagenturen war vor allem die Koordinierungsgruppe [Herbst 1989] (s. Anhang)<br />
305
zugeführt wurde . Er hat nichts mit den lautstarken Leuten auf dem Platz zu tun.<br />
626<br />
11. Es drängt sich die Vermutung auf, daß, nachdem das Friedensgebet wie immer, aber auch der<br />
Nachhauseweg friedlich <strong>und</strong> zügig verliefen, der Krawall auf dem Nikolaikirchhof bewußt<br />
herbeigeführt wurde. Wir protestieren dagegen entschieden.<br />
C.F. 18.09.1989 [gez.] C. Führer<br />
209 Stasi-Information<br />
Bericht über „ein weiteres ‘Montagsgebet’„ vom 19.09.1989 in der Anlage des Wochenberichtes der ZAIG<br />
des MfS 627 . Das Exemplar trägt handschriftliche Vermerke Mielkes (BStU ZAIG 4598, 105-107).<br />
Am 18. September 1989 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr das montägliche Friedensgebet unter<br />
Teilnahme von ca. 1 200 Personen statt. [/] Unter Bezugnahme auf die Vorkommnisse anläßlich des<br />
„Montagsgebetes“ in der Vorwoche (11. September 1989) erklärte Pfarrer Führer einleitend, daß die zum<br />
Einsatz gekommenen Volkspolizisten nur Befehlsausführende seien <strong>und</strong> zum Teil gegen ihren Willen<br />
handeln müßten. Er informierte über diese Ereignisse <strong>und</strong> verlas anschließend die Namen von Inhaftierten,<br />
die in Fürbitten eingeschlossen werden sollen. [/] Diese Information wurde nach Abschluß des<br />
Montagsgebetes in Form von Handzetteln verbreitet. Sie enthält eine tendenziöse Darstellung des<br />
Einsatzes der Sicherungskräfte am 11. September 1989 <strong>und</strong> eine „Würdigung“ namentlich genannter<br />
inhaftierter Personen. Außerdem beinhaltet sie Hinweise über weitere geplante Fürbittandachten für die<br />
Inhaftierten in Kirchen der Stadt Leipzig sowie Aufforderungen zum Versenden von Protestresolutionen<br />
an die Generalstaatsanwaltschaft bzw. an den Bezirksstaatsanwalt. Als Unterzeichner fungiert eine<br />
„Koordinierungsgruppe der Leipziger Fürbittandachten für die Inhaftierten“ 628 . [/] Die weitere Gestaltung<br />
des Montagsgebetes erfolgte durch Vertreter des katholischen „Friedenskreises Lindenau“ unter Leitung<br />
von Pater Bernhard. Ausgehend von einem biblischen Text zum Thema „Mauer“ wurde erklärt, daß<br />
Mauern einzureißen derzeitig nicht möglich wäre. Es bestünde aber die Möglichkeit, sie zu überwinden.<br />
Der stellvertretende Superintendent Wugk beendete das Montagsgebet mit der Aufforderung, die Kirche<br />
<strong>und</strong> den Vorplatz zu verlassen629 . [/] Gegen 18.15 Uhr kam es auf dem Nikolaikirchplatz erneut zu einer<br />
Personenansammlung. Ein namentlich bekannter Student des Theologischen Seminars Leipzig verteilte<br />
Handzettel mit der vorgenannten Information über die Ereignisse am 11. September 1989 630.<br />
[/] Da den<br />
626 Da für den folgenden Tag (19.09.) geplant war, die Zulassung des „Neuen Forums“ als Vereinigung zu<br />
beantragen <strong>und</strong> der entsprechende Brief nur durch M. Arnold unterzeichnet war, wurden durch die<br />
Koordinierungsgruppe an diesem Abend noch zwei weitere Unterzeichner (später Sprecher des „Neuen Forums“<br />
genannt) gewonnen: G. Oltmanns <strong>und</strong> E. Dusdal.<br />
627 vgl. Information der BV Leipzig vom 18.09.1989 (in: Stasi INTERN, 257)<br />
628 Informationsblatt (ABL H 1)<br />
629 Im Bericht des 2. Sekretärs der SED-BL an das ZK (Dohlus - Fernschreiben Nr. 434 vom 18.09.1989, 21.22 Uhr)<br />
hieß es u.a.: „Nach Beendigung verließen die Personen bis 18.10 Uhr die Nikolaikirchhof. 18.20 Uhr kam es<br />
erneut zu starker Personenbewegung auf dem Nikolaikirchhof. [...] Polizeiliche Hilfsmittel kamen nicht zum<br />
Einsatz. H<strong>und</strong>eführer mit Diensth<strong>und</strong>en wurden zum Schutz der eigenen Kräfte eingesetzt.“ (StAL SED A 4972)<br />
vgl. a. Abschlußbericht vom 19.09. (FS Nr. 437 - ebenda)<br />
630 „namentlich bekannter Student“ wurde von Mielke unterstrichen (s. folgende Anm.). Der Bericht des Studenten<br />
C. Dietrich findet sich in: Neues Forum Leipzig (1989), 31f.. Dort wurde er jedoch versehentlich dem 25.09.<br />
zugeordnet: „Ich kam ohne Schwierigkeiten durch die Polizeikette auf die Grimmaische Straße. Dort hatten sich<br />
schon mehrere h<strong>und</strong>ert Schau- <strong>und</strong> Demonstrations(?)lustige versammelt. Ich mußte mich durch die eng stehende<br />
Menschenmenge drängeln <strong>und</strong> habe mich kurz mit einem Fre<strong>und</strong> unterhalten, dem ich ein Informationsblatt gab,<br />
welches ich für das Kontaktbüro mitgenommen hatte. Dann ging ich weiter in Richtung Karl-Marx-Platz, doch<br />
gleich darauf griffen mich drei Männer zwischen 30 <strong>und</strong> 40 Jahren <strong>und</strong> wollten mich wegschleifen (Kommentar:<br />
'Kommen Sie mit', 'Machen Sie keine Probleme'). Ich wehrte mich <strong>und</strong> schrie: 'Rowdys.' Darauf versuchten sie,<br />
meine Beine zu greifen, um mich wegtragen zu können, doch dazu kamen sie nicht. Die Schaulustigen kamen<br />
<strong>und</strong> stellten sich um uns. Die Herren ließen mich los, <strong>und</strong> ich stieg auf das nächste Blumenbeet. [...] Die Herren<br />
verlangten jetzt von mir den Ausweis, den ich aber verweigerte, da sie sich nicht ausgewiesen hatten. Passanten<br />
306
wiederholten Aufforderungen über Lautsprecher zum Verlassen des Nikolaikirchplatzes nur zögernd<br />
Folge geleistet wurde, erfolgte gegen 18.40 Uhr entsprechend den zentral abgestimmten Maßnahmen die<br />
Räumung des Platzes durch Einsatzkräfte der DVP. [/] Es wurden insgesamt 31 Personen zugeführt,<br />
darunter 4 Antragsteller auf ständige Ausreise. [/] Im Ergebnis der bisher geführten Untersuchungen wird<br />
vorgeschlagen:<br />
− Gegen 3 Zugeführte Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB in Verbindung mit § 220, Absatz 1<br />
StGB, mit Haft einzuleiten <strong>und</strong> diese Personen zu Haftstrafen zwischen 6 <strong>und</strong> 12 Monaten zu<br />
verurteilen;<br />
− Gegen 5 Zugeführte Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB ohne Haft einzuleiten mit dem Ziel, sie<br />
zu Geldstrafen zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 Mark zu verurteilen;<br />
− Gegen einen Zugeführten ein Ermittlungsverfahren gemäß § 217 StGB ohne Haft einzuleiten mit dem<br />
Ziel der Verurteilung mit Bewährung;<br />
− Gegen 5 Zugeführte Ordnungsstrafverfahren durchzuführen <strong>und</strong> sie differenziert mit Geldstrafen<br />
zwischen 100 <strong>und</strong> 500 Mark zu belegen;<br />
− Gegen 3 Zugeführte werden weitere Prüfungshandlungen durchgeführt.<br />
14 Zugeführte Personen wurden belehrt <strong>und</strong> aus dem Polizeigewahrsam entlassen. [/] Westliche<br />
Korrespondenten wurden nicht festgestellt.<br />
210 Kirchenbucheintragung<br />
Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 19.09.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Meine Tränen als Mensch gelten diesem grausamen Vorgehen gegen die Jugend <strong>und</strong> ihrem progressiven<br />
Wollen. Mit Gewalt <strong>und</strong> diktatorischer Macht wird dieses Land Schiffbruch erleiden. Ausreisen ist kein<br />
Ausweg, wir müssen es schaffen, dieses Land für die Kinder auf neue Weise <strong>und</strong> zukunftsorientierte<br />
Weise aufzubauen. Rückblick in die Vergangenheit bringt nichts. [/] Ich unterstütze das progressive<br />
Wollen <strong>und</strong> spreche mich offen gegen diese Gewaltakte aus. [/] 19.9.89 Dagmar Stühler<br />
Dies ist wahr. Das wahre „demokratische“ Antlitz dieses Regime hatte sich am 18.09. in seiner ganzen<br />
Brutalität gezeigt. Doch mit noch so massivem Polizeieinsatz u. des Aufgebotes von Sicherheitskräften,<br />
kann man in diesem Land nicht jene Stimmen zum Verstummen bringen, die für gesell. Veränderungen<br />
eintreten wollen u. schon gar nicht mit Verhaftungen u. Ordnungsstrafgeldern. Damit kann man nicht den<br />
Ruf der hier lebenden Menschen nach mehr Freiheit <strong>und</strong> Demokratie ersticken. Wer ein Gewissen hat,<br />
kann nicht zu den jüngsten Verhaftungen schweigen, sondern muß dagegen protestieren, ebenso gegen<br />
den Polizeiterror, der Montag für Montag nach dem Friedensgebet vor der Nikolaikirche sich abspielt.<br />
Gott, der Herr, führt unsere Sache! [/] Schalom!<br />
Freiheit ist immer die Freiheit des politisch anders Denkenden! [/] R. Luxemburg<br />
Ich bin froh, daß es Euch gibt. Ich habe trotz allem Mut geschöpft. Ich werde kommen <strong>und</strong> es werden<br />
noch viele erwachen <strong>und</strong> aufbrechen. [/] 19.9.89 Ines Ruch<br />
Erst wenn dieser Staat seinen Bürgern traut, werden die Bürger auch dem Staat trauen können. [/] Hans-<br />
Otto Träger [/] 19.9.89<br />
Überlegt Euch mal, wo Ihr nicht auch Schuld habt an den Verhaftungen vor Eurem Haus. Mit blinder<br />
Raserei kam noch keiner an sein Ziel. [/] T. B. 19.09.89<br />
Warum nicht Ihren vollen Namen ? [/] 20.9.89<br />
[...] forderten mich auf zu gehen, sie seien zu meinem Schutz da. Die Herren wagten mich nicht mehr anzufassen,<br />
da sie von der Menge gewarnt wurden (die Stimmung war so, daß es zu einer Prügelei geführt hätte). Einer der<br />
Herren rief einen Polizeistreifenwagen, zu dem man mich dann brachte <strong>und</strong> meine Personalien aufnahm. [...]<br />
Dann verlangte ich von einem der Herren (in Zivil), zu versprechen, daß ich ungehindert in das Markus-<br />
Gemeindehaus gelangen kann. Dies Versprechen wurde für die Umstehenden laut vernehmlich (nach erneuter<br />
Aufforderung) gegeben. Ich wurde danach nicht weiter behelligt, [...]“<br />
631 Hierin im Anschluß Mielke mit Hand hinzu: „Student“ über den vorhergehenden Text schrieb er schräg:<br />
„Einverstanden L[inie] IX wurde angewiesen. Mi[elke] 19./9.89“<br />
631<br />
307
Als Atheist fand ich bis her noch nicht die Kraft, mich dieser Gemeinschaft anzuschließen, dennoch suche<br />
ich nach Kontakt zu Leuten, die dieses Land, unser Land, verändern wollen. Dadurch, daß es jetzt auch<br />
<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong> Bekannte „erwischt“ hat, schließt sich der Würgegriff. Hohe Geldstrafen, widerrechtlich<br />
verhängt, machen ein optimistisches Leben ganz plötzlich unmöglich. Die Energien, die man noch hatte,<br />
werden nun dafür aufgewendet, die Strafen zu begleichen. Viele der Demonstranten sitzen im Gefängnis.<br />
An wen kann ich mich wenden? Gibt es Spendenkonten? [/] Adresse: Mathias Wündisch [es folgt eine<br />
Leipziger Adresse]<br />
211 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Eingabe aus Forst an den Rat des Bezirkes Leipzig, Abteilung Inneres vom 20.09.1989, in dem die<br />
Freilassung der Inhaftierten in Leipzig gefordert wurde 632 . Ormigabzug (Ev.Ki. Fo 113/89) (ABL H 1).<br />
Wir sind betroffen über das Vorgehen der Sicherheitskräfte, wie es sich in den letzten Monaten vielfach in<br />
unserem Lande zeigte. Insbesondere denken wir dabei an die Vorgänge um das montägliche Friedensgebet<br />
in der St. Nikolai-Kirche in Leipzig. Wie wir durch <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> aus Leipzig erfahren haben, wurden am 11.<br />
<strong>und</strong> 18. September 1989 jeweils über 100 Teilnehmer des Friedensgebetes polizeilich zugeführt, darunter<br />
Menschen, die einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt haben. Gegen<br />
einige wurden Haftbefehle nach § 217 (StGB) <strong>und</strong>, wie heute mitgeteilt wurde, auch Haftstrafen<br />
ausgesprochen. Viele andere erhielten Strafbefehle nach § 217 (StGB) <strong>und</strong> wurden zu Geldstrafen<br />
zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 DM verurteilt. Filmaufnahmen bzw. Fotos zeigten die Brutalität von Polizei <strong>und</strong><br />
zivilen Sicherheitskräften im Zusammenhang mit den Zuführungen.<br />
Wir können dazu nicht schweigen.<br />
In einer Fürbittandacht in der evangelischen Kirche zu Forst-Eulau haben wir heute für alle Betroffenen<br />
gebetet. Wir möchten unser Gebet verbinden mit der dringenden Bitte an die verantwortlichen staatlichen<br />
Organe<br />
− den friedlichen Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Meinung in unserem Land zuzulassen<br />
<strong>und</strong> zu sichern;<br />
− alle im Zusammenhang mit dem Leipziger Friedensgebet Inhaftierten unverzüglich freizulassen;<br />
− die ausgesprochenen Geldstrafen zurückzunehmen;<br />
− öffentlich <strong>und</strong> mit allen gesellschaftlichen Kräften <strong>und</strong> Gruppen nachzudenken über die Ursachen von<br />
Unzufriedenheit bei weiten Teilen der Bevölkerung, über das derzeitige forcierte Weggehen vieler<br />
Menschen aus unserem Land <strong>und</strong> darüber hinaus den tausendfach geäußerten Willen vieler gerade<br />
junger Menschen, die DDR verlassen zu wollen.<br />
Wir bitten um Gehör, weil wir den inneren Frieden in unserem Land gefährdet sehen <strong>und</strong> grüßen mit dem<br />
biblischen Friedenswunsch SCHALOM.<br />
Anlage: [Liste der Unterzeichner vorstehender Eingabe. 83 Unterschriften]<br />
212 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Brief der Superintendentur Leipzig-Ost (Briefkopf) <strong>und</strong> des KV St. Nikolai (Führer) vom 20.09.1989 an den<br />
Rat der Stadt Leipzig, Abt. Kirchenfragen, in dem gegen das Vorgehen der Sicherheitsorgane am 18.09.1989<br />
nach dem Friedensgebet protestiert wurde. Unterzeichnet wurde der Brief von Pf. Wugk <strong>und</strong> Pf. Führer.<br />
Vorlage ist eine Xerokopie (ABL H 1).<br />
Betr.: Friedensgebet 18.9.89<br />
Im Nachgang zu dem o.a. Friedensgebet in der Nikolaikirche liegt uns daran, Ihnen folgende<br />
Feststellungen <strong>und</strong> Erwartungen mitzuteilen:<br />
632 Dieses Schreiben ist Beispiel für eine Vielzahl solcher Solidaritäts- bzw. Protestschreiben <strong>und</strong> der Berichte über<br />
Fürbittandachten in über 20 Orten in der DDR bis Anfang Oktober 1989 aufgr<strong>und</strong> der Inhaftierungen in Leipzig.<br />
308
1. Nach Beendigung des Friedensgebetes am 18.9. war der Nikolaikirchhof von den Teilnehmern des<br />
Gottesdienstes entsprechend unserem Aufruf in der Kirche <strong>und</strong> dem persönlichen Einsatz auf dem<br />
Vorplatz in kürzester Zeit verlassen worden. Die Unterzeichneten, Dr. Berger <strong>und</strong> weitere für die<br />
Durchführung der Veranstaltung Verantwortlichen hatten bis zuletzt Teilnehmer durch die wieder<br />
aufgestellten Polizeiabsperrungen geleitet.<br />
2. Nach 18.30 Uhr kam auf dem leeren Platz eine größere Menschenmenge aus der Innenstadt<br />
(Reichstr./Nikolaistr. über die Schuhmachergasse), so daß der Nikolaikirchhof wieder voll besetzt war.<br />
Nach unseren Beobachtungen waren darunter keine Besucher des Friedensgebetes. Diese Gruppe bot<br />
die gewohnte Veranlassung für die Polizei, Maßnahmen zur Räumung des Platzes durchzuführen. In<br />
diesem Zusammenhang haben die Unterzeichneten einem der leitenden Offiziere unsere Betroffenheit<br />
zum Ausdruck gebracht.<br />
3. Mit Bestürzung <strong>und</strong> Bedauern stellen wir fest, daß unser erkennbares Bemühen um Beruhigung der<br />
öffentlichen Situation nach dem Friedensgebet durch eine taktische Entscheidung der Sicherheitskräfte<br />
beantwortet wurde, die die übliche Situation der Konfrontation vor der Nikolaikirche entstehen ließ -<br />
allerdings erkennbar mit einer Personengruppe, die nicht am Gottesdienst teilgenommen hatte.<br />
4. Wir geben erneut der Erwartung Ausdruck, daß die dafür Verantwortlichen den künftigen Einsatz von<br />
Polizei gr<strong>und</strong>sätzlich neu überprüfen. Wir bitten darum, auf eine derartige Machtdemonstration<br />
staatlicher Organe zu verzichten. Die bisherige Entwicklung zeigt, daß sie eine immer größer werdende<br />
Protestgruppe <strong>und</strong> weitere Schaulustige anlockt <strong>und</strong> bei vielen Bürgern einen weiteren<br />
Vertrauensschw<strong>und</strong> gegenüber staatlichem Handeln bewirkt.<br />
5. Wir geben der Erwartung Ausdruck, daß seitens staatlicher Stellen die Entstehung öffentlicher<br />
Protestgruppen zum Anlaß genommen wird, Angebote eines öffentlichen Dialogs zur gegenwärtigen<br />
gesellschaftlichen Situation zu entwickeln <strong>und</strong> zu ermöglichen.<br />
213 Friedensgebetstexte<br />
Tonbandprotokoll des Fürbittengebetes am 21.09.1989 in der Lukaskirche, welches von der<br />
Koordinierungsgruppe gestaltet <strong>und</strong> aufgezeichnet wurde (ABL).<br />
Begrüßung (Pf. Wonneberger): Es wird nicht allen gefallen, daß wir hier heute abend zusammen sind.<br />
Aber ich lese gerade in meiner Losung für den heutigen Tag 633 , daß das ja nichts Neues ist, sondern daß<br />
schon vor fast 2000 Jahren die Pharisäer <strong>und</strong> die Schriftgelehrten sich darüber aufgeregt haben <strong>und</strong><br />
gemurrt haben, daß Jesus sich zusammensetzt mit Zöllnern <strong>und</strong> Sündern, also mit denen, die nicht so viele<br />
soziale Achtung genießen. Und eine ähnliche Veranlassung haben wir ja heute auch. Wir sind auf<br />
gegenseitige Informationen angewiesen, weil wir offiziell nicht gut informiert werden. Und diejenigen, die<br />
seit 1 1/2 Woche in Haft sind, in Untersuchungshaft sind, sind auf unsere Fürbitte <strong>und</strong> auf unsere<br />
Solidarität angewiesen. Wir können uns jetzt nicht mit ihnen so wie Jesus damals zusammensetzen an<br />
einen Tisch <strong>und</strong> zusammen essen <strong>und</strong> trinken, um das genau so deutlich zu symbolisieren, aber wir<br />
können hier zusammenkommen wie an den vergangenen Tagen, an die denke ich auch weiter noch<br />
zusammenkommen, um deutlich zu machen, daß wir ihnen nahe sind, trotz der Entfernung <strong>und</strong> trotz der<br />
Mauern, die dazwischen sind. Diese Fürbittandacht ist vorbereitet von der Koordinierungsgruppe, sie wird<br />
diese Fürbittandacht gestalten. Und ich lade Sie herzlich ein, sich daran zu beteiligen, aktiv.<br />
J. Läßig: Zu Beginn wollen wir den bekannten, also inzwischen den oft zu solchen Veranstaltungen<br />
gesungenen Kanon singen: Herr, bringe wieder unsere Gefangenen, wie du die Bäche wieder bringst im<br />
Mittagslande, Amen. Ich singe mal vor, für diejenigen die es noch nicht kennen. [...]<br />
U. Schwabe: Wie wir ja bestimmt alle bereits wissen, sind am 11.09. nach dem Friedensgebet 142<br />
Personen vorläufig festgenommen worden, <strong>und</strong> von diesen 142 Personen befinden sich noch 11 in Haft.<br />
Es gab insgesamt 22 Strafbefehle zwischen 1000,- <strong>und</strong> 5000,- Mark. Ich sage noch mal die Namen, falls<br />
das jemand noch nicht weiß. Das sind: Carola Bornschlegel, Kathrin Hattenhauer, Udo Hartmann, Axel<br />
Gebhardt, Jutta Gätzel, Mirko Kätzel, Jörg Müller, Günter Müller, Ramona Ziegner, G<strong>und</strong>ula Walter <strong>und</strong><br />
633 Lk 15,1-2<br />
309
Frank Elsner. Gegen vier der genannten Personen, für Ramona Ziegner, Jörg Müller, Udo Hartmann <strong>und</strong><br />
Carola Bornschlegel ist Strafbefehl ausgesprochen worden mit 4 Monaten Haft. Gegen die anderen<br />
Inhaftierten soll der Strafbefehl bis Freitag noch ausgesprochen werden, da wird die Höchststrafe von 6<br />
Monaten angestrebt, wie uns Herr Schnur erklärt hat.<br />
St. Walther: Der Rechtsanwalt Schnur ist bei den vier Leuten, die die 4 Monate Strafbefehl bekommen<br />
haben, in Berufung gegangen. Bei den anderen wird er es sofort tun, wenn die Strafbefehle ausgesprochen<br />
worden sind. Und der Rechtsanwalt Schnur hat von den 11 Leuten, von 9 davon, die Anwaltschaft<br />
übernommen. Um eins möchte ich Sie bitten. Wenn jemand den Frank Elsner kennt, oder Angaben über<br />
ihn machen kann, der soll sich bitte danach hier vorn melden. Was ich noch sagen will, in welchen<br />
anderen Städten Fürbittandachten laufen, das wäre in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Zwickau, Zittau,<br />
Großhennersdorf, Quedlinburg, Altenburg, Gera, Berlin, Groß-Schönau, Greifswald <strong>und</strong> Naumburg.<br />
(Trommelmusik)<br />
J. Läßig, U. Schwabe [Verlesen des Textes in verteilten Rollen] Wir lesen aus der allgemeinen Erklärung<br />
der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, verabschiedet von der Generalversammlung der vereinten<br />
Nation. (Trommelmusik)<br />
− Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit <strong>und</strong> Sicherheit der Person. (Trommelmusik) [... 5<br />
weitere Artikel]<br />
U. Schwabe: Wir möchten jetzt mal versuchen das widerzuspiegeln was vielleicht in den Köpfen der<br />
Inhaftierten vorgeht. Dieser Text ist entstanden im Januar 1989, als ich aus der Untersuchungshaft<br />
entlassen wurde. Und wir möchten den jetzt mal vorlesen.<br />
St. Walter <strong>und</strong> U. Schwabe [Verlesen des Textes in verteilten Rollen]: Es stehen zwei unbekannte Männer<br />
vor der Tür: „Klärung eines Sachverhaltes“. Eine schon bekannte Unruhe ergreift dich. Keine<br />
Begründung. „Zuführung“. 3 Personen: eine Sicherheitsvorkehrung. Du wirst in ihre Mitte genommen -<br />
dir kommen keine Gedanken von Flucht. Abgeführt wie in einem schlechten Krimi. Es herrscht eisiges<br />
Schweigen. 3 Personen für einen einzigen! Unruhestifter, Provokateur, Staatsfeind? Keine Antwort auf<br />
diese Fragen. Du wirst deinem Vernehmer übergeben. Beschuldigungen, Paragraphen, Beweise. Es bleibt<br />
eines in deinem Gedächtnis hängen: Paragraph 214, Abs. 1-3. Höchststrafe 5 Jahre Gefängnis. Du<br />
versuchst, den Gedanken von dir zu weisen, Knast: 5 Jahre! Nun beginnt das Spiel der Macht. Man weiß<br />
alles. Geständnisse klagen dich an. „Ihr Fre<strong>und</strong> hat unter Tränen ihren Namen genannt“. Tränen - fast<br />
schon ein Fremdwort für dich. Du fragst dich: warum? Angst? Wollte er die Schuld von sich weisen?<br />
Überredung? Die Situation scheint unverständlich. Belehrungen folgen. Dein Recht, einen Rechtsanwalt<br />
zu nehmen, Klage zu erheben... Du wählst Wolfgang Schnur, ein bekannter Name - abweisende <strong>und</strong><br />
aggressive Blicke treffen dich - man hört diesen Namen nicht gern. „Eh’ der Bescheid bekommt <strong>und</strong> dann<br />
in Leipzig ist, vergehen Tage! Sie wollen doch nicht so lange hier bleiben? Gestehen Sie, es ist besser für<br />
Sie, um so eher kann dieser Fall geklärt werden“.<br />
Sie wollen doch nicht so lange hier bleiben - wie absurd! - als hättest du dir es ausgesucht. Du<br />
verweigerst die Aussage, willst nur im Beisein deines Rechtsanwaltes etwas sagen - höhnisches Grinsen:<br />
„Wie lange wollen Sie dann warten?“ „Wenn Sie für Veränderungen eintreten, müssen Sie auch offen sein<br />
<strong>und</strong> Ihre Tat gestehen, sonst wird sie unglaubwürdig! - Wir wollen doch Ihr Bestes, den Fall klären,<br />
Klarheit schaffen!“ Du bestehst auf deiner Entscheidung. Der Ton ändert sich ins Aggressive. „Sie<br />
verdunkeln den Fall, es können Entscheidungen zu Ihren Ungunsten fallen. Denken Sie an die 5 Jahre<br />
Haft!“ Die Vernehmer wechseln sich ab - du bleibst. 12 St<strong>und</strong>en. Du nimmst nichts mehr auf, bist müde,<br />
abgespannt. „Gestehen Sie, <strong>und</strong> Sie können schlafen!“ Du sagst schon seit St<strong>und</strong>en nichts mehr, sie reden<br />
auf dich ein. Dir fallen die Augen zu. Du verweigerst die Aufnahme der Worte, sie rücken immer weiter<br />
von dir. Du sagst, daß du schlafen willst. „Reden Sie!“ Nach 14 St<strong>und</strong>en genehmigt man dir 3 St<strong>und</strong>en<br />
Schlaf. „Überlegen Sie es sich genau, so kommen wir nicht weiter. Uns liegen Aussagen vor; wir werden<br />
Ihre Tat beweisen - zu Ihren Ungunsten!“<br />
Du wirst abgeführt - lange dunkle Gänge - „Hände auf dem Rücken!“ - rote Lampen. Du mußt an<br />
jeder Ecke warten. „Gesicht zur Wand!“ Keinen anderen bekommst du zu Gesicht. Die Zelle: Du stehst<br />
<strong>und</strong> versuchst, mit der neuen Situation fertig zu werden. 2 Betten, 2 Hocker, 1 Tisch, Fenster mit<br />
<strong>und</strong>urchdringlichen Glasfliesen, Waschbecken <strong>und</strong> Toilette. Du siehst nicht den Himmel; nur mattes,<br />
trübes Licht dringt durch die Glasfliesen. Du legst dich hin, findest keine Ruhe, beobachtest die Tür: ein<br />
310
kleiner Spion, <strong>und</strong> eine Klappe in Höhe Bauch. Aller 10 Minuten schaut jemand durch den Spion, dazu<br />
wird die Zelle grell erleuchtet. Du fragst dich: Warum? Angst vor Selbstmord? Du mußt mit dem Gesicht<br />
zur Tür schlafen <strong>und</strong> darfst dein Gesicht nicht bedecken. Angst vor Verzweiflung? Du kannst keinen<br />
richtigen Gedanken mehr fassen, willst nur noch schlafen. Es geht nicht.<br />
Die Zellentür öffnet sich mit lauten, durchdringenden Geräuschen. Du stehst sofort vorm Bett.<br />
„Nummer 1, mitkommen!“ Du weißt nicht, weshalb. Was will man von dir? Hände auf dem Rücken,<br />
Gesicht zur Wand. Der bekannte Raum mit dem Vernehmer erscheint wieder. Du denkst, es sind keine 5<br />
Minuten vergangen. Befragungsprotokoll, Beginn 6.07 Uhr. 1 1/2 St<strong>und</strong>en sind seit deinem Herausgehen<br />
aus diesem Zimmer vergangen. Dieselben Fragen, dieselben Argumente. Du brauchst viel Zeit, um wieder<br />
in deine Rolle zu schlüpfen. Dir werden Aussagen vorgelegt, Beschuldigungen, unterschrieben mit dir<br />
bekannten Namen. Fingiert oder nicht - Wahrheit oder Manipulation? Du weißt es nicht. „Wir wissen<br />
alles, geben Sie es zu!“ Dir bekannte <strong>und</strong> erlebte Fakten werden dir vorgelegt: Treffpunkte, Namen,<br />
Hergang des Geschehens. Du stehst zu deiner Tat; willst versuchen ihnen deine Argumente zu erklären,<br />
hast Hoffnung, daß sie dich vielleicht verstehen - deine Ängste, Zweifel... Aber selbst anklagen, <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong><br />
verraten - nein! Nun beginnt die fre<strong>und</strong>liche Tour. Persönliche Probleme werden angesprochen <strong>und</strong><br />
Probleme mit Entscheidungen des Staates. Das, was du selber im Kopf hast, dringt aus ihrem M<strong>und</strong>.<br />
Verw<strong>und</strong>erung, Zweifel. Dummenfang oder Ernst? Hoffnungen werden in deinem Innersten geweckt. Du<br />
schiebst sie beiseite. „Wir können Sie heute noch entlassen; nach 24 St<strong>und</strong>en muß ein Haftbefehl<br />
ausgestellt werden. Noch ist keine Entscheidung getroffen. Sie haben die Chance mit zu entscheiden“.<br />
Dir geht der Begriff Freiheit durch den Kopf: Himmel, Sonne, Bäume, frische Luft... Du<br />
verweigerst die Gedanken: versuchst, dich auf die Situation einzustellen. Es gelingt nicht. Die Gedanken<br />
lassen sich nicht mehr ordnen. Hoffnung, Trostlosigkeit, Angst - aber den Willen, dich nicht<br />
widerstandslos zu ergeben. Du wirst dem Haftrichter vorgeführt, der Haftbefehl wird erlassen -<br />
Höchststrafe 5 Jahre. Du empfängst Haftkleidung, erhältst Belehrungen. Wortfetzen dringen an dein Ohr:<br />
Möglichkeit der Beschwerde, Freihof täglich 1 St<strong>und</strong>e, keine Gespräche mit den Wärtern, Buchausleihe,<br />
Einkauf, Haftordnung... Du verarbeitest es nicht. Eine neue Zelle - jetzt zu zweit: Grenzflüchtling, seit 15<br />
Wochen Untersuchungshaft. Zurückhaltende Gespräche, einander bekannt werden, du redest <strong>und</strong> redest,<br />
versuchst dich abzulenken, machst Scherze, verdrängst deine Ängste.<br />
Jeden Tag Verhöre. Gleiche Szenen, gleiche Fragen.<br />
Sonntag, 16.00 Uhr: du vernimmst Sirenen, Geschrei, Krach auf dem Hof. Der Tag der<br />
Demonstration 634 . Der Vernehmer blickt mit besorgtem Gesicht aus dem Fenster. „Hoffen wir für Sie, daß<br />
nichts passiert!“ Viele LO’s verlassen den Hof. Du bekommst Hoffnung, daß du nicht um sonst hier sitzt,<br />
von allen vergessen. Zum erstenmal machst du dir Gedanken über die Situation draußen. Solidarität? Du<br />
kennst die Situation draußen: Kirchenleitung - Basisgruppen - ein ständiges gegeneinander Anrennen. Du<br />
denkst an die Solidaritätswelle vom vergangenen Jahr. Kennst deine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> - sie werden nicht ruhen in<br />
diesen Tagen. Kennst aber auch die Gruppen. Unverständnis, Neid, Persönlichkeitsdrang. Hoffentlich<br />
spielt das in dieser Situation keine Rolle. Du schiebst die Gedanken beiseite. Die Enttäuschung wäre zu<br />
groß, wenn draußen nichts passiert - vergessen, wie viele hier. Dir werden jeden Tag mehr Aussagen<br />
vorgelegt. „Bekennen Sie sich endlich zu ihrer Tat! Warum haben Sie es gemacht, wenn Sie jetzt nicht<br />
dazu stehen?“ Sie haben dich an deiner w<strong>und</strong>esten Stelle gepackt. Du hältst es nicht mehr aus,<br />
abzuleugnen, wozu du mit ganzen Herzen stehst. Nichts hat dich in den letzten Wochen so beschäftigt wie<br />
dieser Tag. Der Sonntag. Du weißt, daß du dich in einen Teufelskreis begibst, wenn du es zugibst. Du<br />
weißt, daß sie dir nur die Schuld beweisen wollen; trotz fre<strong>und</strong>licher Worte. Sie merken, daß du zweifelst,<br />
bohren immer wieder nach. Stoßen dich in den Kreis, <strong>und</strong> du kannst nicht mehr heraus. Du gibst es zu. Du<br />
fühlst dich erleichtert, erschlafft <strong>und</strong> müde. Die Spannungen der letzten Tage weichen. Man gönnt dir ein<br />
wenig Ruhe. In der Zelle. Du hast zur Außenwelt nur Kontakt durch die Klappe, siehst einzig Hände, kein<br />
Gesicht. Für dich ist kein Mensch hinter der Tür - allein Hände. Du wirst fotografiert, von drei Seiten <strong>und</strong><br />
im Stehen, es werden Fingerabdrücke genommen: Schwerverbrecher? Der Arzt macht eine<br />
Tauglichkeitsuntersuchung. Tauglich wofür? Du bist ein Werkstück für ihn, kein Mensch. Verhöre, statt<br />
Freihof. Keine frische Luft. Dir steht Freihof zu. Laut Papier. Du befindest dich im Teufelskreis: „Wo<br />
634 Gemeint ist der Sonntag, der 15.01.1989 (s. Chronik).<br />
311
waren Sie?... Wann waren Sie?... Mit wem waren Sie?“... Du lehnst es ab, andere Namen zu nennen oder<br />
zu bestätigen. Verhöre, Teufelskreis. Auch das gibst du bald auf, bestätigst Namen, widersprichst dir, man<br />
nagelt dich fest. Du schiebst die Verantwortung auf andere, unbewußt. Du sagst, du weißt von nichts.<br />
„Warum lügen Sie immer noch, wir wissen alles!“ Geständnis. Du fühlst dich frei vom Druck der letzten<br />
Tage, begründest, argumentierst, versuchst zu überzeugen - <strong>und</strong> erkennst die Sinnlosigkeit deiner<br />
Versuche. Die Vernehmung ist abgeschlossen, du hast alles gesagt, was du weißt, fühlst dich elend <strong>und</strong><br />
beschissen. Nur noch stupide Fragen, Aussagen zur eigenen Person, Abschluß der Vernehmung.<br />
„Ihre Zellentür wird sich heute noch einmal öffnen.“ Du wagst nicht, diese Worte zu analysieren.<br />
Sie öffnet sich noch einmal. Sachen abgeben, umziehen, Unterschriften, Belehrungen. Du erlebst alles im<br />
Nebel, weit weg, nimmst es kaum wahr. Du stehst auf der Straße, bleibst stehen, schaust... Die Geräusche,<br />
die du eine Woche lang gehört hast, werden zu Bildern. Freude kann nicht aufkommen, du hast die<br />
kleinen Mauern hinter dir gelassen, weißt aber von den großen hier draußen. Es erscheint dir wie ein<br />
Tausch. Augenblick des Glücks - du siehst die <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> wieder. Umarmung, Scherze - schaust in müde,<br />
übernächtigte Augen. Dir wird erst jetzt das Ausmaß der Solidarität bewußt. Es waren schlaflose,<br />
durchwachte, durcharbeitete Nächte für deine <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> hier draußen. Am Telefon, an der Schreibmaschine,<br />
bei Andachten <strong>und</strong> bei Diskussionen vergingen Tage <strong>und</strong> Nächte. Du findest keine Worte, scherzt, spielst<br />
den Heiteren, obwohl du dich elend fühlst. Solidaritätsandacht. Eine Andacht für dich <strong>und</strong> die anderen. Du<br />
kannst die Tränen nicht zurückhalten. Die Inhaftierten gestalten sie zum Teil selbst635 . Ein Strauß<br />
Weidenkätzchen für die Inhaftierten - du weinst. Der Strauß lebt noch heute - ein Zeichen der Hoffnung<br />
an eine nie zu vergessende St<strong>und</strong>e.<br />
Lied von Herbert Grönemeyer: Jetzt oder nie [Kassettenrecorder]<br />
U. Schwabe: Heute stand ein Artikel im „Neuen Deutschland“. Eigentlich sollte man solche Artikel gar<br />
nicht mehr beachten - heutzutage - über die Tagung der Synode des B<strong>und</strong>es der evangelischen Kirchen in<br />
der DDR. Also wir bewerten diesen Artikel als Frontalangriff auf die Synodalen <strong>und</strong> die Kirchenleitung.<br />
Hier zeigt sich eigentlich, daß es bereits zum Bruch zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat gekommen ist, was<br />
eigentlich immer verhindert werden sollte. Ich werde das mal ausnahmsweise vorlesen636 : „Großdeutsche<br />
Ladenhüter auf der Kirchenversammlung. In Eisenach hat dieser Tage die Synode des B<strong>und</strong>es der<br />
evangelischen Kirche der DDR stattgef<strong>und</strong>en. Bemerkenswert an dieser Kirchenversammlung war<br />
zunächst einmal der äußere Umstand, daß offenbar ebenso viel Westjournalisten nach Eisenach<br />
gekommen waren wie Synodale. So erinnern die Frontberichte aus der Wartburgstadt auch nicht im<br />
geringsten an die Atmosphäre einer Kirchenversammlung, sondern vielmehr an die jener großdeutschen<br />
Staatssitzungen, bei denen vor Jahrzehnten die grauen Pläne zur Wiederherstellung kapitalistischer<br />
Verhältnisse in der DDR ausgearbeitet wurden. Wie aus den Berichten der BRD-Medien hervorgeht, sind<br />
in Eisenach, wohlbemerkt auf einer Synode, diese alten Hüte alle wieder aufgetischt worden. Alter Quark<br />
wurde da als Frischkäse angeboten: Was da im Westen aus dem Bericht der Synode zitiert wurde, ist in<br />
letzter Konsequenz ein Katalog von Maßnahmen, um die DDR kapitalistisch <strong>und</strong> für die<br />
Wiedervereinigung sturmfrei zu machen. Selbstverständlich wird da nichts draus. Denn unsere<br />
Parteienvielfalt ohne Neonazis ist für die Gestaltung unserer sozialistischen Gesellschaft völlig<br />
ausreichend. [...] Was hat denn das mit Kirchenangelegenheiten zu tun? Vor allem, was haben solche<br />
abenteuerlichen, völlig unrealistischen Parolen noch mit Kirchen im Sozialismus zu tun? Wäre es nicht<br />
besser, bei den vernünftigen <strong>und</strong> nützlichen Vereinbarungen zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche aus dem Jahre<br />
1978 zu bleiben? Wie jüngst, bei der Einweihung des Doms in Greifswald bekräftigt wurde.“<br />
Uns haben aber auch zwei Meldungen ereilt, die uns ziemlich hoffnungsvoll gestimmt haben. Daß<br />
selbst in den höchsten Kreisen der Parteiführung es zu einer Spaltung gekommen ist, <strong>und</strong> daß es selbst<br />
dort keine Einigung mehr gibt. Denn das LDPD-Mitglied <strong>und</strong> Stellvertretender Staatsratsvorsitzender<br />
Gerlach <strong>und</strong> der Stellvertretende Kulturminister Höpke haben sich für Reformen ausgesprochen 637.<br />
Sie<br />
635 Der AKSK ließ in dieser Andacht (20. 01. 1989) Texte, die den Freigelassenen am Herzen lagen, vortragen<br />
(Dietrich (1989))<br />
636 „Neues Deutschland“, 21.09.1989, S. 2<br />
637 In der Tageszeitung der LDPD „Der Morgen“ erschien am 21.09.1989 die kritische Rede von M. Gerlach, in der<br />
es u.a. hieß: „Information ist Bürgerrecht <strong>und</strong> Staatspflicht. Widerspruch ist nicht Opposition <strong>und</strong> der persönliche<br />
312
haben eine Auseinandersetzung mit den Motiven der DDR-Flüchtlinge gefordert <strong>und</strong> streben ein Gespräch<br />
mit allen gesellschaftlichen Bereichen an.<br />
St. Walther: Wir wollen jetzt Fürbitte sprechen für unsere Inhaftierten <strong>und</strong> als Zeichen bitte ich Sie - hier<br />
vorn liegen Blumen <strong>und</strong> hier vorn steht eine leere Vase -, daß jeder, der eine Fürbitte spricht, eine Blume<br />
nimmt <strong>und</strong> in die Vase stellt, daß wir danach vielleicht einen schönen Blumenstrauß haben, als<br />
Erinnerung, weil die Gefangenen keine Blumen sehen. Sie sehen kalte, graue Wände. Und ich bitte Sie,<br />
wer möchte, kann dann nach vorn kommen.<br />
Mann: Herr, wir bitten dich für die Freilassung der Gefangenen. Herr erbarme dich. Christi erbarme dich.<br />
[...] Gib denen Kraft, die jetzt soviel entbehren müssen.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie, eleison.<br />
(Pause)<br />
Pf. Wonneberger: Ich mache mir schon länger Gedanken, wie gut oder wie schlecht die einzelnen, die<br />
jetzt da in der Untersuchungshaft sitzen, wohl vorbereitet sind auf diese Situation, in der sie sich befinden.<br />
Wie realistisch oder wie überrascht sie sind seit 1 1/2 Woche. Das ist ja wohl doch eine lange Zeit für<br />
jemand, für den das vielleicht doch sehr überraschend gekommen sein mag. Und ich mache mir<br />
Gedanken, wie lange jemand so Kraft hat. Auf der anderen Seite kenne ich natürlich auch Geschichten aus<br />
der Geschichte unserer Kirche schon von Anfang an, bis in die jüngste Vergangenheit, wo wirklich<br />
Unwahrscheinliches passiert ist. Wo Menschen im Gefängnis Kraft gekriegt haben, wer weiß woher. Und<br />
wenn wir vom Geist Gottes reden, der weht, wo er will, dann denke ich, macht so ein Luftzug auch in der<br />
Untersuchungshaft nicht halt. Auch dort, wo die Ritzen nicht vorgesehen sind. So möchte ich eigentlich<br />
jetzt die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß da so ein Luftzug dadurch weht in der Beethovenstraße.<br />
Und daß die Gefangenen, auch wenn sie vielleicht so am Ende sind, wie der Uwe das vorhin beschrieben<br />
hat, etwas davon merken.<br />
Frau: Als Mutter eines Sohnes, der vor 1 1/2 Jahren [unverständlich da die Rednerin weint] <strong>und</strong> der zum<br />
Teil ähnliches erlebt hat, wie das vorhin beschrieben wurde, wollen wir im Gebet zusammenfassen <strong>und</strong><br />
bitte dich, Herr erbarme dich <strong>und</strong> gib uns die Kraft zum Zusammenstehen <strong>und</strong> zur Erkenntnis, daß sie sich<br />
auch durch Erpressung nicht erweichen lassen.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
Frau: Auch mein Sohn ist einmal zugeführt worden, allerdings nicht so schlimm, wie wir es hier gehört<br />
haben. Er ist nach mehreren St<strong>und</strong>en dann wieder nach Hause gekommen. Ich habe mir als Mutter<br />
vorgenommen, mich dort vor die Treppe zu setzen <strong>und</strong> zu warten, um zu erfahren, wie es meinem Sohn<br />
geht. Ich bin nicht in die Notwendigkeit gekommen, er ist dann nach Hause gekommen. Mein Sohn hat<br />
zwei Kinder <strong>und</strong> eine Frau, sie sind im April ausgereist. Mein Sohn hat aufgegeben, hier etwas zu<br />
verändern, weil er an seinem Vater gesehen hat, der sein ganzes Leben immer wieder zurückgestellt<br />
wurde, weil er sich nicht angepaßt hat, daß es eben eigentlich keinen Sinn hat bei uns. Ich will nun als<br />
Mutter, ich habe noch ein Kind, das ist acht Jahre, weiter versuchen... Ich bin aus der Partei ausgetreten,<br />
vor einer Woche, <strong>und</strong> es hat mir das Gefühl gegeben... Ich habe vorhin geweint, aber jetzt habe ich Kraft<br />
<strong>und</strong> ich werde auch versuchen die Kraft [Frau weint, Worte sind nicht mehr zu verstehen]<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
H. Wadewitz: Mein Name ist Henri Wadewitz, ich bin 24 Jahre. Ich mache mir seit einigen Jahren<br />
Gedanken, wo ich mein zukünftiges Leben so wie es bis jetzt war [... nicht zu verstehen] Ich bin natürlich<br />
in die Schule gegangen, wie jeder andere auch. In Geschichte wurde uns eben gesagt, daß die Arbeiter auf<br />
die Straße gegangen sind <strong>und</strong> für ihre Rechte gekämpft haben. Damals haben die größten Kapitalisten die<br />
Arbeiter verhaftet. Und wenn ich mir das heute hier angucke, na dann sehe ich dann irgendwie fast<br />
dasselbe.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
Anderer Mann: Dieses Zeichen für alle politischen Gefangenen in dem Land <strong>und</strong> auf der ganzen Welt<br />
überhaupt <strong>und</strong> die meisten von uns haben den Gedanken oder Glauben oder Hoffnung an die Reformen<br />
aufgegeben. Ich werde irgendwann auch ausreisen. Die meisten meiner <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> sind ausgereist, werden<br />
Standpunkt zu politischen Entscheidungen keinesfalls Ausfluß bürgerlicher Ideologie, sondern Erziehungs- <strong>und</strong><br />
Bildungsziel des Sozialismus.“<br />
313
ausreisen. Wir haben irgend wo keine Mittel, keine Kraft mehr.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
Pf. Führer: Wir erleben es gerade in großer Breite, daß Menschen resignieren. Die einen flüchten sich in<br />
ihre privaten Wünsche <strong>und</strong> sichern sie weiterhin so gut es geht, die anderen gehen weg. Damit kann unser<br />
Land nicht weiterkommen. Morgen werden zwei Gespräche sein, Mittag 13.00 Uhr bin ich zum [Kreis-<br />
]Staatsanwalt eingeladen, um 15.00 Uhr beim Superintendent Richter <strong>und</strong> Pfarrer Wugk. Manchmal denkt<br />
man, Gespräche haben keinen Sinn mehr, aber ich möchte doch die Bitte hier aussprechen, daß diese<br />
Gespräche morgen den Inhaftierten zugute kommen. Und ich möchte auch die Bitte aussprechen, daß<br />
durch den Glauben an Jesus Menschen wieder sich aufrichten, so wie die Blume auch, wenn sie Wasser<br />
bekommt, wieder gerade steht <strong>und</strong> nicht umknickt, <strong>und</strong> daß immer mehr Menschen <strong>und</strong> auch die, wenn sie<br />
aus der Haft entlassen werden, wieder Mut schöpfen, hier zu bleiben, hier zu leben <strong>und</strong> untereinander<br />
zusammenzuhalten, damit unsere Heimat <strong>und</strong> all die Menschen, die hier leben, nicht in die Verzweiflung<br />
geraten. Kyrie eleison.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
Weiterer Mann: Ich will diese Blume in die Vase stecken, ich habe mir das die ganze Zeit schon<br />
gewünscht.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison.<br />
E. Demele: Ich muß sagen, wenn ich so was höre, fürchte ich mich immer davor. Und ich muß ständig<br />
überlegen, mir bewußt machen, daß es einen Sinn hat, so weiterzumachen. Und muß mir immer wieder<br />
Kraft selbst geben. Und so möchte ich hoffen, daß diese Menschen sich nicht als Aussätzige, als kriminell<br />
empfinden, sondern daß sie weiter[machen?]. Es hat mich vorhin doch bestärkt, als vorhin gesagt wurde,<br />
daß man die Sicherheit immer wieder bekommen kann, daß man die Sicherheit auch geben kann. Das will<br />
ich für die anderen auch.<br />
Gemeindegesang: Kyrie, Kyrie eleison<br />
Gebet: Vater unser [...]<br />
J. Läßig: Zum Abschluß dieser Andacht möchte ich einige Bekanntmachungen geben. Eigentlich wollte<br />
ich jetzt etwas Werbung für diese Friedensgebete machen. Es ist jetzt, also ich bin jetzt selbst beeindruckt,<br />
<strong>und</strong> ich brauche da jetzt nichts mehr dazu zu sagen. Ich glaube, es ist doch notwendig, daß wir<br />
zusammenkommen. Das ist für mich auch selbst sehr angenehm, hier zu sein. Die nächsten Andachten<br />
sind am Freitag in Schleußig, in Bethanien. Das ist Straßenbahnlinie 1, hinter dem Clara-Zetkin-Park, A-<br />
Bus fährt auch. Dann am Samstag, also immer 18.00 Uhr, die Zeit bleibt, außer montags in der<br />
Nikolaikirche. Samstag in Anger-Crottendorf, Trinitatis, das ist Straßenbahn 8. Am Sonntag in der<br />
Reformierten Kirche, das ist am Engels-Platz, dürfte bekannt sein, diese große Straßenbahnhaltestelle. Am<br />
Montag wie immer 17.00 Uhr Nikolai, am Dienstag wieder in der Reformierten Kirche <strong>und</strong> am Mittwoch<br />
in Gohlis in der Versöhnungskirche. Es kann hier vorn gefragt werden, aber ich hoffe, daß wieder<br />
Aushänge gemacht werden 638 , damit in verschiedenen Kirchen das zu lesen ist. Es gibt ein paar<br />
Privatinitiativen, um auf die Situation der Gefangennahme hier in Leipzig aufmerksam zu machen. Und<br />
ich glaube, es ist auch deshalb wichtig, weil ja ein Ende nicht abzusehen ist. Es kann ja jeden Montag zu<br />
neuen Inhaftierungen kommen, <strong>und</strong> irgendwie haben verschiedene Menschen das Bedürfnis, sich dazu zu<br />
äußern. Es werden also 17.00 Uhr an der Nikolaikirche z.Zt. noch sehr wenig Blumen <strong>und</strong> Kerzen<br />
niedergelegt. Ich glaube es ist notwendig, dazu auch ein Schild zu machen, weil eigentlich Blumen <strong>und</strong><br />
Kerzen auch auf Verstorbene deuten können, das ist ja nicht der Fall 639 . Also wir wollen das nicht noch<br />
tragischer machen, als es wirklich ist. Wir haben jeden Tag auch, oder so oft es ist, Schilder hingehängt,<br />
wo dran steht für unsere Inhaftierten. Ich habe hier zwei Adressen, eine Adresse für Beschwerden an den<br />
638 Wie die Unterlagen der Koordinierungsgruppe zeigen, versuchte der Staat die Ankündigung der Fürbittgebete in<br />
den Kirchenschaukästen zu verhindern. Dies gelang ihm auch teilweise (Notizen vom 18./19.09. - ABL H 1).<br />
639 Ab dem 17.09. begann die Koordinierungsgruppe Blumen an die Fenster der Nikolaikirche zu stecken bzw.<br />
binden. Später wurden auch Schilder (besonders C. Fromme) angebracht <strong>und</strong> rechts neben dem damaligen<br />
Haupteingang Kerzen aufgestellt. Auf den Schildern stand z.B.: „In den Zeitungen dieses Landes steht: 'Hier<br />
herrscht Freiheit'. Das ist immer Irrtum oder Lüge: Freiheit herrscht nicht.“ „Sofortige Freilassung aller<br />
Inhaftierten...“ „Wer unsere <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong> inhaftiert, mit dem reden wir nicht.“ „Solidarität mit den Inhaftierten“<br />
(Fotos u.a. in: Neues Forum Leipzig (1989), Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter <strong>und</strong> im ABL)<br />
314
Staatsanwalt, also der jetzt für die Inhaftierten zur Zeit verantwortlich ist. Und ich lese das nicht vor,<br />
sondern wer daran interessiert ist, hier an diesen Mann zu schreiben, der kann hier vorkommen. Und ich<br />
habe auch die Adresse für die Untersuchungshaftanstalt, also die Adressen der Gefangenen, die Namen<br />
sind ja auch da. Es ist zwar nicht gesagt, daß da was ankommt, es ist also auch zu bezweifeln. Aber ich<br />
halte es trotzdem für gut, da eine Postkarte hinzuschicken. Und wir haben es ja auch schon in anderen<br />
Erdteilen gemacht, an Angela Davis oder sonst welche Gefangenen, Briefe verschickt. Da ist es auch mal<br />
ganz gut, wenn wir das im eigenen Land machen. Das halte ich eigentlich für angebracht. Es werden<br />
Leute gesucht, die Andachten gestalten. Es gehört eigentlich nicht viel dazu, es kann sich eigentlich jeder<br />
dazu ermächtigt fühlen, also wer da ein kleines bißchen Erfahrung hat im öffentlichen Auftreten <strong>und</strong><br />
Reden, uns hier etwas zu sagen <strong>und</strong> mit uns zusammen zu sein, um über unsere Situation hier<br />
nachzudenken. Wir hoffen auch von anderen Leuten, mit denen ihr so herkommt, mit euch auch<br />
Anregungen zu bekommen. Es sind sehr wenige, die sich zur Zeit um Solidarität kümmern, <strong>und</strong> es ist gut,<br />
wenn irgend jemand kommt <strong>und</strong> sagt, wir könnten das <strong>und</strong> das machen.<br />
St. Walther: Was gleich ganz Erfreuliches dazu, was der Jochen gerade gesagt hat. Eine zweite Andacht<br />
lief heute parallel in Leipzig-Grünau, <strong>und</strong> der Pfarrer Klaus Michael ist krank geworden heute, <strong>und</strong> es war<br />
eigentlich fast so, daß es ausfallen müßte. Und es ist sofort der Pater Bernhard [Ventzke] von der<br />
Katholischen Kirche dafür eingesprungen, <strong>und</strong> dafür möchte ich mich noch einmal ganz toll danken.<br />
Pf. Wonneberger: Ja, also erfreulich, Ökumene von unten. Ja, ich wollte noch hinzufügen, daß natürlich<br />
die mündliche Information, die in den Fürbittandachten gegeben wird, eine Sache ist <strong>und</strong> daß wir ja<br />
zunehmend auch angewiesen sind auf gegenseitige Informationen, die man sich dann nicht nur merkt,<br />
sondern die man dann auch nachlesen <strong>und</strong> weitergeben kann. Dem dienen auch Veröffentlichungen, seit<br />
jetzt diesem Monat gibt es eine Veröffentlichung von der Menschenrechtsgruppe unserer Gemeinde in<br />
Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Gerechtigkeit. Wer sich dafür interessiert, der kann das hier hinten<br />
dann mitnehmen, da liegen noch, so viel ich weiß, Exemplare. Also es nennt sich Forum für „Kirche <strong>und</strong><br />
Menschenrechte“ 640 <strong>und</strong> soll in Zukunft auch regelmäßig erscheinen, außerdem noch Hefte von<br />
„Kontext“ 641 , der Bekenntnisgemeinde in Berlin-Treptow, <strong>und</strong> da gibt es natürlich auch noch andere, aber<br />
das sind die beiden, die jetzt hier vorrätig sind, also auch zum Weitergeben. Bloß so noch einfach mal, ich<br />
denke wir sind zunehmend darauf angewiesen, also unsere Informationen nicht von sonst woher zu<br />
empfangen, sondern einfach von hier. Und dann wollte ich noch fragen, ob vielleicht drei kräftige<br />
Menschen vielleicht noch eine Viertelst<strong>und</strong>e noch da bleiben könnten, wir müssen einfach ein paar<br />
Balken, die wir aus dem Abriß haben <strong>und</strong> hier unten hingelegt haben, die müssen wir hier auf die Empore<br />
bringen. Wenn jemand sich vielleicht bereit erklärt. Ich hoffe, ja ich möchte eigentlich, daß wir in der<br />
Hoffnung auf Gelingen auseinandergehen <strong>und</strong> der Segen unserer Kirche, der drückt so was aus wie die<br />
Hoffnung auf Gelingen, <strong>und</strong> deshalb wünsche ich uns, daß Gott uns segne. Er segne uns <strong>und</strong> er behüte<br />
uns. Er lasse leuchten sein Angesicht über uns <strong>und</strong> sei uns gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf uns <strong>und</strong><br />
gebe uns allen seinen Frieden. Amen.<br />
J. Läßig: Ich bin von meinen <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n gebeten worden, zum Abschied noch ein Lied zu singen. Es drückt<br />
sehr gut unsere Gefühle aus. Es ist zwar in der B<strong>und</strong>esrepublik entstanden, aber es ist sehr gut<br />
nachvollziehbar. Eigentlich haben wir Angst, aber wir singen uns trotzdem zu: Ich habe keine Angst, wir<br />
haben keine Angst. Wer es kann, kann auch bißchen mitsingen. [...]<br />
214 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Brief an den Bezirksstaatsanwalt, an den RdB, Abteilung Inneres, an den Oberbürgermeister <strong>und</strong> an die<br />
Volkskammer aufgr<strong>und</strong> der Verhaftungen am 11.09.1989. Der Brief wurde von M.-D. Ohse verfaßt <strong>und</strong><br />
während einer Fürbittandacht in der Bethaniengemeinde (Leipzig-Schleußig) am 22.09. von über 100<br />
640 Heft 1 der von AGM <strong>und</strong> AKG herausgegebenen Zeitschrift (vom 16.09.1989), in der neben Berichten über<br />
aktuelle Menschenrechtsverletzungen in der DDR ein ausführlicher Text zur europäischen Wirtschaftsordnung<br />
von A. Müller (AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, Demokratischer Aufbruch) <strong>und</strong> das Bandprotokoll einer<br />
Podiumsdiskussion vom „Statt-Kirchentag“.<br />
641 s. Alles ist im Untergr<strong>und</strong> oben auf (1993)<br />
315
Teilnehmern unterzeichnet (ABL H 1 <strong>und</strong> in: SAL RdS 7058, 10).<br />
Am Montag, dem 11. <strong>und</strong> am Montag, dem 18. September 1989 mußten die Besucher des montäglichen<br />
Friedensgebetes in der Leipziger Nikolaikirche erleben, daß der Platz um die Kirche während dieser<br />
gottesdienstlichen Veranstaltung von Sicherheitskräften abgeriegelt worden war. Mehreren Personen<br />
wurde bereits kurz nach Beginn des Friedensgebets der Zutritt zur Nikolaikirche verwehrt.<br />
Während die Besucher des Friedensgebetes die Nikolaikirche verließen, aber auch noch geraume Zeit<br />
nach dem Ende dieser gottesdienstlichen Veranstaltung, kam es von Seiten der zivilen <strong>und</strong> uniformierten<br />
Sicherheitskräfte zu gezielten, teilweise brutalen, Übergriffen gegen die Teilnehmer des Friedensgebetes<br />
sowie zu mehr als 100 Zuführungen.<br />
Wir sehen in diesen Übergriffen, in der Umstellung der Kirche <strong>und</strong> in den Zuführungen einen großen<br />
Verstoß gegen die verfassungsmäßig garantierten Rechte auf Glaubensfreiheit, auf freie Ausübung<br />
religiöser Handlungen sowie auf Meinungs- <strong>und</strong> Gewissensfreiheit (Verfassung der DDR Art. 39, 27 <strong>und</strong><br />
28). Dies um so mehr, als von den Besuchern des Friedensgebetes keinerlei Provokation ausgegangen war.<br />
Wir bitten Sie aus diesem Gr<strong>und</strong>e darum, daß mit denjenigen, die für die Einsätze der Sicherheitskräfte<br />
verantwortlich sind, Aussprachen geführt werden, mit dem Ziel, derartige Verstöße gegen<br />
verfassungsmäßig garantierte Rechte zu unterbinden.<br />
Wir fordern Sie weiterhin auf, die Ermittlungsverfahren gegen alle Inhaftierten vom 11. <strong>und</strong> 18.<br />
September 1989 einzustellen <strong>und</strong> die Inhaftierten zu entlassen. In diesem Zusammenhang fordern wir die<br />
Annullierung aller am 11. <strong>und</strong> am 18. September 1989 ausgesprochenen sowie der in gleicher Beziehung<br />
verfügten Ordnungsstrafen <strong>und</strong> Strafbefehle.<br />
Wir bitten Sie des weiteren darum, die Lokalpresse der Messestadt davon zu informieren, daß es sich bei<br />
den Besuchern des Friedensgebetes in der Nikolaikirche nicht um „Personengruppen“ handelt, die sich<br />
versammeln, „um die öffentliche Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit zu stören“ (1) <strong>und</strong> auch nicht um eine<br />
„rechtswidrige Zusammenrottung von Personengruppen“ (2), sondern daß sie Teilnehmer an einer<br />
gottesdienstlichen Veranstaltung sind. Eine solche Darstellung ist ebenso inkorrekt wie die Beschreibung<br />
des - teilweise brutalen - Einsatzes der Sicherheitskräfte als „besonnenes <strong>und</strong> konsequentes Handeln der<br />
Einsatzkräfte der Deutschen Volkspolizei“ (2).<br />
Quellen: 1) Leipziger Volkszeitung vom 12. Sept. 1989, s. S. 8; 2) Leipziger Volkszeitung vom<br />
19. Sept. 1989, s. S. 8.<br />
Wir bitten ebenfalls darum, daß die Verantwortlichen sich zum Dialog mit den Veranstaltern der Leipziger<br />
Friedensgebete bereit erklären, um derartige Übergriffe <strong>und</strong> Fehldeutungen für die Zukunft zu vermeiden.<br />
In Solidarität mit den Inhaftierten, den Strafverfolgten <strong>und</strong> den Veranstaltern der Leipziger Friedensgebete<br />
grüßen Sie<br />
die Teilnehmer der Andacht zur Fürbitte <strong>und</strong> Information für die Inhaftierten vom 11. Sept. 1989<br />
in der Bethanienkirche Leipzig-Schleußig am 22. September 1989.<br />
Unterschriften <strong>und</strong> Teilnehmer an o.a. Andacht, die sich dieser Erklärung anschließen:<br />
[Es folgen 113 Unterschriften.]<br />
215 Innerkirchliche Information<br />
Hektographiertes Blatt, welches an Friedensgebets- bzw. Fürbittengebetsbesucher <strong>und</strong> Besucher des Büros<br />
der Kontaktgruppe in der Markus-Gemeinde verteilt wurde 642 (ABL H 1).<br />
Bericht von den Leipziger Ereignissen im September<br />
Jeden Montag findet in der Nikolaikirche (Stadtzentrum), 17.00 Uhr ein Gottesdienst für Frieden,<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung statt. Seit Mai 1989 stehen ab Gottesdienstbeginn mehrere<br />
Mannschaften der Bereitschaftspolizei einsatzbereit im Stadtzentrum (um die Nikolaikirche). Wenn die<br />
Gottesdienstbesucher die Kirche nach Gottesdienstschluß verlassen, bleiben sie gewöhnlich auf dem<br />
642 Von diesen Informationsblättern wurde wöchentlich eine Neuausgabe hergestellt. Das erste mit hoher Auflage<br />
entstand zum FG am 18.09.1989 (ABL H 1).<br />
316
(Park-)Platz vor der Kirche („Nikolaikirchhof“) zum Gespräch <strong>und</strong> Informationsaustausch stehen. Seit<br />
Mai sperren daraufhin an einigen Montagen die Sicherheitskräfte alle Ausgänge durch Polizeiketten ab,<br />
fordern auf, den Platz zu verlassen <strong>und</strong> greifen sich verschiedene Personen (die „zugeführt“ werden <strong>und</strong><br />
im allgemeinen bis zum nächsten Abend aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurden).<br />
Am 4.9. (während der Leipziger Messe) fand (wie zu vorhergehenden Messe-Montagen) eine<br />
Demonstration aus der Menschenmenge, die auf dem Platz stand, statt. Mit Transparenten, die zivile<br />
Einsatztrupps nach kurzer Zeit heruntergerissen, wurde u.a. für Versammlungs- <strong>und</strong> Vereinsfreiheit<br />
demonstriert. Die Polizeiketten verhinderten einen Demonstrationszug. Am 11.9. standen nach dem<br />
Gottesdienst ca. 1200 Menschen auf dem Nikolaikirchhof, als die Polizeiketten geschlossen wurden <strong>und</strong><br />
per Lautsprecher die Leute aufgefordert wurden, den Platz zu räumen. Ungefähr die Hälfte kam der<br />
Aufforderung nach <strong>und</strong> ging zwischen den teilweise 3fachen Polizeireihen hindurch oder flohen in das<br />
Kirchenbüro, welches sich der Kirche gegenüber auf der anderen Seite des Platzes befindet. Dann rückten<br />
die Polizeiketten auf die Menschen zu <strong>und</strong> griffen sich verschiedene heraus, andere wurden noch durch<br />
die Stadt verfolgt. Ungefähr 130 Personen wurden zugeführt, 22 von ihnen erhielten am 12.9. in einem<br />
Schnellverfahren einen Strafbefehl über eine Geldstrafe bis zu 5000 Mark (auf Gr<strong>und</strong> § 217, Abs. 1).<br />
Mindestens 13 Personen haben bis heute noch nicht die Untersuchungshaftanstalt verlassen können.<br />
Namentlich bekannt sind uns:<br />
Carola Bornschlegel, Udo Hartmann (Mitglieder der Initiativgruppe LEBEN), Katrin Hattenhauer<br />
(ehemals Arbeitskreis Gerechtigkeit), Mirco Kätzel, Axel Gebhart, Jörg Müller, Jutta Gätzel, Ramona<br />
Ziegner, Holger König, Günter Müller, G<strong>und</strong>ula Walter, Jens Michalke, Peer Matzeit. Mindestens vier<br />
erhielten schon Strafbefehle über 4 Monate Haft.<br />
Bei allen anderen läuft das Ermittlungsverfahren unter dem gleichen Paragraphen (217, Abs. 1). Wir<br />
gehen von Höchststrafen von 6 Monaten aus (möglich sind bis zu 2 Jahre).<br />
Am 18.9. hatten sich während des Gottesdienstes (den ca. 1800 besuchten) weit über 1000 Schaulustige<br />
außerhalb der Polizeiketten eingef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> mit vereinzelten Sprechchören ihren Unmut ausgedrückt.<br />
Gegen 17.15 Uhr wurden die ersten zugeführt.<br />
Nach dem Gottesdienst verließen die Gottesdienstbesucher recht zügig das Gelände. Dafür wurden die<br />
Polizeiketten geöffnet.<br />
Jedoch strömten die Schaulustigen auf den Platz, so daß es auf dem Nikolaikirchhof wieder zu brutalen<br />
Festnahmen kam.<br />
Später auch noch an anderen Stellen der Innenstadt. Augenzeugen gehen von mindestens 45 Zuführungen<br />
aus. Es wurde ein Knochenbruch gemeldet.<br />
Aus Anlaß der Inhaftierungen am 11.9. finden seit 14.9. in verschiedenen Gemeinden der DDR<br />
Fürbittandachten statt, u.a. jeden Tag in Leipzig, Merseburg <strong>und</strong> Berlin, in Altenburg, Halle, Dresden,<br />
Karl-Marx-Stadt, Greifswald ... Die Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirche in der DDR, die vom<br />
15.-19.9. in Eisenach tagte, behandelte die Leipziger Polizeieinsätze mehrmals <strong>und</strong> forderte u.a.<br />
Demonstrationsfreiheit.<br />
Die Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte, das Neue Forum (Bezirk Leipzig) <strong>und</strong> die Charta 77<br />
zusammen mit VONS (Menschenrechtsorganisation der CSSR) gaben Protesterklärungen heraus 643.<br />
Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten, Leipzig, den 23.9.1989<br />
216 Staatliche Einschätzung<br />
Handschriftliche Aufzeichnungen vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, mit dem Datum<br />
„25.9.89“. Der Text ist überschrieben mit „Gen. Dr. Reitmann [/] Überlegungen zur Problematik<br />
643 Das Material der Kontaktgruppe (u.a. Telephonlisten, Briefe, Solidaritätserklärungen) liegt nahezu vollständig im<br />
ABL. In der Prager Erklärung hieß es u.a.: „Wir gehen aus von der Ansicht, daß die Bürger der DDR das Recht<br />
haben, in die BRD auszuwandern. Um somehr ist es unsere moralische Pflicht, uns dafür einzusetzen, daß sie frei<br />
<strong>und</strong> ohne Behinderung in der DDR leben können, die dort leben wollen <strong>und</strong> die durch ihre kritische Stellung<br />
beitragen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Diese Erklärung wurde telefonisch übermittelt,<br />
danach übersetzt <strong>und</strong> u.a. in der Nikolaikirche öffentlich ausgehängt.<br />
317
644<br />
Nikolaikirche (montägliche Friedensgebete)“ <strong>und</strong> wurde von A. Müller geschrieben (StAL BT/RdB<br />
22259).<br />
Ausgangspunkt: Kirche gemäß Verfassung das Recht, religiöse Handlungen (Gottesdienst) durchzuführen.<br />
Verlauf der bisherigen Friedensgebete gibt bis jetzt keinen Anlaß, daß staatlicherseits, gemäß VAVO<br />
[Veranstaltungsverordnung], diese zu verbieten. Auf der anderen Seite haben die bisher geführten<br />
Gespräche mit den Superintendenten bzw. Bischof oder LKA [Landeskirchenamt] gezeigt, daß die Kirche<br />
nicht gewillt ist, die Friedensgebete auf unbestimmte Zeit auszusetzen.<br />
Überlegungen zur Weiterarbeit<br />
1. Gegenüber den Superintendenten ist darauf einzuwirken, daß zu jedem Friedensgebet an die Teilnehmer<br />
die Aufforderung erfolgt nach dem Gottesdienst den Nikolaikirchhof zügig zu verlassen (Bezugspunkt<br />
gemeinsames Wort der Sup. verlesen am 18.9.89 nach Meinung von Sup. Richter mit<br />
durchschlagendem Erfolg). Diese Aufforderung erfolgte in der Vergangenheit sehr selten.<br />
2. Gegenüber den beiden Superintendenten ist weiter darauf einzuwirken, daß nur solche Pfarrer für den<br />
Gottesdienst bzw. Montagsandacht verpflichtet werden, die ihre Verantwortung hinsichtlich der<br />
Beruhigung der Lage auch gewillt sind wahrzunehmen. D.h. den biblischen Ausspruch auch christlichtheologisch<br />
motiviert umsetzen <strong>und</strong> gesellschaftspolitische Bezugspunkte weitestgehend ausklammern.<br />
3. Bedingte Einbeziehung von kirchlichen Verantwortlichen (Richter, Magirius, Führer) zur<br />
Gewährleistung der allgemeinen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit auf dem Nikolaikirchhof nach dem<br />
Friedensgebet unter Beachtung bzw. auf der Gr<strong>und</strong>lage der gegebenen Situation. Hier sind<br />
Erfahrungen im Zusammenwirken von VP <strong>und</strong> leitenden kirchlichen Mitarbeitern bei der<br />
Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit bei kirchlichen Veranstaltungen (KT, Posaunenfest,<br />
Fronleichnam u.a.m) zur Gr<strong>und</strong>lage zu nehmen.<br />
(Basis - Angebot Führer an Stadtstaatsanwalt zum Gespräch am 22.9.89)<br />
4. Vermittlung von Eindrücken zum Verlauf Friedensgebet bzw. Montagsandacht aus staatlicher Sicht<br />
gegenüber Richter, Magirius, Führer in Form der Gesprächsführung am nächstfolgenden Tag.<br />
Diese Möglichkeit hat exakte Informationen zur Gr<strong>und</strong>lage. Kirche könnte diese Möglichkeit als Form<br />
der staatl. Einmischung in kirchl. Belange zurückweisen.<br />
5 645 . Fortführung der differenzierten Gesprächsführung mit Pfarrern der Stadt Leipzig <strong>und</strong> des<br />
Landkreises in der gesamten Breite. Ziel muß sein, den Polarisierungsprozeß innerhalb der<br />
Pfarrerschaft weiter voranzubringen, so daß sie sich stärker innerkirchlich gegen die Form <strong>und</strong> Inhalt<br />
der Montagsandachten in der Nikolaikirche wenden. Dies ist eine langfristige Maßnahme. Ergebnisse,<br />
spürbare, sind kurzfristig hier nicht zu erreichen.<br />
Überlegungen, die über den Rahmen der Staatspolitik in Kirchenfragen hinausgehen:<br />
1. Gesprächsführung mit Vertretern von kirchlichen bzw. alternativen Gruppen, die sich im kirchl. Raum<br />
aufhalten, durch geeignete Genossen aus dem Wissenschaftsbereich. Zielstellung:<br />
Differenzierungsprozeß innerhalb <strong>und</strong> zwischen Gruppen zu befördern.<br />
2. In der Presse sich stärker polemisch mit Vertretern des „Neuen Forum“ auseinandersetzen. Vor allem<br />
deutlich machen, wer diese Leute sind <strong>und</strong> was sie für Ziele wirklich verfolgen. (z.B. Bohley, Lässig)<br />
Ihr Zielanspruch in Verbindung mit Karl-Liebknecht-Demonstration in Berlin bzw. Leipzig. Lässig<br />
[richtig: Läßig] geht keiner geregelten Arbeit nach usw.<br />
217 Friedensgebetstexte<br />
Rekonstruktion des Friedensgebetes vom 25.09.1989, welches von der Arbeitsgruppe Menschenrechte unter<br />
Verantwortung von Pfarrer Wonneberger gehalten wurde. Die Rekonstruktion des Friedensgebetes geschah<br />
644 Aufgr<strong>und</strong> von Vergleichen mit anderen handschriftlichen Texten von A. Müller erschlossen. Unterstreichungen<br />
werden kursiv wiedergegeben.<br />
645 Die Zahlen „4.“ <strong>und</strong> „5.“ wurden umkreist.<br />
318
646<br />
unter Verwendung der Manuskripte <strong>und</strong> eines Tonbandmitschnittes (ABL H 1).<br />
Pfarrer Führer [Begrüßung]: [...Verweis darauf, daß die Kirche wegen Überfüllung geschlossen werden<br />
mußte <strong>und</strong> vor der Kirche weitere Menschen stehen.] Da die Vorgänge außen um die Nikolaikirche selbst<br />
für Leipziger Einwohner durchsichtig <strong>und</strong> uns kirchlichen Amtsträgern <strong>und</strong> Mitarbeitern Klarstellungen<br />
über die Zeitungen <strong>und</strong> Stadtfunk nicht möglich sind, gebe ich den Wortlaut eines Briefes zu den<br />
Ereignissen des letzten Montages bekannt, der von Pfarrer Wugk, dem stellvertretenden im Urlaub<br />
befindlichen Superintendenten <strong>und</strong> von mir, dem Vorsitzenden des Kirchenvorstandes der Kirchgemeinde<br />
St. Nikolai - St. Johannes, unterzeichnet ist. [... Verlesen des Briefes von Sup.-Vertreter Wugk <strong>und</strong> Pf.<br />
Führer an die für die Polizeieinsätze verantwortlichen Stellen vom 20. September 647.]<br />
Soweit der Briefwortlaut, <strong>und</strong> ich möchte allen Teilnehmern des letzten Montages [sic!] herzlich danken,<br />
daß sie unserem Aufruf so sichtbar Folge geleistet haben. (Beifall)<br />
Weiterhin möchte ich herzlich danken für die Kollekte des letzten Montages. Sie war wie die heutige<br />
Kollekte für die äußere Instandsetzung <strong>und</strong> innere Arbeit der Nikolaikirche erbeten worden. Die<br />
Fürbittenandachten für die Inhaftierten vom 11. September finden folgendermaßen statt: Jeweils 18.00<br />
Uhr [...] So dann möchte ich wieder alle Pastorinnen <strong>und</strong> Pfarrer, kirchliche Mitarbeiter <strong>und</strong><br />
Kirchenvorstandsmitglieder von Gemeinden aus Leipzig herzlich begrüßen. Es ist uns sehr wichtig, daß<br />
sie durch ihre Teilnahme uns k<strong>und</strong>tun, daß sie auch dieses Friedensgebet in der Nikolaikirche mittragen.<br />
Ein weitergehender Vorschlag ist vom Pfarrkonvent Südost beschlossen worden. Angesichts der immer<br />
größer werdenden Fülle in unserer Kirche - wir sind jetzt schon doch auch in unserer großen Kirche an<br />
den Rand unserer Möglichkeit gekommen - wird ein Angebot gemacht, in folgenden Kirchen Leipzigs<br />
jeweils sonnabends 18.00 Uhr ein Friedensgebet - wenn sie so wollen zur Entlastung der Nikolaikirche,<br />
zur Verbreiterung der Basis, wie sie es sehen wollen - zu halten (Beifall): Am kommenden Sonnabend<br />
Marienkirche (Stötteritz), am 7. Oktober Trinitatiskirche (Angercrottendorf) <strong>und</strong> dann die nächsten<br />
Sonnabende immer Trinitatiskirche (Angercrottendorf). Soweit also diese Mitteilung. Dann bin ich<br />
gebeten worden von Stadtjugendpfarrer Kaden: Die Vorbereitung für die „Lange Nacht“ während der<br />
Friedensdekade erfolgt an diesem Freitag, 29. September, 19.30 Uhr, im Jugendpfarramt. Die Gruppen<br />
möchten bitte einen Vertreter dahin entsenden. Die heutige Andacht wird gestaltet von der Gruppe<br />
„Menschenrechte“ mit Pfarrer Wonneberger.<br />
Der Wochenspruch dieser Woche 1. Johannes 4 [Vers 21]: Dieses Gebot haben wir von ihm, daß wer Gott<br />
liebt, daß der auch seinen Bruder <strong>und</strong> seine Schwester liebe. Amen.<br />
Chr. Miehm [Kanon]: „Einsam bist du klein, aber gemeinsam ...“<br />
Chr. Wonneberger [Predigt]:<br />
„Mit Gewalt“- sagte der Friseurgehilfe, - das Rasiermesser an meiner Kehle - „ist der Mensch nicht zu<br />
ändern!“<br />
Mein Kopfnicken beweist ihm das Gegenteil. (Lachen, Beifall) Mit Gewalt ist der Mensch durchaus zu<br />
ändern. Mit Gewalt läßt sich aus einem ganzen Menschen ein kaputter machen (Beifall), aus einem freien<br />
ein gefangener, aus einem lebendigen ein toter. Beweise dafür gibt es viele (durch die ganze Geschichte).<br />
Aber einen Versuch würde ich Ihnen nicht raten. Sie hätten mit einem Strafverfahren nach § 129 des<br />
Strafgesetzbuches wegen Nötigung zu rechnen, (Beifall) denn mit einer Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren<br />
wird bestraft, „wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem schweren<br />
646 Der Mitschnitt <strong>und</strong> ein 3-seitiges Bandprotokoll wurde von C. Dietrich (Kontaktgruppe) angefertigt <strong>und</strong> Ende<br />
September 1989 verbreitet. Abweichungen des Redetextes vom Manuskript Chr. Wonnebergers bzw. der AGM<br />
sind in r<strong>und</strong>e Klammern gesetzt worden. Hervorhebungen der Autoren sind kursiv wiedergegeben worden. Das<br />
Manuskript der Rede von Pf. Wonneberger ist u.a. veröffentlicht in: G. Rein (1990), 224f. Die Wiedergabe der<br />
Manuskripte in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter (1990), 27-32 ist irreführend, da die Reihenfolge verwechselt<br />
wurde. Das MfS nahm das FG per Tonband auf, um es durch die Untersuchungsabteilung auf Straftatbestände zu<br />
untersuchen. Die Einschätzung des FG durch Major Otto, der den OV gegen Chr. Wonneberger führte, ist<br />
abgedruckt in: Besier/Wolf, 680.<br />
647 vgl. Dok. 212<br />
319
Nachteil zu einem bestimmten Verhalten zwingt.“ (Lachen, Klatschen)<br />
Auch der Versuch ist strafbar - jedenfalls dann, wenn ein einzelner Bürger ihn unternimmt. (Lachen,<br />
Beifall)<br />
Anders, wenn der Staat selbst den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Wenn der Staat selbst Gewalt androht<br />
oder anwendet - oder Versuche in dieser Richtung anstellt - oder andere dazu auffordert. Wenn der Staat<br />
selbst Gewalt androht oder anwendet, hat er nicht mit einem Strafverfahren zu rechnen (Lachen, Beifall)<br />
aber, aber mit den Folgen: (Lachen, Beifall) Wer Gewalt übt, mit Gewalt droht <strong>und</strong> sie anwendet, wird<br />
selbst Opfer der Gewalt.<br />
Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen. Wer die Kalaschnikow nimmt, hat mit einem<br />
Kopfschuß zu rechnen. (langer Beifall) (Das ist nicht begrüßenswert, ich finde, das ist einfach so.) Wer<br />
eine Handgranate wirft, kann gleich eine Armamputation einkalkulieren. Wer einen Bomber fliegt,<br />
erscheint selbst im Fadenkreuz. Wer einen Gummiknüppel schwingt, sollte besser einen Schutzhelm<br />
tragen. (langer Beifall) Wer andere blendet, wird selbst blind. Wer andere willkürlich der Freiheit beraubt,<br />
hat bald selbst keine Fluchtwege mehr. (Lachen, Beifall) Wer das Schwert nimmt, wird durchs Schwert<br />
umkommen.<br />
Das ist für mich keine gr<strong>und</strong>sätzliche Infragestellung staatlicher Gewalt. Ich bejahe das staatliche<br />
Gewaltmonopol. Ich sehe keine sinnvolle Alternative dazu.<br />
Aber<br />
1. Staatliche Gewalt muß effektiv kontrolliert werden; gerichtlich, parlamentarisch <strong>und</strong> durch<br />
uneingeschränkte Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. (langer Beifall)<br />
2. Staatliche Gewalt muß sinnvoll begrenzt sein: Unser Land (zum Beispiel) ist nicht so reich, daß es sich<br />
einen so gigantischen Sicherheitsapparat leisten kann. (20 Sek<strong>und</strong>en Beifall)<br />
„Die Verfassung eines Landes sollte so sein, daß sie die Verfassung des Bürgers nicht ruiniert“, (Lachen,<br />
Beifall) so schrieb Stanislaw Jercy Lec vor 20 Jahren. Da (muß) die Verfassung eben (geändert werden)<br />
[im Manuskript: müssen wir ... ändern]. (Beifall)<br />
Angst? (Angst haben wir, denke ich, alle. Und nicht nur dann, wenn wir einsam sind. Wie wir das im<br />
ersten Kanon gehört haben.<br />
Aber:) „Fürchtet euch nicht! Mir ist gegeben alle Gewalt, im Himmel <strong>und</strong> auf Erden.“ - so sagte einst<br />
Jesus.<br />
Das war keine Drohung. Das (war keine Nötigung <strong>und</strong>) ist keine Nötigung. Dahinter steht kein<br />
Machtapparat.<br />
„Mir ist gegeben alle Gewalt...“, d.h. innere (Gewißheit <strong>und</strong> innere Kraft) <strong>und</strong> äußere Glaubwürdigkeit<br />
<strong>und</strong> das heißt für mich: echte Kompetenz: Vollmacht (haben die Älteren dazu gesagt). Und daran<br />
bekomme ich Anteil, wenn ich verantwortlich denke glaubwürdig rede durchschaubar handle. (Und) dazu<br />
lade ich Sie ein, heute. Gegenüber solcher Vollmacht sind Stasi-Apparat, H<strong>und</strong>ertschaften, H<strong>und</strong>estaffeln<br />
nur Papiertiger. (Beifall)<br />
Also: Fürchtet euch nicht! Wir können auf Gewalt verzichten.<br />
Fr. Richter [Berichte über erlebte Gewalt]: Wenn wir heute über Gewalt sprechen, tun wir das (natürlich)<br />
vor dem Hintergr<strong>und</strong>, der sich jeden Montag nach dem Friedensgebet wiederholende[n], der wir<br />
ohnmächtig <strong>und</strong> hilflos gegenüberstehen. Die Frage ist, wie kann ich, wie können Sie auf die erfahrene<br />
Gewalt reagieren? Um es gleich zu sagen, es geht mir im folgenden nur um die Gewalt, die von diesem<br />
Staat ausgeht.<br />
Strukturelle staatliche Gewalt tritt selten offen <strong>und</strong> für jeden sofort sichtbar auf. (Vielleicht) haben wir uns<br />
schon zu sehr an Pressezensur <strong>und</strong> Druckgenehmigungspraxis gewöhnt. Sie stellte aber genauso ausgeübte<br />
Gewalt dar wie die Reiseverbote <strong>und</strong> das Verbot sich zu versammeln. (Beifall)<br />
Wer kann sich den Druck wirklich vorstellen, der auf jungen Männern lastet, die ihrem Gewissen<br />
entsprechend Wehrdienst verweigern? Aber auch die, die den Dienst in der NVA leisten, werden täglich<br />
unterdrückt. Jene Bausoldaten etwa, die in einem offenen Brief die Mißstände in ihrem Bataillon zur<br />
Sprache brachten <strong>und</strong> den unpersönlichen Umgang der Vorgesetzten mit ihnen kritisierten [im Manuskript<br />
folgte: werden jetzt im Dienst schikaniert]. Es fand bei ihnen eine sogenannte Tiefenprüfung ihrer Zimmer<br />
<strong>und</strong> Schränke statt. Briefe, Aufzeichnungen <strong>und</strong> Tagebücher wurden beschlagnahmt.<br />
320
Berufsverbote für kritische <strong>und</strong> engagierte Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger, sowie für Menschen die einen<br />
Ausreiseantrag stellten, sind nur eine andere Form staatlich ausgeübter Gewalt. (Beifall)<br />
Noch zwei Beispiele zuletzt:<br />
Über das erste wurde lange <strong>und</strong> intensiv berichtet: Der am 7. Mai offensichtliche Wahlbetrug. (Beifall)<br />
Das andere ist die Berichterstattung über die Flucht <strong>und</strong> Ausreisewelle in den Medien der DDR. (Beifall)<br />
Es werden nicht nur b<strong>und</strong>esdeutsche <strong>und</strong> ausländische Journalisten <strong>und</strong> Politiker verleumdet, die Medien<br />
dieses Landes gebrauchen sogar den Sprachschatz des Nationalsozialismus. (langer Beifall)<br />
Man sollte diesen Journalisten erst mal Viktor Klemperers LTI 648 zu lesen geben, bevor sie ihren nächsten<br />
Artikel schreiben. (Beifall)<br />
Ernste Ausmaße nimmt (auch) die wachsende physische Gewalt des Staates gegen friedliche Bürgerinnen<br />
<strong>und</strong> Bürger an. Zuführungen, Verhaftungen, Verurteilungen <strong>und</strong> auch Verletzte sind an der Tagesordnung.<br />
Wie die Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte mitteilte, sind Jens Uwe Drescher <strong>und</strong> Kai<br />
Kuhlmann zu 10 bzw. 18 Monaten Haft verurteilt, weil sie mit Flugblättern zum Wahlboykott <strong>und</strong> zu<br />
einer Demonstration am 7. Mai aufriefen.<br />
In Dresden Gittersee prügelte am 13. August Polizei auf die Teilnehmer einer Andacht ein, als diese zum<br />
Baugelände des Reinstsiliziumwerkes gehen wollten. Es wurde dabei weder auf Behinderte noch auf<br />
Mütter mit Kleinkindern Rücksicht genommen.<br />
Ein brutaler Polizeieinsatz fand ebenfalls in Berlin statt, wo sich Menschen aus Protest gegen die<br />
Kommunalwahlen, am 7. August versammelten [im Manuskript: versammeln wollten]. Das Fazit hier: ein<br />
gebrochener Arm <strong>und</strong> bei vielen, auch bei Frauen, Prellungen.<br />
Über das unmenschliche Vorgehen der sogenannten Sicherheitskräfte in Leipzig brauche ich nicht viel zu<br />
sagen. Die meisten (von Ihnen) erleben (das) [im Manuskript: es jeden Montag] persönlich.<br />
Neben den Inhaftierungen <strong>und</strong> Verurteilungen von Udo Hartmann [im Manuskript: (Geburtstag)], Carola<br />
Bornschlegel, Ramona Ziegner <strong>und</strong> Jörg Müller (- sie alle wurden zu 4 Monaten Haft verurteilt per<br />
Strafbefehl - die immer noch Inhaftierten): Katrin Hattenhauer, Axel Gebhart, [im Manuskript: Jutta<br />
Gätzel,] G<strong>und</strong>ula Walter, Mirko Kätzel, Günther Müller, Frank Elsner, Jens Michalke, Peer Matzeit,<br />
Holger König, Udo Suppa, Silvia Ulbricht <strong>und</strong> Andreas Gay <strong>und</strong> den hohen Ordnungsstrafen für H<strong>und</strong>erte<br />
wurde uns jetzt ein Fall bekannt, wo selbst ein Minderjähriger über Nacht in Polizeigewahrsam sich<br />
befand, obwohl er darauf hinwies, das er von seinen Eltern erwartet wurde. Dem Vater, der sich auf die<br />
Suche machte, wurde nicht bei der Polizei vorgelassen <strong>und</strong> es wurde ihm keine Auskunft über seinen Sohn<br />
gegeben.<br />
Was mir auch besonders auffällt, ist die Art <strong>und</strong> Weise der Zuführungen durch zivile oder uniformierte<br />
Sicherheitskräfte.<br />
Für viele Menschen kam dieser Gewalt[-] <strong>und</strong> Machtmißbrauch überraschend. In unserem Land haben sie<br />
so etwas nicht für möglich gehalten <strong>und</strong> die meisten von uns trifft diese Situation unvorbereitet. Und hier<br />
sehe ich die große Gefahr! Beim Erleben dieser staatlichen Gewalt stauen sich bei uns Wut <strong>und</strong><br />
Aggressionen auf. Aber können wir mit diesen richtig umgehen? Vor einer Woche erfuhr einer der<br />
Anwesenden erst durch das Verlesen der Namen, daß ein Fre<strong>und</strong> oder Bekannter, den er lange nicht sah,<br />
unter den Inhaftierten ist. An seinen Reaktionen auch während des Friedensgebetes konnte man deutlich<br />
sehen wie schwer es ihm fällt, seine Wut, (seine Enttäuschung <strong>und</strong> seine Ohnmacht) zu verarbeiten.<br />
Eines ist aber klar: der erste verletzte Polizist führt unweigerlich zu einer Eskalation der Gewalt, wie wir<br />
es uns jetzt wirklich nicht vorstellen können.<br />
Deshalb müssen wir, die wir hier versammelt sind, strikt das Prinzip der Gewaltlosigkeit vertreten. Das<br />
gilt auch... (langer Beifall) gegenüber Provokateuren, die in unseren Reihen sind. (Beifall)<br />
Einige Anregungen zu gewaltlosen Handeln wollen wir nachher noch geben. (Beifall)<br />
Joh. Fischer, Fr. Richter, Chr. Motzer [im Wechsel; Fürbitten]:<br />
Herr, wir bitten für [... Namen der am 25.09.1989 Verurteilten bzw. Inhaftierten]. (Sie wurden alle nach<br />
den Friedensgebeten der letzten Woche[n] zugeführt, inhaftiert <strong>und</strong> zum Teil auch schon verurteilt.<br />
Besonders denke ich an Udo Hartmann, der heute seinen 27. Geburtstag hat.)<br />
648 s. Anm. 333<br />
321
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
(Herr, wir bitten) für Stanislaw Devaty, Petr Cibulka, Ina Vojtkova <strong>und</strong> Frantizek Starek, die in der CSSR<br />
wegen ihres Eintretens für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte zu Haftstrafen verurteilt worden sind.<br />
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
(Herr, wir bitten) für Sven Kulow, der seit Ende Juni (immer) noch in U-Haft sitzt.<br />
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
(Herr, wir bitten) für Jens-Uwe Drescher <strong>und</strong> Kai Kuhlmann sowie für alle, die zu Unrecht inhaftiert sind<br />
(<strong>und</strong> uns nicht bekannt sind).<br />
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
(Herr, wir bitten) für alle, die Opfer der Gewalt wurden, (dabei denken wir) z.B. an die um ihre Rechte<br />
kämpfenden Menschen im südl. Afrika <strong>und</strong> die Opfer der IRA-Terroranschläge der letzten Wochen.<br />
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
(Herr, wir bitten dich) für alle Wehrpflichtigen in der Bereitschaftspolizei, die gegen ihren Willen hier<br />
jeden Montag im Einsatz sind.<br />
Gemeinde <strong>und</strong> Orgel: Kyrie Eleison...<br />
J. Fischer, Fr. Richter, Chr. Wonneberger, Chr. Motzer [im Wechsel; Seligpreisungen]:<br />
Selig sind die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich besitzen.<br />
Unselig sind, die auf Gewalt setzen, sie werden einen Trümmerhaufen vererben.<br />
Unselig sind, die Gewalt anwenden, sie werden sich <strong>und</strong> das Land ruinieren.<br />
Unselig sind, die ihren Führungsanspruch mit Gewalt durchsetzen wollen, das Land wird sie enterben.<br />
Selig sind die Sanftmütigen, sie werden das Erdreich besitzen.<br />
Selig sind, die den Mut haben, der Gewalt sanft entgegenzutreten, sie werden ein bewohnbares Stück Erde<br />
vererben.<br />
Selig sind, die auf Gewalt verzichten, das Land wartet auf sie.<br />
Selig sind die bewußt Gewaltlosen, ihnen kann man das Land anvertrauen.<br />
Selig sind die sanft Mutigen. Sie werden das Land besitzen.<br />
Vier ehemalige Thomaner [singen Seligpreisungen aus der orthodoxen Liturgie jedoch auf deutsch...]<br />
J. Fischer [Anregungen zur Gewaltfreiheit]:<br />
(Nun möchte ich die schon vorhin angekündigten Anregungen zum gewaltfreien Handeln zur<br />
Gewaltlosigkeit geben.<br />
Ich bitte:)<br />
− sich selbst unter Kontrolle (zu) halten <strong>und</strong> dem Nachbarn dabei helfen.<br />
− den Dialog suchen, mit dem Nachbarn <strong>und</strong> dem einzelnen Gegenüber<br />
− höflich <strong>und</strong> korrekt bleiben, keine Schimpfwörter gebrauchen; auch ein Pfeifkonzert ist kein Angebot<br />
zum Dialog<br />
− gemeinsam Lieder singen hilft, eigene Ängste abzubauen <strong>und</strong> dem Gegenüber Gewaltfreiheit zu<br />
demonstrieren.<br />
Deshalb müßt ihr/müssen Sie heute das Liedblatt auch nicht am Eingang wieder abgeben. (Beifall)<br />
− Beim Versuch, einzelne festzunehmen: hinsetzen <strong>und</strong> den Nachbarn unterhaken (starker Beifall)<br />
− Bei Festnahme den Zurückbleibenden (seinen) Namen zurufen<br />
− vom Einsatzfahrzeug den Zurückbleibenden die Zahl der Festgenommenen zurufen<br />
− (während <strong>und</strong> nach den Befragungen) Verweigerung jeglicher Unterschriften<br />
− während der Befragung keine Aussagen über das im Personalausweis Stehende hinaus machen. (Pause,<br />
Beifall)<br />
Chr. Wonneberger: (Anbetracht der vergangenen Zeit haben wir das, was wir vorhatten etwas gekürzt.<br />
Wir wollen das Gebet mit einem gemeinsamen Lied beschließen.)<br />
Chr. Miehm: [„We shall overcome“ mit deutschem Text<br />
Dazu erhoben sich die Besucher in den Bänken <strong>und</strong> faßten sich an die Hände.]<br />
Chr. Wonneberger: [Vater unser... <strong>und</strong> Segen]<br />
322
[Danach sangen viele der ca. 2500 Besucher des Friedensgebetes „We shall overcome“. Noch beim<br />
Verlassen der Kirche wurde „We shall overcome“ gesungen.]<br />
218 SED-Information<br />
Information über eine telefonische Mitteilung des Abteilungsleiters für Sicherheitsfragen der SED-<br />
Bezirksleitung der SED, die im ZK der SED gefertigt wurde. Die Information erhielten neben der AG<br />
Kirchenfragen auch die Abteilungen Sicherheitsfragen <strong>und</strong> Parteiorgane des ZK der SED (SAPMO-BArch IV<br />
B 2/14/21).<br />
Information [/] des DH [Diensthabenden] der BL Leipzig, Gen. Reinhard, vom 25.9.89, 19.10 Uhr.<br />
Am 25.9.89 fand in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr in Leipzig das sogenannte Montagsgebet in der<br />
Nikolaikirche Leipzig, mit etwa 2000 Teilnehmern in der Kirche <strong>und</strong> 1000 Personen auf dem<br />
Kirchenvorplatz, statt. In der Kirche sollen u.a. Maßregeln erteilt worden sein, wie sich die Teilnehmer im<br />
Falle einer Zuführung durch die Sicherheitskräfte zu verhalten haben.<br />
Nach Beendigung des Gebetes haben sich die insgesamt etwa 3000 Personen versammelt <strong>und</strong> in<br />
Sprechchören nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit <strong>und</strong> andere Losungen gerufen. Anschließend setzte<br />
sich das Teilnehmerfeld in Richtung Karl-Marx-Platz <strong>und</strong> Hauptbahnhof in Bewegung. Etwa 300 - 500<br />
Personen werden als aktiv handelnder Teil eingeschätzt. Die hohe Anzahl der Beteiligten soll die<br />
Einhaltung der Sicherungsmaßnahmen erschwert haben. Zu diesem Vorkommnis erhalten wir von der BL<br />
Leipzig der SED noch schriftlich Informationen. Gen. Wolfgang Herger wurde in Kenntnis gesetzt.<br />
Ergänzung:<br />
DH des Ministerrates, Gen. Göbel, informierte um 23.20 Uhr in gleicher Angelegenheit mit der<br />
Ergänzung, daß etwa 1000 Personen in der Westhalle [des] Hauptbahnhofes eingedrungen sind,<br />
Verkehrsstörungen entstanden <strong>und</strong> durch die Volkspolizei 6 Zuführungen vorgenommen wurden.<br />
gez. Tunger<br />
219 SED-Information<br />
Chiffriertes Fernschreiben Nr. 469 des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Leipzig, Hackenberg, an das ZK<br />
der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation, über das Friedensgebet am 25.09.1989, vom<br />
gleichen Tag kurz vor Mitternacht (StAL SED A 4972).<br />
Am Montag, dem 25.09.1989 in der Zeit von 17.00 bis 17.55 Uhr fand in der Nikolaikirche Leipzig das<br />
sogenannte Montagsgebet statt, an dem ca. 2000 Personen teilnahmen 649 . Von 17.00 bis 17.50 Uhr<br />
versammelten sich auf dem Nikolaikirchhof ca. 1000 Personen. In der Kirche waren durch die hohe<br />
Anzahl der Teilnehmer die Sicherheitsbestimmungen nicht gewährleistet, die Teilnehmer wurden<br />
aufgeputscht, <strong>und</strong> es wurden Regeln im Verhalten gegen die Deutsche Volkspolizei erteilt. Gegen 18.30<br />
Uhr begann vom Nikolaikirchhof der konzentrierte Abgang in Richtung Ritterstraße, Grimmaische Straße,<br />
Karl-Marx-Platz durch ca. 4000 Personen 650 <strong>und</strong> weiter des Georgi-Ringes in Richtung Hauptbahnhof bis<br />
Höhe Friedrich-Engels-Platz <strong>und</strong> zurück zum Hauptbahnhof. Auf dem Marsch wurde gerufen „Neues<br />
Forum“ zulassen! Es entstanden erhebliche Verkehrsstörungen. Während des Aufenthaltes auf dem<br />
Nikolaikirchhof nach Beendigung des „Gebets“ wurde „Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit“ gerufen <strong>und</strong><br />
649 Der RdB Leipzig (Reitmann) teilte dem Staatssekretär für Kirchenfragen (Löffler) den Verlauf des FG am 26.09.,<br />
gegen 11.00 Uhr in einem ausführlichen Telegramm mit (StAL BT/RdB 22377). Dort ist von 2.500 Teilnehmern<br />
die Rede. s.a. Zwahr (1993), 24ff.<br />
650 Das MfS sprach von 3.500 Personen <strong>und</strong> versuchte, auch diese Zahl noch zu relativieren (MfS, ZAIG, Nr.<br />
428/89, abgedruckt, in: Mitter/Wolle, 174-176). Von der Koordinierungsgruppe hatte niemand an der<br />
Demonstration teilgenommen, weshalb sie nur spärlich darüber an Journalisten berichtete (s. FAZ 27.09.1989).<br />
Fotos von der Demonstration in: Neues Forum Leipzig, 34-38<br />
323
die Internationale gesungen. Ca. 1000 Personen 651 hielten sich von ca. 19.45.-19.49. Uhr unter Absingen<br />
bereits genannter Texte in der Westhalle des Leipziger Hauptbahnhofes auf. Danach löste sich diese<br />
Konzentration auf. Gegen 20.20 Uhr waren die Maßnahmen beendet. Die Bewegung wäre nur durch den<br />
Einsatz von polizeilichen Hilfsmitteln zu verhindern gewesen. Polizeiliche Hilfsmittel kamen nicht zum<br />
Einsatz. Es gab 6 Zuführungen.<br />
220 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Eingabe von Pf. Schleinitz vom 25.09.1989 an den Rat des Bezirkes Leipzig wegen der Vorkommnisse im<br />
Zusammenhang mit den Friedensgebeten in Leipzig. Das Exemplar trägt den Eingangsstempel 27.IX.89 <strong>und</strong><br />
den handschriftlichen Vermerk: „Eingabe 53/89“. Ein gleichlautendes Schreiben sandte Pf. Schleinitz auch an<br />
die BDVP (StAL BT/RdB 20749).<br />
Vorkommnisse im Zusammenhang mit dem „Friedensgebet“ in der Leipziger Nikolaikirche, jeweils<br />
montags, veranlassen mich zu dieser Eingabe. Insbesondere die Berichte von Gemeindegliedern über<br />
Ereignisse am 18.09.89 können von mir nicht einfach nur angehört <strong>und</strong> damit hingenommen werden. Ich<br />
gehöre seit Jahren zu den entschiedenen Kritikern der Veranstaltungen in der Nikolaikirche, <strong>und</strong> ich habe<br />
den Mißbrauch von Kirche immer wieder <strong>und</strong> auch öffentlich beim Namen genannt. Die<br />
Augenzeugenberichte der letzten Montage allerdings signalisieren eine drastische Veränderung der<br />
Situation <strong>und</strong> fordern eine neue Einschätzung der Dinge: [/] Wenn Polizeiterror in der Leipziger<br />
Innenstadt montags zur Gewohnheit wird, wenn ruhige Bürger mit Polizeigriffen brutal auf Lkws gekarrt<br />
werden können, wenn nichtuniformierte Kräfte wehrlose Bürger mit Halbstarkenparolen bedrohen dürfen,<br />
wenn statt Argumente Waffen, Knüppel <strong>und</strong> H<strong>und</strong>e vorgeführt <strong>und</strong> eingesetzt werden, dann sind ältere<br />
Bürger unserer Stadt irritiert, weil sie meinten, Gewalt dieser Form sei endgültig überw<strong>und</strong>en; dann wird<br />
für jüngere Bürger jede Perspektive im Keim erstickt; dann wird für verantwortlich denkende Bürger<br />
Argumentieren zum politischen Suizid; vor allem: [/] dann dürfen Menschen, die Solidarität nach außen<br />
zu üben gelernt haben (Chile, Nikaragua, Lesotho usw.), nicht vergessen, daß es auch eine Solidarität nach<br />
innen gibt.<br />
Aus dieser Solidarität mit allen von hiesiger Polizeigewalt Betroffenen (<strong>und</strong> gerade auch, wenn ich deren<br />
Argumente nicht teile!) protestiere ich für eine humane Konzeption hinsichtlich notwendiger<br />
Konfliktlösungen - jeweils montags um die Nikolaikirche <strong>und</strong> in der Leipziger Innenstadt.<br />
Ich tue dies nicht zuletzt deshalb, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß politisch Verantwortliche<br />
ernsthaft an Lösungen durch inhumane Gewalt interessiert sind.<br />
[gez.] Gottfried Schleinitz<br />
In meiner Pfarramtspraxis bin ich ebenso selbstverständlich wie notgedrungen mit <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n <strong>und</strong><br />
Gemeindemitgliedern im Gespräch über diese Problematik. Sie möchten mit ihren Namenszügen ihre<br />
Zustimmung zu diesem Protest unterstreichen: [... Es folgen sieben Unterschriften.]<br />
221 Notizen aus einer Parteiberatung<br />
Zur Lage:<br />
Handschriftliche Notizen aus den Akten des Rat des Bezirkes Leipzig zur politischen Situation in Leipzig.<br />
Die Aufzeichnungen entstanden offensichtlich anäßlich der Sekretaritatssitzung der SED-Bezirksleitung am<br />
27.09.1989652 <strong>und</strong> wurden vermutlich von H. Reitmann 653 gefertigt (StAL BT/RdB 22377).<br />
Sekr. BL 27.9.89<br />
651 In der ZAIG, Nr. 428/89 des MfS ist von 800 Personen die Rede.<br />
652 Ob Blatt 1 zu Blatt 2 <strong>und</strong> 3 gehört, ist nicht sicher. Damit ist auch die zeitliche <strong>und</strong> situative Zuordnung der<br />
Blätter 2 <strong>und</strong> 3 hypothetisch. Sie sind jedoch durchnummeriert <strong>und</strong> liegen in der Akte zusammen, jedoch in einer<br />
anderen Reihefolge: Blatt 2, 3 <strong>und</strong> Blatt ohne Nummer. Die Blätter waren ursprünglich zusammengeheftet.<br />
653 gleiche Handschrift wie Dok. 170<br />
324
Offensive pol.[itische] Arbeiten in der Partei - bleiben Kampfpartei<br />
− XII. PT vorbereiten<br />
− breite zielgerichtete Arbeit mit der Jugend - Pos. von allen PO [Parteiorganisationen] <strong>und</strong><br />
Staatsorganen<br />
− anderes innenpolitisches Leben - offene Atmosphäre - Auseinandersetzungen mit denen, die<br />
zurückweichen, die Funktionäre beschimpfen, Forderung stellen (vor XII. PT Parteikonferenz)<br />
− Verhältnis zu den Blockparteien (einige Kreise)<br />
Noch konkreter gegen feindliche Kräfte vorgehen:<br />
• 2 Seiten sehen: 1. Isolierung der feindl. Kräfte654 2. [durchgestrichenes Wort] Mitläufer wieder auf unsere Seite ziehen<br />
• Es geht um Machtfragen<br />
„Neues Forum“ = „Solidarnosc“ [/]<br />
Ev.-luth. Kirche = feindl. Positionen = Angriff gegen Staatsordnung<br />
1.- was geschieht mit den Kirchenvertretern<br />
2.- Mo[ntag] - mit pol. Mitteln<br />
o Wasserwerfer<br />
o Knüppel<br />
3.- Einsatz gesellschaftlicher Kräfte<br />
o K[ampf]Gruppen<br />
o Vorplatz besetzen<br />
4.- Wie in der Presse reagieren - offensiv?<br />
[Blatt 2:]<br />
H. Reitmann<br />
− Arbeit mit Amtsträgern der Kirchen hat nicht zur Breitenwirkung geführt<br />
− Bischof Leich stabsmäßig verteilt 655 - unterschiedlich verlesen <strong>und</strong> unterschiedliche Wirkung<br />
− Gespräche werden fordernder <strong>und</strong> aggresiver - kaum noch Basis 6.3.78 möglich.<br />
− Bischof Hempel<br />
− nach wie vor Mann des 6.3.78<br />
− bereit zu reden - als Bischof immer schwächer -<br />
− sieht noch nicht durch - läßt Führer <strong>und</strong> Wonneberger gegen den Staat auftreten.<br />
− Magirius - voll auf Ausreisepsychose<br />
− 30.9. 18.00 Uhr Marienkirche zusätzl. Friedensgebet<br />
7.10. Trinitatiskirche<br />
Vorgehen:<br />
1. Gesprächsführung auf allen Ebenen konsequent fortführen<br />
Hempel - Löffler - RdB [Rat des Bezirkes]<br />
2. Theologisierung der Kirchen fordern u. durchsetzen<br />
3. Pfarrer wie Wonneberger versetzen<br />
4. Verbindung Antragsteller - Oppositionelle - Kirchenvertreter zerschlagen<br />
5. Gegen Organisatoren strafrechtl. vorgehen.<br />
6. Veranstaltungs- u. Druckgenehmigungsordnung konsequenter durchsetzen<br />
[Blatt 3:]<br />
Gen. P. Kraußer<br />
− Einschätzung der Synode<br />
− Gespräch Hempel - Löffler - Reitmann am Do 656<br />
− CDU muß in die Kirche gehen<br />
654 Dies war die Anweisung Honeckers vom 22.09.1989 (wiedergegeben in: Spiegel 17/1990, 79).<br />
655 Der Brief von W. Leich an Honecker wurde als Brief an die Gemeinden in allen Gemeinden der Gliedkirchen des<br />
BEK bekannt gemacht <strong>und</strong> kursierte als Ormig-Abzug (ABL H 1). s.a. Anm. 606<br />
656 s. Dok. 227<br />
325
• „Union“ sollte Kirchenvorstandsmitglieder zu Wort kommen lassen<br />
− Fortführung der öffentl. Diskussion - breite Pressekampagne<br />
− Pol. Arbeit in den Arbeitskollektiven<br />
[Name <strong>und</strong> erster Gesprächsbeitrag nicht zu entziffern vielleicht:<br />
„G. Berger [/] - Sitzungen der VV’en“]<br />
• Machtorgane einbeziehen<br />
M. Hummitzsch<br />
− Auflauf Mo hätte zerschlagen werden können - keine Neigung [nicht zu entziffern]<br />
− Einkloppen: Keine massenweise Inhaftierung<br />
H.H.[ackenberg]<br />
− AGr. einsetzen A. Rauth - K.H. Reinhardt - H. Reitmann<br />
222 SED-Beschluß<br />
Auszug aus dem Beschluß des Sekretariats der SED-BL Leipzig Nr. 471/89 vom 27.9.89. Maßnahmen zur<br />
Mobilisierung der Mitglieder der Bezirksparteiorganisation 657 (StAL SED A 5544).<br />
Maßnahmen [/] zur Mobilisierung der Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Bezirksparteiorganisation, aller in<br />
der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte sowie der Staat- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane zur<br />
offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig 658<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Fernschreibens des Generalsekretärs des ZK 659 <strong>und</strong> der im Sekretariat der<br />
Bezirksleitung am 27. 9. 1989 erneut vorgenommenen Einschätzung der Lage 660 werden folgende weitere<br />
Maßnahmen festgelegt:<br />
1. Die Sekretariate der Stadtleitung, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen beschließen unverzüglich<br />
Maßnahmen, die dazu führen, in kürzester Frist in allen Gr<strong>und</strong>organisationen eine hohe Aktivität aller<br />
Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Parteien mit dem Ziel, bei ihnen tiefes Vertrauen, Treue,<br />
Standhaftigkeit <strong>und</strong> hohe Einsatzbereitschaft auszuprägen. Das erfordert die Organisierung einer<br />
breiten politisch-ideologischen Arbeit besonders unter der Jugend <strong>und</strong> ein innerparteiliches Leben, das<br />
den Erfordernissen des gegenwärtigen Klassenkampfes unter allen Lagebedingungen gerecht wird.<br />
Alle Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten der Bezirksparteiorganisation sind mit der Lageeinschätzung <strong>und</strong> den<br />
sich daraus ergebenden Konsequenzen vertraut zu machen. Gr<strong>und</strong>lage dafür bildet eine<br />
Argumentation, die unter Verantwortung des Sekretärs für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung<br />
gemeinsam mit der Stadtleitung zu erarbeiten <strong>und</strong> den Parteisekretären am 28. 9. zu übergeben ist. Es<br />
ist zu gewährleisten, daß in allen Parteikollektiven bis Montag, den 2. 10. 1989, die Kommunisten mit<br />
657 Diesen Beschluß erhielten alle Sekretäre <strong>und</strong> Abteilungsleiter der SED-BL <strong>und</strong> die 1. Sekretäre der SED-KL<br />
(chiffrierte Fernschreiben). Der Leiter der Abteilung Sicherheit bei der SED-BL, Reinhardt, der für die<br />
Verbindung zum MfS zuständig war <strong>und</strong> zugleich Offizier im besonderen Einsatz des MfS war, erhielt 4<br />
Exemplare (Verteiler im Anhang an den Beschluß 471/89; Vertrauliche 9/03-Verschlußsache 51/89). Auf der DB<br />
des Leiters der BV des MfS am 30.09.1989 wurde ausdrücklich auf diesen Beschluß verwiesen. Interessant ist die<br />
in diesem Zusammenhang gegebene Interpretation: „Politische Mobilisierung / GO Sekretäre informiert [...<br />
Einsatz ?] Montag / KG [Kampfgruppen]-Einsatz vorbereiten“ (BStU Leipzig AB 1056, 43)<br />
658 Diese Maßnahmen waren für den Montag, den 02.10., konzipiert, waren aber auch danach noch handlungsleitend.<br />
So tagte das Sekretariat der SED-SL am 03.10. zusammen mit den 1. Sekretären der SED-Stadtbezirksleitungen<br />
<strong>und</strong> beschloß erneut auf dieser Gr<strong>und</strong>lage. Dabei heißt es u.a.: „Verstärkt ist die Arbeit in allen Einheiten der<br />
Kampfgruppen der Arbeiterklasse zu organisieren.“ (StAL SED IV F-5/01/075) Im Rat des Stadtbezirks Leipzig-<br />
Mitte wurde der Sekretariatsbeschluß in der Weise interpretiert, daß zwischen 02. <strong>und</strong> 09.10.1989 „erhöhte<br />
Sicherheitsbereitschaft“ befohlen wurde. D.h., es wurden Instruktionen zur Lageinterpretation gegeben, <strong>und</strong> es<br />
galt für alle Bereiche durchgehend „Hausbereitschaft“. (SAL SB Mitte 300)<br />
659 Das Honecker-Fernschreiben vom 22.09.1989 ist wiedergegeben in: Spiegel 17/1990, 79<br />
660 H. Hackenberg gab zu Beginn der Sekretariatssitzung einen Bericht „zur politischen Situation auf Gr<strong>und</strong><br />
provokatorischen Verhaltens von Gruppierungen im Bezirk Leipzig“ (Protokoll 28/89, S. 4 - StAL SED A 5544).<br />
326
dem Inhalt dieser Argumentation vertraut gemacht werden. Die Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen sowie<br />
die Leitungen der Gr<strong>und</strong>sorganisationen sichern, daß zur Verhinderung weiterer provokatorischer<br />
Handlungen mit antisozialistischem Charakter bekannte negative Kräfte in einer offensiven<br />
massenpolitischen Arbeit bloßgestellt, entlarvt <strong>und</strong> so diszipliniert werden, daß sie an weiteren<br />
Handlungen gegen den sozialistischen Arbeiter-<strong>und</strong>-Bauern-Staat nicht mehr teilnehmen.<br />
2. Alle Formen <strong>und</strong> Methoden der politischen Massenarbeit in Vorbereitung des XII. Parteitages sind zu<br />
nutzen, um in den Arbeitskollektiven <strong>und</strong> städtischen Wohngebieten eine offensive, lebensnahe<br />
Aussprache zu entwickeln, das Vertrauen in die Politik der SED zu festigen, mit neuen Initiativen zur<br />
Stärkung der DDR beizutragen sowie eine Verurteilung der Absichten konterrevolutionärer Elemente<br />
zu erreichen. Die Arbeit ist so zu organisieren, daß noch in dieser Woche in Form von<br />
Arbeitermeetings, Treffs der Jugend, differenzierten Gesprächen <strong>und</strong> durch das Auftreten aller<br />
leitenden Kader Bedingungen geschaffen werden, feindlich-negative Elemente rechtzeitig zu erkennen<br />
<strong>und</strong> ihnen jede Wirkungsmöglichkeit zu nehmen. Dazu sind öffentliche Bekenntnisse <strong>und</strong><br />
Stellungnahmen zu organisieren.<br />
3. [...Einsatz von Parteiaktivisten]<br />
4. In den Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse ist die politische Arbeit mit jedem einzelnen<br />
Kämpfer zu verstärken. Aus den Kollektiven der Kampfgruppen sind Stellungnahmen <strong>und</strong> persönliche<br />
Standpunkte zu organisieren, in denen sich Kämpfer, Unterführer <strong>und</strong> Kommandeure [sic!] öffentlich<br />
dazu bekennen, in diesen Tagen verstärkte Angriffe des Gegners gegen die DDR im Sinne des<br />
Gelöbnisses der Kampfgruppen der Arbeiterklasse abzuwehren, eine hohe Bereitschaft zu entwickeln,<br />
die Heimat mit der Waffe gegen innere <strong>und</strong> äußere <strong>Feinde</strong> zu verteidigen 661.<br />
5. Der Rat des Bezirkes, die Sekretariate des FDGB-Bezirksvorstandes <strong>und</strong> der FDJ-Bezirksleitung sowie<br />
die Leitungen <strong>und</strong> Vorstände der anderen Massenorganisationen beschließen eigenständige<br />
Maßnahmen zur Unterstützung einer offensiv geführten politischen Massenarbeit.<br />
6. Die 1. Sekretäre der Stadtleitung; Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen führen unverzüglich Aussprachen<br />
mit den Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien durch, um sie mit der Lage vertraut zu machen <strong>und</strong> die<br />
gesellschaftliche Front durch das Wirken der befre<strong>und</strong>eten Parteien zu verstärken.<br />
7. Durch den Bezirksausschuß der Nationalen Front ist darauf Einfluß zu nehmen, daß die Arbeitsgruppe<br />
Christliche Kreise bei den Ausschüssen der Nationalen Front Gespräche mit kirchlichen Amtsträgern<br />
<strong>und</strong> Laien in den Kirchenvorständen durchführen.<br />
8. In den Tagungen der gewählten Volksvertretungen, insbesondere in der Stadt Leipzig, ist regelmäßig<br />
zur Lage Stellung zu nehmen. Die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 29. 9. ist zu nutzen,<br />
um zu den Aufgaben der Volksvertreter zur Gewährleistung von Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit <strong>und</strong> zur<br />
Zurückdrängung provokatorischer Elemente in der Stadt Leipzig Stellung zu nehmen. In den<br />
Ausführungen des Oberbürgermeisters <strong>und</strong> der Abgeordneten sind dazu klare Standpunkte zu fixieren.<br />
In einem Beschluß der Stadtverordnetenversammlung ist das Vorgehen konterrevolutionärer Elemente<br />
eindeutig zu verurteilen 662 . Die Bürger der Stadt sind darüber öffentlich zu informieren. Gleiches ist in<br />
den Stadtbezirksversammlungen durchzuführen.<br />
9. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes führt in Abstimmung mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen<br />
erneute Aussprachen mit dem Bischof der Evangelischen Landeskirche Sachsen, Hempel, <strong>und</strong> weiteren<br />
Vertretern der Landeskirche 663 . Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig wird beauftragt,<br />
gleichlaufend entsprechende Aussprachen mit den Superintendenten der Stadt <strong>und</strong> weiteren Pfarrern<br />
durchzuführen mit dem Ziel, sie auf ihre Verantwortung im Zusammenhang mit der Durchführung<br />
661 Eine dieser Erklärungen (von G. Lutz) wurde am 6.10.1989 durch die LVZ veröffentlicht (abgedruckt in: Sievers<br />
(1990), 65f., Neues Forum Leipzig (1989), 63). Dort hieß es u.a.: „Wir sind bereit <strong>und</strong> Willens, das von uns mit<br />
unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig <strong>und</strong><br />
wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“<br />
662 Über die Stadtverordnetenversammlung am 29.09.1989 s. Bericht Sievers (in: ders. (1990), 49). Die<br />
Diskussionsbeiträge der Stadtverordneten wurden u.a. durch die SED-SL vorbereitet (dies., Maßnahmen zur<br />
Durchsetzung der Festlegungen im Beschluß des Sekretariats der SED-BL vom 28.09.1989 - StAL SED 5124)<br />
663 Das Gespräch fand am 05.10. statt (Dok. 236).<br />
327
staatsfeindlicher Handlungen aufmerksam zu machen <strong>und</strong> sie aufzufordern, ihre Positionen zu ändern.<br />
Die Vorsitzenden der Räte der Kreise organisieren entsprechende Gespräche in ihrem<br />
Verantwortungsbereich. Der Staatsanwalt sowie Vertreter der staatlichen Organe führen<br />
disziplinierende Gespräche mit den Pfarrern, die offen staatsfeindlich auftreten <strong>und</strong> Teilnehmer in den<br />
Kirchen zu Demonstrationen aufwiegeln.<br />
10. Die Kreisleitung der Karl-Marx-Universität hat unverzüglich eine Lageeinschätzung an der Sektion<br />
Theologie vorzunehmen664 . Es ist zu veranlassen, daß ein theologisches Gutachten zu den sogenannten<br />
„Friedensgebeten“ erarbeitet wird, auf dessen Gr<strong>und</strong>lage die öffentliche Auseinandersetzung mit den<br />
Machenschaften kirchlicher Würdenträger zu organisieren sind. Durch den Rat des Bezirkes ist die<br />
Aktivierung der Arbeit des Beirates an der Sektion Theologie zu verstärken. Die staatliche Leitung der<br />
Sektion ist kadermäßig zu stabilisieren <strong>und</strong> zu profilieren. Gegenüber dem Theologischen Seminar<br />
(Ausbildungsstätte verschiedener Landeskirchen) sind durch den Rat des Bezirkes die Gespräche mit<br />
dem Ziel weiterzuführen, positive Kräfte zu stärken <strong>und</strong> Verstöße gegen die Gesetze zu unterbinden.<br />
11. Der Sekretär für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung legt mit den Redaktionen der LVZ, des<br />
Senders Leipzig, den Redakteuren der Betriebszeitungen Maßnahmen fest, damit auf die Entwicklung<br />
einer offensiven Arbeit der Medien als Bestandteil der massenpolitischen Aktivitäten ständig reagiert<br />
wird <strong>und</strong> die öffentliche Auseinandersetzung eine gezielte Unterstützung erfährt.<br />
12. Die Genossen in den Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorganen haben durch geeignete Maßnahmen zu<br />
gewährleisten:<br />
- Die Aufklärung von Plänen <strong>und</strong> Absichten feindlich-negativer Kräfte sowie die Einleitung von<br />
vorbeugenden Maßnahmen zur Verhinderung dieser Aktivitäten.<br />
- Die Konzentration feindlich-negativer Kräfte an bekannten Handlungsorten nicht zuzulassen <strong>und</strong><br />
jegliche Anzeichen dieser Art im Keime zu ersticken.<br />
Die jeweiligen Einsatzkonzeptionen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sind vor den jeweiligen<br />
Ereignissen dem 2. Sekretär zur Bestätigung vorzulegen, einschließlich des möglichen Einsatzes von<br />
Kampfgruppen. Durch den Chef der BDVP sind kurzfristig Handlungsvarianten für die Kampfgruppen<br />
vorzubereiten 665.<br />
Die Sekretariate der Stadt-, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen informieren über die Durchführung der<br />
Maßnahmen im jeweiligen Territorium direkt regelmäßig den 2. Sekretär der Bezirksleitung. Eine<br />
erstmalige Information hat bis Freitag, den 29.9.1989 zu erfolgen.<br />
223 SED-Information<br />
Auszug aus der Rede des 1. Sekretärs der SED-Stadtleitung, J. Prag, auf der Stadtleitungssitzung am<br />
28.09.1989 zur Situation um die Nikolaikirche (StAL SED N 929 <strong>und</strong> in: StAL SED A 5115).<br />
[...] Am vergangenen Montag war die Nikolaikirche weit überfüllt. 2000 waren in der Kirche, die<br />
Kirchentore mußten geschlossen werden, weil niemand mehr hineinging <strong>und</strong> weitere 1000 standen auf<br />
dem Nikolaiplatz davor. Ein solcher Pfarrer unserer Stadt wie Pfarrer Wonneberger hat sozusagen die<br />
Predigt gehalten. Mit solchen Worten - wer den Knüppel nimmt, muß selbst den Helm aufsetzen; wer eine<br />
Waffe in die Hand nimmt, muß sich gefallen lassen, in den Kopf geschossen zu werden - werden ganz<br />
gleich aus welchen Motiven sie sich dort versammeln, Menschen furchtbar aufgewiegelt <strong>und</strong> erhalten in<br />
der Kirche Verhaltensmaßregeln, wie man sich nach dem Gottesdienst auf dem Nikolaiplatz gegenüber<br />
den Genossen der Volkspolizei verhalten muß. Wenn der Arnold, ein gewisser Arnold, schon vor Tagen<br />
vor diesem Montag propagiert am Montag Schutzhelm <strong>und</strong> wasserdichte Bekleidung mitbringen, dann ist<br />
das eindeutig eine Orientierung auf Konfrontation. Ich darf hier sagen, unsere Genossen der Volkspolizei,<br />
664 In dem Bericht der SED-KL der KMU vom 03.10.1989 findet sich zu diesem Punkt keine Information. Es wurde<br />
nur über die vielfältigen Parteiveranstaltungen in den Tagen zwischen 29.09. <strong>und</strong> 03.10. berichtet.“ (StAL SED A<br />
6023)<br />
665 Diese Pläne des Chefs der BDVP sind den Herausgebern noch nicht bekannt geworden, s. jedoch dessen<br />
Entschluß vom 06.10.1989, teilweise abgedruckt in: Kuhn (1992), 48-51<br />
328
unsere Genossen der Sicherheitsorgane haben bisher alles vermieden, um es zu dieser Konfrontation<br />
kommen zu lassen. [...]<br />
224 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Brief des Superintendenten Magirius an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig vom 29.09.1989, in<br />
dem er die Einladung zur Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR ablehnt. Das Exemplar trägt die<br />
Empfangsbestätigung von Opitz <strong>und</strong> eine handschriftliche Notiz: „Ablichtung hat Gen. Dr. Reitmann<br />
erhalten.“ (StAL BT/RdB 22377).<br />
Sehr verehrter Herr Vorsitzender!<br />
Vor mir liegen die Einladungen zur Festveranstaltung <strong>und</strong> zum Empfang anläßlich des 40. Jahrestages der<br />
Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Ich muß Ihnen mitteilen, daß ich mich in der<br />
gegenwärtigen Situation nicht in der Lage weiß, der Einladung nachzukommen 666 . [/] Sehr bewußt <strong>und</strong><br />
engagiert habe ich seit der Gründung der DDR den Weg unseres Staates mitvollzogen, in ungezählten<br />
Gesprächen innerhalb unserer Gesellschaft Partei ergriffen für eine gute Entwicklung <strong>und</strong> auf<br />
ökumenischen Konferenzen außerhalb unseres Landes zum Ansehen unseres Staates beigetragen. [/] Mich<br />
bewegt es sehr tief, daß weder Partei noch Staatsapparat seit über einem Jahr die auch von mir immer<br />
wieder gestellte Frage nicht beantworten „Was müssen wir tun, daß Menschen gern in unserem Lande<br />
leben <strong>und</strong> bleiben?“ Diese brennende Frage läßt sich nicht länger verdrängen 667 . Ich habe bewußt auch<br />
unsere gemeinsame Verantwortung angesprochen; denn nur durch ein geduldiges Gespräch <strong>und</strong> in<br />
gemeinsamen Überlegungen kann es wohl dazu kommen, daß sich die Situation entspannt <strong>und</strong> wir mit<br />
dem weiteren Aufbau unseres Staates der Deutschen Demokratischen Republik vorankommen. [/] In der<br />
Hoffnung, daß Sie meine Haltung verstehen <strong>und</strong> der Dialog der Vernunft nicht abreißt, [/] grüßt Sie<br />
Ihr [gez.] Friedrich Magirius<br />
225 Kirchenbucheintragung<br />
Drei Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 29.09.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Da ich heute 2 „B<strong>und</strong>esgenossen“ meiner Art <strong>und</strong> Weise kennengelernt habe, drückt mir meine kranke<br />
Seele die Hand auf’s Herz <strong>und</strong> möchte sich ausquatschen. [/] Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?: [/]<br />
Jeder weiß Bescheid, jeder hat mehr oder weniger Wut im Bauch über all die Provozierungen, Ärgernisse,<br />
politischen Belustigungsaktionen, Schikanen <strong>und</strong> moralischen Tiefgangsmanöver. Warum können wir<br />
nicht für unser aller Recht <strong>und</strong> persönliches Wohlergehen Mittel anwenden, die korrekt, sachlich,<br />
genehmigt <strong>und</strong> human sind, um uns wohler <strong>und</strong> ruhiger zu fühlen? Ich glaube es gibt schon mehr seelisch<br />
kranke, Suizidgefährdete; Alkoholiker als ges<strong>und</strong>e Menschen, weil es Leute zu wenig verstehen, sich<br />
zusammen zu setzen, um über Dinge zu reden, die sie krank machen <strong>und</strong> sie wissen sich nicht zu helfen.<br />
Darum müssen wir zusammenrücken. Die Zeit muß genutzt werden, denn es >>ist später als wir<br />
denken>> Mit Ausreise ist nichts getan, verändern, um leben zu können, das müßte unser Ziel sein... [/]<br />
Der Startschuß ist schon gesetzt <strong>und</strong> wer durch’s Ziel geht, ist fast der Gewinner. [... Unterschrift<br />
unleserlich]<br />
Wer ewig schluckt, stirbt von innen! (Grönemeyer)<br />
Mit meiner Unterschrift unterstütze ich den Friedensgottesdienst am Montag <strong>und</strong> die Reformbestrebungen<br />
des „Neuen Forum“ 668.<br />
[/] Alexander König [Ort nicht eindeutig zu entziffern] 29.9.89<br />
666 Die KKL des BEK hatte am 2./3. September sich noch für eine Teilnahme an dem Empfang anläßlich des 40.<br />
Jahrestages der Gründung der DDR ausgesprochen. Am 6. <strong>und</strong> 7.10. sprach sich jedoch die Mehrheit der<br />
Vertreter der Kirchenleitungen gegen eine solche Teilnahme aus (Mitter/Wolle (1993), 519f.).<br />
667 Diese beiden Sätze wurden durch Strich am linken Rand gekennzeichnet.<br />
668 Gründungsaufruf „Aufbruch 89“ hing am Informationsbrett unter der Orgelempore der Nikolaikirche.<br />
329
226 SED-Information<br />
Auszug aus dem Bericht der SED-Gr<strong>und</strong>organisation der 21. VP-Bereitschaft zum Monat September 1989, in<br />
dem festgestellt wird, daß die Angst vor den Montagseinsätzen wächst (StAL SED A 5847).<br />
Es verstärken sich die Stimmen, daß die Angst vor der Durchführung der Montagseinsätze besonders bei<br />
den Wachtmeistern wächst. Begründet wird diese Angst mit der Tatsache, daß die Genossen den<br />
Demonstranten schutzlos gegenüber stehen <strong>und</strong> der Umfang der ungesetzlichen Handlungen jeden Montag<br />
weiter größere Formen annimmt. Es wird die Meinung vertreten, daß wir auch weiterhin zuverlässig die<br />
gestellten Aufgaben erfüllen werden, wenn auch nicht zu verkennen ist, daß wir den Ereignissen hinterher<br />
laufen. Wir verteidigen unsere Macht nicht wie unseren Augapfel, sondern lassen mit ihr spielen. Das<br />
Argument, daß dieses oder jenes aus internationaler Sicht nicht getan werden kann, ist nicht mehr<br />
überzeugend. Es wird die Meinung vertreten, wer gegen die Gesetze unseres Landes verstößt, muß zur<br />
Verantwortung gezogen werden. Warum, so wird die Frage gestellt, gehen wir nicht über die Medien in<br />
die Offensive <strong>und</strong> Entlarven die Machenschaften des Gegners in unserer Stadt <strong>und</strong> informieren die<br />
Bevölkerung über die reale Lage <strong>und</strong> rufen sie zur Mitarbeit auf.?<br />
Unverständnis wird auch darüber geäußert, warum man sich mit den Menschen die montags erscheinen<br />
nicht in den Betrieben <strong>und</strong> Arbeitskollektiven auseinandersetzt <strong>und</strong> versucht im Gespräch die Ursachen<br />
für ihr Verhalten zu klären.<br />
227 Stasi-Information<br />
Interne Information des MfS vom 02.10.1989 an Mielke, Carlsohn, Mittig, Kienberg, Irmler <strong>und</strong> an den Ber.<br />
1/AG 6 über ein Gespräch am 28.09.1989 zwischen Löffler <strong>und</strong> Bischof Hempel, in dem es um das<br />
Friedensgebet am 25.09.1989 ging (BStU ZAIG 5375).<br />
Hinweis [/] auf Gespräche mit kirchenleitenden Personen<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage der Information des MfS Nr. 428/89 vom 26. September 1989 über die<br />
öffentlichkeitswirksame provokatorisch-demonstrative Aktion im Anschluß an das Montagsgebet in der<br />
Nikolaikirche in Leipzig am 25. September 1989669 wurde durch den Staatssekretär für Kirchenfragen,<br />
Genosse Löffler, mit Bischof Hempel/Dresden am 28. September 1989 ein Gespräch geführt. Bischof<br />
Hempel wurde mitgeteilt, daß sich die montäglichen Friedensgebete unwiderlegbar zum ständigen<br />
Ausgangspunkt für fortgesetzte <strong>und</strong> sich ausweitende Provokationen gegen den sozialistischen Staat<br />
entwickelt haben <strong>und</strong> eine bewiesene eklatante Verletzung des Artikels 39 der Verfassung der DDR sowie<br />
anderer Gesetze <strong>und</strong> Rechtsvorschriften durch Personen, die im Namen der Kirche zu handeln vorgeben,<br />
darstellen. Er wurde nachdrücklich aufgefordert, die Organisatoren <strong>und</strong> Gestalter der Veranstaltungen in<br />
der Nikolaikirche, die Pfarrer Führer <strong>und</strong> Wonneberger, zu disziplinieren <strong>und</strong> die Friedensgebete in der<br />
jetzigen Form einzustellen.<br />
670<br />
Bischof Hempel erwiderte, er habe „von seinen Leuten“ eine andere Darstellung des Verlaufs des<br />
Montagsgebetes erhalten, er werde aber in Absprache mit dem Landeskirchenrat notwendige Schritte<br />
überdenken <strong>und</strong> auf die Leipziger Pfarrer Einfluß nehmen. Er sei überzeugt, Führer <strong>und</strong> Wonneberger<br />
hätten keine staatsfeindlichen Absichten; sie hätten ihm in die Hand versprochen, den Boden der<br />
Verfassung nicht zu verlassen.<br />
Über die ihm vorgehaltene Ausdehnung der Friedensgebete auf andere Kirchen zeigte er sich bestürzt <strong>und</strong><br />
versprach, auch in diesem Falle Einfluß zu nehmen 671.<br />
669 abgedruckt, in: Mitter/Wolle, 174-176. In diesem ZAIG wurde der „Vorschlag“ zu diesem Gespräch unterbreitet<br />
(BStU ZAIG 3748, 6).<br />
670 In der genannten ZAIG war „vorgeschlagen“ worden, Bischof Hempel „nachdrücklichst aufzufordern“ den<br />
„Friedensgebeten einen ausschließlich religiösen Charakter zu verleihen“. Ansonsten entspricht dieser Absatz<br />
dem Vorschlag der ZAIG vom 26.09.1989.<br />
671 s. unten, Anm. 688<br />
330
Bischof Hempel äußerte weiter ziemlich erregt, die Demonstrationen in Leipzig seien nur „Symptome für<br />
tiefer liegende Ursachen <strong>und</strong> sind so nur Randerscheinungen“. Er nannte seine bekannten Auffassungen in<br />
bezug auf notwendige Veränderungen der Informationspolitik, die Aufnahme eines offenen Dialogs Staat-<br />
Kirche, die Entwicklung der Demokratie usw., damit „die Ursachen für die Krise, die zum Abwandern<br />
vieler Menschen <strong>und</strong> zum weitverbreiteten Entstehen von Resignation geführt“ hätten, beseitigt werden.<br />
Er betone, daß seine Meinung der Regierung übermittelt werden solle, <strong>und</strong> führte weiter aus, er habe<br />
dieses Land geliebt <strong>und</strong> es für die menschlichste Lösung einer Gesellschaftsordnung gehalten; nunmehr<br />
werde er aber müde, weil er keine Bereitschaft spüre, „offen <strong>und</strong> aufrichtig auf die Nöte unzähliger<br />
Menschen in den Städten <strong>und</strong> Gemeinden einzugehen.“<br />
Entsprechend der zentral abgestimmten Festlegungen erfolgte am 28. September 1989 durch Vertreter<br />
staatlicher Organe (Leiter der Abteilung Ia der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig, Leiter des Sektors<br />
Kirchenfragen des Rates des Bezirkes Leipzig) ein Gespräch 672 mit Oberlandeskirchenrat<br />
Auerbach/Dresden <strong>und</strong> den Leipziger Pfarrern Führer <strong>und</strong> Wonneberger, in dem die staatliche<br />
Erwartungshaltung hinsichtlich der Verantwortlichkeit kirchlicher Amtsträger für die wiederholten<br />
Rechtsverletzungen im Anschluß an die sogenannten Montagsgebete dargelegt <strong>und</strong> zum Ausdruck<br />
gebracht wurde, daß dieses Gespräch als eine ernstzunehmende Ermahnung <strong>und</strong> Belehrung gewertet<br />
werden sollte. Eine Diskussion zu diesen Problemen wurde nicht zugelassen.<br />
228 Friedensgebetstexte<br />
Manuskript der AG Umweltschutz, die zusammen mit Pfr. K. Kaden das Friedensgebet am 02.10.1989<br />
gestaltete. Schreibmaschinentext auf Computerpapier mit handschriftlichen Überarbeitungen (ABL H 1).<br />
[Pf. Führer: Begrüßung ]<br />
Anke: Musikstück<br />
[Sup. Magirius: Einleitung]<br />
Lied Nr. 11 - Suchet zuerst<br />
Gisela: Als unsere Arbeitsgruppe am 04.09.89 zum offenen grünen Abend unter dem Thema:<br />
„Verantwortung <strong>und</strong> Gesellschaft“ mit Pfarrer Schorlemmer aus Wittenberg eingeladen hatte 673 , merkte<br />
man den ca. 600 Zuhörern beim Vortrag <strong>und</strong> in der anschließenden Diskussion an, daß hier<br />
überlebensnotwendige Dinge angesprochen wurden, daß das Thema unter die Haut ging, daß unsere Nöte<br />
artikuliert wurden. [/] Wovon war die Rede? [/] In Vorbereitung des Kirchentages 1988 in Halle hatte eine<br />
Arbeitsgruppe 20 Thesen zum Thema: „Umkehr führt weiter - wo gesellschaftliche Erneuerung nötig<br />
wird“ erarbeitet 674 . Sie hatte sie unter ein Wort von Martin Luther aus dem Jahre 1520 gestellt: „Die Zeit<br />
des Schweigens ist vergangen <strong>und</strong> die Zeit zu reden ist gekommen“. Um diese Thesen ging es auch am<br />
04.09. in der Reformierten Kirche. [/] Da wir meinen, daß sie wert sind, von breiteren<br />
Bevölkerungskreisen durchdacht <strong>und</strong> diskutiert zu werden, <strong>und</strong> weil wir heute zwei dieser Thesen in den<br />
Mittelpunkt unserer Andacht stellen. Wir sollten uns aber davor hüten, zu meinen, Umkehr,<br />
gesellschaftliche Erneuerung gelte nur für unser Land. Täglich erreichen uns Schreckensmeldungen über<br />
Katastrophen, Unfälle, Nöte als warnende Vorboten einer Lebensbedrohung globalen Ausmaßes. Auch<br />
wir tragen zu den Ursachen bei, wenn wir weiterhin unsere Lebensqualität nur an unserem materiellen<br />
Wohlstand messen. Wo lebensbedrohende <strong>und</strong> irreversible Prozesse in Gang gesetzt werden, ist ein<br />
rechtzeitiges <strong>und</strong> entschlossenes Umsteuern nötig. Und dazu gehört für uns Christen zuallererst auch, daß<br />
wir das Maß unserer Abkehr von Gott neu bedenken. Deshalb suchen, hoffen <strong>und</strong> fordern wir -<br />
672 Auch dieses „Gespräch“, d.h. die Androhung, daß der Staat auch Pfarrer inhaftieren würde, war ebenfalls im<br />
ZAIG, Nr. 428/89 „vorgeschlagen“ worden. Am 22.09.1989 war Pf. Führer schon zum Kreisstaatsanwalt bestellt<br />
worden!<br />
673 Fr. Schorlemmers Rede in der Reformierten Kirche (Laßt uns die Wahl) ist abgedruckt in: Schorlemmer (1993),<br />
92-107<br />
674 Die Thesen wurden von einer Gruppe unter Leitung von Fr. Schorlemmer erarbeitet. Abgedruckt in: Rein (1990),<br />
93-98 <strong>und</strong> J. Israel (Hg.), 81-85<br />
331
gemeinsam mit vielen nachdenklichen Menschen in aller Welt - ein Handeln, das der Größe der Probleme<br />
entspricht. Dazu gehört Schweigen aufzugeben <strong>und</strong> Verschweigen nicht weiter zuzulassen. Wir werden<br />
uns auf diesem Weg fragen müssen, ob wir auch zu einer persönlichen Umkehr, zum Tragen von<br />
möglichen Schwierigkeiten <strong>und</strong> zum Verzicht bereit sind.<br />
Eine These der Wittenberger Vorbereitungsgruppe lautet:<br />
Weil sich in der Gesellschaft Gleichgültigkeit, Resignation <strong>und</strong> Stagnation ausbreiten <strong>und</strong> sich die<br />
Zahl der Menschen erhöht, die sich deshalb zurückziehen oder hier nicht mehr leben wollen, halten wir es<br />
für nötig, darüber offen zu reden <strong>und</strong> die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so umzugestalten, daß<br />
mehr Bürger gesellschaftliche Mitarbeit als sinnvoll erleben.<br />
Traudel: Zu dieser These haben wir eine Geschichte von Peter Bleeser gef<strong>und</strong>en, die wir hier in freier<br />
Form nacherzählen möchten. Sie heißt- „Ein guter Mensch am Höllentor“.<br />
Die Hölle war total überfüllt, <strong>und</strong> noch immer stand eine lange Schlange am Eingang. Schließlich<br />
mußte sich der Teufel selbst herausbegeben, um die Bewerber fortzuschicken. „Bei mir ist alles so<br />
überfüllt, daß nur noch ein einziger Platz frei ist“, sagte er. [/] „Den muß der ärgste Sünder bekommen.<br />
Sind hier ein paar Gewaltverbrecher da?“ Und nun forschte er unter den Anstehenden <strong>und</strong> hörte sich deren<br />
Verfehlungen an. Was auch immer sie ihm erzählten, nichts schien ihm schrecklich genug, als daß er dafür<br />
den letzten Platz in der Hölle hergeben mochte. Wieder <strong>und</strong> wieder blickte er die Schlange entlang.<br />
Schließlich sah er einen, den er noch nicht befragt hatte. „Was ist mit Dir - Warum stehst Du so allein?<br />
Was hast Du getan?“ [/] „Nichts“ sagte der Mann, den er so angesprochen hatte. Ich bin ein guter Mensch<br />
<strong>und</strong> nur aus Versehen hier. Ich habe geglaubt, die Leute stünden hier nach Bananen an. „Aber Du mußt<br />
doch etwas getan haben“, sagte der Teufel. „Jeder Mensch trägt doch Verantwortung, tut etwas“. [/] „Ich<br />
sah wohl manches, aber ich blieb ruhig <strong>und</strong> hielt mich fern. Ich bemerkte, wie Menschen gegenüber ihren<br />
Mitmenschen ihre Macht ausspielten, aber ich sagte nichts dazu. Wurden Festlegungen im Betrieb<br />
getroffen, Resolutionen verfaßt oder las ich Erklärungen in der Zeitung, fragte ich niemals warum <strong>und</strong><br />
wieso. Ich sah öfters Aufgebote von Polizei <strong>und</strong> Sicherheitskräften, belästigte aber niemand mit<br />
unbequemen Fragen. Ich habe auch nie die wertvolle Zeit von Abgeordneten für Eingabegespräche in<br />
Anspruch genommen. [/] Wenn ich die Fabrikschornsteine qualmen sah, <strong>und</strong> die Flüsse seltsam rochen,<br />
fügte ich mich der Notwendigkeit der Produktionssteigerung. Schließlich wollte man ja leben. Ich war<br />
schlicht <strong>und</strong> einfach ein guter Bürger, mischte mich nicht ein. [/] „Bist Du Dir völlig sicher, daß Du das<br />
alles bemerktest, aber nichts dagegen getan hast? Du mußt Dich doch über manche Umstände <strong>und</strong><br />
Tatsachen empört <strong>und</strong> Deinem Herzen Luft gemacht haben?“ [/] „Na ja“, erwiderte der Mensch - „das<br />
schon, aber doch nur im Kreis meiner Familie oder höchstens mal bei <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>n - da wußte ich genau, wie<br />
<strong>und</strong> was anders sein müßte. Bei Versammlungen habe ich aber stets geschwiegen <strong>und</strong> bin mit meiner<br />
Meinung auch nicht in die Öffentlichkeit getreten. [/] „Dann komm herein, mein Sohn, der freie Platz<br />
gehört Dir!“ [/] Und als er den „guten Menschen“ einließ, drückte sich der Teufel zur Seite, um mit ihm<br />
nicht in Berührung zu kommen.<br />
[Pf. Kaden: Predigt 675]<br />
Lied Nr. 8 - Herr, deine Liebe...<br />
Mike: Im Zusammenhang mit den gerade im Raum Halle - Leipzig verheerenden Folgen unseres<br />
gewalttätigen Umgangs mit der Natur wird in einer weiteren These unser radikales Umdenken bezüglich<br />
unserer persönlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Zielsetzung gefordert. [/] Und hier geht es ans Eingemachte,<br />
da reicht es nicht, Forderungen nach Schließung vom Braunkohleveredlungswerk Espenhain oder<br />
Bauverzicht eines Kernkraftwerkes im Raum Leipzig zu stellen, wenn wir dagegen nicht bereit sind, auch<br />
fühlbar die Folgen eines solchen Umdenkens zu übernehmen. Wer von uns würde denn wirklich<br />
beitragen, ges<strong>und</strong>e Wälder etwa durch Verzicht auf private Kraftfahrzeugbenutzung oder Einfrierung<br />
seines Wohlstandes auf dem gewiß nicht geringen Niveau von heute zu ermöglichen. Beides - so<br />
Fachleute aus Ost <strong>und</strong> West - ist nebeneinander nicht mehr zu haben, wir müssen uns entscheiden: Weiter<br />
auf Kosten der Zukunft unserer Kinder <strong>und</strong> der erschreckenden Verarmung von Millionen Menschen auf<br />
der Südseite unserer Welt der programmierten Zerstörung entgegenzutreiben oder die heiligen Kühe des<br />
675 Abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, 34-36, siehe auch Nacherzählung von W. Heiduczek in: ders.<br />
(1990), 91ff<br />
332
eitlen Fortschritts <strong>und</strong> der materiellen Besessenheit endlich zu schlachten. Wir müssen uns entscheiden<br />
zwischen einem solidarischen Leben, das allen Menschen gleiches Lebensrecht ermöglichen will, <strong>und</strong><br />
einer habsüchtigen Wohlstandsorientierung, die rücksichtslos nur die eigenen Interessen verfolgt.<br />
Thomas: Bei der Suche nach neuen Wegen <strong>und</strong> Werten stoßen wir schnell an Grenzen, Grenzen unserer<br />
Einflußnahme, unserer Kenntnisse, unserer eigenen Bereitschaft - wir wissen, wie schwer es ist, Menschen<br />
für diesen unbequemen Weg zu motivieren. [/] Aber Grenzen bedeuten nicht das Ende. Nur mit einer<br />
offenen Diskussion in allen Bereichen, die jeder in der Familie, aber auch in der Betriebsversammlung,<br />
am Stammtisch, aber auch bei den Behörden führen muß, sind Grenzen zu überwinden. [/] Alle sind<br />
gefordert, Rückgrad zu zeigen <strong>und</strong> Veränderungen anzuregen. [/] Doch Gespräche <strong>und</strong> guter Wille sind<br />
nur der Anfang. Wir brauchen die Mitarbeit von kompetenten Fachleuten aus der Wirtschaft <strong>und</strong> den<br />
Instituten, aus Kultur <strong>und</strong> auch aus der Politik, die den Mut haben, über ihren Schatten der Trägheit <strong>und</strong><br />
der Gleichgültigkeit zu springen <strong>und</strong> im großen Rahmen über unsere Probleme sprechen können. Wer hat<br />
schon den Mut, in einer Versammlung seine Meinung zu vertreten.<br />
Mike: Was sollten wir tun? Wo ist der Ausweg, <strong>und</strong> was brauchen wir dazu?<br />
Anke: Wir brauchen Courage, um uns zu neuen Ideen zu bekennen, öffentlich unsere Meinung zu sagen<br />
<strong>und</strong> dabei Unbequemlichkeiten in Kauf zu nehmen. Die bisherige Zielsetzung unseres Lebens muß<br />
überprüft werden <strong>und</strong> ein Wertewandel stattfinden. Ist denn die fortwährende Anhäufung von Besitz alles,<br />
was der Mensch braucht? [/] Wenn seine Wünsche in Erfüllung gegangen sind, welche Werte sollen dann<br />
gelten? Was soll die Leere ausfüllen? Der alleinige Sinn des Lebens kann nicht nur im Genuß <strong>und</strong> Erwerb<br />
materieller Güter liegen, dem Rückzug in private Nischen. Handlungen wie Solidarität, Barmherzigkeit,<br />
Zivilcourage, Mitarbeit an der Umgestaltung der Gesellschaft sollten die neuen Werte mitbestimmen. Das<br />
sind auch für mich ganz wichtige Überlegungen.<br />
Mike: Nicht nur für dich allein ist es wichtig. [/] Sind wir nicht viele <strong>und</strong> zeigt uns nicht der Besuch dieser<br />
Andachten, daß viele Menschen Probleme haben? [/] Fehlen nicht die Möglichkeiten, miteinander ins<br />
Gespräch zu kommen?<br />
Anke: Es reicht noch lange nicht aus, hier unterm Dach der Kirche mutig zu sein oder mit 5000 Leuten<br />
loszumarschieren, morgen auf Arbeit, im Kollektiv, in der Familie zeigt sich, wie tief neues Denken in uns<br />
aufgebrochen ist.<br />
Mike: Fakt ist, wir unterstützen mit unserer Mutlosigkeit <strong>und</strong> unserer Gleichgültigkeit alles. Viele hier<br />
haben doch die Ziele, in diesem Land etwas zu ändern, aufgegeben. Wir müssen die Zögernden ermutigen.<br />
Eine öffentliche, kontroverse Diskussion in allen Medien, auch z.B. der 20 Thesen, ist unabdingbar. Wer<br />
sich gegen Öffnungen nach innen <strong>und</strong> außen abschottet, wird politisch nicht überleben können.<br />
Anke: Gibt es nicht schon kleine Schritte, die zu lebensverträglichen Werten <strong>und</strong> Verhaltensweisen führen,<br />
die ermutigen, motivieren könnten?<br />
Mike: Ich glaub schon, doch das soll uns Traudel selbst erzählen. Maschine<br />
Traudel: [zu dieser Rede gab es keine Vorlage, folgender Text handschriftlich auf der Rückseite des<br />
Typoskriptes]<br />
Wir möchten jetzt mit Ihnen, mit Euch beten. [/] Im Gebet bringen wir uns mit unserem Wissen<br />
<strong>und</strong> unseren Grenzen vor Gott. [/] Im Gebet rechnen wir mit der Änderungsfähigkeit von uns <strong>und</strong> anderen.<br />
[/] Im Gebet richten wir uns aus auf Gott hin in der Hoffnung auf seine lebensstärkende Kraft. [/] Nach<br />
jeder Fürbitte möchten wir uns anschließen mit dem Kyrie-Ruf, dem Sie auf den Liedzettel Nr. 17 finden.<br />
[Fürbitten 676]<br />
[Schlußlied]<br />
[Verabschiedung]<br />
229 Kirchenvorstandsprotokoll<br />
Auszug aus dem handschriftlichen Protokoll der 54. Sitzung des KV St. Nikolai vom 02.10.1989. Das<br />
Protokoll wurde von W. Hofmann geschrieben <strong>und</strong> u.a. von Pf. Führer unterzeichnet (ABL H 54).<br />
676 Abgedruckt in: J. Israel (Hg.), 184<br />
333
[...] Als Gäste von der Bethaniengemeinde Pfarrer Jakob, Herr Götting, Herr Kamilli [...]<br />
Tagesordnung: 1. Situation des Friedensgebetes [/] 2. Arbeitsgruppen: Besucherdienst/Helferschaft [/] 3.<br />
Vorlagen des Finanzausschusses [/] 4. Aufstellung der romanischen Kultfigur [/] 5. Brief Staatssekretär<br />
Löffler [/] 6. Lesung Günter Grass [/] 7. Rechenschaftsbericht des KV [/] 8. Etwaige weitere Gegenstände<br />
[/] 9. Verabschiedung Frau Heumann<br />
Der Vorsitzende liest die Losung des Tages <strong>und</strong> eröffnet die Sitzung.<br />
Zu 1.) Bericht über das Gespräch mit OBM Dr. Seidel, das am 7.9.89, 17.30 Uhr im Neuen Rathaus<br />
stattfand.<br />
Die Gäste vom KV der Bethanienkirche fragen den KV St. Nikolai-St. Johannis an, wie sie in der<br />
derzeitigen Situation helfen können. Eine längere Aussprache mit Informationen schließt sich an.<br />
Vorschlag des KV Nikolai, Weitergabe von Informationen über das Friedensgebet an Pfarrer <strong>und</strong><br />
kirchliche Mitarbeiter <strong>und</strong> in geeigneter Weise an die Gemeinden in den Abkündigungen. Es wird von<br />
der Möglichkeit gesprochen, daß der KV der Bethanienkirche ein Friedensgebet mitgestaltet.<br />
Der KV bittet angesichts der bedrohlichen Situation den Kirchenvorstand St. Thomas-St. Matthäi, die<br />
Thomaskirche zum Montagsgebet zeitlich versetzt um 17.15 Uhr zu öffnen, um damit den Christen<br />
Leipzigs, die nicht in die Nikolaikirche kommen können, die Möglichkeit zur Teilnahme zu geben.<br />
- Die Teilnahme an einem Sonntagsgespräch (8. Oktober) in der Bekenntniskirche Berlin-Treptow?<br />
(Einladung durch Pf. Hilse) durch ein Mitglied des Kirchenvorstandes wird abgelehnt.<br />
[...es folgt der Brief an den Kirchenvorstand von St. Thomas <strong>und</strong> St. Matthäi]<br />
Zu 2.) wird vertagt [...]<br />
Zu 5.) Mitte - Ende Oktober soll ein Erinnerungsschreiben an Staatssekretär Löffler hinsichtlich des<br />
erbetenen Gespräches vorbereitet <strong>und</strong> abgeschickt werden. (Magirius, Ramson, Führer)<br />
230 SED-Information<br />
Chiffriertes Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung an E. Honecker über „eine erneute<br />
Provokation feindlich negativer Kräfte im Anschluß an das Montagsgebet in der Nikolaikirche Leipzig am<br />
2.10.1989“ vom 03.10.1989 unterzeichnet von H. Hackenberg (StAL SED A 6339).<br />
Werter Genosse Erich Honecker!<br />
Bereits eine Woche vor dem 2.10.89 hatte das Sekretariat der Bezirksleitung erneut zur Lage Stellung<br />
genommen <strong>und</strong> vielfältige Maßnahmen zur offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung<br />
antisozialistischer Aktivitäten in der Stadt Leipzig <strong>und</strong> zur Mobilisierung der Mitglieder <strong>und</strong> Kandidaten<br />
der Bezirksparteiorganisation, aller in der Nationalen Front vereinten gesellschaftlichen Kräfte<br />
(einschließlich der befre<strong>und</strong>eten Parteien) sowie der Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane beschlossen. Am 25.9.<br />
wurden alle Parteisekretäre der Stadt Leipzig über die Lage in der Stadt informiert <strong>und</strong> veranlaßt, eigene<br />
Maßnahmen in ihren Parteikollektiven festzulegen. Die politische Arbeit wurde lagebezogen in den<br />
Einheiten der Kampfgruppen der Arbeiterklasse mit jedem einzelnen Kämpfer verstärkt. Zahlreiche<br />
Stellungnahmen, persönliche Bekenntnisse von Kämpfern, Unterführern <strong>und</strong> Kommandeuren, in diesen<br />
Tagen die verstärkten Angriffe des Gegners im Sinne des Gelöbnisses abzuwehren <strong>und</strong> eine hohe<br />
Bereitschaft zu entwickeln, die Heimat mit der Waffe gegen innere <strong>und</strong> äußere <strong>Feinde</strong> zu verteidigen,<br />
waren Ausdruck dafür. Täglich wurden in der Leipziger Volkszeitung Standpunkte <strong>und</strong> Stellungnahmen<br />
von Werktätigen zu den Machenschaften des <strong>Feinde</strong>s sowie zur Zurückweisung der konterrevolutionären<br />
Aktivitäten in der Stadt Leipzig veröffentlicht. Durch die staatlichen Organe wurden die Gespräche mit<br />
den Vertretern der Kirche bis zur letzten St<strong>und</strong>e mit allem Nachdruck weitergeführt.<br />
In meinen Gesprächen mit den Vorsitzenden der befre<strong>und</strong>eten Parteien bek<strong>und</strong>eten diese die Bereitschaft,<br />
die gesellschaftliche Front mit ihren Mitgliedern zu stärken, was besonders durch Mitglieder der CDU,<br />
durch die aktive Teilnahme an den Veranstaltungen der Kirche <strong>und</strong> durch ihr Auftreten dazu beizutragen,<br />
negative Elemente zurückzudrängen, auch am 2.10. in der Nikolaikirche zum Ausdruck kam.<br />
Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Beschlusses des Sekretariats der Bezirksleitung vom 27.9.89 677 schätzten die<br />
677 s. Dok. 222<br />
334
Sekretariate der Stadtleitung, Stadtbezirks- <strong>und</strong> Kreisleitungen die Situation in ihren<br />
Verantwortungsbereichen ein <strong>und</strong> legten eigenständige Maßnahmen zur Führung der politischen<br />
Massenarbeit sowie zur Gewährleistung einer hohen Wachsamkeit fest. Ausgehend von unserem Beschluß<br />
wurden mir die abgestimmten Einsatzkonzeptionen der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane vorgelegt,<br />
einschließlich des Einsatzes von Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Gleichzeitig wurde von mir der<br />
Einsatz gesellschaftlicher Kräfte, einschließlich von Lehrern <strong>und</strong> Schülern der Bezirksparteischule,<br />
veranlaßt.<br />
Am 2.10. fand in der Zeit bis 18.00 Uhr in der Nikolaikirche das sogenannte Montagsgebet statt, an dem<br />
ca. 2000 Personen, darunter gesellschaftliche Kräfte, teilnahmen. Bereits gegen 16.20 Uhr wurde die<br />
Kirche wegen Überfüllung geschlossen. Das führte dazu, daß ein Teil der gesellschaftlichen Kräfte keinen<br />
Zugang mehr zum sogenannten Montagsgebet fand. Durch Aushang in der Nikolaikirche wurde zu diesem<br />
Zeitpunkt auf das Stattfinden einer Parallelveranstaltung in der Reformierten Kirche verwiesen. Über<br />
diese Parallelveranstaltung wurde in den zuvor stattgef<strong>und</strong>enen Gesprächen der staatlichen Organe mit<br />
den Kirchenvertretern nicht informiert.<br />
Vor der Nikolaikirche (Kirchvorplatz) versammelten sich bis gegen 17.00 Uhr ca. 2000 Personen678 . In<br />
den Zugangsstraßen zum Kirchvorplatz hielten sich weitere ca. 1000 Personen auf. Durch Pfarrer Führer<br />
erfolgte die Eröffnung des Montagsgebets in der Nikolaikirche, das Gebet selbst durch den Jugendpfarrer<br />
Kaden. Es wurde ein Brief der evangelischen Studentengemeinde der Landeskirche Sachsen verlesen679 ,<br />
der gegen die Inhaftierung von Personen <strong>und</strong> die verhängten Sanktionen protestierte sowie sich gegen den<br />
Einsatz von Sicherheitskräften richtete. Des weiteren wurde auf ein geplantes „Fasten“ für die politischen<br />
Häftlinge vom 2.-8.10.89 in der Versöhnungskirche Leipzig-Gohlis orientiert.<br />
Pfarrer Kaden verwies anschließend darauf, daß „Ausreise keine Alternative“ <strong>und</strong> „Demonstrationen“<br />
kein Mittel in der gegenwärtigen Zeit sind <strong>und</strong> daß man sich hier in den Kampf einreihen soll. Es wurden<br />
schwerwiegende Angriffe gegen die Parteiführung <strong>und</strong> Sicherheitsorgane erhoben. Das sogenannte<br />
Montagsgebet wurde mit Fürbitten für die Inhaftierten vom 11.9. beendet. In der Reformierten Kirche<br />
wurde das Montagsgebet 17.15 Uhr bis ca. 18.00 Uhr durchgeführt. Nach der Eröffnung durch den<br />
Gemeindepfarrer hielt der katholische Pater Bernhard das anschließende Gebet. Es hatte keinen feindlich<br />
negativen Inhalt. Es wurde, wie in der Nikolaikirche, der Brief der Evangelischen Studentengemeinde<br />
verlesen <strong>und</strong> neue Termine für weitere Fürbittgebete in Leipziger Kirchen bekanntgegeben. Es werde<br />
geprüft, die sogenannten Montagsgebete künftig in den drei Leipziger Stadtkirchen (Nikolaikirche,<br />
Thomaskirche <strong>und</strong> Reformierte Kirche) durchzuführen.<br />
Nach der Beendigung des Montagsgebetes in der Nikolaikirche verharrten die Teilnehmer auf dem<br />
Kirchvorplatz mit den dort Angesammelten. Dabei kam es zu Sprechchören wie [/] „Neues Forum<br />
zulassen“ [/] „Wir bleiben hier“ [/] „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ [/] „Jetzt oder nie“ [/] „Gorbi,<br />
Gorbi“ [/] „Freiheit für die Inhaftierten“ [/] Es wurde die Internationale gegrölt.<br />
Cirka 18.25 Uhr setzte sich die Personenansammlung demonstrativ in Richtung Grimmaische Straße,<br />
Karl-Marx-Platz in Bewegung. Sie lief dann über Georgiring in Richtung Hauptbahnhof/Tröndlinring.<br />
Auf Gr<strong>und</strong> der Aggressivität der Teilnehmer <strong>und</strong> der hohen Personenzahl konnten die vorbereiteten<br />
Varianten zur Räumung des Kirchvorplatzes <strong>und</strong> zur Kanalisierung der Bewegungsrichtung nicht<br />
angewandt werden. Durch konzentrierten Einsatz der Kräfte der VP, unterstützt durch die Einheiten der<br />
Kampfgruppen der Arbeiterklasse, wurde gegen 19.15 Uhr die Bewegung, an der sich ca. 6.000 bis 8.000<br />
Personen, vorwiegend Jugendliche, beteiligten, auf dem Tröndlinring, Ecke Nordstraße zeitweilig<br />
gestört 680.<br />
Dabei kam es wiederum zu den bereits angeführten Sprechchören. Durch Gruppen<br />
678 Zu den Vorgängen am 02.10.1989, s. Zwahr (1993), 36-52<br />
679 Gemeint ist die „Erklärung des Landesjugendkonvents der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens“ zu den<br />
Verhaftungen in Leipzig vom 01.10.1989 (ABL H 1). Darin hieß es u.a.: „Wir sind betroffen darüber <strong>und</strong><br />
verurteilen es, daß Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger für die Wahrnehmung ihrer verfassungsmäßig garantierten<br />
Gr<strong>und</strong>rechte strafrechtlich verfolgt werden. Wir sehen in diesem Vorgehen den Versuch der Sicherheitskräfte, die<br />
Teilnahme von Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürgern an friedlichen Versammlungen zu kriminalisieren <strong>und</strong> dadurch zu<br />
verhindern sowie durch Einschüchterung freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.“<br />
680 vgl. Bericht Heiduczek zur Demonstration in: ders. (1990), 92-97. Die SED-SL stellte in ihrer Lageeinschätzung<br />
am 03.10.1989 fest, daß die Meinungen sich „verdichten, daß allein mit polizeilichen Mitteln auf Dauer keine<br />
335
Jugendlicher <strong>und</strong> Einzelpersonen wurden die Sperrketten der DVP durchbrochen. Dabei gab es tätliche<br />
Angriffe gegen VP-Angehörige <strong>und</strong> grobe Beschimpfungen. Es erfolgte nur eine zögernde Auflösung der<br />
Personenansammlung am Tröndlinring/Nordstraße.<br />
Von den durchgebrochenen Teilnehmern wurde der Marsch über den Friedrich-Engels-Platz, Dittrichring<br />
mit einem Halt im Bereich der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei <strong>und</strong> der Bezirksverwaltung des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit fortgesetzt. Hier kam es zu Sprechchören „Stasi raus“, „Inhaftierte<br />
freilassen“, <strong>und</strong> es wurde erneut die Internationale gegrölt. Eine Person, die dabei besonders aggressiv in<br />
Erscheinung trat, wurde festgenommen. Die Bewegung wurde fortgesetzt <strong>und</strong> gerufen „Dimitroffstraße,<br />
Dimitroffstraße“ (VPKA/UHA).<br />
In Höhe des Thomaskirchhofes kam es gegen 20.20 Uhr wiederum zur Ansammlung von ca. 1.500<br />
Personen mit der Bewegungsrichtung Innenstadt/Markt. Nur durch den Einsatz von Kräften der DVP mit<br />
Sonderausrüstung konnte die Auflösung der Ansammlung durchgesetzt werden. Zur eigenen Sicherheit<br />
der Kräfte der DVP kam es zum Einsatz des Schlagstockes <strong>und</strong> von Diensth<strong>und</strong>eführern mit Diensth<strong>und</strong>en<br />
(mit Korb).<br />
Gegen 21.25 Uhr waren die Handlungen beendet, <strong>und</strong> es wurde zur Nachsicherung übergegangen.<br />
Während der gesamten Marschbewegung kam es zu erheblichen Störungen des Straßenverkehrs <strong>und</strong> zu<br />
dessen teilweiser Blockierung. Durch eine große Zahl Neugieriger wurde die Bewegung dieser Personen<br />
sowie die Handlungen der DVP <strong>und</strong> der Kampfgruppen verfolgt. Die gestrige Provokation hat gezeigt,<br />
daß sich die Kirche selbst als Ausgangspunkt aller feindlichen Handlungen entwickelt. Mit den drei<br />
angeführten großen Leipziger Kirchen ist eine weitere Eskalation <strong>und</strong> Ausuferung dieser negativfeindlichen<br />
Handlungen gegeben. Es müssen Entscheidungen getroffen werden, ob dieser Gottesdienst<br />
weiter durchgeführt wird, der mit einem Montagsgebet nichts mehr zu tun hat. Das wird vor allem auch<br />
dadurch unterstrichen, daß sich diese Zusammenrottungen immer mehr zu einem Sammelbecken<br />
antisozialistischer <strong>und</strong> rowdyhafter Elemente erweisen. Sie sind mit den vorhandenen Kräften ohne<br />
Anwendung polizeilicher Hilfsmittel nicht mehr zu verhindern. Am wirkungsvollsten erwies sich der<br />
Einsatz von Spezialkräften der DVP.<br />
Das Sekretariat wird seine Anstrengungen auch weiterhin darauf richten, die Kommunisten zu<br />
mobilisieren, die politische Massenarbeit offensiv zu entwickeln <strong>und</strong> durch die Gr<strong>und</strong>organisationen den<br />
entscheidenden Kampf zu organisieren. Es gibt bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung keine<br />
Unterstützung dieser Provokationen, aber Sorge über diese Entwicklung, bei den Kommunisten die<br />
Bereitschaft <strong>und</strong> das Verlangen, entschlossener zu handeln <strong>und</strong> gegen die feindlichen Elemente<br />
vorzugehen.<br />
231 Staat-Kirche-Briefwechsel<br />
Brief von Herrn J. Urban, Vorsitzender des Wohnbezirksausschusses 113, an das Bezirkskirchenamt Leipzig<br />
vom 02.10.1989. Der Brief wurde als offener Brief auch an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig,<br />
an Superintendent Magirius <strong>und</strong> an die Mitglieder des Nikolaikirchenvorstandes Pörner, Pester <strong>und</strong> Hofmann<br />
gesandt (StAL BT/RdB 22377).<br />
Ich sitze am 2.10.1989 an meinem Schreibtisch <strong>und</strong> lese Aufzeichnungen, die ich mir vom Gespräch mit<br />
Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> 3 Mitgliedern des Kirchvorstandes der Stadtkirche St. Nikolai am<br />
20.7.1989 machte. Es ist nach 18 Uhr <strong>und</strong> die Geräuschkulisse des Nikolaikirchhofes dringt unangenehm<br />
Lösung zu erreichen ist“. Und setzte fort: „Der Einsatz von Angehörigen der Kampfgruppen der Arbeiterklasse<br />
wird befürwortet.“ (StAL SED N 946) Nach diesem Einsatz der Kampfgruppen gegen Demonstranten gab es in<br />
diesen deutliche Proteste. So traten mindestens zwei aus Partei <strong>und</strong> Kampfgruppe aus. In Auswertung der<br />
Parteischulungen am 03. <strong>und</strong> 04.10.1989 mit mehreren Kampfgruppenzügen wurden durch den 2. Sekretär der<br />
SED-SL u.a. folgende Meinungen „nach oben“ gemeldet: „Warum werden die Ziele des neuen Forums nicht<br />
bekanntgegeben oder in der Öffentlichkeit diskutiert?-Der Parteiführung ist die Politik aus den Händen geglitten.<br />
[...]“ (StAL SED A 5126). G. Pilz, der als Kampfgruppenmitglied am 02.10.1989 zum Einsatz kam, berichtete,<br />
daß die Annahme von Waffen verweigert wurde <strong>und</strong> der Einsatz als Provokation gewertet wurde. „Wenn noch<br />
einmal ein Befehl zum Ausrücken kommt, werden wir ihn verweigern.“ (Neues Forum Leipzig (1989),47f.)<br />
336
in die friedliche Atmosphäre sinnvoller Freizeitgestaltung. Ich lese die Worte, daß die Nikolaikirche für<br />
alle offen sei, aber nicht für alles! 681 Zu diesem ersten Treffen von Mitgliedern der<br />
Wohnbezirksausschüsse 682 der Leipziger Innenstadt mit Vertretern der Stadtkirche St. Nikolai wurde das<br />
vertrauensvolle Miteinander von Staat <strong>und</strong> Kirche besonders durch Herrn SuperintendentMagirius<br />
unterstrichen. Vereinbart wurde, daß die Wohnbezirksausschüsse 112 <strong>und</strong> 113 auf ihrer Beratung im<br />
September 1989 Vertreter kirchlicher Kreise begrüßen können <strong>und</strong> für den November 1989 ein weiteres<br />
Gespräch von Herrn Superintendent Magirius vorbereitet wird, zudem die Mitglieder der<br />
Wohnbezirksausschüsse gern auch den Superintendent von Leipzig-West begrüßen würden. Leider<br />
konnten beide Wohnbezirke im September 1989 kein Mitglied kirchlicher Kreise auf ihrer Beratung<br />
begrüßen. Im Gegensatz dazu habe ich am Montag, dem 4.9.1989, das Friedensgebet in der Nikolaikirche<br />
besucht <strong>und</strong> Worte von Herrn Superintendent Magirius gehört, die sich mit unserem Gespräch am<br />
20.7.1989 trafen. Was ich jedoch beim Verlassen der Kirche feststellte, ausländische Journalisten mit<br />
Videokamera <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erte Schaulustige, die auf etwas warteten, was im Ergebnis nichts mit Gebet <strong>und</strong><br />
Frieden zu tun hat.<br />
Ich schreibe diesen Brief in gedanklicher Übereinstimmung mit Herrn Juhrich, Herrn Apitzsch <strong>und</strong> Herrn<br />
Prof. Dr. Schneider als den Vertretern der Wohnbezirksausschüsse 112/113, die am 20.7.1989 das<br />
Gespräch mit Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> seiner Begleitung führten, weil sich inzwischen<br />
bestätigt, daß das Friedensgebet in der Ausstrahlung nicht dem Frieden dient <strong>und</strong> daß die enge<br />
Partnerschaft mit polnischen Kirchenkreisen 683 offenbar Ordnungswidrigkeit <strong>und</strong> dem Miteinander<br />
abträgliche Aktionen auslöst. Dabei beruhigt es nicht, diese Aktionen vor der Kirche zu wissen.<br />
Ausländische Massenmedien, insbesondere die der BRD, nennen die Leipziger Stadtkirche St. Nikolai <strong>und</strong><br />
das montags stattfindende Friedensgebet als Aktionen, die der Masse der Anwohner nicht gefällt, ja die<br />
belästigen.<br />
Mir ist es ein Bedürfnis Hochachtung denen auszusprechen, die mit ehrlicher Arbeit <strong>und</strong> ordentlichem<br />
Auftreten die Kirchen unserer Stadt zum Gebet aufsuchen <strong>und</strong> missionarische Hilfe leisten. Ich kenne<br />
viele dieser religiös geb<strong>und</strong>enen Bürger, die in ehrenamtlicher Arbeit helfen, die Wohnumwelt zu<br />
verschönen <strong>und</strong> mitarbeiten an der Gestaltung unserer Gesellschaft, die 40 Jahre nach einem schrecklichen<br />
Krieg auferstanden ist aus den Trümmern einer Vergangenheit, die keiner vermißt. Bei der Begegnung mit<br />
Herrn Superintendent Magirius <strong>und</strong> seinen 3 Begleitern haben wir sehr ernsthaft herausgearbeitet, daß die<br />
in der Nationalen Front der DDR vereinten gesellschaftlichen Kräfte als Volksbewegung tatkräftige <strong>und</strong><br />
kreative Partner brauchen, die parteilos <strong>und</strong> religiös geb<strong>und</strong>en sein können. Unterstrichen wurde, daß<br />
unsere Jugend Chancen hat, die wir im gleichen Alter nicht erträumt haben <strong>und</strong> die uns raten lassen,<br />
realistisch zu sein.<br />
Die Sommerpause der Friedensgebete in St. Nikolai schaffte Ruhe um unsere Stadtkirche, aber seit dem<br />
4.9.89 wird das Friedensgebet nach meiner Auffassung mißbraucht. Menschen kommen über Stadt- <strong>und</strong><br />
Landesgrenzen angereist zu Ihrer Kirche <strong>und</strong> machen diese zu einem Sammelbecken von Personen, die<br />
das friedliche Zusammenleben, ja das Glück des Friedens gefährden <strong>und</strong> provozieren, ohne dort<br />
zuzupacken, wo es möglich ist <strong>und</strong> allen zum Nutzen wäre.<br />
Trotz dieser Tatsachen, die ich bitte zu durchdenken, bleibt das Interesse an der Fortführung des<br />
Gesprächs insbesondere des für November 1989 vorgesehenen Treffens bestehen. [/] Ich hoffe, daß das<br />
Bürgerinteresse an Ruhe, Ordnung <strong>und</strong> Frieden sie bewegt, sicherlich längst nötige Entscheidungen zu<br />
treffen.<br />
Mit Hochachtung [/ gez.] J. Urban [/] Vors. d. WBA 113 [/] Mitgl. d. WKA 04<br />
681 Auf dem Schild am Bauzaun vor dem Haupteingang der Nikolaikirche stand: „Nikolaikirche / offen für alle“. Die<br />
Wendung „offen für alle, nicht für alles“ stammte von W. Leich (ca. 1982).<br />
682 Die DDR war in Wohnbezirke aufgeteilt, die Wahlbezirken entsprachen. In einem Wohnbezirk lebten in der<br />
Regel 1000 bis 3000 Wahlberechtigte. Die Wohngebietsausschüsse waren aber seine „demokratischen“ Organe.<br />
683 Sup. Magirius verwies in seiner Predigt auf seine Fre<strong>und</strong>schaft mit Masowiecki (s. oben, S.383).<br />
337
232 Polizeibericht<br />
Information des Stellvertreters des Leiters der Kriminalpolizei <strong>und</strong> Leiter des Dezernat 1 der BDVP,<br />
Oberstleutnant Patze, über das Friedensgebet am 02.10.1989 vom gleichen Tag. Die Xerokopie trägt<br />
Bearbeitungsspuren (StAL BT/RdB 22377).<br />
Am heutigen Friedensgebet, welches von 17.00-17.45 Uhr in der Nikolaikirche Leipzig stattfand, nahmen<br />
ca. 2.500 Personen teil684 . Bereits ca. 16.00 Uhr war die Kirche wegen Überfüllung geschlossen<br />
worden685 . Durch Ordner wurden die Teilnehmer auf ein weiteres Gebet hingewiesen, welches gegen<br />
17.00 Uhr in der Ev.-reformierten Kirche stattfinden sollte. Die Eröffnung nahm Pfarrer Führer vor.<br />
Anschließend sprach Jugendpfarrer Kaden die Predigt. In einem Gleichnis sprach er zum Thema „Teufel<br />
<strong>und</strong> Hölle“. In seiner Geschichte hat der Teufel alle Verbrecher der Welt unter sich. Ihm wurde gestattet,<br />
den größten Verbrecher zu verbrennen. Der Teufel entschied sich aber für den „braven Bürger“, der zu<br />
allem „Ja <strong>und</strong> Amen“ sagt <strong>und</strong> keine eigene Meinung hat. Der brave Bürger ist auch schuld an der<br />
derzeitigen Situation. Alle müssen sich schuldig bekennen, so auch er selbst, <strong>und</strong> alle Anwesenden. Man<br />
habe zu lange tatenlos zugeschaut, wohin die Entwicklung geht. Anschließend brachte Kaden massive<br />
Angriffe auf Partei, Staat <strong>und</strong> Regierung vor. Er forderte den Rücktritt des Politbüros <strong>und</strong> der Regierung.<br />
Die Sicherheitsorgane sollten aufgelöst werden. In seiner Wortwahl war K. sehr geschickt <strong>und</strong> verstand es,<br />
laufend Stimmungshöhepunkte zu schaffen686 . Der gesamte Beitrag wurde mit frenetischem Beifall <strong>und</strong><br />
Getöse begleitet. Durch die Predigt wurde die Stimmung unter den Gebetsteilnehmern wesentlich<br />
angeheizt. Abschließend gab K. bekannt, daß seiner Meinung nach die Zeit für eine Demonstration heute<br />
nicht gegeben sei 687.<br />
Im Anschluß daran sprach ein Mitglied der AG „Umweltschutz“ zum Zusammenhang Ökonomie <strong>und</strong><br />
Ökologie. Er forderte die Regierung auf, die Ökonomie zugunsten des Umweltschutzes zu verringern <strong>und</strong><br />
die Bürger zu mehr Sparsamkeit zu erziehen. Zum Schluß des Friedensgebetes wurde ein Schreiben einer<br />
Ev. Studentengemeinde verlesen. Damit erklärten sich die ESG mit den Inhaftierten der letzten<br />
Demonstration solidarisch. Weiterhin wurde die Auflösung der Sicherheitsorgane gefordert.<br />
233 Ereignisbericht<br />
Vermerk Pf. Führers über eine Information, die er am 03.10.1989 von einem Soldaten <strong>und</strong> einem Polizisten<br />
erhielt (Computerausdruck) (ABL H 1).<br />
Sinngemäße Wiedergabe einer Information, die am 3.10.89 vormittags in einer NVA-Kaserne in Leipzig<br />
vom Leiter der Politabteilung für Vertreter der Einheiten gegeben wurde:<br />
Der Westen beabsichtige durch maximale Abwerbung von Arbeitskräften, die Produktion zu stören. [/]<br />
Erich Honecker betrachtet Leipzig als das Zentrum der Konterrevolution. Drei Orte sind speziell zu<br />
nennen: [/] Berlin, Zionskirche, Leipzig, Nikolaikirche <strong>und</strong> Wittenberg. [/] Dazu kommen die<br />
oppositionellen Gruppen: Neues Forum, die Ost-CDU, die SPD-DDR <strong>und</strong> „Demokratie Jetzt“.<br />
Rädelsführer seien Bohley, Henrich (Ehemaliger Staatsanwalt) <strong>und</strong> Michael Arnold<br />
684 Mielke teilte Honecker, Stoph, Dohlus, Hager, Herrmann, Jarowinsky, Kreuz, Mittag, Dickel, Herger,<br />
Sorgenicht, Löffler u.a. mit, daß es ca. 2000 Besucher gewesen seien (ZAIG Nr. 435/89 - BStU ZAIG 3748,<br />
abgedruckt in: Kuhn (1992), 38f.).<br />
685 Das MfS sprach von „ca. 3000 Personen“ „vor <strong>und</strong> in der Umgebung der Nikolaikirche“ (ZAIG, Nr. 435/89 - s.<br />
vorhergehende Anm.).<br />
686 Die Ansprache von Pf. Kaden ist abgedruckt in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, 34-36. In der Ansprache ist<br />
jedoch weder vom Politbüro die Rede noch von einem „Auflösen der Sicherheitsorgane“.<br />
687 vgl. die Beobachtung zur Predigt K. Kadens von W. Heiduczek in: ders. (1990), 91ff. Dort heißt es u.a.: „Alles<br />
stimmte, alles war richtig. Die Kanzlei [besser: Kanzel] wird zum Tribunal. Die Logik seiner Rede drängte zu<br />
dem Satz: Geht auf die Straße, aber geht ohne Gewalt! Kaden jedoch sagte: Darum halte ich Demonstrationen in<br />
der jetzigen Form zur Zeit als Mittel zur Verbesserung des politischen Klimas in unserem Land für wenig<br />
sinnvoll.Pf. Kaden demonstrierte jedoch am 02.10. mit!<br />
338
(Stomatologiestudent). [/] Ziel dieser Gruppierungen sei es: Die Störung des normalen Lebens <strong>und</strong> die<br />
Herbeiführung einer innenpolitischen Krise. [/] Ziel der Friedensgebete am Montag, 25.9.89 sei es<br />
gewesen, die Teilnehmer zu einer Straßenschlacht zu provozieren <strong>und</strong> die Leute von der Teilnahme der<br />
Feierlichkeiten zum 7. Oktober abzuhalten. Es seien 2000 Leute in der Nikolaikirche <strong>und</strong> 1000 vor der<br />
Kirche gewesen. [/] Das eigentliche Friedensgebet finde dabei nicht mehr in der Nikolaikirche, sondern in<br />
der Marienkirche in Leipzig statt. [/] Der 1. Pfarrer Führer habe einen Brief des Bürgermeisters von<br />
Leipzig verlesen „Demokratie in der DDR“ [sic!]. [/] Dann habe Pfarrer Wonneberger gesprochen über<br />
„Menschenrechte <strong>und</strong> Gewalt“. Drei Sätze aus der Rede Wonnebergers: [/] „Wer den Knüppel zieht, muß<br />
den Helm tragen. Wenn die Verfassung den Bürger nicht schützt, muß die Verfassung geändert werden.<br />
Wer die Kalaschnikow zieht, muß aufpassen, daß er keinen Kopfschuß bekommt.“ [/] Wonneberger habe<br />
offen zur Gewalt, zur Einmischung in die staatlichen Angelegenheiten <strong>und</strong> zur Gewalt/Totschlag<br />
gegenüber Sicherheitskräften <strong>und</strong> der- Polizei aufgerufen. [/] Dann habe ein dritter Pfarrer Anweisungen<br />
gegeben, wo die Hauptmarschrichtung der Demonstration hinzugehen habe. [/j (Es sei zu bemerken für<br />
den Teil der staatlichen Kräfte, daß sie auch in Zukunft nicht gewaltsam im Sinne von<br />
Schußwaffengebrauch gegen die Massendemonstrationen vorgehen werden.) [/] In der Nikolaikirche seien<br />
am 25.9. Bibelzitate verfälscht gebraucht worden. Außerdem komme die Frage der Gewalt gar nicht in der<br />
Bibel vor. [/] Aus allem sei die Konsequenz zu ziehen, daß nach dem 7. Oktober harte Maßnahmen zu<br />
treffen seien. (Welche, werde noch nicht gesagt.)<br />
Information von einem normalen Polizisten aus dem Stadtgebiet (Fußlatscher) vom 2./3.10.:<br />
Es gibt Polizisten, denen wurde gesagt, daß in der Nikolaikirche gemalte Steckbriefe hängen, wo<br />
bestimmte Polizisten drauf abgebildet sind, die geschlagen <strong>und</strong> erschlagen werden müßten.<br />
234 Innerkirchliche Mitteilung<br />
Brief vom Vorsitzenden des KV St. Nikolai (Pf. Führer) an den KV St. Thomas (Pf. Ebeling) vom<br />
03.10.1989, in dem um die Öffnung der Thomaskirche zum Friedensgebet am 09.10.1989 gebeten wird.<br />
Vorlage ist Xerokopie aus dem Buch des KV St. Nikolai (ABL H 54).<br />
Liebe Schwestern <strong>und</strong> Brüder!<br />
Unser Kirchenvorstand wendet sich in schwieriger Lage an Sie. Wie Sie wissen, hat sich die Zahl der<br />
Menschen, die montags das Friedensgebet um 17.00 Uhr besuchen wollen, im Monat September ständig<br />
erhöht. Am 25.9. waren wir mit über 2500 Personen in der Kirche bereits über die verantwortbare<br />
Aufnahmemöglichkeit belegt, ohne daß wir alle Menschen damit aufgenommen hätten.<br />
Auch am 2.10. mußte ich die Kirche wieder schließen lassen, als alle Plätze besetzt waren. Durch<br />
Verhandlungen mit der Reformierten Kirche konnte jedoch 17.15 Uhr ein weiteres Friedensgebet,<br />
gehalten von dem Grünauer katholischen Pater Bernhard, angeboten werden. Dieses Angebot wurde<br />
genutzt, so daß in relativ kurzer Zeit auch die dort vorhandenen 600 Plätze besetzt waren <strong>und</strong> auch diese<br />
Kirche geschlossen werden mußte. Unser Kirchenvorstand wendet sich nun mit der ebenso dringenden<br />
wie herzlichen Bitte an Sie, zur Verminderung der Gefahr der brachialen Konfrontation, die Thomaskirche<br />
montags 17.15 Uhr, ebenfalls wie die Reformierte Kirche, für ein Friedensgebet zu öffnen. Wie Sie<br />
wissen, verhalten sich die Teilnehmer der Friedensgebete in der Kirche so, wie es einer Kirche geziemt.<br />
Wir haben in den eineinhalb Jahren der Friedensgebete mit großen Zahlen nicht eine einzige Zerstörung<br />
oder auch nur Beschädigung erleben müssen. Die Zeit drängt, der nächste Montag steht vor der Tür.<br />
Ich bin jederzeit zu Gesprächen <strong>und</strong> Überlegungen bereit. Lassen Sie uns in dieser ernsten Situation keine<br />
Fehlbitte tun.<br />
In der Verb<strong>und</strong>enheit des Glaubens [/] Ihr [gez.] C. Führer [/] Kirchenvorstand/Vorsitzender<br />
[Auf der Abschrift des Briefes im Protokoll-Buch des Kirchenvorstandes von St. Nikolai vermerkte<br />
Pfarrer Führer folgendes:] Antwort mündlich: Am Freitag 6.10.1989, beschloß der KV St. Thomas-<br />
Matthäi einstimmig, unseren Bitten zu entsprechen <strong>und</strong> die Thomaskirche zu öffnen 688.<br />
Das teilte mir<br />
688 In der Zwischenzeit hatte der alljährliche Leipziger Pfarrertag stattgef<strong>und</strong>en. Hauptthema dort waren die FG.<br />
Bischof Hempel wünschte eigentlich eine Absetzung der Gebete wegen der Gefahr, „Blut könnte fließen“. Dabei<br />
339
persönlich, am 7.10.89, Pfarrer Ebeling mit. [gez.] C. Führer<br />
235 SED-Information<br />
Chiffriertes Fernschreiben des 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung an E. Krenz vom 05.10.1989 (Kopie in<br />
FZVSt).<br />
Werter Genosse Egon Krenz!<br />
Entsprechend Deines Auftrages übermittle ich Dir den Plan zur Gewährleistung einer hohen politischen<br />
Aktivität, der staatlichen Sicherheit <strong>und</strong> öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit in Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung des 40. Jahrestages der DDR <strong>und</strong> zur offensiven Bekämpfung <strong>und</strong> Zurückdrängung<br />
antisozialistischer Aktivitäten <strong>und</strong> Gruppierungen im Leipziger Stadtzentrum. Das Sekretariat der<br />
Bezirksleitung hat eine Einschätzung der aktuellen Lage vorgenommen <strong>und</strong> alle erforderlichen<br />
Maßnahmen eingeleitet, um mögliche Provokationen im Keime zu ersticken. Dazu wurden<br />
Einsatzkonzeptionen erarbeitet zur Absicherung der Schwerpunkte in der Leipziger Innenstadt, besonders<br />
im Bereich der Nikolaikirche, der Thomas- <strong>und</strong> Reformierten Kirche. Bei der Beurteilung der Lage geht<br />
das Sekretariat davon aus, daß konterrevolutionäre Kräfte nicht nur im Bereich dieser Kirchen, sondern<br />
auch außerhalb zu Demonstrationshandlungen übergehen. In den Einsatzkonzeptionen wird<br />
berücksichtigt, daß das Stadtzentrum Leipzigs erhöhte Bevölkerungsbewegungen <strong>und</strong> eine Spezifik in der<br />
Straßenführung aufweist. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage beruhen alle Maßnahmen zur Zerschlagung formierter<br />
negativer Gruppierungen.<br />
Ausgehend von dieser Lageeinschätzung wurde veranlaßt:<br />
1. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des Beschlusses des Sekretariats der Bezirksleitung vom 27.9.1989 689 ist die<br />
offensive politische Massenarbeit [...<br />
2. Sicherung der Betriebe, 3. Sicherung der „Objekte der Partei, der staatlichen Organe“...]<br />
4. Die Einsatzleitungen 690 <strong>und</strong> Koordinierungsgruppen haben entsprechend der Lage ihre Verantwortung<br />
wahrzunehmen. Die 1. Sekretäre als Vorsitzende der Einsatzleitungen bzw. Koordinierungsgruppen<br />
veranlassen durchgängig das Diensthabenden-System für die Einheiten der Kampfgruppen vom 6.10.<br />
bis 10.10.1989.<br />
5. Mit dem Ziel der vorbeugenden Verhinderung negativ-feindlicher Handlungen von Kräften des<br />
politischen Untergr<strong>und</strong>es im Bereich der Leipziger Innenstadt (Schwerpunkt Nikolaikirche,<br />
Thomaskirche <strong>und</strong> Reformierte Kirche) sind Mitglieder der Partei in Größenordnungen zum Einsatz zu<br />
bringen, die das Auftreten konterrevolutionärer <strong>und</strong> rowdyhafter Elemente ausschließen. Dazu sind am<br />
9.10.1989 - 15.00 Uhr - aus dem Stadtparteiaktiv, dem sozialistischen Jugendverband, der<br />
Gewerkschaft 5.000 Partei-, FDJ- <strong>und</strong> Gewerkschaftsmitglieder auf dem Vorplatz der Nikolaikirche zu<br />
formieren. Bei diesem Einsatz ist zu sichern, daß mit Öffnung der Nikolaikirche zum „Gebet“ sofort<br />
2.000 Parteiaktivisten im Innenraum Platz nehmen <strong>und</strong> der Zugang negativer Kräfte weitgehend<br />
wurde an den 17. Juni 1953 erinnert. Die Leipziger Pfarrer sprachen sich für eine Ausweitung der FG aus. Damit<br />
war die Thomaskirche angefragt. Unter Protest verschiedener Pfarrer nannte Pf. Ebeling 3 Bedingungen für eine<br />
Öffnung der Thomaskirche: es müssen alle Kirchen geöffnet werden, Bischof Hempel solle anwesend sein, <strong>und</strong><br />
das Gebet solle ein Abendmahlsgottesdienst sein (G. Richter, in: Die Kirche, vom 17.3.1990, S. 1; Immer loyal,<br />
in: Spiegel, vom 12.03.1990,22f.). In einer Erklärung des damaligen DSU-Vorsitzenden H.-W. Ebeling vom<br />
8.3.1990 wird diese Darstellung bestritten. Es heißt dort u.a.: „Es bestand in Leipzig eine Absprache zwischen<br />
den einzelnen Kirchen, daß die seit 1983 durchgeführten Friedensgebete nur in der Nikolaikirche stattfinden<br />
sollen. Durch die punktuelle Konzentration auf diese Kirche sollte ein Zeichen gesetzt werden. [...] Am 5.<br />
Oktober war eine Zusammenkunft des Landesbischofs mit allen Pfarrem. Bereits vor Beginn der Konferenz<br />
informierte ich den Landesbischof, daß ich bei der Konferenz den Antrag stellen werde, alle Stadtkirchen in<br />
Leipzig am 9. Oktober für das Friedensgebet zu öffnen. [...] In der Thomaskirche errichteten wir auch eine<br />
Lazarettstation mit Pflegern, Medikamenten <strong>und</strong> Tragen. Leider war die Thomaskirche die einzige Kirche, die<br />
insoweit vorgesorgt hatte. [...]“<br />
689 vgl. Dok. 222<br />
690 s. Anhang S. 357 ff.<br />
340
eingeschränkt wird. Die Mitglieder der Partei <strong>und</strong> FDJ, die nicht im Kircheninnenraum Platz finden,<br />
übernehmen den Auftrag, die Formierung negativer Kräfte auf dem Kirchvorplatz zu verhindern. Es ist<br />
eine Reserve von 500 Genossen zu schaffen, die bei beabsichtigten Veranstaltungen in der Thomas-<br />
<strong>und</strong> Reformierten Kirche sofort zum Einsatz kommen kann. Die Formierung der Kräfte erfolgt auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage eines detaillierten Planes ab 9.10., 5.00 Uhr. Durch das Sekretariat der Stadtleitung werden<br />
Genossen namentlich ausgewählt 691 <strong>und</strong> auf einen möglichen Dialog während der Veranstaltungen in<br />
den Kirchen gezielt vorbereitet <strong>und</strong> für ihr Auftreten befähigt. Dazu ist das Zusammenwirken mit der<br />
Kreisleitung der Karl-Marx-Universität zu organisieren, um wissenschaftlich ausgebildete<br />
Persönlichkeiten in die Dialogführung mit einzubeziehen. Die Formierung des Stadtparteiaktivs erfolgt<br />
unter Verantwortung des 1. Sekretärs der Stadtleitung Leipzig im Zusammenwirken mit den 1.<br />
Sekretären der Stadtbezirksleitungen, unter Einbeziehung der Bezirksparteischule, der Karl-Marx-<br />
Universität, der anderen Hoch-<strong>und</strong> Fachschulen, der Kreisleitung Leipzig-Land, der Apparate der<br />
Partei, der staatlichen Organe <strong>und</strong> Massenorganisationen. Der Einsatzplan für das Stadtparteiaktiv ist<br />
dem 2. Sekretär der Bezirksleitung bis zum 6.10.89, 12.00 Uhr, vorzulegen.<br />
6. In Verantwortung des Sekretärs für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung ist in der Bezirksausgabe<br />
der LW am 9.10.89 ganzseitig zur Lage im Zusammenhang mit dem Auftreten antisozialistischer<br />
Kräfte im Stadtzentrum Leipzigs prinzipiell Stellung zu nehmen. Dieser Standpunkt wird in Form der<br />
Erklärung der Stadtverordnetenversammlung, die am 29.9.89 beschlossen wurde, dargestellt. Dazu<br />
nimmt der Oberbürgermeister Stellung. Gleichzeitig ist überzeugend <strong>und</strong> emotional der<br />
antisozialistische Charakter dieser Machenschaften der negativfeindlichen Kräfte zu entlarven <strong>und</strong> die<br />
Staatsfeindlichkeit von Gruppierungen sowie Einzelpersonen herauszuarbeiten. Dazu ist Bildmaterial<br />
über das brutale Vorgehen gegen Angehörige der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane sowie ein<br />
Gerichtsbericht über den am 2.10. angefallenen <strong>und</strong> abgeurteilten, siebenfach vorbestraften<br />
Provokateur zu veröffentlichen.<br />
7. Der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, Genosse Opitz, <strong>und</strong> sein Stellvertreter für Inneres, Genosse<br />
Reitmann, sowie der Oberbürgermeister, Genosse Seidel, werden beauftragt, in den ab 5.10.89<br />
stattfindenden Gesprächen mit dem Landesbischof der Evangelischen Kirche Sachsens, Hempel,<br />
nachdrücklich die Forderung geltend zu machen, dem sogenannten Friedensgebet sofort einen<br />
theologischen Inhalt zu geben. Unmißverständlich ist dem Bischof der offizielle Standpunkt des<br />
Vorsitzenden des Rates des Bezirkes zur Kenntnis zu geben, daß bei Nichtbeachten der gegebenen<br />
Hinweise die weitere Durchführung derartiger Veranstaltungen untersagt wird.<br />
8. Die Leiter der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane haben ihre abgestimmte Einsatzkonzeption dem 2.<br />
Sekretär der Bezirksleitung zur Bestätigung vorzulegen, einschließlich des Einsatzes von Einheiten der<br />
Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Der 2. Sekretär der Bezirksleitung unterbreitet dem Generalsekretär<br />
des ZK der SED den Vorschlag, am 9.10.89 in der Stadt Leipzig zur Unterstützung der Schutz- <strong>und</strong><br />
Sicherheitsorgane 8 H<strong>und</strong>ertschaften der Kampfgruppen der Arbeiterklasse (in Uniform) zum Einsatz<br />
zu bringen.<br />
9. Durch den Sekretär für Agitation/Propaganda der Bezirksleitung ist zu veranlassen, daß durch das<br />
Fernsehen der DDR <strong>und</strong> die Presseorgane des Bezirkes antisozialistische Demonstrativhandlungen am<br />
9.10.89 dokumentiert werden.<br />
236 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Vermerk von Jakel, Rat des Bezirkes Leipzig, vom 06.10.1989 über ein Gespräch zwischen R. Opitz,<br />
Reitmann, Sabatowska, Jakel, Bischof Hempel, OKR Auerbach <strong>und</strong> den beiden Leipziger Superintendenten<br />
am 05.10.1989692. Der Computerausdruck wurde nicht unterzeichnet 693 (StAL BT/RdB 22377 <strong>und</strong> in: StAL<br />
691 vgl. Dok. 244<br />
692 Die Parallelüberlieferung des Gespräches (Protokoll J. Richter) ist abgedruckt in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak,<br />
281-286<br />
693 Wie der Entwurf (mit handschriftlichen Überarbeitungen) zeigt, war dieser von H. Reitmann erstellt worden<br />
(StAL BT/RdB 21961).<br />
341
BT/RdB 21395, ABL H 53).<br />
Das Gespräch fand auf Initiative des Ratsvorsitzenden im Gästehaus des Rates des Bezirkes statt. Am<br />
Gespräch nahmen [...] teil: [...]<br />
Eingangs gratulierte Dr. Hempel dem Ratsvorsitzenden zu seiner hohen staatlichen Auszeichnung am<br />
Vorabend des Staatsfeiertages mit den Worten: „Mit Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Hochachtung haben wir<br />
vermerkt, daß die Regierung Ihre Arbeit so hoch anerkannt hat.“ 694 Zu Beginn des Gesprächs wurde<br />
Vertraulichkeit, Offenheit <strong>und</strong> eine konzentrierte Gesprächsführung vereinbart. Gen. Opitz machte<br />
nachdrücklich die staatliche Forderung geltend, dem sogenannten Friedensgebet einen anderen Inhalt zu<br />
geben, der den Gr<strong>und</strong>sätzen der Theologie entspricht695 . Dem Bischof wurde in aller Form zur Kenntnis<br />
gegeben, daß bei Nichtbeachten der gegebenen Hinweise die weitere Durchführung derartiger<br />
Veranstaltungen nicht zugelassen wird. Es sei dringend notwendig, in der Nikolaikirche Gottesdienste<br />
durchzuführen <strong>und</strong> keine politischen K<strong>und</strong>gebungen, wie es die Pfarrer Wonneberger <strong>und</strong> Kaden<br />
praktiziert haben. In einer Erwiderung bedankte sich Landesbischof Dr. Hempel dafür, daß der<br />
Ratsvorsitzende ohne Umschweife zum Kern des Gesprächs gekommen ist. Was Pfarrer Wonneberger<br />
angeht, so habe jeder seine eigene Sprache. Er kenne Wonneberger seit langem. Hempel wörtlich: „Ich<br />
bitte Sie, auch einmal die positiven Wirkungen zu sehen; Kirche ist aufs Ganze gesehen ein<br />
stabilisierender Faktor mit großen positiven Wirkungen, auch Pfarrer Wonneberger, der mit seiner eigenen<br />
Sprache auf geistliche Durchdringung großen Wert legt. Wenn es den Montag in der Nikolaikirche nicht<br />
gäbe, hätten wir das Phänomen, was Sie ja so bewegt, auch noch. Ich behaupte ernsthaft, so sagen es auch<br />
alle meine Brüder, wenn wir alle Kirchen wegwünschen, wäre das Problem trotzdem vorhanden. Was<br />
mich kaputt macht ist, daß die Regierung immer nur den angenehmen Teil sagt. Bitte sagen Sie uns, wo in<br />
der Nikolaikirche die Stimmung angeheizt wird.“<br />
Gen. Opitz unterstrich, daß in den Friedensgebeten zunehmend politische Worte gesagt werden, es in der<br />
Nikolaikirche zu K<strong>und</strong>gebungen kommt, die von frenetischem Beifall begleitet werden. Diese<br />
K<strong>und</strong>gebungen vermengen sich dann mit staatsfeindlichen Aktionen der Leute, die vor der Kirche warten.<br />
In diesem Zusammenhang schilderte der Ratsvorsitzende die Vorgänge während <strong>und</strong> nach den letzten<br />
Friedensgebeten <strong>und</strong> lud unter Bezugnahme auf die Rede des Gen. Krenz vom 4. 10. 1989696 die<br />
anwesenden kirchlichen Vertreter ein, nachzudenken, wie man gemeinsam interessierende Probleme lösen<br />
kann, darunter auch das Problem der Nikolaikirche. Der Vorsitzende brachte eindeutig zum Ausdruck, daß<br />
es keine staatliche Schuldzuweisung wegen Verfehlungen allgemein gegenüber der Kirche gibt, sondern<br />
das Vorgehen einzelner kirchlicher Persönlichkeiten eingeklagt wird, wenn diese antisozialistisch ist.<br />
Diese Aussage wurde von Dr. Hempel zustimmend aufgenommen.<br />
Superintendent Magirius äußerte, daß er sich stets als Staatsbürger fühle <strong>und</strong> eine große Enttäuschung<br />
erlebe, weil es zu diesen Entwicklungen gekommen ist <strong>und</strong> vom Staat nicht sensibel genug reagiert werde.<br />
Er kritisierte, daß seine Bemühungen zur Beruhigung der Lage von staatlichen Vertretern völlig<br />
mißverstanden <strong>und</strong> als etwas Finsteres dargestellt werden.<br />
Hintergr<strong>und</strong> dieser Aussage von Magirius ist die Tatsache, daß eine Information <strong>und</strong> Wertung des<br />
Genossen Sabatowska zur Haltung von Magirius während einer internen Beratung mit ausgewählten<br />
Leitern aus Betrieben am 27.8.89 [sic!] Magirius zugetragen worden ist.<br />
Im weiteren Verlauf des Gesprächs betonten der Ratsvorsitzende <strong>und</strong> seine Stellvertreter für Inneres, daß<br />
heute qualitativ eine andere politische Situation vorhanden ist als noch vor einigen Wochen. So sei zu<br />
beachten, daß ein Unterschied bestehe, ob Pfarrer Kaden eine Rede vor normalem Gottesdienstpublikum<br />
hält oder vor solch einer Masse von Zulaufpublikum, das die Aussagen des Pfarrers äußerst subjektiv <strong>und</strong><br />
nicht selten staatsfeindlich interpretiert697 . Die Folgen für das Leben in der Stadt Leipzig nach den letzten<br />
694 R. Opitz erhielt am 05.10.1989 die Ehrenspange zum „Vaterländischen Verdienstorden“ in Gold.<br />
695 Im Entwurf hieß es: „[...], daß in der Nikolaikirche wieder religiöse Veranstaltungen stattfinden.“ (StAL BT/RdB<br />
21961)<br />
696 Krenz leitete zu dieser Zeit eine DDR-Delegation in China. In seiner Rede rechtfertigte er von neuem den Einsatz<br />
des Militärs gegen die Demokratiebewegung (ND 05.10.1989).<br />
697 In diesem Zusammenhang wurden nach Protokoll J. Richter folgende Sätze zitiert: „Mörder unserer Hoffnung,<br />
342
Friedensgebeten spreche eine deutliche Sprache. Es kam zu beträchtlichen Störungen der öffentlichen<br />
Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit, wobei sogar 11 Volkspolizisten verletzt worden sind698 . Die Kirchenvertreter<br />
brachten ihre Achtung über das besonnene Verhalten der Volkspolizisten zum Ausdruck 699.<br />
Superintendent Richter äußerte die Meinung, der beste Weg zur Beherrschung der Lage mit den vielen<br />
Menschen vor der Nikolaikirche wäre es, noch weitere Kirchen für das Friedensgebet zu öffnen. Richter<br />
dann wörtlich: „Endlich müssen Sie den Leuten etwas sagen. Wir brauchen authentische Aussagen des<br />
Staates, damit die Bürger merken, es tut sich endlich etwas. Die Wahrheitsfrage in der Berichterstattung<br />
der Medien ist der Angelpunkt. Ein Beispiel ist die Beschwörung der traditionellen Fre<strong>und</strong>schaft DDR-<br />
China, obwohl hier 30 Jahre Funkstille .geherrscht hat700 . Das nimmt Ihnen niemand mehr ab. Und geht<br />
es dann um konkrete Daten zur DDR, glaubt uns der Bürger dieses erst recht nicht.“ Auch Bischof Dr.<br />
Hempel äußert Vorbehalte zur Medienpolitik <strong>und</strong> nahm Bezug auf den Beschluß der Synode des B<strong>und</strong>es<br />
der Ev. Kirchen in Eisenach701. Die weitere Diskussion führte der Vorsitzende auf das Hauptanliegen des Gesprächs zurück, nämlich auf<br />
die Notwendigkeit, das Friedensgebet in der Nikolaikirche so zu gestalten, daß es zur Beruhigung der<br />
angespannten Lage beiträgt. Bischof Dr. Hempel schilderte daraufhin die Bemühungen beim Pfarrertag702 vor wenigen St<strong>und</strong>en in Leipzig, der das Thema hatte, was nun werden soll. Die Darstellung der<br />
christlichen Auffassung werde nie vollkommen gelingen. „Wir haben hier andere Maßstäbe als der Staat.<br />
Setzen wir das Friedensgebet ab, wären Sie, Herr Doktor Reitmann, sehr zufrieden. Das ginge aber nur<br />
mit einer Erklärung von mir, über die ich mit einem Zehntel meines Gehirns Tag <strong>und</strong> Nacht beschäftigt<br />
bin. Diese Erklärung müßte aber stimmig sein. Ich fürchte aber, dieser Effekt ist nicht zu erreichen.“ 703<br />
Weiter äußerte der Landesbischof die Auffassung, wonach die Bevölkerung der DDR auf einen „kleinen<br />
Gorbatschow“ warte, auf Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit der Medien, auf eine offene Darstellung<br />
der tatsächlichen Situation, jawohl, auf Veränderungen „in unseren Farben“. In der Fortführung des<br />
Gesprächs wurde durch den Ratsvorsitzenden erreicht, daß der Landesbischof letztlich folgende Position<br />
bezog: „Eigentlich wollte ich heute sagen, ich komme nimmer mehr. Jetzt sage ich aber, es war gut, daß<br />
wir uns getroffen haben. Ich habe verstanden, daß es Ihnen um Konkretes zur Nikolaikirche geht. Ich höre<br />
gern, daß Sie sehr differenzieren zwischen dem im Friedensgebet Gewollten <strong>und</strong> den Dingen da draußen.<br />
Sie möchten, daß in der Nikolaikirche keine politischen K<strong>und</strong>gebungen stattfinden. Dies habe ich<br />
aufmerksam zur Kenntnis genommen.“<br />
Hempel schätzte, daß er an der Grenze seiner physischen Belastbarkeit angelangt sei, er könne des öfteren<br />
schon nicht mehr schlafen 704.<br />
Abschließend äußerte Genosse Opitz die dringende Bitte, daß das Friedensgebet am kommenden Montag<br />
von einem ausschließlich religiösen Text charakterisiert ist, der von einer geeigneten Persönlichkeit<br />
vorgetragen wird. Es entstand der Eindruck, daß der Landesbischof <strong>und</strong> die ihn begleitenden<br />
Persönlichkeiten die Ernsthaftigkeit der staatlichen Erwartungshaltung begriffen haben <strong>und</strong> darüber<br />
Diebe der Freiheit.“ <strong>und</strong> Wonnebergers „Kalaschnikow“ (in: Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 283).<br />
698 Im Entwurf folgte hier: „obwohl die Sicherheitskräfte mit viel Einfühlungsvermögen <strong>und</strong> Rücksicht gehandelt<br />
haben“ (StAL BT/RdB 21961).<br />
699 Im Entwurf hieß es: „Die Kirchenvertreter bestätigten die Wertung über das besonnene Verhalten der<br />
Volkpolizisten.“ (StAL BT/RdB 21961)<br />
700 Am 1.10. fand anläßlich des 40. Jahrestages der Gründung der VR China eine Festveranstaltung im Leipziger<br />
Rathaus statt. Dies wurde von den kritischen Bürgern als Drohung gewertet: „Die lernen jetzt von Chinesen, wie<br />
man das macht mit den Leuten auf der Straße.“ (Hempel in diesem Gespräch am 05.10.1989, in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 285).<br />
701 Auszug abgedruckt in: G. Rein (1990), 217-219<br />
702 s. Anm. 688<br />
703 Im Protokoll J. Richters von diesem Gespräch heißt es: „Wir können unter äußersten Bedingungen einen<br />
Gottesdienst in Nik. absetzen. Aber Schwelle ist sehr hoch. Dann müßte der Bischof eine sehr deutliche, die<br />
Probleme benennende Erklärung abgeben. Das werden nur wenige hören. Die meisten nicht verstehen. Es wird<br />
schlimmer als zuvor.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 285)<br />
704 Im Protokoll J. Richters von diesem Gespräch heißt es u.a.: „LB [Landesbischofl: Bittet um Schluß der Debatte<br />
mit Hinweis auf physische Grenzen.“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 286)<br />
343
nachdenken, wie sie als Kirche zur Entschärfung der explosiven Situation im Vorfeld des kommenden<br />
Friedensgebetes beitragen können. Allerdings machten sie keine eindeutige Aussage über konkrete<br />
Schritte, die sie einzuleiten gedenken. 705<br />
Nach dem Gespräch führte Hempel eine sofortige Auswertung mit den Superintendenten durch.<br />
Das Gespräch hat das angestrebte Ziel der klaren Darstellung der staatlichen Forderung erreicht <strong>und</strong> auf<br />
vielfache Weise die Kirchenvertreter zum Nachdenken veranlaßt. Die mehrfach geäußerte Bereitschaft,<br />
am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft kritisch mitzuwirken, sollte bei allen weiteren Maßnahmen des<br />
Staates im Zusammenhang mit der Nikolaikirche bedacht werden. Dafür steht Hempels Satz: „Ich denke<br />
voller Hochachtung an die Gespräche mit Herrn Honecker. Ich achte ihn sehr.“<br />
237 Stasi-Befehl<br />
Information (mit der handschriftlichen Aufschrift „Flugzeug“) vom Leiter der BV des MfS Leipzig,<br />
Hummitzsch, an alle Leiter der Kreisdienststellen des MfS vom 06.10.1989 mit dem Stempel-Vermerk:<br />
„Vertrauliche Verschlußsache 86/89,2. Ausfertigung, Blatt 1.“ Am rechten oberen Rand wurde „KD Stadt [/]<br />
B365“ vermerkt (ABL H 8).<br />
Ausgehend von der Entwicklung der politisch-operativen Lage, insbesondere in letzter Zeit aufgetretener<br />
provokatorisch-demonstrativer Handlungen <strong>und</strong> Vorkommnisse, ordert der Genosse Minister nochmals<br />
nachdrücklich, die Anreise aller Personen, von denen Gefahren ausgehen können, die bereits im<br />
Zusammenhang mit provokatorisch-demonstrativen Handlungen bzw. provokatorischen Forderungen<br />
aufgefallen sind, nach der Hauptstadt der DDR, Berlin, während des Aktionszeitraumes unter Nutzung<br />
aller Möglichkeiten <strong>und</strong> mit allen Mitteln konsequent zu verhindern. Das bezieht sich auch auf den<br />
7.10.89 bzw. 9.10.89 im Zusammenhang mit dem Montagsgebet in der Nikolaikirche. Personen, die im<br />
Zusammenhang mit den Maßnahmen zum Reiseverkehr nach der CSSR zurückgewiesen werden 706 , sind<br />
weiter unter Kontrolle zu halten. Es ist zu gewährleisten, daß diese Personen tatsächlich in ihre Heimatorte<br />
zurückkehren <strong>und</strong> an weiteren feindlich-negativen Aktivitäten gehindert werden. Die Wirksamkeit aller<br />
Vorkehrungen <strong>und</strong> Maßnahmen zur Sicherung von Veranstaltungen sind mit dem Ziel des rechtzeitigen<br />
Erkennens jeglicher provokatorisch-demonstrativer Handlungen, der Formierung <strong>und</strong> Ansammlung<br />
feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen. Feindlichnegative Aktivitäten sind mit allen<br />
Mitteln entschlossen zu unterbinden. Es ist zu prüfen, inwieweit die bereits eingeleiteten Maßnahmen<br />
unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der politisch-operativen Lage tatsächlich ausreichend sind.<br />
Ebenfalls ist nochmals die Bereitstellung aller Kräfte zu überprüfen. Bei Notwendigkeit sind weitere<br />
Reservekräfte bereitzustellen. Sie sind gründlich einzuweisen <strong>und</strong> zu instruieren, damit sie kurzfristig zum<br />
Einsatz gelangen können. Keine Überraschungen zulassen. Dem Gegner keine Möglichkeit geben, dort<br />
aktiv zu werden, wo er annimmt, daß wir da nicht sind.<br />
238 Kirchenbucheintragung<br />
Eintragungen aus dem Gästebuch VII der Nikolaikirche vom 06.10.1989 (Nikolaikirchgemeinde).<br />
Die Menschen, die uns in diesen Tagen verlassen, nennt man Verbrecher <strong>und</strong> Verräter, die Menschen, die<br />
hier bleiben wollen, nennt man konterrevolutionär <strong>und</strong> antisozialistisch! Wie aber soll man eine Regierung<br />
705 Der Entwurf endete hier mit dem abschließenden Satz: „Unter den gegebenen Umständen stellte das<br />
Gesprächsergebnis das gegenüber der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens momentan Erreichbare da[r].“ (StAL<br />
BT/RdB 21961)<br />
706 In der Nacht zum 3. Oktober wurde der visafreie Reiseverkehr in die CSSR aufgehoben. Ausreisewillige, die<br />
über die Prager Botschaft oder Ungarn gen Westen gelangen wollten, wurden schon an den Tage zuvor an den<br />
Grenzstationen an der Weiterfahrt gehindert, die Männer nicht selten inhaftiert. Ein Teil der Protestierenden in<br />
Dresden in den ersten Oktobertagen waren Reisende, die in Bad Schandau aus dem Zug geholt wurden <strong>und</strong><br />
wieder umkehren sollten.<br />
344
nennen, die diesen Staat <strong>und</strong> seine Menschen in eine so hoffnungslose Lage getrieben hat. [/] A. T.<br />
6.10.89<br />
Eines Tages wird man uns fragen: Was habt ihr getan, wie war euer Beitrag?! <strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>, wir brauchen uns<br />
nicht zu schämen. In dieser Kirche, in dieser Stadt schlägt das Gewissen der Nation. [/] J. Büttner<br />
Ich bin zwar kein junger Mensch, möchte mich aber den Beiträgen anschließen, denn das wie es jetzt ist,<br />
habe ich schon einmal durchgemacht u. denke mit Schauer daran zurück. [/] L. Wegner<br />
„Wir wollen beweisen, daß die Zeit noch Gutes leisten kann!“ [/] Interview m. K. Masur 707<br />
Was können wir beitragen, wenn die Angst uns zurückhält? [/] 6.10.89 D. Wagner<br />
Ich bleibe hier! Komme was da wolle. Ich will keine Lügen mehr! Komme, was da wolle! Ich bin gegen<br />
jede Art von Gewalt! Komme was da wolle. [Es folgt mit anderer Handschrift: Wann kommt Ihr?? [/] R.<br />
Pietsch] Lars Bagemild [... Es folgt eine Altenburger Adresse]<br />
Ich hoffe, das [sic!] die politischen Gefangenen ihre Freiheit wiedererlangen. Da ich weiß wie es gewesen<br />
ist. Ich war vom 1.5.1989 bis zum 30.9.89 in Haft. [/] Ralf Felden [... es folgt eine Altenburger Adresse]<br />
Ich bin ein Arbeiter, nach dem heutigen Artikel in der LVZ 708 habe ich Angst vor den<br />
Betriebskampfgruppen. [/] M. Litz [?] 6.10.89<br />
239 Staatlicher Ereignisbericht<br />
709<br />
Information vom Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Stadtbezirkes Südost der<br />
Stadt Leipzig, Büllesbach, vom 07.10.1989 über einen Gottesdienst am 07.10.1989 in der Trinitatiskirche. Auf<br />
der Kopie wurde am rechten oberen Rand „Gen. Jakel“ vermerkt (StAL BT/RdB 21726 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB<br />
22259).<br />
Zum Gottesdienst am 7.10.1989 kamen 6 gesellschaftliche Kräfte in der Kirche zum Einsatz. In der<br />
Kirche befanden sich ca. 350 bis 400 Personen. Damit war die Kirche total überfüllt. Der größte Teil der<br />
Besucher waren jüngere Leute, <strong>und</strong> auch eine größere Anzahl Familien mit Kindern nahmen daran teil.<br />
Vor der Kirche wurden ca. 10 PKW mit Erfurter Kennzeichen festgestellt. [/] Die Gemeinde wurde durch<br />
den Pfarrer Hammermüller begrüßt. Er sagte: „Zu unserem heutigen Gottesdienst begrüße ich alle unsere<br />
Gäste, die freiwilligen <strong>und</strong> unfreiwilligen.“ In seiner Ansprache ging er von dem Gr<strong>und</strong>satz „Du sollst<br />
Deine <strong>Feinde</strong> lieben!“ - Matthäus 6- aus. [/] „Die Genossen in den Betrieben soll keiner verdammen, alle<br />
stammen vom Herrn ab.“ Unter Bezugnahme auf die Ereignisse in der Innenstadt am 7.10.89 sagte der<br />
Pfarrer, daß die Kirche sich davon distanziert <strong>und</strong> sie keine Gewalt gutheiße. Es wurde die Frage gestellt<br />
„sollten wir diese Trunkenbolde <strong>und</strong> Randalierer um die Nikolaikirche nicht fassen, aus unserer Mitte<br />
vertreiben <strong>und</strong> den Sicherheitsorganen übergeben“? Es wurde der Standpunkt vertreten, daß Konfrontation<br />
nicht geeignet ist, die derzeitigen Probleme zu klären. Auch Provokationen wie „Buh-Rufe“ lösen keine<br />
Probleme.<br />
Danach wurden ca. 20 Namen verlesen von Bürgern, die derzeit in Haft sitzen. Es wurde nochmals klar<br />
zum Ausdruck gebracht, daß nur Ruhe <strong>und</strong> Besonnenheit derzeit helfen können. Danach wurden mehrere<br />
Kerzen entzündet.<br />
1. Kerze: Fürbitte für die Sicherheitsorgane<br />
2. Kerze: Fürbitte für die Inhaftierten<br />
3. Kerze: Fürbitte für die Umwelt, damit nicht alles abstirbt<br />
4. Kerze: Fürbitte für die jungen Soldaten <strong>und</strong> VP-Kräfte, damit sie nicht wirksam werden müssen, denn<br />
sie erleiden auch Qualen - innere <strong>und</strong> äußere.<br />
5. Kerze: Fürbitte, daß die Schützenpanzerwagen am Montag nicht zum Einsatz kommen müssen<br />
6. Kerze: Fürbitte für die Genossen oben, damit ihnen endlich ein Licht aufgeht<br />
7. Kerze: Fürbitte für einen Dialog, denn viele kritische Situationen haben wir schon gemeinsam<br />
707 Vermutlich ein Zitat aus dem ARD-Interview mit Masur am 02.10.1989, in dem dieser zur Situation in Leipzig<br />
<strong>und</strong> den Polizeieinsätzen gefragt wurde.<br />
708 s. Anm. 661<br />
709 Eine ähnliche Information liegt auch zum Gottesdienst am 30.09. von Büllesbach vor (StAL BT/RdB 21723).<br />
345
überstanden<br />
Es wurde darauf verwiesen, daß am Sonntag <strong>und</strong> Montag alle Kirchen der Innenstadt geöffnet sind. Er<br />
informierte, daß die Staatsorgane der Kirche nahegelegt haben, die Nikolaikirche zu schließen. Dies<br />
wurde abgelehnt, aber wieder mit dem Hinweis „wir wollen uns aber nicht mit den Krawallbrüdern<br />
identifizieren.“<br />
Der Pfarrer informierte über einen Standpunkt der Kirche zum „Neuen Forum“. Es soll ein<br />
Informationsblatt geben, welches die Gemeindemitglieder nach Möglichkeit vervielfältigen sollen <strong>und</strong><br />
verteilen sollen. In diesem Informationsblatt kommt der Standpunkt der Kirche zum „Neuen Forum“ zum<br />
Ausdruck.<br />
Es war uns nicht möglich, ein solches Informationsblatt zu beschaffen. Gegen 18.45 Uhr wurde der<br />
Gottesdienst beendet. Am Ausgang wurde noch eine Kollekte durchgeführt für die Bürger, die hohe<br />
Geldstrafen zahlen müssen.<br />
240 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Information vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen, vom 09.10.1989 über ein Gespräch<br />
zwischen Reitmann, Bischof Hempel <strong>und</strong> OKR Auerbach am 09.10.1989. Der Computerausdruck wurde von<br />
A. Müller unterzeichnet (StAL BT/RdB 21726 <strong>und</strong> in: StAL BT/RdB 22259 <strong>und</strong> 22377)<br />
Das Gespräch kam kurzfristig auf Wunsch von Bischof Dr. Hempel zustande. Für die Notwendigkeit gab<br />
der Bischof zwei Gründe an:<br />
1. der Fairneß <strong>und</strong><br />
2. der Verantwortung wegen, die zwar zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche unterschiedlich ist, die aber zum<br />
Handeln zwingt.<br />
Hempel teilte dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes für Inneres mit, daß er heute an<br />
dem Friedensgebet in der Nikolaikirche teilnehmen wird <strong>und</strong> ein Wort zu den Teilnehmern sprechen will.<br />
Er hält es für richtig, über den sinngemäßen Inhalt (er habe nichts Schriftliches vorbereitet) zu<br />
informieren. Er wolle dort folgendes sagen:<br />
1. daß nach seiner Überzeugung zwischen dem Staat <strong>und</strong> den Jungerwachsenen, die auf die Straße gehen,<br />
Gespräche notwendig sind, in denen sie über ihre Wünsche <strong>und</strong> ihre Verbitterung sprechen können,<br />
daß eine Schematisierung, wie sie zur Zeit im Fernsehen <strong>und</strong> in der Presse sichtbar wird, nichts bringt<br />
(alles unter Rowdytum einordnend) <strong>und</strong> daß er für die Freilassung der Inhaftierten, wenn sie keine<br />
Körperverletzung begangen haben, plädiert;<br />
2. daß nach der Überzeugung seines Glaubens er deutlich machen möchte, daß Besonnenheit <strong>und</strong> absolute<br />
Gewaltlosigkeit in der gegenwärtigen 710 brisanten Lage maßgebend sein müssen. Im Konfliktfall solle<br />
man lieber Gewalt in Kauf nehmen als Gegengewalt ausüben.<br />
Hempel machte in diesem Zusammenhang deutlich, daß er weiß, daß viele der Teilnehmer seinen Glauben<br />
nicht teilen, er aber auch an sie appelliert, der Zukunft <strong>und</strong> der Menschen willen nach der Andacht ruhig<br />
nach Hause zu gehen. [/] Die Regierung der DDR ist nach seiner Meinung souverän, <strong>und</strong> sie muß<br />
bestimmen, ob sie mit den Jungerwachsenen sprechen will oder nicht. Nach seiner Überzeugung gibt es<br />
zum Gespräch nur eine Alternative, <strong>und</strong> das ist die Gewalt. Er hält aber Besonnenheit für das<br />
Maßgebende. [/] Obwohl Staat <strong>und</strong> Kirche auf unterschiedlicher Ebene Verantwortung tragen, müßte der<br />
Staat sein Anliegen, was er mit seinem Wort bezwecken will, erkennen. Weiter kann er nicht gehen. Wenn<br />
der Rat des Bezirkes der Meinung ist, daß ein Dialog notwendig erscheint, so ist er bereit zu vermitteln. [/]<br />
Bischof Hempel gab aber zu bedenken, daß die Situation in Dresden eine andere ist als in Leipzig.<br />
Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres bedankte sich bei Dr. Hempel für dessen<br />
Bereitschaft <strong>und</strong> dessen Vertrauen. Dr. Reitmann äußerte, ausgehend von der derzeitigen Situation, die<br />
sich weiter zuspitzt, alles zu tun, um mit einem entsprechenden Wort seitens der Kirche die Situation zu<br />
beruhigen. [/] Gegenüber Hempel wurde deutlich gemacht, daß auch durch die Sicherheitsorgane solange<br />
Besonnenheit gewahrt wird, wie nicht demonstriert oder Gesetze verletzt werden. Er unterbreitete den<br />
710 Im Exemplar der Akte 22377 ist „gegenwärtig“ dick unterstrichen worden.<br />
346
kirchlichen Vertretern den Vorschlag, analog wie in Dresden am 8.10.1989, auch in Leipzig zu verfahren.<br />
Genosse Dr. Reitmann erklärte sich bereit, am Dienstag, dem 10.10.1989, mit ca. 20 Vertretern aus den<br />
kirchlichen Gruppen zu sprechen, wenn der Bischof mit Nachdruck dazu auffordert, notfalls auch auf dem<br />
Nikolaikirchhof per Mikrofon, daß die Teilnehmer friedlich den Platz verlassen <strong>und</strong> nach Hause gehen<br />
sollen. In diesem Zusammenhang informierte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates für Inneres den<br />
Bischof, daß in der Michaeliskirche am 8.10.1989 während der Fürbittandacht dazu aufgefordert wurde,<br />
heute nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche schweigend <strong>und</strong> mit erhobenen Händen durch die<br />
Stadt zu marschieren.<br />
Hempel <strong>und</strong> Auerbach gaben zu verstehen, daß sie davon nichts wüßten, sie sich aber sofort nach diesem<br />
Gespräch sachk<strong>und</strong>ig machen wollen. [/] Bischof Hempel verwies auf das stattgef<strong>und</strong>ene Gespräch mit<br />
dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen Wünschen <strong>und</strong> Hoffnungen. Ihm<br />
sei aber klar, daß wir das so nicht schaffen werden. Nach seiner Meinung stehen zwar Verbindungen zur<br />
Nikolaikirche - <strong>und</strong> diese spielt auch eine gewisse Rolle - aber nur bedingt, im Kern ist sie nicht der<br />
Verursacher der jetzigen Situation. Er versteht das Ansinnen des Staates, aber ihm stellt sich gleichzeitig<br />
die Frage, <strong>und</strong> das habe er auch schon zum 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden gesagt, wie es<br />
überhaupt weitergehen solle. Nach seiner Überzeugung gibt es nur zwei Wege, entweder reden oder die<br />
absolute Gewalt.<br />
Seitens Genossen Dr. Reitmann wurde Bischof Hempel darauf aufmerksam gemacht, daß in der Presse<br />
differenzierter zur Gesamtlage Stellung genommen wird. Er verwies auf die heutigen Veröffentlichungen<br />
in der Leipziger Volkszeitung <strong>und</strong> bezog sich insbesondere auf die Stellungnahme des Oberbürgermeisters<br />
der Stadt Leipzig, der darin bekräftigt, daß man nach wie vor am Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage des Gesprächs vom 6.3.1978 festhalten will. [/] Mit Nachdruck wurde nochmals die Bitte an<br />
Bischof Dr. Hempel gerichtet, sich im Friedensgebet sehr deutlich zu artikulieren, weil dies insgesamt<br />
sehr hilfreich sein könnte. Dr. Reitmann wiederholte nochmals seinen Vorschlag, den Leuten heute zu<br />
sagen, daß morgen mit einem ausgewählten Kreis von Vertretern aus kirchlichen Gruppen ein Gespräch<br />
mit ihm stattfinden kann.<br />
Bischof Hempel verwies darauf, daß dies für ihn eine neue Situation darstellt, wozu er sich mit den beiden<br />
Superintendenten erst verständigen muß. Das Angebot von Dr. Reitmann nimmt er dankend zur Kenntnis,<br />
möchte aber darauf hinweisen, daß man sich davon nicht viel versprechen sollte, da in Dresden eine<br />
andere Situation besteht als in Leipzig, sie ist hier diffuser.<br />
Er zittere schon um die Auswertung des Gesprächs mit dem Oberbürgermeister der Stadt Dresden, die<br />
heute in den Dresdener Kirchen stattfindet, denn das Gespräch war nicht so erfolgreich, was nach seiner<br />
Meinung auch nicht zu erwarten war.<br />
Bischof Hempel sicherte Genossen Dr. Reitmann zu, das Ergebnis der Beratung mit den beiden<br />
Superintendenten ihm sofort telefonisch zu übermitteln. Man werde sich auch überlegen, wie sein Wort<br />
den Gottesdienstteilnehmern in der Thomaskirche, Michaeliskirche <strong>und</strong> Ev. Reformierten Kirche<br />
mitgeteilt wird.<br />
Zum Abschluß des Gesprächs machte der Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes nochmals<br />
sehr eindringlich auf den Ernst der Situation aufmerksam <strong>und</strong> appellierte an die Wahrnehmung der<br />
Verantwortung des Bischofs.<br />
241 Staatliche Gesprächsnotiz<br />
Aktennotiz vom Rat des Bezirkes Leipzig, Bereich Kirchenfragen (Müller), vom 09.10.1989 über eine<br />
Information von OKR Auerbach (ABL H 53 <strong>und</strong> in: BArch 0-4 1117).<br />
Die im Gespräch am 9.10.1989 zugesagte Rückäußerung zum Vorschlag des Stellvertreters des<br />
Vorsitzenden des Rates für Inneres gegenüber Bischof Dr. Hempel erfolgte gegen 16.20 Uhr durch OLKR<br />
Auerbach.<br />
Er teilte folgendes mit:<br />
Heute sei in der Nikolaikirche wieder eine andere Situation. Die Kirche sei von einer großen Anzahl<br />
Nichtkirchenangehöriger besucht. Viele Gruppen seien seit 14.00 Uhr in die Kirche hineingegangen. Für<br />
347
sie als Kirche sei jetzt eine „merkwürdige Situation“ entstanden. Für sie sei die Sache sehr verworren,<br />
man sehe sich deshalb außerstande, über das Mikrofon zu den Teilnehmern zu sprechen. Der Bischof<br />
bleibt aber bei seinem Vorhaben, ein Wort an die Teilnehmer in der Kirche zu richten.<br />
242 SED-Information<br />
711<br />
Information des 2. Sekretärs der SED Stadtbezirksleitung Leipzig-Mitte, H. Günther, vom 09.10.1989 zur<br />
Lage in Leipzig (StAL SED IV F 02/061).<br />
Ausgehend von den Parteileitungssitzungen in den heutigen Morgenst<strong>und</strong>en, an denen<br />
Sekretariatsmitglieder <strong>und</strong> alle politischen Mitarbeiter unterstützend teilnahmen, wurde die<br />
Gesprächstätigkeit gezielt in den Arbeitskollektiven verstärkt, konkret festgelegt, welche Kader in<br />
welchen Kollektiven auftreten, um aufklärend <strong>und</strong> beruhigend zu wirken <strong>und</strong> eine Isolierung zu<br />
staatsfeindlichen Gruppierungen zu erreichen.<br />
Vielfach wurden in die Leitungssitzungen staatliche Leiter <strong>und</strong> die Vorsitzenden der Massenorganisationen<br />
einbezogen. Die Atmosphäre war sehr offen, die Genossen zeigten die erforderlichen Kampfpositionen, aber<br />
auch eine sehr kritische Haltung zur Qualität der Führungstätigkeit unserer Partei <strong>und</strong> ihrer<br />
Öffentlichkeitsarbeit. Die Erwartungshaltungen an die Rede des Generalsekretärs zum 40. Jahrestag waren<br />
größer (vergleiche konkret Information vom 08.10.89). Die Kompliziertheit der Lage wird generell erkannt,<br />
Bereitschaft zum Handeln <strong>und</strong> zur Bewahrung der sozialistischen Errungenschaften sind vorhanden, aber eine<br />
konkrete Anleitung zum Handeln wird erwartet, keine allgemeinkonkreten Ausführungen übergeordneter<br />
Organe. Hier verbindet sich auch die aus fast allen Bereichen kommende Forderung nach einer öffentlichen<br />
Äußerung der Parteiführung zur aktuellen Situation im Lande (Generalsekretär). Immer wieder kritisch<br />
angesprochen werden fehlende ZK-Informationen zu den brennenden Tagesfragen.<br />
Eine stärkere Zuwendung der Tagespresse zu den Zusammenrottungen in Leipzig wird begrüßt, jedoch<br />
entspricht die Qualität nicht den Erwartungen. So wird kritisiert, daß zu wenig Informationen <strong>und</strong> Fakten<br />
vermittelt werden über die Zusammensetzung der Demonstranten, ihre eigentlichen Ziele <strong>und</strong> über die<br />
Hintermänner. Vermißt wird Bildmaterial <strong>und</strong> Berichte über Angriffe auf bewaffnete Organe, damit der<br />
Medienrummel der BRD Lügen gestraft wird. Verbreitet ist die Meinung, daß über die Vorgänge in der DDR<br />
schnell <strong>und</strong> ausführlich in unseren Medien vor allem im Fernsehen berichtet werden muß, um mit der<br />
entsprechenden Parteilichkeit den BRD-Medien zuvorkommen, die zur Zeit die Lagekenntnis vieler Bürger<br />
bestimmen. „Ehrlicher mit den Menschen reden, sie ehrlicher informieren“, das sind immer wieder Positionen<br />
der Genossen, die darauf hinweisen, daß heute nichts mehr totgeschwiegen werden könne. In diesem<br />
Zusammenhang erwägt die Parteileitung der Handelshochschule, sich selbst an die Parteiführung zu wenden,<br />
wenn sich in den nächsten Tagen öffentlich in der Zeitung zur Lage in der DDR nicht geäußert wird.<br />
Unabhängig davon ist gegenwärtig eine intensive Aussprachetätigkeit in den Arbeitskollektiven in den Hoch-<br />
<strong>und</strong> Fachschulen <strong>und</strong> Volksbildungseinrichtungen im Gange, die in den nächsten Tagen fortgesetzt wird <strong>und</strong><br />
zum Inhalt hat, Dialog statt antisozialistische Demonstrationen als einziges Mittel zur Lösung anstehender<br />
711 Diese Information wurde von der SED-SL angefordert. Am 8.10. forderte die SED-BL mit folgenden Worten<br />
eine tägliche Berichterstattung der SED-Kreisleitungen: „Im Verlauf des gestrigen Tages kam es in Leipzig zu<br />
feindlichen Handlungen, die gegen die verfassungsmäßigen Gr<strong>und</strong>lagen unseres sozialistischen Staates gerichtet<br />
waren <strong>und</strong> die Bürger in höchstem Maße beunruhigen. Sie sind, wie mit euch bereits besprochen, mit allen<br />
Kräften <strong>und</strong> Mitteln zu unterbinden. Dazu sind die vom Sekretariat der BL beschlossenen Maßnahmen exakt<br />
durchzuführen. Es ist zu sichern: L Die weitere Arbeit der KEL, wo regelmäßig die Lage im Territorium<br />
eingeschätzt wird <strong>und</strong> notwendige Maßnahmen festzulegen sind. 2. Unverzügliche Informationen der Partei-,<br />
Gewerkschafts- <strong>und</strong> FDJ-Funktionäre sowie der Mitarbeiter der staatlichen Organe über die Lage in der Stadt<br />
bzw. im Kreis <strong>und</strong> Gewährleistung ihres offensiven politischen Auftretens vor Ort in allen Bereichen des<br />
gesellschaftlichen Lebens. 3. Sofortige regelmäßige Lageeinschätzung an die BL, Abteilung Parteiorgane zu -<br />
den politischen Aktivitäten [...] - die Wirksamkeit der gesellschaftlichen Kräfte sowie das gemeinsame Vorgehen<br />
mit den befre<strong>und</strong>eten Parteien [...] - Aktivitäten der Kirche <strong>und</strong> das Verhalten kirchlicher Kreise. [...] - Die<br />
Situation auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung, der ges<strong>und</strong>heitlichen Betreuung <strong>und</strong> des<br />
Berufsverkehrs.“ (StAL SED A 4971)<br />
348
Fragen. In allen Fach- <strong>und</strong> Hochschulen unseres Stadtbezirkes führten die Lehrkräfte <strong>und</strong><br />
Parteileitungsmitglieder Gesprächsr<strong>und</strong>en mit Studenten in den Internaten, in den oberen Klassen <strong>und</strong> der<br />
Lehrlingsausbildung wurde die Überzeugungsarbeit massiv geführt <strong>und</strong> zeigte auch in der Mehrzahl der<br />
Einrichtungen positive Wirkungen. Fragen im einzelnen:<br />
− Entsetzen der Schüler <strong>und</strong> Lehrer über die Demonstrationen, warum steht nichts in den Medien?<br />
− Wer sind die Leute, wer zerstört? Sind das alles Staatsfeinde? - Sorge <strong>und</strong> Angst der Eltern um die<br />
Kinder?<br />
− Hätte man Gegner nicht eher isolieren sollen, bevor sie in den Untergr<strong>und</strong> gehen?<br />
Als absoluter Schwerpunkt im Stadtbezirk kristallisieren sich die Berufsschulen des VTK, des<br />
Datenverarbeitungszentrums <strong>und</strong> des Baukombinates Leipzig „BBS Makarenko“ heraus, in denen die seit<br />
Tagen geführte Diskussion durch Genossen Lehrkräfte nicht bei Lehrlingen fruchten. Hier sind die Lehrlinge<br />
nicht dialogfähig <strong>und</strong> zeigen Reaktionen bis zur Trotzhaltung bezüglich der Demonstrationen in Leipzig.<br />
Äußerungen von Jugendlichen: „Ruhe an Nikolaikirche wird erst durch Eingreifen der Staatsorgane verletzt,<br />
auf dem Boden Liegende würde eingeschlagen <strong>und</strong> vor Kindern auch keine Rücksicht genommen.“ Hier<br />
zeigt sich insgesamt, daß konkrete Ziele <strong>und</strong> Zielrichtungen sowie Hintermänner oppositioneller<br />
Gruppierungen bei Jugendlichen nicht bekannt sind, unklar sind <strong>und</strong> die Aufrufe des Neuen Forums in<br />
ihrer ganzen Demagogie Jugendliche ansprechen <strong>und</strong> für ihre Zwecke mißbrauchen. In den Hoch- <strong>und</strong><br />
Fachschulen <strong>und</strong> Betriebsschulen wird die Stimmung mit Beklommenheit, Ratlosigkeit <strong>und</strong> einem<br />
spürbaren Vertrauensschw<strong>und</strong> charakterisiert.<br />
Meinungen der Werktätigen in den Betrieben <strong>und</strong> Einrichtungen:<br />
− Zusammenrottungen müssen ein Ende haben.<br />
− VerurteilungantisozialistischerDemonstrationensindungeeignet,bestehendeProbleme zu lösen -<br />
besseres Mittel der Dialog.<br />
− Herangehen der Polizei am 8.10.89 vorerst zu hart.<br />
− Angst vor Eskalation der Gewalt.<br />
In diesem Zusammenhang ebenfalls konkrete Ansprüche an die Medienpolitik, wobei die Darstellung des<br />
Artikels über die Verurteilung kriminell Vorbestrafter als nicht befriedigend bewertet wird, da nicht alle<br />
Betroffenen kriminell sind. Nicht zu übersehen sind in persönlichen Gesprächen mit Genossen<br />
Äußerungen, daß über personelle Veränderungen der Partei- <strong>und</strong> Staatsführung nachgedacht werden sollte<br />
(z.B. Stadtreinigung, Komb. Getreidewirtschaft u.a.). Über weiter angesprochene Probleme, insbesondere<br />
zur wirtschaftlichen Stärkung unseres Landes, informieren wir am 10.10.1989.<br />
Zu Handel <strong>und</strong> Versorgung<br />
In den Kaufhallen unserer zwei Warenhäuser verlief die Versorgung am heutigen Tag normal, Waren des<br />
täglichen Bedarfs <strong>und</strong> der M<strong>und</strong>produktion waren gut gesichert. Fleisch- <strong>und</strong> Gemüsekonserven nach wie<br />
vor nicht genügend im Angebot, aber nicht neu. K<strong>und</strong>enstrom <strong>und</strong> Abkauf gestaltete sich normal.<br />
Stimmung der Werktätigen durch zugespitzte Arbeitskräftesituation belastet. Darüberhinaus Befürchtung<br />
wegen Abendst<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Angst um eigene Ges<strong>und</strong>heit. Letzteres betrifft insbesondere kleine<br />
Verkaufsstellen im Stadtzentrum. Große Objekte wie Konsument „Am Brühl“ <strong>und</strong> „Centrum-Warenhaus“<br />
waren gesichert. Ansonsten wurde nach Weisung verfahren. Ab 15.00 Uhr in kleineren Verkaufsstellen<br />
des Stadtzentrums traten gezielte Provokateure im Alter zwischen 18 bis 40 Jahren auf, die mit abfälligen<br />
provozierenden Äußerungen über Preise, Warenangebot <strong>und</strong> Qualität sich äußerten, Stimmung gegen<br />
Verkäuferinnen machten bis hin zur Bemerkung: „Na ja, es kommt ja bald anders!“ Entsprechend der<br />
konkreten Lage werden die Maßnahmen zur gezielten Aussprachetätigkeit in den Arbeitskollektiven <strong>und</strong><br />
mit Jugendlichen in den nächsten Tagen fortgesetzt.<br />
Friedensgebet am 09.10.1989<br />
Texte aus dem Friedensgebet sind schon veröffentlicht. Begrüßung (Hanisch et al., 40), Erklärung der<br />
Konferenz der katholischen Priester des Dekanates Leipzig (ebenda), Erklärung der Arbeitsgruppen<br />
Menschenrechte <strong>und</strong> Gerechtigkeit (Kuhn (1992), 83f J, „Aufruf der Sechs“ (Lange, Masur, Meyer, Pommert,<br />
Wötzel, Zimmermann - Hanisch et al., 52), Bericht zweier Mitglieder der Dresdner „Gruppe der 20“ (Kopie<br />
349
im ABL), Rede Bischof Hempels (Hanisch et al., 51f.), Predigt G. Weidel (ebenda 43-46), Texte der<br />
Gottesdienste in den anderen Kirchen (ebenda 47-59). Zur Demonstration s. Zwahr (1993), 79-102 <strong>und</strong> dort<br />
angegebene Literatur.<br />
243 Stasi-Notizen<br />
Notizen des Referatsleiters des Referates XX/7 zur Referatsleitersitzung der Abteilung XX der BV Leipzig<br />
des MfS am 09.10.1989, 19.00 Uhr (BStU Leipzig, AB 1056, 52).<br />
[...] op. Lage<br />
− Zug Marsch K-M-PI – Georgiering<br />
keine Gewalt / GS [Generalsekretär E. Honecker] / Hempel / Masur<br />
− Handzettel sorgt für friedl. Verlauf NF<br />
714<br />
244 SED-Information<br />
712 713<br />
Bericht des Sekretärs der SED-Stadtleitung Leipzig, Abteilung Agitation/Propaganda (Buschmann), vom<br />
10.10.1989 „über die Einschätzung zum Gottesdienst am 9.10.1989 in der Nikolaikirche“ (StAL SED A<br />
5126).<br />
Die eingesetzten Genossen betraten in Gruppen zwischen 13.30 Uhr <strong>und</strong> 14.00 Uhr das Mittelschiff der<br />
Nikolaikirche 715.<br />
Zu diesem Zeitpunkt waren die Emporen der Kirche<br />
noch geschlossen.<br />
Ein Kirchendiener bemerkte dazu: „Wir haben eine neue Situation, deshalb sind die Emporen noch<br />
geschlossen.“ Später wurden die Emporen geöffnet mit der Bemerkung: „ Sie werden jetzt geöffnet, damit<br />
gläubige Menschen am Gottesdienst teilnehmen können.“ Daraus läßt sich schließen, daß mit einem<br />
größeren Besuch unsererseits gerechnet wurde. Während der gesamten 3 St<strong>und</strong>en Vorbereitung zum<br />
712 Rede J. Hempels abgedruckt in: Kuhn (1992), 124f.<br />
713 K. Masur hatte die „Erklärung der sechs“ (Kuhn (1992), 122f.) über den Stadtfunk, welcher Lautsprecher am<br />
Leipziger Innenstadtring stehen hatte, verlesen. H. Hackenberg hat diesen Aufruf am 9.10. per chiffriertem<br />
Fernschreiben an E. Krenz gesandt (StAL SED A 4972). In der Mitteilung an das ZK vom folgenden Tag heißt es<br />
u.a.: „In Abstimmung mit dem 2. Sekretär der Bezirksleitung führten die Sekretäre der Bezirksleitung Pommert,<br />
Wötzel <strong>und</strong> Meyer ein gemeinsames Gespräch mit den 3 Bürgern [Masur, Lange, Zimmermann]. Ziel war es, sie<br />
zu bewegen, sich an die Bevölkerung Leipzigs zu wenden, um Besonnenheit <strong>und</strong> vernünftiges Verhalten für die<br />
zu erwartende abendliche Demonstration zu erreichen. [...] Im Verlauf der harten Diskussion bestand zweimal die<br />
Gefahr, daß die Aussprache durch die Kollegen Masur, Lange <strong>und</strong> Zimmermann abgebrochen würde, wenn in<br />
den notwendigen Dingen nicht auch die Regierung unseres - wie sie immer wieder betonten-Landes einbezogen<br />
ist. [...]“ (FS Nr. 529 vom 10.10., 8.00 Uhr- StAL SED 4972)<br />
714 Gemeint sind die über 1000 Flugblätter des Neuen Forums <strong>und</strong> der Basisgruppen, abgedruckt u.a. in Kuhn<br />
(1992), 82-84<br />
715 „Gesellschaftliche Kräfte“ wurden schon vorher in die Kirche geschickt. Das Besondere am 09.10.1989 war, daß<br />
2000 in die Kirche gehen sollten (s. Entschluß des Chefs der BDVP, der in Abstimmung mit der BEL <strong>und</strong> dem<br />
Ministerium des Innern durchgeführt wurde, teilweise abgedruckt in: Kuhn (1992), 48-51, dort 50). Es gab unter<br />
den „eingesetzten Genossen“ einige, die als „dialogfähig“ eingeschätzt wurden <strong>und</strong> Gesprächsführer sein sollten.<br />
R. Wötzel (Sekretär der SEDBL) behauptete später, er habe vorgehabt, in der Kirche, vermittelt durch einen der<br />
eingesetzten Professoren, den Dialog anzubieten (Kuhn (1992), 113). Pf. Führer schätzt, daß 600 Genossen in der<br />
Kirche gewesen waren (ebenda, 12 1). Über die Aktion, die Genossen in die Kirche zu schicken, urteilte H.<br />
Hackenberg 14 Tage danach so: „<strong>und</strong> wir sind in die Kirche gegangen, Genossen, <strong>und</strong> ich muß sagen, es war<br />
falsch, wir saßen drin <strong>und</strong> die standen draußen.“ (in der Diskussion auf der BL-Sitzung am 24.10.1989 - StAL<br />
SED A 5552). Zum Einsatz der „gesellschaftlichen Kräfte“, s.a. H. Wagner, in: Neues Forum Leipzig, 88-90, <strong>und</strong><br />
Ursula W., in: Brink (1991)<br />
350
Gottesdienst herrschte in der Kirche Ruhe bei leisen Gesprächen: Provokationen bzw. gegenseitiges<br />
Aufwiegeln war nicht zu bemerken. Unsere Genossen haben durch ihre Ruhe <strong>und</strong> Besonnenheit bei den<br />
Vertretern, die regelmäßig an den Gottesdiensten teilnehmen, Wirkung hinterlassen.<br />
Die Genossen teilten zum Gottesdienst folgende inhaltliche Fakten mit:<br />
1. Die Friedensgruppe Nord zeigte im Gottesdienst Leserbriefe aus der LVZ, darunter auch den Brief des<br />
Kampfgruppenkommandeurs716 . Wert wurde auch auf die Briefe gelegt, die ein Dialogangebot<br />
signalisierten. Darunter der Standpunkt von N. Molkenburg717, Verlagsdirektor Edition Peters.<br />
2. Es traten zwei Vertreter aus Dresden auf, die im großen <strong>und</strong> ganzen sachlich über die Ereignisse in<br />
Dresden informierten. Besonders positiv wurde aufgenommen, daß 25 Vertreter von kirchlichen<br />
Gruppen ausgewählt worden sind <strong>und</strong> der OBM Bereitschaft zeigte, mit ihnen zu sprechen.<br />
3. Der Standpunkt von Prof. Kurt Masur, den auch der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der Pfarrer Dr.<br />
Zimmermann <strong>und</strong> die Sekretäre der Bezirksleitung Roland Wötzel, Kurt Meyer, Jochen Pommert<br />
unterzeichneten, wurden in der Kirche unter Angabe aller Namen als Dialogangebot verlesen <strong>und</strong><br />
erhielt von allen Teilnehmern in der Kirche starken, entsprechend der Einschätzung der Genossen,<br />
frenetischen Beifall.<br />
4. Landesbischof Dr. Hempel betrat erst im Verlauf des Gottesdienstes die Nikolaikirche, weil er bereits<br />
zuvor in der Thomaskirche, Nord-Kirche <strong>und</strong> der Reformierten Kirche gepredigt hatte. Er informierte<br />
darüber, daß er vom Stellv. des Rates des Bezirkes auch Gesprächsangebote erhalten habe. Dazu<br />
bemerkte er: „Wir werden es überschlafen <strong>und</strong> Formen dazu finden.“ Während des Gottesdienstes<br />
wurden die Aussagen bestätigt, daß die SED an den entscheidenden Stellen sitzt, „Wir wollen auch mit<br />
denen diskutieren“ Es wurden die Fehler angemahnt, die täglich begangen werden, auch in der Kirche.<br />
Landesbischof Hempel sprach sich dafür aus, den Kopf als Kapitän des Menschen zu nehmen.<br />
Anschließend appellierte er an die Ordnungskräfte <strong>und</strong> umgekehrt, keine Konfrontation <strong>und</strong> Gewalt<br />
anzuwenden. Er forderte alle auf, nicht hastig, aber zügig nach Hause zu gehen.<br />
Entsprechend der Orientierung kam es zu einigen Gesprächen zwischen ausgewählten Genossen <strong>und</strong><br />
Teilnehmern am Gottesdienst. In einem Gespräch wurde über eine Aussage von Vertretern des „Neuen<br />
Forum“ diskutiert, daß eine neue vierseitige Plattform in Ausarbeitung ist, die ein Bekenntnis zum<br />
Sozialismus <strong>und</strong> einen Standpunkt zur Notwendigkeit des Erhaltes von 2 deutschen Staaten beinhalten<br />
würde 718.<br />
Prof. Kurt Reibrich hatte ein Gespräch mit 2 Musikstudenten aus Leipzig, denen er erneuten Kontakt<br />
zusagte. Um ein Gespräch bemühte sich auch der schon bekannte Jochen Lässig, Organisator der nicht<br />
genehmigten Straßenmusik, der sich auch in der Kirche aufhielt.<br />
Zusammenfassend machten die vorbereiteten Genossen [/] Prof. Dr. Held, Vors. BL des KB, [/] Prof. Dr.<br />
Kurt Starke, Jugendforschungsinstitut Leipzig, [/] Prof. Dr. Bernd Okun <strong>und</strong> Prof. Dr. Neuhaus, beide<br />
KMU, [/] auf folgende Punkte aufmerksam:<br />
1. Der Ablauf des Gottesdienstes hat einen guten Beitrag dazu geleistet, daß die Bereitschaft, einen<br />
sinnvollen Dialog zu führen, zugenommen hat.<br />
2. Aus ihrer Sicht sollte die Nikolaikirche nicht mit der im Zusammenhang mit antisozialistischen<br />
Gruppierungen gebracht werden.<br />
3. Unverzüglich sollte sich eine Vielzahl von Dialogpartnern, darunter Verantwortliche von staatlichen<br />
Organen, Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens <strong>und</strong> auch anerkannte Professoren zum Dialog,<br />
besonders mit Jugendlichen, zur Verfügung zu stellen.<br />
In den nächsten Tagen sollte man sich auch über konkrete Themen verständigen, die im Gespräch<br />
716 s. Anm. 661<br />
717 Darin hieß es u.a.: „Ich bin für sachlichen Dialog, aber der ist auf der Straße, unter dem Druck <strong>und</strong> Zwang<br />
solcher Ausuferungen, nicht zu führen.“ (Brief ist abgedruckt in: Neues Forum Leipzig (1989), 79)<br />
718 C. Dietrich erinnert sich, daß es am Abend des 9.10. nach der Demonstration in der Wohnung von M. Arnold mit<br />
R. Schult (Neues Forum, Berlin) in der Diskussion vor allem darum ging, ob die „Deutsche Frage bzw. Einheit“<br />
„nun“, d.h. nach der geglückten Demonstration, thematisiert werden sollte. R. Schult lehnte dies mit Verweis auf<br />
die „Berliner“ Position des Neuen Forums (sogenannter „Offener Problemkatalog“ des Neuen Forum, abgedruckt<br />
u.a. in: Rein [1990]) ab.<br />
351
ehandelt werden sollen.<br />
4. Prof. Okun erklärte sich bereit, auch in der Presse seinen Standpunkt zu Fragen der Dialogführung zu<br />
äußern.<br />
Während des Gottesdienstes wurden in der Kirche Aufrufe des Neuen Forums <strong>und</strong> ein Liedblatt für das<br />
Friedensgebet ausgegeben.<br />
Text: „Neues Forum“ Aufruf 719<br />
Das Neue Forum ruft alle Menschen auf, die mit ihm sympathisieren: Gewalt ist keine Form der<br />
politischen Auseinandersetzung! Laßt euch nicht provozieren! Wir haben nichts zu tun mit rechtsradikalen<br />
<strong>und</strong> antikommunistischen Tendenzen. Wir wollen den offenen Dialog, den besonnenen Dialog, ernstes<br />
Nachdenken über unsere Zukunft, keine blinden Aktionen. Angesichts der gegenwärtigen kritischen<br />
Situation rufen wir alle Menschen der DDR zu verantwortlichem, solidarischem Denken <strong>und</strong> Handeln auf!<br />
4.10.1989 Die Sprecherinnen <strong>und</strong> Sprecher des Neuen Forums“.<br />
245 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Information vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig, Opitz, an den Vorsitzenden des Ministerrates<br />
der DDR, Stoph, vom 09.10.1989 über das Friedensgebet am 09.10.1989 in Leipzig. Dieser Brief ist die<br />
wörtliche Übernahme eines Telegramms des 2. Sekretärs der Bezirksleitung der SED, H. Hackenberg, an das<br />
Zentralkomitee der SED, Abteilung Parteiorgane, Sektor Parteiinformation. Im Dokument sind diese<br />
Adressaten <strong>und</strong> Absender durchgestrichen <strong>und</strong> Stoph bzw. Opitz per Hand eingesetzt worden 720 (StAL<br />
BT/RdB 22377).<br />
[gez.] Werter Genosse Vorsitzender!<br />
Am Montag, dem 09.10.1989, fanden in 4 Leipziger Kirchen (Nikolaikirche, Reformierte Kirche,<br />
Michaeliskirche <strong>und</strong> Thomaskirche) 17.00 Uhr sogenannte Friedensgebete statt. Bereits während der<br />
sogenannten Friedensgebete <strong>und</strong> danach formierten sich an unterschiedlichen Straßen <strong>und</strong> Plätzen der<br />
Leipziger Innenstadt mehrere 10.000 Bürger, die sich nach den sogenannten Friedensgebeten mit den<br />
Teilnehmern zu einem gemeinsamen Demonstrationszug durch die Leipziger Innenstadt über Karl-Marx-<br />
Platz, Georgi-Ring, Tröndlin-Ring, Dittrich-Ring <strong>und</strong> danach wieder in Richtung Hauptbahnhof<br />
bewegten. Mindestens 5000 Teilnehmer kamen allein mit der Eisenbahn aus anderen Städten der DDR.<br />
Aus vorliegenden Informationen ist die Teilnahme aus den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt, Gera,<br />
Cottbus <strong>und</strong> Berlin verbürgt.<br />
Offensichtlich unter dem Eindruck hoher gesellschaftlicher Aktivität progressiver Bürger, der Wirkung<br />
der Veröffentlichungen in der LVZ, besonders vom 09.10., über rowdyhafte Ausschreitungen am 02.10.<br />
<strong>und</strong> 07.10. sowie der starken Präsents [sic!] der Deutschen Volkspolizei <strong>und</strong> der Kampfgruppen der<br />
Arbeiterklasse handelten die Teilnehmer des Demonstrationszuges ohne Gewaltanwendung.<br />
Von einem großen Teil der Teilnehmer wurden solche Worte gerufen wie: „Keine Gewalt“ [/] „Schließt<br />
euch an“ [/] „Wir sind das Volk“ [/] „Gorbi, Gorbi“ [/] „Für Reformen Reformen“ [/] „Forum zulassen“.<br />
Ihre Hauptlosung, die sie auch in Flugblättern <strong>und</strong> auf Transparenten zum Ausdruck brachten, war: [/]<br />
„Enthaltet euch jeder Gewalt.“<br />
Der Demonstrationszug löste sich selbständig gegen 20.30 Uhr ohne Ausschreitungen <strong>und</strong> Vorkommnisse<br />
auf. Die gesellschaftlichen Kräfte sowie die Einsatzkräfte der Schutz- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane bewiesen<br />
eine hohe Einsatzbereitschaft, politisches Verantwortungsbewußtsein <strong>und</strong> vorbildliche Pflichterfüllung.<br />
Der gesamte Einsatz erfolgte unter straffer Führung der Partei. Das Zusammenwirken der Schutz- <strong>und</strong><br />
Sicherheitsorgane mit den anderen staatlichen Organen war jederzeit gewährleistet. Positiv wirkten sich<br />
die aktiven Gespräche mit Bischof Hempel, den Vertretern des Landeskirchenamtes <strong>und</strong> den Leipziger<br />
Superintendenten aus.<br />
719 vgl. die beiden Flugblätter, die an diesem Tag in den Kirchen <strong>und</strong> während der Demonstration verteilt wurden<br />
(Kuhn (1992), 82-84). Die zitierte Erklärung liegt im ABL H 17.<br />
720 vgl. a. MfS, ZAIG, Nr. 452/89, in: Kuhn (1992), 140f.<br />
352
Es wird eingeschätzt, daß der Einsatz sein Ziel erreicht hat.<br />
246 Staatlicher Ereignisbericht<br />
Information vom Staatssekretär für Kirchenfragen vom 10.10.1989 an das ZK der SED über das<br />
Friedensgebet am 09.10.1989 Leipzig. Die Information wurde von Löffler unterzeichnet (SAPMO-BArch IV<br />
B 2/14/71).<br />
Am 9. 10. 1989, gegen 20.30 Uhr teilte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Leipzig, Genosse Rolf<br />
Opitz, mit 721:<br />
Am 9.10.1989 fand zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />
Bezirkes Leipzig für Inneres ein Gespräch über die abendlichen „Friedensgebete“ in den fünf Leipziger<br />
Kirchen statt. Hempel habe nach dem Dresdener Beispiel vom 08.09. 1989 vorgeschlagen, daß er in den<br />
Kirchen den Teilnehmern die Dialogbereitschaft des Staates mitteilt, zu Geduld mahnt <strong>und</strong> aufruft, nach<br />
dem Gottesdienst ruhig nach Hause zu gehen. Nach gegebener Zustimmung hat Hempel in den fünf<br />
Kirchen persönlich das von ihm zugesagte Angebot realisiert.<br />
Ein weiteres Angebot des Rates des Bezirkes, am 10.10. 1989 mit Vertretern der Kirchenleitung ein<br />
Gespräch über die bestehende Lage <strong>und</strong> Vorschläge zur Beruhigung zu führen, wurde von Hempel später<br />
mit der Begründung abgelehnt, daß durch „Einschleusen von nicht bestimmbaren Gruppen eine<br />
unübersichtliche Lage“ entstanden sei. Im Anschluß an die Friedensgebete hat sich eine Demonstration<br />
formiert, die bis auf ca. 50.000 Teilnehmer angewachsen war <strong>und</strong> durch die Innenstadt von Leipzig<br />
marschiert. In Übereinstimmung mit Genossen Egon Kreuz greifen die Ordnungskräfte nicht ein, solange<br />
keine gewaltsamen Aktionen aus der Demonstration heraus stattfinden. Nach einiger Zeit sei festzustellen<br />
gewesen, daß zahlreiche Teilnehmer die Demonstration verlassen. Gegen 22.30 Uhr hatte sich die<br />
Demonstration aufgelöst. Materielle Schäden sind nicht entstanden.<br />
721 s. Dok. 240<br />
353
Anhang
Institutionen, Organisationsstrukturen <strong>und</strong> Ereignisse<br />
Beratung beim 1. Sekretär<br />
Mit Hilfe sogenannter Beratungen bzw. „Führungsgruppen“ sicherte sich der 1. Sekretär der jeweiligen<br />
SED-Leitung den direkten Einfluß bei Vorgängen, die „Sicherheitsfragen“ berührten. So wurde z.B. zur<br />
Absicherung des Kirchentages solch eine Koordinierungsgruppe beim 1. Sekretär der SED-BL<br />
eingesetzt 1 , sie diente vermutlich vor allem der Koordinierung zwischen den zentralen Behörden (StfK,<br />
HA XX) <strong>und</strong> den Bezirksbehörden. Unabhängig von den Beratungen beim 1. Sekretär gab es im Bezirk<br />
auf verschiedenen Strängen eine laufende Abstimmung. Z.B. waren SED-BL <strong>und</strong> RdB in benachbarten<br />
Gebäuden. Der Abteilungsleiter der SED-BL für Sicherheit, K.H. Reinhard, war zugleich „Offizier im<br />
besonderen Einsatz“ des MfS <strong>und</strong> vertrat regelmäßig die SED-BL in der BV des MfS 2 . Die Chefs der<br />
Bezirksbehörden von Polizei, MfS <strong>und</strong> Armee <strong>und</strong> der Vorsitzende des RdB waren zugleich Mitglieder<br />
der SED-BL.<br />
Bezirkssynodalausschuß (BSA)<br />
Der Bezirkssynodalausschuß entstand, nachdem es in Leipzig einige politisch-alternative kirchliche<br />
Gruppen gab, in denen keine Pfarrer mitarbeiteten. Da deutlich wurde, daß die Bindung der Gruppen an<br />
eine Gemeinde dem gesamtgesellschaftlichen Anspruch der Gruppen nicht entsprach 3 , versuchte Sup.<br />
Magirius, eine Anbindung der Gruppen an die Superintendentur zu erreichen. Dafür wurde im Rahmen<br />
der Bezirkssynode Leipzig-Ost ein Ausschuß gebildet. Es wurde der „Bezirkssynodalausschuß für<br />
Friedensdienst, Umweltschutz <strong>und</strong> Dritte Welt“ (später einfach „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“) geschaffen,<br />
dessen Einrichtung auf der ersten Sitzung der 6. Bezirkssynode Leipzig-Ost am 2. November 1985<br />
beschlossen wurde 4 . Als Mitglieder wurden u.a. die Pfarrer Berger, Mühlmann <strong>und</strong> Wonneberger<br />
gewählt. Einen konkreten Auftrag für den Ausschuß weist das Protokoll der konstituierenden<br />
Bezirkssynodensitzung nicht aus. Die Bezirkssynodalen verstanden den Beschluß als eine Reaktion auf<br />
den Beschluß der Synode des BEK vom September 1985, der die Gemeinden zur Mitarbeit an einem<br />
„Konzil“ für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung aufrief 5 . Der Ausschuß war<br />
ökumenisch ausgelegt, d.h., in ihm arbeiteten auch katholische Gruppen <strong>und</strong> in der Ephorie Leipzig-West<br />
beheimatete Gruppen mit. Zum Vorsitzenden des BSA wurde Pf. Berger gewählt. Er hat als inoffizieller<br />
Mitarbeiter der Stasi („Carl“) eine wichtige Funktion im Sicherheitskartell gegenüber Kirche <strong>und</strong> Gruppen<br />
gespielt 6 . Pf. Berger wollte, daß der Ausschuß Kontakt zu allen Leipziger Gruppen aufnimmt, die<br />
Gestaltung der Friedensgebete koordiniert <strong>und</strong> die Öffentlichkeitsarbeit der Gruppen zensiert (s. Dok. 20).<br />
Im BSA waren - ähnlich wie später bei den ökumenischen Versammlungen - gewählte Kirchenvertreter<br />
(Bezirkssynodale) <strong>und</strong> Gruppenvertreter formal gleichberechtigt. Faktisch war der BSA jedoch ein<br />
Meinungsbildungsorgan, welches selber nur so weit Kompetenzen hatte, wie sie ihm von der<br />
Bezirkssynode bzw. dem Superintendenten zugestanden wurden. Im BSA waren 1986/87 AG<br />
Umweltschutz, Jugendpfarramt, Frauen für den Frieden, AG Friedensdienst, Initiativgruppe Hoffnung<br />
1 In einem Bericht der Informationsgruppe beim RdB über den Leipziger Kirchentag 1989 heißt es z.B.: „Die unter<br />
Leitung des 2. Sekretärs [der 1. Sekretär war krank] der Bezirksleitung der SED tätige Führungsgruppe<br />
gewährleistete das koordinierte, einheitliche Vorgehen der Partei-, Staats- <strong>und</strong> Sicherheitsorgane, organisierte<br />
<strong>und</strong> leitete den Einsatz der gesellschaftlichen Kräfte, sicherte eine ständige operative Einflußnahme <strong>und</strong> eine<br />
einheitliche Information.“ (StAL BT/RdB 38326) s. a. S. 472ff.<br />
2 BStU Leipzig AB 3843, 134<br />
3 Magirius (1990b), 9<br />
4 vgl. a. Feydt/Heinze/Schanz, 123 f., Magirius (1990b), 9, Kopie des Beschlusses bei den Herausgebern<br />
5 s. unter Konziliarer Prozeß, S. 482. Am 28. 04.1987 wurde im BSA ausdrücklich auf den Stadtökumenekreis<br />
Dresden als Vorbild verwiesen (ABL H 35).<br />
6 s. Anm. 90 <strong>und</strong> Dokumente 22, 40, 59, 87<br />
355
Nicaragua, Friedenskreis Grünau/Lindenau, der Friedenskreis Gohlis, die IG Leben <strong>und</strong> die AG<br />
Menschenrechte vertreten. Nachdem die Friedensgebete zu Massenveranstaltungen (Anfang Februar<br />
1988) geworden waren, beantragten eine Reihe weiterer Gruppen ihre Aufnahme, um einen Vertreter in<br />
den BSA entsenden zu können <strong>und</strong> die Friedensgebete mitgestalten zu können. Folgende Gruppen wurden<br />
1988 in den BSA aufgenommen (in der Reihenfolge ihrer Aufnahmeanträge): CFK Jugendgruppe, AK<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, AK Treff für Haftentlassene, Leipziger Bezirksgruppe der Aktion<br />
Sühnezeichen, Konziliarer Prozeß im Vorschulalter, Regionalgruppe Leipzig des AK Solidarische Kirche,<br />
AK Abgrenzung, AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> der AK Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt Leipzig. In der<br />
folgenden Zeit war das Hauptthema des BSA das Mitspracherecht der Gruppen bei der Gestaltung der<br />
Friedensgebete. Hier wurde der Terminplan für die Gestaltung der Friedensgebete beschlossen. Als<br />
Kommunikationsmöglichkeit der Gruppen untereinander wurde der BSA jedoch kaum genutzt. Dafür gab<br />
es den von C. Wonneberger installierten monatlichen „Gruppentreff’. Außerdem versuchten ab 1988<br />
einige Gruppenmitglieder, sich ein selbständiges Gremium zu schaffen (s. S. 481).<br />
Ehrenamtliche Mitarbeiter für Kirchenfragen<br />
Das Netz der inoffiziellen Mitarbeiter der Sicherheitsorgane war sehr verzweigt, so daß sich neben den<br />
„gesellschaftlichen Kräften“, den Stasi-Mitarbeitern <strong>und</strong> „inoffiziellen Mitarbeitern“ der Kriminalpolizei<br />
noch weitere Akteure bei kirchlichen oder oppositionellen Veranstaltungen tummelten. Vor allem bei<br />
Gottesdiensten <strong>und</strong> kleineren Veranstaltungen wurden „ehrenamtliche Mitarbeiter“ der Abteilung Innere<br />
Angelegenheiten bzw. der Referate für Kirchenfragen bei den Räten eingesetzt 7.<br />
Diese gaben Informationen, die in die Informationen zur „Kirchenpolitik“ einflossen. Die „ehrenamtlichen<br />
Mitarbeiter“ wurden unter Leitung des RdS regelmäßig geschult 8.<br />
7 Zum Beispiel besuchte „Genosse Himmelreich, ehrenamtlicher Mitarbeiter auf dem Gebiet Kirchenfragen“ ein<br />
Fürbittgebet, berichtete darüber beim Stadtbezirksrat Inneres <strong>und</strong> überbrachte das nach der Andacht verteilte<br />
Informationsblatt (Stadtbezirksrat Inneres Kühnel, Information über Fürbittengebet in St. Lucas am 25.01.1989<br />
an die Stadtbezirksleitung-Nordost der SED, vom 26.01.1989 - StAL SED A 5125). Im „Bericht über die<br />
offensive ideologische Arbeit unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Kräfte zur Zurückdrängung <strong>und</strong><br />
Unterbindung von Übersiedlungsersuchenden nach nichtsozialistischen Staaten <strong>und</strong> Westberlin“, des 1. Sekretärs<br />
der SED-SBL-Mitte vom 17.03.1989 heißt es u.a.: „Durch den kontinuierlichen Einsatz ehrenamtlicher Kräfte für<br />
die Abteilung Inneres haben das Sekretariat, die Sicherheitsorgane <strong>und</strong> der Rat vielfältige Informationen über<br />
geplante Aktivitäten von Antragstellern sowie die Haltung von kirchlichen Würdenträgern in der Nikolaikirche in<br />
bezug auf das `Friedensgebet'. In Abstimmung mit den Sicherheitsorganen wurden <strong>und</strong> werden mit an<br />
durchgeführten demonstrativ feindlichen Handlungen Beteiligten in der Abteilung Inneres<br />
Disziplinierungsgespräche geführt. Gleiches gilt bei bekanntgewordenen geplanten Handlungen. Gespräche des<br />
Stadtbezirksbürgermeisters sowie des Stellvertreters für Inneres mit kirchlichen Würdenträgern zielen, neben der<br />
Erläuterung unserer Politik, auf die Verhinderung feindlicher Demonstrativhandlungen, die in Kirchen ihren<br />
Ausgangspunkt haben, hin.“ (StAL SED N 2601).<br />
8 so Bericht Reitmann vom 29.06.1984 in: „Zur offenen Jugendarbeit`“ (VD 21/84 - StAL BT/RdB 23294).<br />
356
© by C. Dietrich<br />
Die inoffizielle Überwachung <strong>und</strong> Beeinflussung kirchlicher Arbeit<br />
<strong>und</strong> die Unterdrückung oppositionellen Verhaltens Ende der 80er Jahre<br />
Einsatzleitung <strong>und</strong> Mobilmachung<br />
Der Nationale Verteidigungsrat sowie die Bezirks- <strong>und</strong> Kreiseinsatzleitungen (BEL bzw. KEL) waren die<br />
Befehlsebene in „Spannungsperioden“, welche zuständig waren für die Absicherung der<br />
„Landesverteidigung“. Laut Statut der Einsatzleitungen (1981) gehörten zur BEL: Vorsitzender: 1.<br />
Sekretär der SED-BL, 2. Sekretär der SED-BL, Leiter der BV des MfS, Chef des<br />
Volkspolizeibezirksamtes, Vorsitzender des Rates des Bezirkes, Leiter der Abteilung Zivilverteidigung<br />
bei der SED-BL, Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen der SED-BL. Analog setzte sich auch die KEL<br />
zusammen 9 . Die Einsatzleitungen kümmerten sich um die „bewaffneten Organe“, d.h., sie legten die Soll-<br />
Zahlen fest, kontrollierten die Rekrutierung von Armee, Polizei, Kampfgruppen, MfS <strong>und</strong><br />
Zivilverteidigung <strong>und</strong> legten Maßnahmen zur Absicherung der „Wehrbereitschaft“ fest. Sie leiteten<br />
9 Stasi INTERN, 87-91<br />
357
Manöver, waren für „die Mobilmachung im Territorium“ <strong>und</strong> für die Organisierung des<br />
„Vorbeugungskomplexes“, der u.a. die Einrichtung von Internierungslagern vorsah, zuständig10 . Der 1.<br />
Sekretär der SED-Leitung (s. Dok. 58), der Vorsitzende des Rates <strong>und</strong> die Chefs von MfS (AGL) <strong>und</strong><br />
Polizei hatten jeweils eine eigene Arbeitsgruppe zur Arbeit in der Einsatzleitung. Wie der Sonderausschuß<br />
zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag<br />
nachgewiesen hat, ging es den Einsatzleitungen in den 80er Jahren vor allem um die „Überwindung<br />
innerer Spannungsperioden“ 11 . Offensichtlich bereiteten sich die Einsatzleitungen auf<br />
bürgerkriegsähnliche Zustände vor. Außerdem waren sie - neben den SED-Sekretariaten - zentrale<br />
Gremien zur Einschätzung der Lage. So befaßten sie sich auch mit der Entwicklung der<br />
Ausreisebewegung oder der oppositionellen Gruppen im Territorium12 . Stasi-Minister Mielke hatte als<br />
Direktive für den „Verteidigungszustand <strong>und</strong> in Spannungsperioden“ festgelegt, daß Personen, „die unter<br />
dem begründeten Verdacht stehen, staatsfeindliche Handlungen zu begehen, zu dulden oder davon<br />
Kenntnis zu haben“, „schlagartig <strong>und</strong> in kürzester Frist“ festzunehmen sind. Daneben seien Personen, „die<br />
unter dem begründeten Verdacht stehen, durch ihre Handlungsweise gegen die Interessen der Sicherheit<br />
der DDR <strong>und</strong> ihrer Verteidigungsbereitschaft zu verstoßen“, zu isolieren13 . Es läßt sich zeigen, daß die<br />
Einsatzleitungen diese Festnahmen, Isolierungen <strong>und</strong> vermutlich auch Liquidationen14 zu organisieren<br />
hatten. Nach dem Bericht der B V Leipzig des MfS „über den Stand der Einsatz- <strong>und</strong><br />
Mobilmachungsbereitschaft“ vom 14.12.1988 waren für den Mobilmachungsfall in Leipzig 176<br />
Festnahmen <strong>und</strong> 261 Isolierungen, d. h. Verbringungen in eigens dafür eingerichtete Internierungslager 15,<br />
von oppositionellen Bürgern innerhalb von 24 St<strong>und</strong>en vorgesehen16 . Im Herbst 1989 begann das<br />
Sicherheitskartell, die für den Ausnahmezustand geplanten Maßnahmen umzusetzen. Als die DDR-<br />
Oppositionsgruppen dazu übergingen, landesweite politische Gruppierungen zu bilden <strong>und</strong> in Polen,<br />
Ungarn <strong>und</strong> der Sowjetunion die Reformen auch eine Beteiligung von Oppositionellen an der Macht nicht<br />
mehr ausschloß, begann sich die strategische Orientierung des Sicherheitskartells zu wandeln. War man<br />
Anfang der 80er Jahre dazu übergegangen, einen Krieg in Mitteleuropa für die nächste Zukunft<br />
auszuschließen, so sprach Mielke im April 1989 davon, daß die Kriegsgefahr nicht eingedämmt sei17 . Zu<br />
der Fastenaktion dreier Leipziger Oppositioneller im August 1989 gegen die DDR-“Leibeigenschaft“ (s.<br />
Dok. 189) sagte Mielke, daß sie „fast einen Krieg führen wollten“ 18. Am 26.09.1989 befahl Honecker als<br />
Chef des Nationalen Verteidigungsrates die Herstellung der „Führungsbereitschaft“ der Einsatzleitungen 19<br />
<strong>und</strong> als SED-Chef die Isolierung’ der Oppositionsführer 20. Dies war der erste Schritt für eine mögliche<br />
Mobilmachung. Am 08.10. gab Mielke die Anweisung, kurzfristige „Zuführungen bzw. Verhaftungen“<br />
vorzubereiten 21.<br />
Der Leiter der BV Leipzig legte dieses Mielke-Telegramm so aus, daß Maßnahmen<br />
10 Stasi INTERN, 92-95 <strong>und</strong> Zwischenbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong><br />
Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag, vom 27.05.1993. Als Tagungstermine<br />
der BEL Leipzig lassen sich sicher feststellen: 28.03.88, 16.05.88, 27.06.88, 14.22.88, 30.01.89, 12.06.89,<br />
18.09.89, 03.10.89, 09.10.89.<br />
11 Zwischenbericht..., 2 L So waren die Manöver der 80er Jahre immer häufiger auf Auseinandersetzungen mitder<br />
eigenen Bevölkerung gerichtet (z.B. Bericht M. Gerlach, in: Kuhn (1992), 44f.)<br />
12 vgl. zu BEL: Stasi INTERN, 89-91 <strong>und</strong> Dok. 57<br />
13 Mielke, Direktive 1/67, Anlage 1 <strong>und</strong> Durchführungsbestimmungen, Zitat nach: Zwischenbericht, 17, vgl.<br />
Durchführungsbestimmung Nr. 1 zur Direktive Nr. 1/67 (teilweise in: Przybylski (1991), 398ff.)<br />
14 Zwischenbericht..., 24f.<br />
15 Das Leipziger Internierungslager war innerhalb eines Werkes in Espenhain geplant, als Zwischenlager war eine<br />
große Messehalle vorgesehen (Minderheitenvotum...).<br />
16 Anlage zum Minderheitenvotum..., S.1541-1565,1559<br />
17 Mielke auf Dienstberatung mit Leitern der B Ven, so Bericht am 12.5. in Arbeitsbuch des Referatsleiters XX/4<br />
der BV Leipzig (BStU Leipzig AB 1137)<br />
18 Mitter/Wolle, 138<br />
19 Befehl 8/89, abgedruckt in: Przybylski (1992), 367-369<br />
20 Fernschreiben vom 26.09.1989 an die 1. Sekretäre der SED-Bezirksleitungen (abgedruckt in: Spiegel 17/1990,<br />
79)<br />
21 Dienstanweisung ist u.a. abgedruckt in: Und diese verdammte Ohnmacht, 318ff.<br />
358
einzuleiten seien, die für Spannungsperioden vorgesehen waren22 . Die Listen der festzunehmenden <strong>und</strong> zu<br />
isolierenden Personen wurde aktualisiert 23 <strong>und</strong> auch der Einsatz von Militär (am 9.10. 24 ) gegen<br />
Demonstranten vorgesehen 25.<br />
Gesellschaftliche Kräfte<br />
In der DDR wurden mit „gesellschaftlichen Kräften“ einerseits alle politisch aktiven26 oder zumindest alle<br />
in offiziellen Verbänden organisierten Bürger27<br />
<strong>und</strong> andererseits ausdrücklich eingesetzte Claqueure<br />
bezeichnet. Diese „gesellschaftlichen Kräfte“ waren Personen, die nebenberuflich von der SED zu deren<br />
Sicherheitseinsätzen hinzugezogen wurden. Der Einsatz geschah nach Vorgaben, die vom MfS erarbeitet<br />
wurden <strong>und</strong> von den entsprechenden Sekretariaten der SED beschlossen wurden. Nach der Demonstration<br />
am 15.01.1989 befahl das Sekretariat der SED-BL, verstärkt Gruppen „gesellschaftlicher Kräfte“ zur<br />
„Verhinderung von Provokationen oder anders gearteter Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong><br />
Sicherheit“ zu bilden. Besonders in Leipzig sollte eine größere Zahl einsatzfähig sein28 . Wie es in den<br />
Beschlüssen heißt, sollte das MfS die SED-Sekretäre dabei „wirksam unterstützen“. Der Leiter der BV des<br />
MfS sah folgende Einsatzmöglichkeiten für die „gesellschaftlichen Kräfte“: 1. bei Veranstaltungen der<br />
Opposition zur offensiven Auseinandersetzung, 2. als „Gruppen zum Auflösen, Isolieren, Abdrängen,<br />
Durchdringen“ der Opposition, 3. zur „offensive Auseinandersetzung bei [staatlichen] K<strong>und</strong>gebungen<br />
gegen [...] Störer“ <strong>und</strong> 4. als Zeugen <strong>und</strong> zur „Beweissicherung“. Er dachte dabei an Gruppen von<br />
höchstens 30 Personen29 . Eingewiesen wurden die „gesellschaftlichen Kräfte“ vom MfS, für den Einsatz<br />
verantwortlich war jedoch der jeweilige 1. bzw. 2. Sekretär der SED-Leitung. Hinzugezogen wurden vor<br />
allem FDJ1er (FDJ-Ordnungsgruppen), Kampfgruppenangehörige, Mitarbeiter aus den staatlichen<br />
Betrieben <strong>und</strong> Universitätsangehörige. Um zum Beispiel eine Demonstration nach dem Friedensgebet am<br />
23.01.1989 zu verhindern, wurden durch die Stadtleitung der SED „ca. 400 Genossinnen <strong>und</strong> Genossen<br />
aus dem Partei- <strong>und</strong> Staatsapparat sowie aus Gr<strong>und</strong>organisationen der Kombinate <strong>und</strong> Betriebe“<br />
zusammengerufen, in der Leipzig-Information eingewiesen <strong>und</strong> dann auf das Gebiet um die Nikolaikirche<br />
verteilt 30.<br />
22 S. Maßnahmenkatalog vom 08/09.10.1989 der Abt. XX (BStU Leipzig AB 1077, 56)<br />
23 Liste der KD Leipzig mit dem Titel „Im Rahmen des Vorbeugungskomplexes zuzuführende Personen, die dem<br />
politischen Untergr<strong>und</strong> zuzuordnen sind“ (vom 9./11.10.1989 - ABL Internierungslager Leipzig), dort werden<br />
121 Personen aufgeführt. Eine ähnliche Liste ist vermutlich auch von der BV Leipzig zusammengestellt worden.<br />
24 s. Kuhn (1992)<br />
25 Die Kampfgruppen wurden schon vor dem September 1989 eingesetzt, so z.B. zur Absicherung der<br />
„Maimanifestation“ am 01.05.1989. Am 2.10.1989 kamen 3 H<strong>und</strong>ertschaften in Leipzig zum Einsatz. s.a.<br />
Besier/Wolf, 608<br />
26 vgl. Offener Brief der Fastenstafette 1986 (Dok. 19), Flugblatt vom 09.11.1988 (Dok. 104) <strong>und</strong> die Forster<br />
Eingabe (Dok. 211), vgl. auch die doppelbödige Verwendung bei Pommert (Dok. 176)<br />
27 s. S. 95 <strong>und</strong> S. 326<br />
28 Beschluß zur offensiven politisch-ideologischen Arbeit mit allen Bürgern unter besonderer Berücksichtigung<br />
jener, die negativen bzw. feindlichen Einflüssen unterliegen (Beschluß-Nr. 45/89, die Vorlage wurde von H.<br />
Schumann erarbeitet - StAL SED A 5524 <strong>und</strong> H. Schumann, Information über erste Ergebnisse bei der<br />
Umsetzung des Beschlusses über Maßnahmen zur Verstärkung der offensiven politisch-ideologischen Arbeit<br />
vom 01.02.1989, Beschluß-Nr. 123/89 - StAL SED A 5527).<br />
29 Notizen Hummitzsch (BStU Leipzig AB 3843, 148ff.) <strong>und</strong> „Maßnahmen zur Auswahl, zur Qualifizierung, zum<br />
Einsatz sowie Führung gesellschaftlicher Kräfte zur Verhinderung von Provokationen oder anders gearteter<br />
Störungen der öffentlichen Ordnung <strong>und</strong> Sicherheit im Bezirk Leipzig“ des Leiters der BV Leipzig des MfS, die<br />
vom 1. Sekretär der SED-BL bestätigt wurde (14.02.1989, abgedruckt in: STASI intern, 56-59), s.a. Mitter/Wolle<br />
(1990), 54f.<br />
30 s. Dok. 131 Im Jahresplan der Abteilung XX der BV MfS Leipzig für 1989 heißt es: „Die Kader der unter<br />
Verantwortung der Kreisleitung der SED an der KMU Leipzig gebildeten Formation gesellschaftlicher Kräfte [/]<br />
- zur operativen Kontrolle von Zusammenkünften von PUT-Kreisen, vor allem in Kirchen; [/] - zur offensiven<br />
Auseinandersetzung mit in derartigen Zusammenkünften vertretenen feindlich-negativen Positionen [/] werden<br />
359
Am 7. Mai 1989 sollen allein im Stadtbezirk Leipzig-Mitte 1350 „gesellschaftlichen Kräfte“ 31<br />
einsatzbereit gewesen sein32 . Zum Kirchentag gab es einen größeren Einsatzstab unter Leitung der SED-<br />
SL. Für den 9. Oktober 1989 hatte die Bezirkseinsatzleitung den Einsatz von über 5000 gesellschaftlichen<br />
Kräften geplant. Davon sollten allein 2000 in die Nikolaikirche gehen 33.<br />
Kampfgruppen<br />
Die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ waren paramilitärische Organisationen in den volkseigenen<br />
Betrieben. Die „Kämpfer“ waren ehrenamtliche Mitglieder - ähnlich wie bei der Freiwillige Feuerwehr.<br />
Die Ausbildung (Gr<strong>und</strong>ausbildung 132 St<strong>und</strong>en) erfolgte außerhalb der Arbeitszeit. Die Kampfgruppen<br />
wurden nach dem Aufstand 1953 ausgebaut <strong>und</strong> bildeten zusammen mit Armee, MfS <strong>und</strong><br />
Bereitschaftspolizei das militärische Rückgrat der SED-Herrschaft. Demonstriert wurde dies beim Bau der<br />
Mauer 1961. Die Kampfgruppen sollten in Spannungsperioden eine Schlüsselrolle spielen34 . Die<br />
Kampfgruppen unterstanden dem Innenministerium <strong>und</strong> wurden von den Polizeiämtern angeleitet. Sie<br />
wurden auch in Zivil - ähnlich wie die „gesellschaftlichen Kräfte“ eingesetzt35 . 1988/89 mußten die<br />
Einsatz- <strong>und</strong> SED-Leitungen jedoch feststellen, daß sich die Kampfgruppen nicht bedingungslos gegen die<br />
Bevölkerung einsetzen ließen 36. Bei Einsätzen gegen Demonstranten im Herbst 198937<br />
gab es<br />
verschiedentlich Befehlsverweigerungen 38.<br />
im Planjahr 1989 weiter qualifiziert <strong>und</strong> eingesetzt. Der differenzierte Einsatz dieser Formation zu ausgewählten<br />
Veranstaltungen <strong>und</strong> ihre Instruierung erfolgt in Abstimmung mit der Abteilung XX durch einen Beauftragten der<br />
SED-Kreisleitung. Die eingesetzten Kader sind in Zusammenarbeit mit der erfassenden DE dem Klärungsprozeß<br />
Wer ist wer?' zu unterziehen (Termin: 31.03.1989). [/] Zu sichern ist die ständige Qualifizierung dieser Kader im<br />
Zusammenwirken mit der SED-Kreisleitung der KMU. Die Führungskräfte der Formation sind - soweit noch<br />
nicht erfolgt - als IM/GMS zu verpflichten (Termin 31.03.1989)“ (Jahresplan des Leiters der Abteilung XX,<br />
(GVS 153/88) - ABL H 8)<br />
31 „Abgeschlossen ist die Auswahl der Agitatoren <strong>und</strong> gesellschaftlichen Kräfte für den Wahltag. Insgesamt stehen<br />
für den Einsatz am 7. 5. 1989 über 1350 Agitatoren im Stadtbezirk zur Verfügung. Davon 350 Agitatoren der<br />
zusätzlichen Agitatorenreserve, einschließlich der KMU, die in 4 Stützpunkten untergebracht sind. Über 1000<br />
Agitatoren kommen aus den Reihen der gesellschaftlichen Kräfte der Wohngebiete <strong>und</strong> der Partnerbetriebe.<br />
Abgeschlossen ist auch die Formierung der 100 zusätzlichen gesellschaftlichen Kräfte für den Wahltag.“<br />
(Information der SED-SBL-Mitte „über den Stand der politisch-ideologischen <strong>und</strong> organisatorischen<br />
Abschlußvorbereitung für den Wahltag am 7.5.1989“, vom 06.05.1989 - StAL SED N 2601)<br />
32 Am 7.05.1989 fand die sogenannte Wahl statt. Als Protest gegen diese Farce hatten die Leipziger Gruppen zu<br />
verschiedenen Aktionen aufgerufen, u.a. zu einer Demonstration auf dem Markt. Dort standen dann die<br />
„gesellschaftlichen Kräfte“ in einzelnen Gruppen <strong>und</strong> warteten auf Demonstranten (Dietrich (1994)).<br />
33 Entschluß des Chefs der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989 (06.10.1989), in: Kuhn<br />
(1992), 48-51, 50. In der Kirche waren nach kirchlichen Schätzungen ca. 1000 (C. Führer in: Löscher/Vogel, 138,<br />
Führer (1993): ca. 600). Darunter befanden sich einige Leipziger Professoren (s. Dok. 244, s.a. Bericht H.<br />
Wagner, in: Jetzt oder nie - Demokratie, 88-90 <strong>und</strong> M. Werner in: Löscher/Vogel, 139f.).<br />
34 vgl. Dok. 235<br />
35 Beschluß des Sekretariats der SED-BL Nr. 103/89 (StAL SED A 5526)<br />
36 Z. B. legte das VPKA am 11.05.1989 im Sekretariat der SED-SL einen „Bericht zum Stand der Durchsetzung der<br />
Aufgaben bei der Gewährleistung der Kampfkraft <strong>und</strong> Gefechtsbereitschaft in den Einheiten der Kampfgruppen<br />
der Arbeiterklasse im 1. Ausbildungshalbjahr 1989“ vor, in dem es u.a. heißt: „Handlungen der Kampfgruppen<br />
gegen Störer, die unter Umständen zu den Kollegen oder zum Bekanntenkreis der Kämpfer zählen, ließen in den<br />
Einheiten wiederholt Fragen <strong>und</strong> Zweifel bei den Angehörigen aufkommen, die in Einzelfällen die<br />
Notwendigkeit der Einsätze in Frage stellen.“ (StAL SED A 5121 <strong>und</strong> N 896) vgl. Besier/Wolf, 608<br />
37 Dok. 222, 230, 235, 238<br />
38 s. Anm. 680<br />
360
Kirchenstruktur in Leipzig bzw. Sachsen<br />
In Leipzig gibt es 37 evangelische Gemeinden <strong>und</strong> 11 katholische Pfarreien. Die evangelische Kirche in<br />
der DDR hatte in Leipzig ihre größte eigene theologische Ausbildungsstätte. Am Theologischen Seminar<br />
studierten ca. 200 Studenten 39 . Außerdem gibt es ein Predigerkolleg (St. Pauli mit ca. 25 Seminaristen)<br />
<strong>und</strong> eine Vielzahl an Altersheimen <strong>und</strong> Einrichtungen der Inneren Mission (Diakonie).<br />
39 s. Vogler et al.<br />
Verfassungsstruktur der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens:<br />
361
Kirchentag in Leipzig 1989<br />
Die staatliche Genehmigung des Kirchentages<br />
Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens wollte aus Anlaß der 450-Jahrfeier der Reformation<br />
1989 in Leipzig einen Kirchentag (KT) durchführen. Es war der einzige überregionale KT des Jahres 1989<br />
in der DDR. Im Dezember 1987 hatten sich der Staatssekretär für Kirchenfragen, die AG Kirchenfragen<br />
beim ZK der SED <strong>und</strong> Verantwortliche im Bezirk Leipzig (Opitz, Urbaneck, Reitmann) darauf<br />
verständigt, daß der KT stattfinden dürfe. Am 05.01.1988 wurde dies Bischof Hempel <strong>und</strong> der<br />
Öffentlichkeit mitgeteilt. In den folgenden Monaten begannen die Absprachen zwischen dem<br />
Landesausschuß für Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag (LA) <strong>und</strong> dem RdB. Der sächsische LA ist stark geprägt<br />
worden durch J. Cieslak <strong>und</strong> die theologische Idee einer missionarischen Kirche („Mission als<br />
Strukturprinzip“). So war das im März 1988 vorgelegte Konzept des Landesausschusses auch stark auf<br />
Öffentlichkeit, d.h. die Einbeziehung öffentlicher Plätze (Zentralstadion, Sachsenplatz im Zentrum der<br />
Stadt, Oper, Gewandhaus ...), orientiert. Eine Nutzung dieser Räume war vom staatlichen Wohlwollen<br />
abhängig <strong>und</strong> erforderte eine gute Diplomatie. Der Kirchentagskongreß (KTK) war 1968 aus einer Not<br />
geboren worden: Als der Staat die Durchführung eines Kirchentages untersagte, gestaltete die sächsische<br />
Kirchenleitung in kirchlichen Räumen einen (kleinen) Kongreß <strong>und</strong> demonstrierte damit ihre<br />
Unabhängigkeit. 1988/89 knüpften die staatlichen Vertreter die Bereitstellung öffentlicher Räume an die<br />
Vorlage der (inhaltlichen) Programme der Veranstaltungen <strong>und</strong> versuchten so, bei der Gestaltung des KT<br />
mitzureden40 . Der Staat wollte eine Darstellung der politisch-alternativen Gruppen <strong>und</strong> einen<br />
„politischen“ KT verhindert wissen. Schon beim ersten offiziellen Gespräch zwischen dem LA <strong>und</strong> dem<br />
RdB Leipzig versuchte der Staat darüber hinaus auch über den LA auf die Gestaltung der Friedensgebete<br />
Einfluß zu nehmen (s. Dok. 91). Der staatliche Druck wuchs, nachdem Gruppen gegen die staatliche<br />
Zensur der Kirchenzeitungen demonstrierten. Nun hieß das staatliche Ziel: Kirchentag ohne<br />
Öffentlichkeit41 . So versuchte der Staat mit einigem Erfolg, die Veranstaltungen aus der Innenstadt in<br />
Außenbezirke zu verlegen. Der Kongreß erhielt Quartier in einem abgegrenzten Bereich des<br />
Messegeländes, wofür er eine hohe Miete zahlen mußte <strong>und</strong> sich ins Programm reden ließ. Die<br />
„Absicherung“ des Kirchentages wurde im Oktober 1988, nachdem der Stellvertretende Vorsitzende des<br />
RdB für Inneres wochenlang vergeblich auf zentrale Anweisungen gewartet hatte, in die Verantwortung<br />
des Bezirkes gelegt. Dies konnte die SED-BL auch mit dem Verweis nicht verhindern, „daß es bereits vor<br />
35 Jahren schon einmal in Leipzig einen Kirchentag gegeben hat, der unter dem Motto ‚Gesamtdeutsches<br />
Treffen’ stand“ 42. Die erste Abstimmung des 1. Sekretärs der SED-BL mit dem Leiter der B V des MfS,<br />
dem Chef der BDVP <strong>und</strong> dem RdB fand am 15.12.1988 statt. Nachdem es in Leipzig am 15.01.1989 zu<br />
einer großen Demonstration für Meinungs- <strong>und</strong> Versammlungsfreiheit kam, versuchte der Staatssekretär<br />
für Kirchenfragen, in einem „vertraulichen“ Gespräch mit Bischof Hempel die Zusage für den Leipziger<br />
KT zurückzunehmen bzw. die Kirchenleitung zu bewegen, den KT nach Riesa zu verlegen43 , was jedoch<br />
von J. Hempel abgelehnt wurde (Dok. 132 <strong>und</strong> 133). Der Staat mußte also davon ausgehen, daß in der<br />
Stadt, die nach Ansicht des Sicherheitskartells zu einem Zentrum der Opposition geworden war, ein KT<br />
stattfand. Anfang März 1989 erteilte E. Honecker auf Wunsch des 1. Sekretärs der SED-BL44 die<br />
endgültige Zusage für den KT. Sie sollte als „Ausnahme“ <strong>und</strong> außergewöhnliches Entgegenkommen<br />
gegenüber der sächsischen Landeskirche <strong>und</strong> Bischof Hempel gewertet werden, denn „in Leipzig könnte<br />
man das [eigentlich] nicht machen“ 45.<br />
40 Beschluß des Sekretariates des ZK der SED vom 15.03.1988. Am 08.06.1988 informierte J. Cieslak Reitmann in<br />
einem „Vieraugengespräch“ über die einzelnen Pläne zum KT.<br />
41 Beratung am 19.10.1988 zwischen Löffler, Opitz, Kraußer, Blecha <strong>und</strong> Reitmann<br />
42 Urbaneck an Kraußer (StAL BT/RdB 20715)<br />
43 Information vom 02.03.1989 <strong>und</strong> Kalb an Jarowinsky vom 31.01.1989 (SAPMO-BArch IV B 2/14/104)<br />
44 „Mit der weiteren Kirchentagsvorbereitung würde ganz im Sinne der Differenzierung Landesbischof Dr. Hempel<br />
die Möglichkeit gegeben, international <strong>und</strong> innerkirchlich verstärkt in positiver Weise wirksam zu werden <strong>und</strong><br />
auch als einer der Präsidenten des Weltkirchenrates entsprechend aufzutreten.“ (Brief H. Schumanns vom<br />
07.03.1989 - BArch 0-4 986)<br />
45 Handschriftliche Notiz mit der Überschrift „Antwort E.H.“ auf Information der Abt. II des StfK vom 08.03.1989<br />
362
Die Gruppen <strong>und</strong> der Kirchentag<br />
Nachdem es zum Berliner (1987) <strong>und</strong> Hallenser (1988) Kirchentag zu Kirchentagen „von unten“<br />
gekommen war <strong>und</strong> der KT in Frankfurt/Main mit seinem breiten Angebotscharakter kirchliche Identität<br />
scheinbar nicht mehr „geschlossen“ darstellen konnte, hatte der LA ein großes Interesse daran, daß der<br />
Leipziger KT ein „Fest des Glaubens“ wird, bei dem die kleine Schar engagierter Christen Trost erfährt<br />
<strong>und</strong> Mut erhält. So wurde der Bibelvers „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst?“ zum<br />
Kirchentagsmotto. Vermutlich war diese Orientierung auch eine Reaktion auf die Spannungen zwischen<br />
Gruppen der „Geistlichen Gemeindeerneuerung“ (vor allem aus dem Erzgebirge) <strong>und</strong> den politischengagierten<br />
„Stadtgruppen“, denen die sächsische Landeskirche unterworfen war. Der LA versuchte eine<br />
stärkere biblische Zentrierung des KT 46 <strong>und</strong> beschloß im Sommer 1988, keinen „Markt der<br />
Möglichkeiten“ (bei dem Basisgruppen auf den Kirchentagen 1987 <strong>und</strong> 1988 die Möglichkeit hatten, sich<br />
selbst darzustellen) durchzuführen.<br />
Die Leipziger Gruppen stellten im Juni 1988 an den LA den Antrag, in die Kirchentagsvorbereitung mit<br />
einbezogen zu werden 47 . Jedoch erst im Januar 1989 reagierte der LA auf diesen B rief der Leipziger<br />
Gruppen <strong>und</strong> teilte den Beschluß des Landesausschusses mit, anstelle eines „Marktes“ einen „Treffpunkt-<br />
Glauben heute“ zu gestalten. Die Beiträge der mitgestaltenden Gruppen sollten Antwort geben auf die<br />
Frage, wie ihr Engagement von der Bibel her motiviert wird 48 . Bevor dieser Brief abgesandt wurde, hatte<br />
ein Vertreter des Landesausschusses dem RdB schon mitgeteilt, welche <strong>und</strong> wie die Gruppen zur<br />
Mitarbeit an diesem Forum eingeladen werden sollten 49 . Eine Verständigung zwischen dem LA <strong>und</strong><br />
verschiedenen Basisgruppen kam trotz Einschaltung des Landesbischofs 50 <strong>und</strong> eines Protestes der<br />
sächsischen Basisgruppen vom 28.01.1989 51 nicht zustande. Bei einem Treffen zwischen Vertretern des<br />
LA <strong>und</strong> der Gruppen am 21.02.1989 wurde gegenüber dem LA behauptet, daß der geplante KT nur die<br />
„Frommen“ erreichen würde <strong>und</strong> gerade keine missionarische Ausstrahlung zeige. Pf. Berger warf dem<br />
LA vor, daß er die Gruppen bewußt ausgrenze <strong>und</strong> damit zwingen würde, ein eigenes Forum zu<br />
schaffen 52 . Da die Lukas-Kirche nicht als Veranstaltungsort im Kirchentagsprogramm vorgesehen war<br />
<strong>und</strong> mit Hilfe von Pf. Wonneberger der Kirchenvorstand für eine mehrtägige Nutzung der Kirche <strong>und</strong> der<br />
Gemeinderäume zu gewinnen war, fand dort der Statt-Kirchentag der Basisgruppen statt. Der Staat<br />
tolerierte ihn in der Hoffnung, daß dann die Gruppen nicht auf dem KT vertreten wären <strong>und</strong> in der<br />
Öffentlichkeit (vor ökumenischen Gästen) keine „brennenden Themen“ <strong>und</strong> Kritik am SED-Regime<br />
angesprochen würden. Auf der Pressekonferenz am ersten Tag des Kirchentagskongresses (06.07.1989)<br />
faßte J. Cieslak die Auseinandersetzungen mit Staat <strong>und</strong> Gruppen im Vorfeld des Kirchentages sinngemäß<br />
folgendermaßen zusammen: ‘Die Kongreßarbeit ist nicht öffentlich. Es gab lange Verhandlungen mit dem<br />
Staat, die kompliziert waren. Es gab Sorge beim Staat wegen der Trittbrettfahrer 53 , mit denen wir nichts<br />
zu tun haben. Es kam zu einem Kompromiß mit den staatlichen Organen, der ein ausgezeichnetes<br />
Verhältnis zwischen uns geschaffen hat. Die Journalisten sollen zeigen, was die Kirche in der DDR kann,<br />
<strong>und</strong> deutlich machen, daß man zur Bibel zurückfinden muß.’ Worte, die die öffentliche Wahrnehmung des<br />
(BArch 0-4 1405). Dort heißt es weiter: „Wir legen fest, wo Kirchentag stattfindet.“ Eine ähnliche Position<br />
vertrat Löffler auf einer Besprechung zwischen StfK, AG Kirchenfragen beim ZK, MfS ... am 04.04.1989 in<br />
Vorbereitung des KT (s. Dienstreisebericht Müller - StAL BT/RdB 20715).<br />
46 Dr. Geissler begründete dies in der Eröffnung des KT auch mit der Säkularisierung, die zu einem Verlust von<br />
Bibelkenntnissen bis in den Kern der Gemeinden geführt habe (Wegmarken, 17).<br />
47 „Damit wollen die Gruppen signalisieren, daß ihnen an einem Miteinander mit unserer Kirche gelegen ist <strong>und</strong> ein<br />
Kirchentag von unten' als isolierte Gegenbewegung ihnen nicht sinnvoll erscheint.“ Brief des BSA (Berger) vom<br />
27.06.1988 (ABL H 22).<br />
48 Vgl. Wegmarken, 59<br />
49 Information zum Gespräch mit Diakon Hänisch am 16.01.1989 von A. Müller (StAL BT/RdB 20715)<br />
50 Brief von Vertretern des BSA vom 15.01.1989 an Bischof Hempel (ABL H 22)<br />
51 s. Anm. 425<br />
52 Einen entsprechenden Beschluß hatte der BSA schon am Vortage gefaßt (ABL H 22).<br />
53 vgl. Dok. 179<br />
363
KTK <strong>und</strong> KT <strong>und</strong> dessen Abgrenzung gegenüber den politisch-alternativen Gruppen bestimmten54 . Trotz<br />
dieser Abgrenzung versuchten Basisgruppenvertreter, auf dem KTK <strong>und</strong> dem KT ihre Forderungen <strong>und</strong><br />
Positionen zu vertreten. Es wurden verschiedene Flugblätter verteilt55 <strong>und</strong> dies, obwohl ein großer Stab<br />
kirchlicher Ordnungskräfte angewiesen war, ungeplante Aktionen zu verhindern 56.<br />
Der Statt-Kirchentag war ein wichtiges Forum der Opposition (über 1000 Teilnehmer 57 ). Hier wurden<br />
Fotos über die Polizeieinsätze gegen Demonstranten in Leipzig gezeigt, Unterschriften unter verschiedene<br />
Petitionen <strong>und</strong> Solidaritätserklärungen gesammelt, ca. 40 verschiedene Publikationen u. a. zur<br />
Wahlfälschung, zur Teilung Deutschlands oder zur Jugendarbeit in der Kirche verteilt <strong>und</strong> verschiedene<br />
Vorträge <strong>und</strong> Diskussionen durchgeführt. Z.B. fand hier eine offene Podiumsdiskussion zwischen<br />
verschiedenen Vertretern der Opposition (Ludwig Mehlhorn, Edelbert Richter, C. Wonneberger), Hester<br />
Minnema (Internationale Helsinki Föderation für Menschenrechte, Wien) <strong>und</strong> Erhard Eppler (SPD) zum<br />
„Haus Europa“ <strong>und</strong> den „deutschen Zimmern“ statt 58 . Vergleichbares hatte es auf dem offiziellen<br />
Kirchentag nicht gegeben. In Anlehnung an die Vorgänge nach den Friedensgebeten versuchten einige<br />
Leipziger Gruppenmitglieder, am Ende des Kirchentages eine Demonstration durchzuführen. Auf einem<br />
Transparent hatten sie die beiden chinesischen Schriftzeichen für „Demokratie“, auf einem anderen hatten<br />
sie „Nie wieder Wahlbetrug“ geschrieben. Sie zogen damit auf die Abschlußveranstaltung des<br />
Kirchentages. Dort nahmen ca. 1.500 Kirchentagsteilnehmer an ihrer Demonstration teil. Nachdem sie<br />
von Ordnungskräften abgedrängt wurden, zogen ca. 200 Demonstranten auf die Straße. Dort wurden ihnen<br />
die Transparente durch das MfS abgenommen <strong>und</strong> der Demonstrationszug ging aufgr<strong>und</strong> aufgezogener<br />
Polizeiketten in eine Kirche. 59<br />
Die Staatliche Einflußnahme auf den Kirchentag<br />
Nachdem Honecker die Zustimmung für den KT gab, beschloß das Sekretariat der SED-Bezirksleitung<br />
vom 15.03.1989 den Rahmen der „Absicherung“ des KT. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung wurde<br />
für die Koordinierung der „politischen Vorbereitung“ 60 verantwortlich erklärt. Weil Horst Schumann<br />
krank war, übernahm H. Hackenberg neben den „organisatorischen Maßnahmen“ auch die „politische<br />
Vorbereitung“. Dies geschah vor allem in den Beratungen beim 1. bzw. 2 Sekretär der SED-BL<br />
(18.04.1989, 11.05.1989, 29.05.1989, 19.06.1989, 07.-10.07.1989). Diese Führungsgruppe gab die<br />
Orientierung für alle anderen Abteilungen <strong>und</strong> Arbeitsstäbe. 61 Außerdem wurde eine „bezirkliche<br />
Arbeitsgruppe“ unter Leitung von H. Reitmann eingesetzt. Ihr gehörten außerdem an: Stellvertreter des<br />
Leiters der BV des MfS, Stellvertreter des Chefs der BDVP, Sekretär des Bezirksausschusses der<br />
Nationalen Front, Leiter der Abteilung Handel <strong>und</strong> Versorgung des RdB, Leiter der Abteilung Verkehrs-<br />
<strong>und</strong> Nachrichtenwesen des RdB, 1. Stellvertreter des Bezirksarztes, Stellvertreter des OBM <strong>und</strong> der Leiter<br />
des Arbeitsbereiches Kirchenfragen beim RdB. 62 Auf Beschluß des RdB Leipzig wurden außerdem eine<br />
Informationsgruppe (Leitung: Jakel) <strong>und</strong> ein Operativstab (Leitung A. Müller) eingesetzt. 63 Der<br />
Operativstab arbeitete mit den Räten der Stadtbezirke zusammen, um in die Veranstaltungen ‚operative<br />
54 s. Bericht in epd, abgedruckt in: Wegmarken, 76, vgl. Rein (1990), 186<br />
55 s. Rein (1990)<br />
56 P. Unterberg 136<br />
57 P. Unterberg 135<br />
58 Tonbandmitschnitt in: Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte Nr. 1+2 (ABL Box 10)<br />
59 s. MfS, ZAIG 337/89, in: Mitter/Wolle (1990), 111; Foto, in: Heber/Lehmann, 43<br />
60 Sekretariatsbeschluß Nr. 124/89 (StAL SED A 5527)<br />
61 Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig, Der Leiter, Generalleutnant Hummitzsch, Maßnahmeplan zur<br />
politisch-operativen Kontrolle der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Kirchentagkongresses <strong>und</strong> Kirchentages<br />
der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 6.7.1989 bis 9.7.1989 in Leipzig, vom 15.06.1989,<br />
Abgekürzt: Maßnahmeplan, S. 6 (ABL H 13)<br />
62 Information der Abt. II des StfK vom 08.03.1989 (BArch 0-4 1405)<br />
63 Beschluß 72/89, Plan der staatlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung ...<br />
(SAPMO-BArch IV B 2/14/104) vom 21.04.1989<br />
364
Mitarbeiter’ zu entsenden, die Informationen für die Informationsgruppe sammelten. Parallel dazu gab es<br />
eine Informations- bzw. Führungsgruppe bei der SEDSL (unter dem 2. Sekretär), die mit den SED-<br />
Stadtbezirksleitungen zusammenarbeitete <strong>und</strong> „gesellschaftliche Kräfte“ in Koordinierung mit der<br />
Kreisdienststelle des MfS64 zu verschiedenen Veranstaltungen schickte. Der Sekretariatsbeschluß der<br />
SEDBL sah vor, daß der Vorsitzende des RdB zusammen mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen<br />
entsprechend der vom Sekretariat der SED-BL beschlossenen Konzeption Gespräche mit dem<br />
Landesbischof Hempel führte (s. Dok. 145). Besonders konspirativ arbeitete der „operative Einsatzstab<br />
Kongreß 89’ „(OES) der Bezirksverwaltung des MfS65 . Dieser „operative Einsatzstab“ sollte letztlich das<br />
einheitliche Vorgehen der „staatlichen Organe“ zum Kirchentag garantieren66 Der OES überwachte die<br />
Vorbereitungen <strong>und</strong> Veranstaltungen des Kirchentages <strong>und</strong> setzte inoffizielle Mitarbeiter der Stasi zur<br />
Informationsbeschaffung über die ökumenischen Gäste <strong>und</strong> zu Personen, die am Statt-Kirchentag<br />
teilnahmen, ein. Außerdem wurden die Hotelzimmer der ökumenischen Gäste ‚operativ kontrolliert’<br />
67 68 .<br />
Die Arbeit der Journalisten geschah unter ständiger Beschattung durch die Stasi. 69 Die laufende Post- <strong>und</strong><br />
Telefonüberwachung des MfS wurde konzentriert auf die Beschaffung von Informationen über den<br />
Kirchentag. Wenn nötig, wurden für diese Tage auch ,Wanzen’ installiert. Um gegebenenfalls sofort<br />
bestimmte Aktionen unterbinden zu können, arbeitete die Stasi beim alternativen Kirchentag in der Lukas-<br />
Kirche eng mit der Polizei zusammen. 70 Der 1. bzw. 2. Sekretär der SED-BL veranlaßte außerdem über<br />
den Sekretär des Bezirksvorstandes der CDU die Teilnahme von 700 CDU-Mitgliedern am KTK, um<br />
diesen im staatlichen Interesse zu beeinflussen. Ideologisch wurden auf einer Parteiaktivtagung am<br />
23.05.1989 600 Genossen auf den KT vorbereitet. Der Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der SED,<br />
Peter Kraußer, stellte dort den KT in den Rahmen einer längerfristigen SED-Kirchenpolitik. 71 Er<br />
behauptete, daß eine deutliche Kontinuität in der Kirchenpolitik zu verfolgen sei, die zusammengefaßt<br />
werden könne in dem Satz: „Religion wird in dem Maße überflüssig gemacht, wie der Sozialismus sich<br />
entwickelt.“ 72 Als Strategie nannte er die Vermeidung der Konfrontation zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche <strong>und</strong><br />
eine weitere Differenzierung innerhalb der Kirche. 73 (1.) Die Christen sollten innenpolitisch fest integriert<br />
werden <strong>und</strong> (2.) sollten die Kirchen außenpolitisch im Sinne der SED-“Friedenspolitik“ wirken, außerdem<br />
(3.) sollte verhindert werden, daß die Kirche „zur Plattform für gegnerische Aktivitäten (umfunktioniert<br />
wird)“. In diesem Sinn wollte P. Kraußer auf der Parteiaktivtagung Optimismus verbreiten <strong>und</strong> meinte<br />
zum Beispiel: „Insgesamt kann man feststellen, daß der Prozeß der Anpassung der Kirchen an den realen<br />
Sozialismus weiter vorangeschritten ist <strong>und</strong> daß die Positionen der realistischen Kräfte in den Kirchen, die<br />
auf Vernunft <strong>und</strong> Verständigung aus sind, weiter gestärkt wurden.“ Wie tief die Ängste von Genossen vor<br />
64 Maßnahmeplan, S. 8<br />
65 Mitglieder des Führungsstabes waren: Oberst Eppisch (Leiter), Major Strenger (Stellvertreter), Oberst Wiegand<br />
(Leiter der Hauptabteilung XX/4) <strong>und</strong> die Leiter der Abteilungen II, VI, VII, IX, XVIII, XIX, AKG, BKG, AG<br />
Aktionen <strong>und</strong> Einsätze, KD Leipzig-Stadt <strong>und</strong> Leipzig-Land<br />
66 „Durch Einflußnahme der HA XX/4 gegenüber dem Staatssekretariat für Kirchenfragen <strong>und</strong> im Rahmen der<br />
koordinierten operativen Bearbeitung der Landeskirche Sachsen durch die BV Dresden, Leipzig <strong>und</strong> Karl-Marx-<br />
Stadt ist ein einheitliches Vorgehen der zuständigen staatlichen Organe zu gewährleisten <strong>und</strong> für die<br />
Durchführung des KTK/KT zu sichern, daß beauftragte <strong>und</strong> vorbereitete Vertreter dieser Organe in Leipzig<br />
ständig erreichbar sind, stabile Verbindungen zu den Vertretern der Landeskirche haben <strong>und</strong> aktiv zur<br />
Durchsetzung einer abgestimmten Staatspolitik in Kirchenfragen sowie bei Erfordernis, zur kurzfristigen<br />
Bearbeitung <strong>und</strong> Klärung von Vorkommnissen zum Einsatz kommen.“ Maßnahmeplan, S. 6<br />
67 Die ökumenischen Gäste durften nach staatlichen Vorgaben nicht privat untergebracht werden.<br />
68 Maßnahmeplan, S. 9<br />
69 Informationen des OES (ABL H 13)<br />
70 „Maßnahmen der Vorfeld- <strong>und</strong> Tiefensicherung sowie Außenkontrollen“, Maßnahmeplan, S.8<br />
71 Protokoll der Tagung (StAL SED N 931)<br />
72 ebenda S. 38<br />
73 „Unsere Politik war darauf gerichtet, das Verhältnis zwischen Staat <strong>und</strong> Kirche so zu gestalten, daß die<br />
Konfrontation wenn möglich vermieden wird, daß wir unsere Differenzierungspolitik gegenüber kirchlichen<br />
Kreisen vorantreiben <strong>und</strong> so ein günstiges Klima für die Mitwirkung der Gläubigen in dieser Gesellschaft<br />
schaffen.“ (ebenda, S. 39)<br />
365
der Kirche saßen, wurde in der anschließenden (wie immer vorzensierten!) „Diskussion“ deutlich (vgl. a.<br />
Dok. 176). Dort sagte einer: „Vertrauen fühle ich z.B. schon beim Vorzeigen meines Parteidokumentes<br />
auf unserer heutigen Beratung. Ich verstehe das als symbolischen Schulterschluß, der notwendig ist, weil<br />
wieder welche den Wert ihrer ideologischen Waffen testen wollen, gezielt in Leipzig, wo im Juli, sicher<br />
öfter am Tage, von den Kirchtürmen der Stadt wuchtiger Glockenschlag dröhnen, die Gläubigen auf<br />
Straßen <strong>und</strong> Plätze rufen wird. Unseren Genossen werden wir sagen, das macht uns nicht knieweich…“ 74.<br />
Die Absicherung des KTK <strong>und</strong> KT durch das Sicherheitskartell (Staat, SED, MfS):<br />
74 H. Baunack, Betriebsparteisekretär im VEB Starkstromanlagenbau, ebenda, S. 63<br />
366
Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis<br />
Der Kirchenvorstand ist das kirchenrechtliche Zentrum der Gemeinde. Die Gemeinde St. Nikolai - St.<br />
Johannis ist neben St. Thomas - St. Matthäi eine der evangelischlutherischen Gemeinden im Zentrum<br />
Leipzigs. Jede dieser Gemeinden <strong>und</strong> Kirchen haben ihr eigenes Profil, welches durch die Teilung der<br />
Leipziger Gemeinden in zwei Ephorien (Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West) mit jeweils eigenem Superintendenten<br />
verstärkt wurde. Die Nikolaikirche profilierte sich im Laufe der 80er Jahre 75 unter Pf. Führer als „Offene<br />
Stadtkirche“; d.h., die Kirche war tagsüber geöffnet, es gab wechselnde Ausstellungen <strong>und</strong><br />
Informationstafeln, die verschiedenen Räume <strong>und</strong> Seitenkapellen der Kirche wurden zu vielfältigen<br />
Veranstaltungen genutzt. Zentrale kirchliche Veranstaltungen der Stadt Leipzig, wie die Messeabende der<br />
Männerarbeit oder die Abschlußveranstaltungen der Friedensdekaden, fanden in der Nikolaikirche statt.<br />
Zum Symbol dieses „Stadtkirchenkonzeptes“ wurde das Schild, welches aufgr<strong>und</strong> der Bauarbeiten 1987<br />
am Bauzaun angebracht wurde: „Nikolaikirche - offen für alle“. Zum Kirchenvorstand gehörten 1988/89<br />
u.a. Pf. Führer (Vorsitzender, zugleich Hauptpfarrer) <strong>und</strong> (ab Sept. 1989) Pf. Dr. Haubold.<br />
Kleines Kollektiv<br />
Das „Kleine Kollektiv“ war das Gremium, in dem im lokalen Bereich die Arbeit der staatlichen Stellen zu<br />
Kirchenfragen abgestimmt wurde. Vermutlich gab es auf allen Ebenen (Gemeinde bzw. Stadtbezirk, Kreis<br />
bzw. Stadt <strong>und</strong> im Bezirk) „Kleine Kollektive“. Die Zusammensetzung <strong>und</strong> Arbeitsweise war ähnlich wie<br />
bei den sogenannten „Gremien zur Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchenden“ 76 . Vertreten waren<br />
in den „Kleinen Kollektiven“ die Abteilung Innere Angelegenheiten, das MfS, die Polizei <strong>und</strong> vermutlich<br />
die SED (Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht) <strong>und</strong> die Nationale Front. Mitschriften zu Sitzungen dieser Gremien<br />
im Leipziger Raum konnten nur durch Zufall gef<strong>und</strong>en werden. So gibt es eine Mitschrift der Sitzung für<br />
den Bezirk vom 27.11.1980. In dieser Sitzung wurden ausführlich die Lage in Polen analysiert <strong>und</strong> die<br />
Vorgänge während der ersten Friedensdekade in Leipzig ausgewertet, dabei wurde beschlossen, welche<br />
Pfarrer zu „disziplinieren“ wären. 77 Auf der Sitzung des „Kleinen Kollektives“ beim RdS am 24.05.1984<br />
wurde beschlossen, einen Fahrradkorso anläßlich der Aktion „Mobil ohne Auto“ (03.06.1984) zu<br />
unterbinden. 78 In der Mitschrift eines Stasi-Oberstleutnants vom 03.03.1989 von der Sitzung des „Kleinen<br />
Kollektives“ der Stadt ist als Thema die Verhinderung der Demonstration am Messemontag (Gespräche<br />
mit Kirchenvertretern, „Disziplinierungsgespräche“ mit Gruppenvertretern, Ausreisegenehmigungen für<br />
Ausreiseantragsteller) zu finden. 79 Es läßt sich vermuten, daß die „Kleinen Kollektive“ eher exekutive<br />
Aufgaben hatten. Die Berichte über ihre Sitzungen stehen meist im Zusammenhang mit zentralen<br />
Weisungen (Politbürobeschlüsse, Anweisung des Staatssekretärs für Kirchenfragen 80 ). Sie waren das<br />
oberste Gremium zur laufenden Abstimmung der Aktivitäten aller „Sicherheitsorgane“ bezüglich der<br />
Kirchenpolitik (vgl. aber Beratung beim 1. Sekretär der SED-Leitung, S. 464). Die Abstimmung zwischen<br />
den Referaten Kirchenfragen <strong>und</strong> dem MfS mußte aber nicht über das „Kleine Kollektiv“ gehen, sondern<br />
war auch direkt möglich 81 . Einweisungen der Stellvertreter Inneres der Kreise zu Kirchenfragen<br />
geschahen u.a. im Beisein der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht der SEDBL <strong>und</strong> dem Bezirksausschuß der<br />
75 zur Krise der Gemeindearbeit in Leipzig um 1980 s. Wensierski (1982), 407f.<br />
76 s. z.B.: Ordnung Nr. 175/89 des Ministers des Innern <strong>und</strong> Chefs der Deutschen Volkspolizei vom 07.12.1988,<br />
abgedruckt, in: Lochen/Meyer-Seitz, 523-594, dort 532<br />
77 StAL BT/RdB 21719<br />
78 Information Reitmanns an Opitz vom 25.05.1984 (StAL BT/RdB 23294)<br />
79 BStU Leipzig AB 0932, 54<br />
80 s. S. 97 <strong>und</strong> 149<br />
81 s. S. 98. In der Arbeitsplatzbeschreibung des Leiters des Referates XX/4 der BV Leipzig des MfS hieß es:<br />
„ständige Aufrechterhaltung der Verbindung (...) zum Rat des Bezirkes, Sektor Kirchenfragen“ (B V für<br />
Staatssicherheit, Abteilung XX/4, Planstellen-Nr.: 1936, Leipzig 6. März 1979 - ABL H 8). Die Zusammenarbeit<br />
sah in diesem konkreten Fall so aus, daß der Leiter des Sektors Kirchenfragen, W. Jakel, zuvor Referatsleiter<br />
beim MfS war <strong>und</strong> dann als „Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit“ des MfS geführt wurde (s. Dokumente<br />
des Bestandes ABL H 53).<br />
367
Nationalen Front. 82<br />
Das Unterstellungsverhältnis der Referate Kirchenfragen <strong>und</strong> deren Arbeitskontakte:<br />
82 Vgl. Kurzbericht von H. Reitmann vom 26.01.1989 an Opitz (StAL BT/RdB 38326)<br />
368
Kommunikationszentrum (KOZ)<br />
Eine der zentralen Forderungen der politisch-alternativen Gruppen war die nach freier Kommunikation.<br />
Wie wichtig dies war, wurde für sie besonders im Zuge der Solidaritätsbewegung nach den Inhaftierungen<br />
im Januar 1988 deutlich. Die dabei in Leipzig entstandene Kontaktgruppe (s. S. 503) bemühte sich, das<br />
Terrain, das sie erobert hatte (regelmäßige Veranstaltungen mit „offenem Mikrofon“, einen eigenen<br />
Telefonanschluß ...), auch nach der Freilassung der Inhaftierten zu behalten. In diesem Sinne machten sich<br />
verschiedene Gruppenmitglieder für ein (von den Basisgruppen weitgehend selbst verantwortetes)<br />
„Kommunikationszentrum“ stark. Die Kontaktgruppe begann Februar 1988 dafür Geld zu sammeln, <strong>und</strong><br />
es bildete sich ein „Trägerkreis für ein Kommunikationszentrum“ (KOZ-Trägerkreis) 83 . Im BSA wurde<br />
Sup. Magirius die Zusage abgerungen, sich nach entsprechenden Räumen umzusehen. Der Trägerkreis<br />
entwickelte eine Konzeption für das Kommunikationszentrum, die am 29.04.1988 durch den BSA<br />
bestätigt wurde. Da Sup. Magirius im Sommer 1988 noch keine Räume genannt hatte, versuchte die<br />
Gruppe, selbst mit Pfarrern <strong>und</strong> Kirchenvorständen zu verhandeln. Der KV „Heilig Kreuz“ (Pf. Erler)<br />
erklärte sich im August 1988 bereit, einen Raum zur Verfügung zu stellen. Vorher sollte jedoch die<br />
Rechtslage des Trägerkreises geklärt sein. Dafür wurde zwischen den beiden Bezirkskirchenausschüssen<br />
Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West <strong>und</strong> dem Trägerkreis ein Modus gef<strong>und</strong>en (vgl. Dok. 85 <strong>und</strong> 87). In den<br />
Materialien des BEK für die Friedensdekade 1988 wurde schon auf ein örtliches Büro des Konziliaren<br />
Prozesses in Leipzig hingewiesen, doch im Oktober wurden die Zusage des KV „Heilig Kreuz“ gegenüber<br />
dem Trägerkreis zurückgenommen (vgl. Dok. 100) 84 . Nun versuchte der Trägerkreis, in der Markus-<br />
Gemeinde einen Raum zu bekommen. Doch diese stellte nur ihre „Gemeindebibliothek“ als<br />
„Umweltbibliothek“ zur Verfügung. Dort konnten einige St<strong>und</strong>en pro Woche die Publikationen der<br />
politisch alternativen Gruppen eingesehen werden. Das Sicherheitskartell, welches jeden Ansatz einer<br />
kritischen Kommunikation zu unterdrücken versuchte, ging konspirativ - aber massiv - gegen die<br />
Trägergruppe vor. Das Telefon der Markus-Gemeinde wurde abgehört, <strong>und</strong> im Haus gegenüber der<br />
Bibliothek richtete das MfS einen Raum ein, der eine direkte Überwachung ermöglichte. 85 Für den<br />
Trägerkreis fand sich keine Möglichkeit mehr, einen öffentlich zugänglichen Raum selbst zu verwalten.<br />
Auf der Ökumenischen Versammlung in Dresden (April 1989) 86 <strong>und</strong> auf dem Statt-Kirchentag in Leipzig<br />
(Juni 1989) wurden die frustrierenden Erfahrungen der Gruppenvertreter mit einer Dokumentation unter<br />
dem Titel „Eine Hoffnung wird lahmgelegt“ veröffentlicht. Als es am 11. September 1989 nach dem<br />
Friedensgebet zu Verhaftungen kam, ging eine spontan gebildete Kontaktgruppe zu Pf. Turek <strong>und</strong> erhielt<br />
dort ab 15.09. einen Raum mit Telefonanschluß. Angesichts der Ausnahmesituation wurde nun nicht nach<br />
einer rechtlichen Absicherung gefragt. Wenige Tage später wurden auch von den beiden<br />
Bezirkskirchenausschüssen neue Möglichkeiten für ein KOZ eröffnet. Es sollte sich jedoch nun<br />
„Ökumenisches Begegnungszentrum“ 87 nennen. Mit dem politischen Wandel gab es jedoch neue<br />
Möglichkeiten für eine freie Kommunikation (z.B. „Bürohaus“ des Neuen Forums ab Mitte Oktober 1989<br />
in Leipzig-Lindenau).<br />
83 Zu Beginn gehörten zu dieser Gruppe u.a.: G. Heide, M. Jankowski, A. Ludwig, B. Moritz, B. Oehler, G.<br />
Oltmanns, R. Quester <strong>und</strong> A. Radicke<br />
84 vgl. Wie die Leipziger Stasi ein „KOZ“ verhinderte, in: taz vom 25.02.1991; Br. Moritz, Geschichte der<br />
planmäßigen Verhinderung eines Kommunikationszentrums...; Pf. Erler arbeitete 1989 mit dem MfS zusammen;<br />
vgl. a. Besier/Wolf, 671f.<br />
85 Bearbeitungskonzeption zur wirksamen Zurückdrängung feindlich-negativer Aktivitäten zur Etablierung eines<br />
„Kommunikationszentrums“ (KOZ) kirchlicher Basisgruppen in Leipzig [der Abteilung XX der BV Leipzig vom<br />
12.03.1989] (ABL H 9), S. 6. Vgl. Jahresplan des Leiters der Abteilung XX [BV MfS - Leipzig] vom 28.12.1988,<br />
GVS 153/88, S. 6f. (ABL H 9), teilweise abgedruckt in: Kirchliche Zeitgeschichte 2/91, 305ff.<br />
86 Von der Dresdener Versammlung wurde auch ein Brief an die beiden Leipziger Bezirkssynoden mit der Bitte um<br />
Einrichtung solch eines Kommunikationszentrums gerichtet, der u.a. von Prof. Kühn, Prof. Feiereis, R. Pahnke<br />
<strong>und</strong> Fr. Schorlemmer unterzeichnet wurde (ABL H 2).<br />
87 vgl. Protokoll der Sitzung des Vertrauensrates des „Ökumenischen Begegnungszentrums“ am 27.09.1989, in:<br />
Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 279f.<br />
369
Konziliarer Prozeß<br />
Auf der 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Vancouver 1983 wurde auf<br />
Anregung der DDR-Delegierten beschlossen, die Kirchen zu bitten, einen „konziliaren Prozeß<br />
gegenseitiger Verpflichtung (B<strong>und</strong>) für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> die Bewahrung der Schöpfung“ zu<br />
beginnen (epd-Dok 46/83). Der Zentralausschuß des ÖRK beschloß 1984, daß dieser Prozeß zu einer<br />
ökumenischen Weltversammlung führen sollte. Die B<strong>und</strong>essynode der Evangelischen Kirchen in der DDR<br />
beauftragte 1985 die KKL mit der Koordinierung solch eines „Konzils“ <strong>und</strong> rief die Gemeinden zur<br />
Mitarbeit daran auf. 88 Am 13.02.1986 gab der Dresdener Stadtökumenekreis den Gemeinden in der DDR<br />
die organisatorische Empfehlung, zunächst „im eigenen Haus“ zu versuchen, was zu der<br />
Weltversammlung führen soll. Daraus entwickelten sich dann die drei ökumenischen Versammlungen in<br />
der DDR (Dresden <strong>und</strong> Magdeburg 1988/89) 89 . Die Synode der Sächsischen Landeskirche verhandelte<br />
den Dresdener Vorschlag im März 1986. U.a. der Sozial-Ethische Ausschuß der Synode engagierte sich in<br />
der Folgezeit für die Arbeit am Konziliaren Prozeß in Sachsen. In Leipzig wurde dafür der BSA<br />
geschaffen. Da sich kirchliche Gremien in großer Vielfalt an diesem „Prozeß“ beteiligten, konnte die<br />
Arbeit der verschiedenen Basisgruppen innerhalb der Kirche kaum noch als illegitim hingestellt werden.<br />
So trat mit dem Konziliaren Prozeß „eine neues Subjekt kirchlichen Redens“ in Erscheinung 90 , <strong>und</strong> mit<br />
dem Verweis auf den Konziliaren Prozeß konnten sich politisch-alternative Gruppen kirchlich<br />
legitimieren. Im Rückblick läßt sich feststellen, daß eine Integration der politisch-alternativen Gruppen in<br />
die kirchliche Arbeit vor allem im Konziliaren Prozeß gelang, da hier das politische Mandat der Kirche<br />
nicht über seine Grenzen thematisiert wurde. Für Leipzig verbanden sich neben den Friedensgebeten drei<br />
Institutionen mit dem Konziliaren Prozeß: der BSA, das KOZ <strong>und</strong> die von den Gruppen organisierten<br />
Zukunftswerkstätten bzw. Tage des Konziliaren Prozesses. Einige Leipziger Gruppen konnten Vertreter in<br />
die ökumenische Versammlung nach Dresden <strong>und</strong> auch nach Basel entsenden (Aktion Sühnezeichen, AG<br />
Friedensdienst, Friedenskreis Grünau/Lindenau, IHN, AGU, AKSK).<br />
Die zwölf Themenkomplexe der ökumenischen Versammlung waren: Umkehr zu Gerechtigkeit, Frieden<br />
<strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung; Leben in Solidarität; Mehr Gerechtigkeit in der DDR; Der Übergang von<br />
einem System der Abschreckung zu einem System der politischen Friedenssicherung; Wehrdienst <strong>und</strong><br />
vormilitärische Ausbildung; Friedenserziehung; Kirche des Friedens werden; Neue Lebensweisen; Den<br />
Menschen dienen - das Leben bewahren; Ökologie <strong>und</strong> Ökonomie; Energie für die Zukunft; Der Wert von<br />
Informationen für Umweltbewußtsein <strong>und</strong> -engagement.<br />
Montagsdemonstrationen<br />
Die Demonstrationen der H<strong>und</strong>erttausend im Oktober/November 1989 hatten eine längere Vorgeschichte<br />
(z.B. Kerzendemonstrationen im Herbst 1983). Die erste Demonstration an einem Montag gab es während<br />
der Frühjahrsmesse 1988. Zur Herbstmesse wurde eine erneute Demonstration erwartet. Sie wurde dann<br />
Teil des Auszugs einiger Gruppenmitglieder aus den Friedensgebeten, nachdem sie an deren<br />
Mitgestaltung gehindert wurden. Nach nichtgenehmigten Aktionen innerhalb der Kirche war die zweite<br />
Etappe des Auszugs, eigene Veranstaltungen auf dem Nikolaikirchhof durchzuführen. So wurde dieser<br />
Platz zum politischen Forum (Speakers Corner, Transparente, Flugblätter, Kerzen, Demonstrationen), <strong>und</strong><br />
aus den Nachgesprächen, die im Frühjahr/Sommer 1988 in der Kirche stattfanden, wurden Meetings auf<br />
dem Nikolaikirchhof. Die strategische Konstellation war perfekt, denn eine Behinderung durch den DDR-<br />
Sicherheitsapparat war kaum möglich. Der Zugang mußte im Interesse „freier Religionsausübung“<br />
gewährt werden, aber auch ein späteres Eingreifen konnte als „Willkürakt gegen Gottesdienstbesucher“<br />
gedeutet werden. Kirchenvertreter dagegen konnten mit gutem Gewissen sagen, daß sie das, was vor der<br />
Kirche geschieht, nicht beeinflussen können. Damit scheiterte die von der SED initiierte<br />
88 Beschluß vom 24.09.1985, in: KiS 6/1985, 245<br />
89 s. Neubert (1985); Tammer, 113 <strong>und</strong> Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der<br />
Schöpfung<br />
90 Ziemer, in: Bericht der Enquete-Kommission, 170<br />
370
ordnungspolitische Aufteilung zwischen SED-Regime <strong>und</strong> Kirche an den Meetings nach den<br />
Friedensgebeten auf dem Nikolaikirchhof.<br />
Den Gruppenvertretern reichte jedoch schon Ende 1988 das Spektrum der Friedensgebetsbesucher nicht<br />
mehr, weshalb sie an Demonstrationen unabhängig von den Friedensgebeten auf zentralen Leipziger<br />
Plätzen dachten (Dok. 119). Dies gelang ihnen am 15.01.1989 auf dem Leipziger Marktplatz (ca. 500<br />
Teilnehmer). Da staatliche Repressionen sowohl gegen die Demonstranten als auch gegen die<br />
Organisatoren durch die nationale <strong>und</strong> internationale Solidarität kaum zum Zuge kam, entstand nun in<br />
Leipzig eine Gruppe, die auf Demonstrationen als zentrales politisches Mittel setzte. 91 Das<br />
Sicherheitskartell verstärkte den Einsatz von Mitarbeitern um die Nikolaikirche (s. z.B. Dok. 131). Zu<br />
einer Demonstration nach einem Friedensgebet kam es jedoch erst wieder am Messemontag, dem 13.<br />
März 1989. Berichte von der Demonstration brachten ARD <strong>und</strong> ZDF noch am gleichen Abend. 92 Obwohl<br />
das FG am Montag, dem 1. Mai 1989, aufgr<strong>und</strong> des Feiertages ausfiel, kamen einige Menschen zur<br />
Nikolaikirche. Da die Tür verschlossen war, gingen sie in einer größeren Gruppe über den Marktplatz zur<br />
Thomaskirche <strong>und</strong> zurück. Ein ZDF-Team machte davon Aufnahmen, so daß es in den b<strong>und</strong>esdeutschen<br />
Medien hieß, in Leipzig hätte es eine Gegendemonstration zur offiziellen „Kampfdemonstration“<br />
gegeben. Für den 7. Mai, 18.00 Uhr, hatte die „Demokratische Initiative“ zu einer Demonstration gegen<br />
die Wahlfarce aufgerufen. Gegen diese Demonstration versuchte das Sicherheitskartell mit aller Gewalt<br />
vorzugehen (Innenstadtverbote, kurzzeitige Inhaftierungen, Verbreitung des Gerüchtes, daß<br />
Kampfgruppen eingesetzt <strong>und</strong> Demonstranten per Strafbefehl in Lagern inhaftiert würden, Einsatz von<br />
93 mehreren h<strong>und</strong>ert gesellschaftlichen Kräften, Sondereinsatz des MfS ... ). Dennoch versuchten mehrere<br />
h<strong>und</strong>ert Personen, auf dem Marktplatz <strong>und</strong> vor der Nikolaikirche zu demonstrieren. Es kam zu 76 brutalen<br />
Inhaftierungen, die aus Zuschauern eine protestierende Menge werden ließen. 94 Am folgenden Tag<br />
gestaltete die Initiativgruppe „Leben“ bzw. Mitglieder der „Demokratischen Initiative“ das Friedensgebet<br />
(Dok. 154). Nach dem Friedensgebet blieb die Hälfte der Teilnehmer in kleineren Gruppen diskutierend<br />
auf dem Nikolaikirchhof stehen. Kurz darauf riegelten Polizeiketten die Abgänge des Nikolaikirchhofes<br />
ab, <strong>und</strong> die Gottesdienstbesucher wurden aufgefordert, den Platz zu verlassen. Dieser Aufforderung<br />
folgten sie jedoch kaum. Einige Personen wurden festgenommen (Dok. 159). Auf einem Dach gegenüber<br />
der Kirche installierte das Innenministerium eine Kamera, so daß die Einsatzleitung des<br />
Sicherheitskartells das Geschehen auf dem Nikolaikirchplatz direkt im Führungspunkt verfolgen konnte.<br />
Die Videos wurden später Mitarbeitern der Abteilungen Innere Angelegenheiten vorgespielt, damit diese<br />
die Ausreisewilligen identifizierten <strong>und</strong> eventuell kurzfristig ausreisen ließen. 95 Das Sicherheitskartell<br />
empfand die Demonstrationen am L/7. <strong>und</strong> 8. Mai in Zusammenhang mit anderen<br />
Demokratisierungsbestrebungen 96 als sehr bedrohlich. Es wurde eingeschätzt, „daß in Leipzig eine<br />
91 Dietrich (1994), s.a. S. 500<br />
92 Dabei wurden auch einige der Organisatoren der Demonstration am 15.01.1989 als Demonstranten gezeigt. s.a.<br />
DPA-Meldung in den Zeitungen am 14.03.1989 unter den Überschriften „Rufe: Wir wollen raus!“ oder<br />
„Demonstration für Ausreise in Leipzig“, FR (15.03.1989): Bonn erinnert DDR an Menschenrechte; SZ (15.03.);<br />
Tagesspiegel (15.03.), Foto (AP) in: FAZ (15.03.), 4<br />
93 Dietrich (1994)<br />
94 Vgl. Interviewbericht von D. Pollack, in: Opp/Voß/Gern (1993), 194 Die Umweltblätter veröffentlichten im Juni<br />
1988 die Verteidigungsrede von V. Havel, die er im Frühjahr 1989 hielt, als er erneut zu einer Haftstrafe<br />
verurteilt wurde, dort hieß es u.a.: „Es geschah nämlich etwas, was mir nicht im Traum eingefallen wäre: Ein<br />
völlig überflüssiges Eingreifen der Sicherheitskräfte gegen jene, die in aller Stille <strong>und</strong> ohne jegliches Aufsehen<br />
Blumen am Denkmal niederlegen wollten, machte aus den gänzlich unbeteiligten Passanten eine protestierende<br />
Menge. Es wurde mir plötzlich klar, wie tief die Unzufriedenheit in der Bevölkerung sein muß, wenn es zu so<br />
etwas kommen kann.“<br />
95 BStU Leipzig AB 780<br />
96 In Referatsbesprechung der Abt. XX der BV Leipzig am 12.05. wurden genannt: Entwicklungen in Ungarn<br />
(Beginn der Grenzöffnung am 02.05.1989), die Ankündigung der Gründung einer Sozialdemokratischen Partei<br />
<strong>und</strong> die Dokumentation des Wahlbetruges durch Gruppen <strong>und</strong> Kirche (BStU Leipzig AB 1137). Schon im März<br />
wurden drei Großeinsätze an diesen drei Tagen gegen die Opposition geplant („Symbol ’89“).<br />
371
größere Gruppe von Personen vorhanden ist, die in Opposition zur Partei steht“ <strong>und</strong> risikobereit sei 97, <strong>und</strong><br />
beschlossen, Druck auf die Kirche auszuüben. Das MfS ging davon aus, daß die Demonstrationen mit den<br />
Friedensgebeten in direktem Zusammenhang stehen 98 <strong>und</strong> folgte der Argumentation: „Solange [die]<br />
Kirche nicht in [der] Lage ist, ist [der] Staat gezwungen weiter zu handeln auch [durch] poliz[eiliche]<br />
Maßn[ahmen]“ 99 . Mit der Polizeiaktion am 08.05.1989 hatte sich das Sicherheitskartell jedoch in eine<br />
Zwangslage manövriert. Wurden die auf dem Nikolaikirchhof stehenbleibenden Gottesdienstbesucher in<br />
Zukunft nicht eingekesselt bzw. auseinandergetrieben, mußte es wie eine Legalisierung der<br />
Demonstrationen wirken, kam es jedoch zu einem Polizeieinsatz, untergrub der Staat seine Autorität<br />
weiter. Die folgenden Montage glichen ritualisierten Machtkämpfen. Sie wurden durch die Sommerpause<br />
der Friedensgebete unterbrochen. Das erste „Montagsgebet“ nach der Sommerpause fand am 4.<br />
September, also während der Herbstmesse, statt. Es war klar, daß es eine Demonstration geben wird, da<br />
sich zur Messe Öffentlichkeit leicht herstellen ließ. Diese Möglichkeit sollte nach dem Willen einiger<br />
Oppositioneller aber nicht allein den Ausreisewilligen überlassen werden. 100 Ihre Forderungen (z.B.: „Für<br />
ein offenes Land mit freien Menschen“ „Reisefreiheit statt Massenflucht“, „Versammlungs- <strong>und</strong><br />
Vereinigungsfreiheit“) waren am Abend per TV in den Wohnstuben zu sehen, obwohl zivile Schutzkräfte<br />
die Transparente nach wenigen Sek<strong>und</strong>en herunterrissen <strong>und</strong> kassierten. Danach hatten sie versucht, einen<br />
Demonstrationszug zu organisieren, doch die Polizeiketten gestatteten kein Verlassen des Platzes vor der<br />
Nikolaikirche. Nun begann die Demonstration der Ausreisewilligen vor den Fernsehkameras. Diese<br />
beiden medienwirksamen Demonstrationen wertete das Sicherheitskartell als „Signal für [den]<br />
Generalangriff auf sozialistische Verhältnisse in der DDR“ 101 , weshalb Stasi-Minister Mielke seinen<br />
Soldaten für den nächsten Montag befahl, jede Demonstration <strong>und</strong> „Berichterstattung der Journaille“ zu<br />
unterbinden. 102 In der „Leipziger Volkszeitung“ wurden die Demonstranten als „politische Rowdys <strong>und</strong><br />
Provokateure“ beschimpft. 103 Am folgenden Montag wurde der Kirchplatz für Autos gesperrt, parkende<br />
Autos wurden abgeschleppt. Während des Friedensgebetes wurden immer wieder Personen, die sich auf<br />
dem Nikolaikirchhof versammelten, vertrieben. Nach dem FG standen kleine Grüppchen auf dem Platz.<br />
Außerhalb der Polizeiketten hatte sich eine große Zahl Schaulustiger versammelt. Das Sicherheitskartell<br />
ging brutal gegen die auf dem Nikolaikirchhof Stehenden vor. Viele wurden festgenommen. Elf von<br />
ihnen wurden in den folgenden Wochen zu mehreren Monaten Haft verurteilt. Daraufhin bildete sich eine<br />
Koordinierungsgruppe für Fürbittandachten (s. unter Koordinierungsgruppe, S. 504), die mit Blumen,<br />
Kerzen <strong>und</strong> Schildern an der Nikolaikirche gegen die Inhaftierungen protestierte <strong>und</strong> den Platz vor der<br />
Nikolaikirche zu einem „Pilgerort“ machte. Dem Sicherheitskartell wurde nach dem 11.09. klar, daß es<br />
die Entwicklung mit den bis dahin üblichen Mitteln nicht mehr aufhalten konnte. Die Polizeisperrketten<br />
waren nun nicht mehr gegen Demonstranten auf dem Kirchhof gerichtet, sondern vor allem gegen die<br />
vielen h<strong>und</strong>ert Schaulustigen, die ihre Sympathien mit den Personen im Polizeikessel zeigten. Es wurde<br />
ein neuer Einsatzkomplex begonnen: Statt „Spinne“ „Biber“. Die Situation am 18.09. war jedoch aus<br />
einem weiteren Gr<strong>und</strong> eine andere. Seit einer Woche war der „Eiserne Vorhang“ (via Ungarn) offen. Die<br />
Ausreisewilligen waren nun in der Minderheit, die Zahl der Schau- <strong>und</strong> Demonstrationslustigen hatte<br />
jedoch bedeutend zugenommen. Das Sicherheitskartell versuchte wiederum mit einem brutalen<br />
Polizeieinsatz, Demonstrationen zu unterbinden (Dok. 208, 209, 212). Am folgenden Montag waren so<br />
viele Menschen um die Nikolaikirche versammelt, daß ein Polizeieinsatz eine Demonstration vermutlich<br />
nicht verhindern konnte. Einige Tausend von ihnen zogen durch das Stadtzentrum über den Ring zum<br />
Hauptbahnhof <strong>und</strong> weiter zur Reformierten Kirche <strong>und</strong> zurück, ohne daß das Sicherheitskartell es<br />
97 In diesem Zusammenhang wurde den Stasi-Mitarbeitern auch mitgeteilt, daß es in Leipzig 20.900 Nichtwähler<br />
<strong>und</strong> Gegenstimmen gab. (BStU Leipzig AB 797)<br />
98 Die vom MfS angelegte Datei mit den Daten zu festgenommenen Demonstranten nannte sich „nicolai“. Hier<br />
wurden auch die „Zugeführten“ vom 15.01.1989 <strong>und</strong> vom 07.05.1989 gespeichert.<br />
99 OSL Tinneberg auf Referatsleiterbesprechung am 12.05.1989 (BStU Leipzig AB 1137)<br />
100 s. Bericht G. Oltmanns (1990)<br />
101 BStU Leipzig AB 744<br />
102 ebenda<br />
103 LVZ am 07.09.1989<br />
372
verhinderte. Damit war der Bann gebrochen. 104 Die Opposition <strong>und</strong> die unzufriedene Bevölkerung hatte<br />
ein effektives Medium der Druckausübung auf das SED-Regime, <strong>und</strong> die SED-Spitze verstand nun, daß<br />
ihre Macht nicht unbegrenzt ist. Honecker befahl Führungsbereitschaft (s. S. 467ff.). Alle Beteiligten<br />
drängten auf eine Entscheidung. Doch auch die Spezialeinheiten, die am 02.10. gegen die Demonstranten<br />
eingesetzt wurden, konnten nicht verhindern, daß es am 40. Jahrestag der DDR-Gründung zu weiteren<br />
Demonstrationsversuchen in der Leipziger Innenstadt kam. Die breite „Diskussionskampagne“, die die<br />
SED nach dem 25.09. einleitete (Dok. 222), zeigte vielen Bürgern, daß die Herrschenden sich durch<br />
Demonstrationen beeinflussen lassen, damit stieg die Bereitschaft, sich an Demonstrationen zu beteiligen.<br />
Mit der Massendemonstration am 09.10.1989 rechnete jedoch vermutlich niemand, weshalb alle<br />
damaligen Angaben über Teilnehmerzahlen offensichtliche Unterschätzungen waren 105 <strong>und</strong> über 100.000<br />
Personen an diesem Tag den Leipziger Ring (im Mittelalter Stadtgraben um die Stadt) abgingen, ohne daß<br />
es zu einem Repressionsakt kam, obwohl eine Niederschlagung vorbereitet gewesen war. 106 Diese <strong>und</strong><br />
die folgenden „Montagsdemonstrationen“ bestimmten in großem Maße die Dynamik der Revolution, die<br />
zur Abwahl der SED <strong>und</strong> zum Fall der Mauer führte.<br />
104 Zum 25.09.: Zwahr 23-30; Neues Forum Leipzig 31f£; Sievers 42ff.; Mitter/Wolle, 174ff.; Fotos z.B. in:<br />
Schneider (1991), 18f.; Neues Forum Leipzig, 34f.; Heber/Lehmann, 50f.<br />
105 P. Voß schließt nicht aus, daß sich an der Demonstration doppelt so viel beteiligten als die Schätzungen (ca.<br />
70.000) angaben (in: Opp/Voß, 47). Die Polizei rechnete mit „bis zu 50.000“ Teilnehmern (Entschluß des Chefs<br />
der BDVP Leipzig zum Ordnungseinsatz am 9. Oktober 1989).<br />
106 zum 09.10.1989 s. S. 457 <strong>und</strong> Minderheitenvotum ...<br />
373
Entwicklung der Montagsdemonstrationen<br />
1 2 3 4 5 6<br />
a b c d e a b c d<br />
1988<br />
14.03 900 600 400 120<br />
05.09. 700 150 150 150<br />
12.09 300<br />
9.09. 250<br />
07.10. Bachdenkmal 100 50<br />
2410 800 400<br />
09.11<br />
1989<br />
700 100<br />
1501 auf dem Markt 800 200 300 53 0 0 0<br />
16.01 200<br />
23.01. 100<br />
3001 80<br />
06.02 150<br />
13.02 150<br />
20.02. 150<br />
27.02 150<br />
06.03. 80<br />
13.03. 650 300 300<br />
01.05. kein FG 125 50<br />
07.05 auf dem Markt 1500 500 76 12 1<br />
08.05 700 200 12<br />
15.05. kein FG 120 100<br />
22.05. 450 150 200 52 37 1 24 28<br />
29.05. 120 14<br />
05.06. 1000 100 kein Polizeieinsatz<br />
12.06. 600 250 50 50 27 15 9 22 11<br />
19.06. 650 100 60 60 33 17 7 25 >11<br />
26.06. 650 180 40 40 50 5 4 1 2<br />
03.07. 800 250 250 14 8 3 4 4<br />
04.09. 1000 800 250 500<br />
11.09. 1000 500 70 250 200 89 22 19 >26 11<br />
18.09. 1800 1800 31 5 3 4<br />
25.09. 2500 4000 8000 3500 4000 4000 6 1<br />
02.10. 2000 5000 25000 8000 20<br />
07.10. kein FG 4000 4000 210 1 13 >82 13<br />
09.10. 70000<br />
1 Teinehmer am FG<br />
2 Teilnehmer am Meeting nach dem FG auf dem Nikolaikirchhof<br />
3 Teinehmer an der Demonstration<br />
3a Bericht der Teilnehmer<br />
3b MfS-Bericht<br />
3c Bericht des RdS bzw. des RdB<br />
3d Bericht der SED-SL bzw. SED-BL<br />
3e Bericht der BDVP<br />
4a Anzahl der Festnahmen, davon<br />
4b erteilte Ordnungsstrafen (bis zu 1000,- Mark)<br />
4c erteilte Strafbefehle (bis zu 10.000,- Mark)<br />
4d Haftstrafen über mehrere Monate<br />
5 Zahl der Ausreisewilligen unter den Festgenommenen<br />
6 Zahl der nicht im Bezirk Leipzig beheimateten Festgenommenen<br />
374
Olof-Palme-Marsch<br />
Der „Olof-Palme-Friedensmarsch für einen atomwaffenfreien Korridor“ war eine Initiative der<br />
„Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFGVK)“, des staatlichen<br />
Friedenskomitees der CSSR <strong>und</strong> des DDR-Friedensrates. Der BEK durfte sich an den Veranstaltungen<br />
zwischen 1. <strong>und</strong> 18. September 1987 in Strals<strong>und</strong>, Ravensbrück, Sachsenhausen, Berlin, Wittenberg oder<br />
Dresden beteiligen <strong>und</strong> sogar Teilnehmer in die B<strong>und</strong>esrepublik <strong>und</strong> in die CSSR delegieren. Die<br />
Demonstrationen einer eigenständigen Friedensbewegung waren jedoch nur in den ersten Tagen ohne<br />
Behinderungen möglich. Vermutlich, um den Besuch Honeckers in der B<strong>und</strong>esrepublik zur gleichen Zeit<br />
nicht zu belasten.<br />
Pf. Wonneberger ließ zu dieser Demonstration Plakate drucken <strong>und</strong> gestaltete das FG am 07.09.1987 als<br />
Gottesdienst zum 0.-Palme-Marsch. Leipziger Gruppenmitglieder nahmen vor allem an einem Meeting in<br />
Torgau teil, bei dem Sicherheitskräfte <strong>und</strong> „gesellschaftliche Kräfte“ nichtloyale Transparente abdrängten.<br />
Nach den Erfahrungen <strong>und</strong> Berichten von den Veranstaltungen an den Vortagen in Berlin <strong>und</strong> Wittenberg<br />
geschah dies unerwartet. Auch an dem Marsch von Torgau nach Riesa nahmen vor allem Leipziger<br />
Gruppenmitglieder teil. 107<br />
Pleißemarsch<br />
Mitglieder der IGL <strong>und</strong> der AGU versuchten 1988 anläßlich des Weltumwelttages eine öffentliche Aktion<br />
zur ökologischen Sensibilisierung <strong>und</strong> des Protestes ähnlich wie in den Vorjahren die Aktion „Mobil ohne<br />
Auto“. Sie wollten durch einen Umzug entlang des teilweise unsichtbaren, da wegen ihres zu großen<br />
Gestankes 1956 unter die Erde verlegten Leipziger Flusses Pleiße auf die Umweltverschmutzung in<br />
Leipzig aufmerksam machen. Zu dem Umzug wurde durch Flugblätter, Plakate sowie durch Briefe, u.a. an<br />
den Oberbürgermeister, Mitglieder der Gewässeraufsicht, Pfarrer, Betriebsdirektoren <strong>und</strong> Medienvertreter<br />
eingeladen. 108 Die Einladungen wurden mit der Post versandt, in Hausbriefkästen gesteckt, in<br />
Telefonzellen ausgelegt oder an Litfaßsäulen geklebt. Ein Veranstalter des Marsches wurde nicht genannt.<br />
Der Staat versuchte, „die Superintendenten in die Verantwortung zu nehmen“ 109. Infolgedessen suchte<br />
z.B. der Superintendentenvertreter, Pf. Wugk, U. Schwabe am Arbeitsplatz (bei der Inneren Mission) auf<br />
<strong>und</strong> bat ihn alle, die er zu diesem Marsch eingeladen habe, wieder auszuladen. 110 Die Pfarrer, die in den<br />
Gemeindeschaukästen zum Pleißemarsch einluden, wurden aufgefordert, die Plakate zu entfernen.<br />
Gegenüber dem Staat erklärten die Superintendenten, von dem Vorhaben nichts zu wissen, <strong>und</strong><br />
distanzierten sich von dem Umzug. 111 Auch in den Friedensgebeten durfte nicht zum Pleißemarsch<br />
eingeladen werden. Am 5. Juni 1988 trafen sich dann über 200 Personen, um demonstrativ 1 St<strong>und</strong>e durch<br />
Leipziger Straßen zu ziehen. Einige trugen Aufnäher mit der Aufschrift „1. Pleiße-Gedenkumzug“.<br />
Unterwegs entnahmen sie dem Fluß (an einer nicht verschütteten Stelle) eine Wasserprobe <strong>und</strong> stellten im<br />
Zetkinpark drei - dort am Vortag versteckte - Informationstafeln zur Pleiße auf. Schon im Sommer 1988<br />
beschloß die IG „Leben“, 1989 erneut einen „PleißeMarsch“ durchzuführen. Er sollte unter dem Motto<br />
„Betroffenheit, Besinnung <strong>und</strong> Mahnung“ stehen <strong>und</strong> offiziell angemeldet werden. Zur Vorbereitung<br />
bildete sich ein Ad-hoc-Arbeitskreis „Weltumwelttag“. Er erarbeitete eine umfangreiche Ausstellung <strong>und</strong><br />
107 s. M. Herrmann, Ein Stück „Glasnost“ - um des Friedens willen, in: KiS 5/87, 181-184; R<strong>und</strong>schreiben Mittigs<br />
vom 6.8. <strong>und</strong> 14.10.1987 in: Besier/Wolf 487-508 <strong>und</strong> Bericht in: „Streiflichter“ vom 27.10.1987 (ABL Box 6).<br />
Über die Beteiligung der Leipziger gibt es eine Fotodokumentation (Ausstellung), die zum Teil im ABL liegt.<br />
108 Flugblatt abgedruckt in: Umweltblätter 8/88, 21<br />
109 MfS-Dienstbesprechung bei Eppisch am 31.05.1988 (BStU Leipzig AB 1161)<br />
110 U. Schwabe hatte die Einladung an die Empfänger der „Streiflichter“ per Post versandt <strong>und</strong> war deshalb dem<br />
Sicherheitskartell als Initiator aufgefallen. Bei seiner Vernehmung hatte er erzählt, von der geplanten Aktion<br />
durch einen Aushang während eines Gruppentreffens in Halle erfahren zu haben <strong>und</strong> da er die Idee gut fände,<br />
hätte er sie verbreitet.<br />
111 s. Dok. 63. 01.08.1988. Sie übernahmen auch keine Verantwortung für eine ursprünglich für den 11.6.1988<br />
geplante „Zukunftswerkstatt“ (Treffender Gruppen, die sich am Konziliaren Prozesses beteiligten), so daß diese<br />
in diesen Tagen abgesagt werden mußte.<br />
375
ein Arbeitsheft zur Geschichte des Flusses. 112 Obwohl die staatlichen Stellen nicht an eine Genehmigung<br />
des „Pleißemarsches“ gedacht hatten, teilten sie die Ablehnung erst 10 Tage zuvor mit. Der Arbeitskreis<br />
beugte sich formal dem Verbot. Der Pilgermarsch sollte von zwei Gottesdiensten <strong>und</strong><br />
Informationsveranstaltungen gerahmt werden. Diese konnten schlecht verboten werden, so luden die<br />
Basisgruppen <strong>und</strong> die Kirchgemeinden zu den Gottesdiensten ein. Das Sicherheitskartell versuchte zu<br />
verunsichern, führte kurz vor dem Weltumwelttag 63 Gruppenmitglieder zu <strong>und</strong> untersagte ihnen eine<br />
Teilnahme an einer „Zusammenrottung“ am Weltumwelttag. 113 Am 4. Juni wurden mehrere<br />
Gruppenmitglieder unter Hausarrest bzw. offensive Beschattung gestellt, andere wurden auf dem Weg zur<br />
Paul-GerhardKirche festgenommen. Zum Eröffnungsgottesdienst kamen dennoch 1000 Personen. 114 Im<br />
Eröffnungsgottesdienst predigte der Universitätsprofessor K. Nowak über den Zusammenhang von der<br />
Heilung des Flusses, der Heilung der Gesellschaft <strong>und</strong> der Heilung des Menschen. 115 Am Ende des<br />
Gottesdienstes teilte Jugendpfarrer Kaden mit, daß der Pilgermarsch nicht genehmigt worden sei, <strong>und</strong> der<br />
Staat Repressionen bei Nichtbeachtung angedroht habe. Er rief „jeden einzelnen zu verantwortlicher<br />
Entscheidung auf“ 116 <strong>und</strong> lud zum Gottesdienst in der Reformierten Kirche ein. Bevor die Teilnehmer die<br />
Kirche verließen, wurde eine Liste herumgegeben, auf der sich alle eintragen sollten, die den Pilgerweg<br />
trotz Verbot gehen wollten. Im Falle von Verhaftungen konnte man dann gleich die Namen der<br />
Festgenommen feststellen. Auf die Liste trugen sich jedoch nur 22 Personen ein. 117 Die ersten, die die<br />
Kirche verließen, konnten ungehindert die Polizeiwagen passieren <strong>und</strong> zur zweiten Kirche in die<br />
Innenstadtgehen. Dann wurden jedoch die Polizei-Sperrketten zugezogen.<br />
Die Polizei war auf 300 Verhaftungen eingerichtet 118 <strong>und</strong> umstellte immer wieder die in einzelnen Gruppe<br />
gehenden Gottesdienstbesucher. Es kam zu einem Verkehrsstau auf einer wichtigen Ausfallstraße, eine<br />
größere Gruppe wurde von der Polizei zum Gebäude der SED-BL getrieben. Als sich einige Eingekesselte<br />
zu einem Sitzstreik niederließen, wurden 74 Personen herausgegriffen <strong>und</strong> festgenommen. 119 Sie sollten<br />
später Ordnungsstrafen bis zu 500,- Mark zahlen. Zum Gottesdienst des AK „Solidarische Kirche“ in der<br />
Reformierten Kirche kamen noch ca. 400 Personen. 120<br />
Sozialer Friedensdienst (SoFD)<br />
Die Forderung nach einem „sozialen Friedensdienst“ entstand innerhalb der evangelischen Kirche in der<br />
DDR nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht (1961). Der Dienst in den 1964 innerhalb der<br />
Armee eingerichteten Baueinheiten konnte nicht als ein „sozialer Friedensdienst“ bezeichnet werden,<br />
weshalb sich Bausoldatengruppen <strong>und</strong> evangelische Arbeitskreise <strong>und</strong> Synoden danach für einen<br />
„Zivildienst“ z.B. im Ges<strong>und</strong>heitswesen einsetzten (EKU-Synode 1965, Handreichung „Zum<br />
Friedensdienst der Kirche“ 1965). Verstärkt wurde diese Forderung nach der Einführung des<br />
Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes an den Schulen (1978) wiederaufgenommen. Ein Friedenskreis in der Dresdener<br />
Weinbergsgemeinde (Frieder Burckhardt <strong>und</strong> Christoph Wonneberger) konkretisierte die Forderung nach<br />
einem Zivildienst 1980. 121 Gleichberechtigt neben dem Wehrdienst <strong>und</strong> dem Wehrersatzdienst<br />
112 Die Pleiße. Heft I(4. Juni 1989) (38 S.; ca. 1000 Exemplare)<br />
113 S. MfS, ZAIG, Hinweis auf eine geplante provokatorisch-demonstrative öffentlichkeitswirksame Aktion in<br />
Leipzig anläßlich des Weltumwelttages (BStU ZAIG 4594, 162-164).<br />
114 s. Bericht „Streiflichter“, die „Umweltblätter“ meldeten 500 Besucher („a.b.“, Pleiße-Gedenkmarsch im Juli-<br />
Heft, 91). Die Zahl „1000“ wurde von T. Hollitzer (AK Umwelttag) in einem Brief vom 13.08.1989 an die<br />
Umweltblätter verteidigt (ABL Hefter 1). Die staatlichen Stellen sprachen von 800 Teilnehmern.<br />
115 Predigt abgedruckt in: Nowak (1990a), 10-13<br />
116 so Bericht in „Streiflichter“ vom 10.07.1989<br />
117 Pleiße - Pilgerweg `89 - Eine Hoffnung wollte gehen - bis wohin kam sie? (ABL Hefter 1)<br />
118 BStU Leipzig AB 1163<br />
119 Fernschreiben-Nummer 264 der SED-BL vom 5.06. an E. Krenz (StAL SED A 4972)<br />
120 Dietrich (1994)<br />
121 Zur Entstehung s.: St. Bickhardt, Ein Friedensdienst der Zukunft hat. Nach einem Gespräch mit Christoph<br />
Wonneberger, in: Spuren<br />
376
(Bausoldaten) sollte ein „Sozialer Friedensdienst (SoFD)“ eingerichtet werden. Dies sollte die<br />
Volkskammer beschließen. Der Dresdener Kreis wollte jedoch zuvor einen synodalen Probelauf starten.<br />
So ließen sie die Initiative von einem Pfarrkonvent als Antrag an die sächsische Landessynode (Herbst<br />
1980) beschließen. Die Synode machte sich den Antrag jedoch nicht zu eigen. Daraufhin verbreitete die<br />
Dresdener Gruppe ihr Initiativpapier 122 per Kettenbrief innerhalb der evangelischen Jugendarbeit <strong>und</strong> rief<br />
zu Eingaben an die Synoden für einen SoFD auf. Diesem Aufruf folgten über 5000 Gemeindeglieder in<br />
der ganzen DDR. In Leipzig gab es einige Jugendliche, die für diesen Aufruf <strong>und</strong> für den „Berliner<br />
Appell“ Unterschriften sammelten (s. S. 42, Anm. 1). Diese unabhängige Bewegung wurde vom Staat<br />
sofort als eine Bedrohung begriffen. Der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig<br />
behauptete im Juli 1981: „Unter den gegenwärtigen Bedingungen der imperialistischen<br />
Konfrontationspolitik ist die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst’ eindeutig auf die<br />
Schwächung der Verteidigungsbereitschaft der DDR gerichtet.“ 123 Entsprechend gezielt versuchten die<br />
staatlichen Stellen auch in Leipzig gegen diese Initiative vorzugehen. Dabei trat jedoch der Effekt ein, daß<br />
sie die Initiative z.B. unter den Pfarrern erst bekannt machten. 124 Im Laufe des Jahres 1981 wurde SoFD<br />
zu einem wichtigen Symbol des Widerstandes gegen das SED-Regime. Die B<strong>und</strong>essynode in Güstrow<br />
(1981) machte nach einem ablehnenden Votum des Staatssekretärs für Kirchenfragen die Initiative nicht<br />
zu ihrer eigenen Forderung, doch stellte sie sich hinter das Anliegen. 125 Daraufhin erhob der Cottbuser<br />
Parteisekretär W. Walde auf einer Tagung des ZK der SED den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit<br />
(ND 21.1L1981), die jedes weitere Eintreten für SoFD strafbar machte. Einige kirchliche Vertreter (z.B.<br />
Brief von Landesbischof Hempel oder Brief von H.J. Tschiche an Walde) protestierten dagegen,<br />
außerdem gab es bis zum Ende der DDR verschiedene Gruppen, die sich mit dem Anliegen der Initiative<br />
identifizierten <strong>und</strong> Modelle für die Verwirklichung eines SoFD entwickelten. 126<br />
Spitzengespräch am 6. März 1978<br />
Das Spitzengespräch am 6. März 1978 zwischen E. Honecker <strong>und</strong> dem Vorstand des B<strong>und</strong>es der<br />
Evangelischen Kirchen in der DDR 127 ist für die Staat-Kirche-Beziehungen in den folgenden 10 Jahren<br />
von großer Bedeutung gewesen. Eingebettet in die allgemeine Rechtsunsicherheit war die Rechtslage der<br />
Kirche von sogenannten Staat-Kirche-Gesprächen abhängig. Für die Kirche war dieses Gespräch wichtig,<br />
da sie darin als Kirche vom Staat anerkannt, ihr gesellschaftliche Funktion zugestanden <strong>und</strong> sie durch die<br />
Inszenierung gesellschaftlich aufgewertet wurde. So wurden der Kirche z.B. nun eigenverantwortete<br />
Sendezeiten im Radio <strong>und</strong> Fernsehen zugestanden. Außerdem konnten durch Berufung auf das Gespräch<br />
bestimmte Forderungen legitimiert werden. Wichtigster Satz in diesem Zusammenhang war, daß das<br />
Staat-Kirche-Verhältnis so gut sei, wie es von jedem einzelnen Christen erfahren würde. Formal wurde<br />
also den Christen das Recht auf Gleichberechtigung in der Gesellschaft zugestanden. Die SED gab die<br />
Rede vom „Absterben der Kirche“ auf <strong>und</strong> damit faktisch ihr Wahrheitsmonopol. Damit konnten jedoch<br />
gesellschaftliche Probleme nur „gesprächsfähig“ werden, wenn sie zu Staat-Kirche-Problemen firmiert<br />
wurden. Innerhalb der Kirche gab es einige Kritiker an dieser Politik des B<strong>und</strong>es bzw. der KKL. Bestärkt<br />
wurden sie, da von staatlicher Seite aus auf dieses Gespräch meist dann verwiesen wurde, wenn die<br />
Kirche dem Staat „vertrauen“ <strong>und</strong> sich nicht in gesellschaftspolitische Fragen „einmischen“ sollte. Der<br />
Präsident des Sächsischen LKA hatte bei dem Treffen 1978 moniert, daß „sich Bürger oft aus Angst vor<br />
Folgen scheuen, ihre Fragen offen auszusprechen“. K. Domsch stellte das Gespräch Anfang 1988 in eine<br />
Reihe verschiedener „vertrauensbildender Maßnahmen“ (10 Jahre „6. März“, in: Der Sonntag, 06.03.1988,<br />
1 f.) <strong>und</strong> forderte in diesem Zusammenhang am 7. März 1988 vom stellv. Vorsitzenden des RdB Leipzig<br />
122 Aufruf vom 09.05.1981 veröffentlicht in: Büscher/Wensierski/Wolschner, 169-171 <strong>und</strong> Lingner, 148f.<br />
123 Besier/Wolf 308-310, 309<br />
124 s. Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 145-152; 159-162<br />
125 MBl 34 1981, 57ff.; epd-Dok 43/81, 75ff.<br />
126 s. z.B. die nichtlizenzierten Publikationen „Arbeitsheft Sozialer Friedensdienst“ (Leipzig 1988 - ABL H 2), „Wir<br />
suchen weiter nach Wegen zum Frieden“ (Naumburg 1988 - ABL H 25)<br />
127 dokumentiert in: epd-Dok 15/78, s.a. Kirchliches Jahrbuch 1978, 347-355 '28<br />
377
ein „Toleranzedikt“. Die Leipziger Pfarrer bezogen sich in ihren Gesprächen mit staatlichen Stellen im<br />
allgemeinen nicht auf das „Gespräch vom 6. März“ <strong>und</strong> das, obwohl dieses Spitzengespräch vom<br />
Staatssekretariat für Kirchenfragen durch Gespräche mit Pfarrern <strong>und</strong> Gemeindegliedern 1977/78 im<br />
Leipziger Raum vorbereitet wurde. 128<br />
128 Dohle (1988), 169 <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 18-20, 64-99<br />
378
Staatssicherheit in Leipzig<br />
379
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED)<br />
380
Leipziger Gruppen<br />
In den 80er Jahren arbeiteten über h<strong>und</strong>ert Gemeindegruppen, Intellektuellenzirkel oder Jugendgruppen,<br />
die sich u.a. mit politischen Fragen beschäftigten, in Leipzig <strong>und</strong> bereiteten das gesellschaftliche Klima,<br />
das die Revolution 1989 ermöglichte. Jedoch gingen nur wenige Gruppen in die Öffentlichkeit bzw.<br />
wurden öffentlich beachtet, weshalb viele in Vergessenheit geraten sind. Die Fülle der sich seit 1990<br />
gebildeten Leipziger Vereine geht auch auf diese informellen Gruppen zurück.<br />
Es gab in Leipzig einige kritische Künstlerkreise, z.B. um die Zeitschriften Anschlag (1984-89), Glasnot<br />
(1986-89), Messitsch (1987-89), Sno Boy (1989) <strong>und</strong> Zweite Person (1987-90) sowie um die unabhängige<br />
Galerie „Eigen+Art“ (seit 1985). Kritische „Laientheater“ <strong>und</strong> anspruchsvolle Theatergruppen, kritische<br />
Liedermacher <strong>und</strong> eine independent-Szene („Die Art“) existierten. Es entstanden (Sub-)Kulturen, die<br />
durch die „Jugendbewegung für den Frieden“ (St. Bickhardt) der frühen 80er Jahre <strong>und</strong> durch<br />
Intellektuellenzirkel geprägt wurden. Einige Gruppen entwickelten alternative Pädagogikmodelle, andere<br />
beschäftigten sich mit fremden Kulturen, um von deren ökologischer Lebensweise zu lernen, oder sie<br />
kommunizierten über Formen der Emanzipierung. Es gab Kirchgemeindekreise, die in der Begegnung mit<br />
ihren Partnergemeinden in Westdeutschland oder im ökumenischen Austausch Gesellschaften<br />
vergleichten <strong>und</strong> eine allgemeine Dialogkultur förderten. Auch manche der Lese- <strong>und</strong> Diskussionskreise<br />
gingen 1989 nahtlos in die entstandenen politischen Gruppierungen über 129 . Ohne Vollständigkeit zu<br />
erzielen, ließen sich noch viele weitere Beispiele nennen. Die vorangegangene Aufzählung berücksichtigt<br />
Gruppen, von denen die Herausgeber wissen, daß einige ihrer Mitglieder schon vor dem Herbst 1989 an<br />
den Friedensgebeten teilnahmen. Das MfS rechnete verstärkt ab Ende Januar 1988 mit Demonstrationen<br />
<strong>und</strong> oppositionellen Aktionen im Zusammenhang mit den „Friedensgebeten für die Inhaftierten“ <strong>und</strong><br />
setzte aus diesem Gr<strong>und</strong> eine spezielle Lagegruppe der Abt. XX ein 130 , die unter dem Stichwort „Spinne“<br />
die Aktionen des Sicherheitskartells koordinierte. Diese Lagegruppe legte Ende Februar 1988 - u.a. zu den<br />
folgenden „Gruppierungen“ - spezielle Dateien an: studentische Interessenvertretung am Theologischen<br />
Seminar „WAF’ ; 2. AK Solidarische Kirche; Ausreise-Kreis „DDR-Kontakte“, Vorbereitungsgruppe der<br />
Grafik-Auktion (28.02.1988); Ausreisegruppe, die Eingaben an den Staatsrat schrieb; Ausreisegruppe, die<br />
zu einer „Aktion für friedliche Ausreise“ am 1. Mai 1988 am Brandenburger Tor aufrief; Leipziger AG<br />
„Staatsbürgerschaftsrecht’ ; Kaden-Kreis; Kreis „Freiheit <strong>und</strong> evangelische Kirche von unten - zentrale<br />
Seelsorgeeinrichtung für Bürgerrechtler <strong>und</strong> Ausreisewillige“; „Koordinierungsgruppe Friedensgebete für<br />
Inhaftierte“ 131 . Einige der Ausreisegruppen gab es zwei Monate später schon gar nicht mehr, da ihre<br />
führenden Mitglieder in der Zwischenzeit ausreisen durften. Im folgenden sollen die Gruppen genannt <strong>und</strong><br />
kurz beschrieben werden, die sich aktiv an der Gestaltung der Friedensdekaden, der Friedensgebete <strong>und</strong><br />
der Aktionen im Anschluß daran beteiligt haben. Doch auch hier gab es vermutlich - wie die Liste der<br />
MfS-Daten zeigt - mehr als die Herausgeber in Erfahrung bringen konnten.<br />
Aktion Sühnezeichen, Bezirksgruppe Leipzig<br />
Die „Aktion Sühnezeichen“ (ASZ) entstand 1958. Die ASZ bemüht sich um Hilfsaktionen bei Völkern,<br />
die unter dem faschistischen Deutschland gelitten hatten. So gab es verschiedene „Lager“, bei denen<br />
Christen ihren Urlaub zu Arbeitseinsätzen in Gedenkstätten in Polen <strong>und</strong> der damaligen CSSR verbrachten<br />
oder zusammen mit ökumenischen Gästen in der DDR an einer alten Kirche oder in einem<br />
Behindertenheim arbeiteten. Die Leipziger Bezirksgruppe hatte ca. 10 aktive Mitglieder <strong>und</strong> beschäftigte<br />
sich u.a. mit der Situation der Völker in Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa <strong>und</strong> bereitete z.B. den“ 1. Leipziger<br />
Rumänientag“ (29.10.1988) mit vor.<br />
129 s. P. Unterberg zum „Rosenthalkreis“ oder dem Lesezirkel um C. Matzke; vgl. a. D. Rink (1994) <strong>und</strong> C. Dietrich<br />
(1994)<br />
130 Verantwortlich für diese Lagegruppe waren: Tinneberg, Cieck, Zeitschel, Oppel (alle Abt. XX) <strong>und</strong> je ein<br />
Vertreter von BKG, AKG, AuE <strong>und</strong> KD Stadt (AB XX/Lagegruppe Zeitschel - BStU Leipzig AB 1161)<br />
131 BStU Leipzig AB 0832<br />
381
Arbeitsgruppe „Konziliarer Prozeß im Vorschulalter“<br />
In dieser Gruppe (ca. 7 Mitglieder) arbeiteten vor allem Kinderdiakoninnen, die sich z.B. um einen<br />
Gegenentwurf zum staatlichen „Kindergartenlehrprogramm“ bemühten.<br />
Arbeitsgruppe Friedensdienst (AGF)<br />
Die AG Friedensdienst entstand Mitte der 70er Jahre aus einem Bausoldatenkreis (einem Hauskreis ohne<br />
kirchliche Anbindung, Mitarbeiter verschiedener Konfessionen). Dieser bemühte sich um einen<br />
(christlichen) „Friedensdienst“ anstelle des Militärdienstes. Die AG engagierte sich Anfang der 80er Jahre<br />
zusammen mit Stadtjugendpfarrer Gröger für eine breite <strong>und</strong> kontinuierliche Friedensarbeit der<br />
Kirchgemeinden in Leipzig. In diesem Zusammenhang stellten sie Materialmappen für<br />
Gemeindeveranstaltungen zusammen <strong>und</strong> führten selbst unzählige Informationsandachten durch. Sie<br />
prägte die Friedensdekade 1981 in Leipzig. Am 13.09.1982 begann sie mit den montäglichen<br />
Friedensgebeten in der Nikolaikirche. Auch die Leipziger Friedensseminare (1982-85) wurden von ihr<br />
vorbereitet.<br />
Arbeitsgruppe für Frieden Gohlis<br />
Die Arbeitsgruppe wurde von Pfarrer Weidel geleitet. Sie entstand im Herbst 1985. Die stark<br />
gemeindeorientierte Gruppe beschäftigte sich u.a. mit Friedensethik <strong>und</strong> der gesellschaftlichen Funktion<br />
der Kirche <strong>und</strong> bereitete dazu Gemeindeveranstaltungen vor. Sie versuchte einen „Dialog vor Ort“ mit<br />
Vertretern der SED <strong>und</strong> der Kommune <strong>und</strong> nutzte die Friedenskirche (Gohlis) für Ausstellungen (vgl.<br />
Dok. 56).<br />
Arbeitsgruppe Menschenrechte (AGM)<br />
Die AGM wurde Anfang 1987 von Pf. Wonneberger gegründet. Die AGM war fest in der Lukas-<br />
Gemeinde verankert <strong>und</strong> beschäftigte sich vor allem mit Menschenrechtsverletzungen im Ostblock.<br />
1987/88 setzte sie sich für einen Sozialen Friedensdienst ein (Briefe an Volkskammerabgeordnete,<br />
Materialmappe <strong>und</strong> Ausstellung). Ende 1988 gründete sie zusammen mit anderen Gruppen die<br />
„Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR“. Ab 1989 arbeitete sie eng mit dem AK<br />
Gerechtigkeit zusammen. Sie organisierte den Statt-Kirchentag (s. S. ***), richtete in der Kanzlei der<br />
Lukasgemeinde eine Bibliothek für Samisdat-Drucke <strong>und</strong> Veröffentlichungen zur DDR <strong>und</strong> zu<br />
Ostmitteleuropa ein <strong>und</strong> gab September <strong>und</strong> Oktober 1989 die umfangreiche Monatszeitschrift „Forum<br />
Kirche, <strong>und</strong> Menschenrechte“ heraus.<br />
Arbeitsgruppe Umweltschutz (AGU)<br />
Die AGU war seit Anfang der 80er Jahre in Zusammenarbeit mit dem Kirchlichen Forschungsheim<br />
Wittenberg ein Zentrum der ökologischen Bewegung in der DDR. 132 Sie war beim Jugendpfarramt<br />
angegliedert <strong>und</strong> gab von 1981 bis 1989 das Informationsblatt „Streiflichter“ heraus. Da die Gruppe<br />
zeitweise über 70 Mitarbeiter hatte, gab es mehrere selbständige Untergruppen. Diese beschäftigten sich<br />
Mitte der 80er Jahre u.a. mit Umwelterziehung (z.B.: Broschüre „Umweltschutz im Haushalt“ - 3000<br />
Exemplare) <strong>und</strong> der Sammlung von Informationen über Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen auf<br />
dem Gebiet des Umweltschutzes. Die Gruppe erstellte ein Bauminventar <strong>und</strong> ein Fahrradwegverzeichnis<br />
der Leipziger Innenstadt <strong>und</strong> führte Arbeitseinsätze in gefährdeten Biotopen durch. Anläßlich des<br />
Weltumwelttages organisierte die AGU alljährlich öffentliche Aktionen, z.B. Fahrraddemonstrationen<br />
(„Mobil ohne Auto“), mit denen gegen die Umweltgefährdung durch den Autoverkehr protestiert wurden.<br />
132 s. Wensierski (1986), 163ff., N. Voss in: Der Sonntag 14/1984<br />
382
Die Gruppe war eher an „konsequentem Nutzen der gesellschaftlichen Möglichkeiten“ 133 bzw. an<br />
Aufklärung als an Protest gegen das politische System interessiert. 1987 erhielt die Gruppe eigene Räume<br />
im Jugendpfarramt (heute „Haus der Kirche“), in denen Vollversammlungen stattfanden <strong>und</strong> eine<br />
Umweltbibliothek eingerichtet wurde. Die Arbeit der AGU wird heute vor allem durch den Ende 1989<br />
gegründeten Verein „Ökolöwe Leipzig“ fortgesetzt.<br />
Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />
Die Gruppe wurde 1985 gegründet. Sie beriet Wehrpflichtige <strong>und</strong> setzte sich für einen sozialen<br />
Friedensdienst <strong>und</strong> für das Recht auf Wehrdienstverweigerung ein.<br />
Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR<br />
Diese DDR-weite Arbeitsgruppe wurde vor allem von der AGM <strong>und</strong> dem AKG gegründet. Im<br />
Gründungsaufruf vom 10.12.1988 wurden Kontaktadressen in Güstrow, Berlin, Naumburg, Leipzig <strong>und</strong><br />
Dorndorf bei Jena genannt. 134 Am 16.01.1989 wurden die im Gründungsaufruf genannten Personen für<br />
einen Tag festgenommen. Dennoch ließen sich die Initiatoren nicht einschüchtern. Sie sammelten Daten<br />
zu Menschenrechtsverletzungen <strong>und</strong> gaben immer wieder Mitteilungen zur Menschenrechtssituation in<br />
der DDR heraus. Getragen von Mitgliedern der AGM <strong>und</strong> des AKG gab es monatliche Treffen der DDR-<br />
Menschenrechtsgruppen in Räumen des ThSL, bei denen neue Erkenntnisse zu<br />
Menschenrechtsverletzungen <strong>und</strong> zur Entwicklung der Opposition ausgetauscht wurden. 135 Die AG ging<br />
im Laufe des Jahres 1989 in die Initiative für Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte über, die seit Ende 1988<br />
versuchte, sich als DDR-weite Initiative zu etablieren. 136<br />
Arbeitskreis „Treff für Haftentlassene“<br />
Dieser AK versuchte Menschen, die aus der Haft entlassen wurden, beim Aufbau einer eigenständigen<br />
Lebensführung zu helfen. Daneben beschäftigte sie sich jedoch auch mit den Haftbedingungen in der<br />
DDR <strong>und</strong> der Rechtssituation der Haftentlassenen. Dieser von K. Hinze geleitete Arbeitskreis hatte ca. 10<br />
Mitglieder <strong>und</strong> bildete sich im Oktober 1987.<br />
Arbeitskreis Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung<br />
Der AK entstand im September 1987 als Reaktion auf den Synodalantrag „Absage an Prinzip <strong>und</strong> Praxis<br />
der Abgrenzung“ 137 einer Berliner Initiativgruppe. Der Kreis von ca. 10 Theologiestudenten setzte sich<br />
u.a. theoretisch mit der administrativen Entmündigung großer Teile der Bevölkerung oder dem Umgang<br />
mit dem anderen Teil Deutschlands in der DDR-Öffentlichkeit auseinander. Dazu gestaltete er 1988 auch<br />
ein Gemeindeforum.<br />
133 So das Ergebnis einer mehrtägigen Klausur führender Gruppenvertreter im April 1987. Dort wurden als weitere<br />
Punkte genannt: „Zusammenarbeit mit engagierten Gruppen, intensive Beschäftigung mit konkreten Projekten,<br />
verschiedene Formen der Gemeindearbeit [/] Arbeitseinsätze, Nachdenken <strong>und</strong> Leben alternativer Lebensformen,<br />
Arbeiten mit <strong>und</strong> für Kinder, Wecken eines breiten Umweltbewußtseins“ (aus: Streiflichter, o. Datum, ca. Mai<br />
1987)<br />
134 Gründungsaufruf unterzeichneten u.a. folgenden Gruppen: Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte,<br />
Umweltbibliothek (Berlin), AKSK Regionalgruppen Leipzig <strong>und</strong> Thüringen, Friedenskreis Naumburg (ABL H 2)<br />
135 Die Erklärung vom 06.07.1989 ist abgedruckt in: Rein (1990), 182-185 weitere in: ABLH2<br />
136 vgl. Mitter/Wolle, 63<br />
137 s. Bickhardt (1988) bzw. Samisdat-Druck „Aufrisse I“ <strong>und</strong> „Aufrisse II“<br />
383
Arbeitskreis Bausoldaten<br />
s. u. Arbeitsgruppe Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />
Arbeitskreis Friedensdienst<br />
s. u. Arbeitsgruppe Friedensdienst<br />
Arbeitskreis Gerechtigkeit (AKG)<br />
Der AKG war Ende 1987 von Studenten am ThSL mit dem Ziel gegründet worden, Einfluß auf die<br />
politische Entwicklung der DDR zu nehmen. Dafür gab sich der AK eine Satzung <strong>und</strong> eine feste Struktur<br />
mit einem Sprecherkreis <strong>und</strong> verschiedenen speziellen Arbeitsgruppen. Bei den Sprechern liefen alle<br />
Informationen aus den Untergruppen zusammen. Die Sprecher prägten aufgr<strong>und</strong> der hierarchischen<br />
Struktur des AKG die Arbeit der Untergruppen, die wiederum auch mit „Experten“ (Dolmetscher,<br />
Gefängnisseelsorger usw.) zusammenarbeiteten, die keine Gruppenmitglieder sein mußten. So<br />
entwickelten sich vielfältige konspirative Arbeitsstrukturen. Besonderen Wert legte der AKG auf eine<br />
breite Öffentlichkeitsarbeit. So beteiligte er sich im Frühjahr 1988 <strong>und</strong> im Frühjahr 1989 an den<br />
Koordinierungsgruppen <strong>und</strong> baute Kontakte zu Journalisten auf. Der AKG hatte vielfältige Beziehungen<br />
zu oppositionellen Gruppen in Polen, in der CSSR <strong>und</strong> im Baltikum <strong>und</strong> veröffentlicht zusammen mit<br />
anderen Gruppen Texte <strong>und</strong> Berichte tschechischer <strong>und</strong> slowakischer Dissidenten 138 . Außerdem sammelte<br />
<strong>und</strong> verbreitete der AKG Informationen zu Menschenrechtsverletzungen, zu den staatlichen Strategien im<br />
Umgang mit Ausreisewilligen 139 <strong>und</strong> zu Entwicklungen innerhalb des Machtapparates bzw. der SED (vgl.<br />
Dok. ***). Die Gruppe besaß ein eigenes (nichtlizensiertes) Wachsmatrizen-Umdruck-Gerät, mit dem sie<br />
Flugblätter herstellen konnte (z.B. zum 09.11.1988, zum 15.01. <strong>und</strong> zum 09.10.1989). Th. Rudolph brach<br />
im November 1988 sein Studium ab <strong>und</strong> widmete sich voll der politischen Arbeit im AKG.<br />
Arbeitskreis Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene<br />
Dieser Arbeitskreis entstand im Januar 1988. In ihm arbeiteten anfangs vor allem Theologen (Studenten<br />
<strong>und</strong> Assistenten des ThSL). Es war eine deutlich thematisch zentrierte Gruppe, die sich mit<br />
wirtschaftlichen Fragen beschäftigte. Angefangen hatte die Gruppe mit der Frage der Unterentwicklung<br />
der Zweidrittel-Welt <strong>und</strong> welche Rolle dabei sozialistische Staaten spielten. Später versuchte sie u.a.,<br />
Reformmodelle für die DDR zu entwickeln, <strong>und</strong> arbeitete dabei mit einem Politökonomen der Leipziger<br />
Universität zusammen. Diese Reformkonzepte fanden Eingang in die Programmdiskussionen des<br />
„Demokratischen Aufbruchs“ im September 1989. 140<br />
Arbeitskreis Solidarische Kirche (AKSK) Leipzig<br />
Der AKSK entstand 1984 aus einem Kreis junger Theologen aus verschiedenen Teilen der DDR. 1986<br />
beschloß der AKSK eine Basiserklärung 141 <strong>und</strong> gab sich folgende Struktur: Vollversammlungen (jeweils<br />
138 z.B. Varia, hrg. von AGM <strong>und</strong> AKG (erschienen März 1989, 26 Seiten), u.a. mit Übersetzungen aus „Lidove<br />
Noviny“ 2/2 über die Demonstrationen zum Gedenken an Jan Palach am 15.01.1989 in Prag <strong>und</strong> den<br />
unglaublichen Terror gegen die Demonstranten durch die Sicherheitskräfte, <strong>und</strong> Aktionstage für politisch <strong>und</strong><br />
religiös Inhaftierte in der CSSR.<br />
139 Ca. 2000 Fragebögen der IFM zur Situation der Ausreisewilligen verteilte die AKG. S.a. Erklärung der<br />
„Arbeitsgruppe Ausreise des Arbeitskreises Gerechtigkeit“ vom Februar 1989 (ABL H 2) <strong>und</strong> verschiedene<br />
geheime Anweisungen des Innenministeriums.<br />
140 s. Programmentwurf des DA (ABL H 4) <strong>und</strong> A. Müller, Unser europäisches Haus - wie stellen wir es uns vor <strong>und</strong><br />
wie können wir daran mitwirken, in: Forum für Kirche <strong>und</strong> Menschenrechte 1, 25-36<br />
141 abgedruckt in: Ost-West-Diskussionsforum 1/1988<br />
384
um den 1. Mai <strong>und</strong> den 7. Oktober) <strong>und</strong> für die Zwischenzeit einen gewählten Koordinierungsauschuß,<br />
dazu kamen in verschiedenen Gebieten „Regionalgruppen“ <strong>und</strong> einzelne thematische Gruppen. Nach der<br />
Anschriftenkartei des AKSK gehörten ca. 400 Mitglieder/Sympathisanten zu dieser (um 1988 wohl<br />
größten) DDR-weiten nicht genehmigten Organisation. 142 Das Ziel des AKSK war es, die solidarischen<br />
Strukturen in der (evangelischen) Kirche <strong>und</strong> die Partizipationsmöglichkeiten in der Gesellschaft zu<br />
fördern, dabei verstand er sich selbst als ein Netzwerk für Solidaritätsaktionen. Viele Mitglieder des<br />
AKSK waren zugleich in anderen Gruppen engagiert. Dies gilt besonders für die Leipziger<br />
Regionalgruppe 143 (ca. 25 Mitglieder). Zu ihren Sitzungen in Räumen des ThSL kamen vor allem<br />
Theologen bzw. Theologiestudenten. Sie tauschten sich über ihre Arbeit in anderen Gruppen aus <strong>und</strong><br />
bemühten sich darum, daß die Anliegen der politisch- alternativen Gruppen innerhalb der Kirche größere<br />
Resonanz gewannen (vgl. Dokumente 157 <strong>und</strong> 163). Außerdem wurde die Zeitschrift des AKSK<br />
„Solidarische Kirche“ von einer Redaktionsgruppe herausgegeben, zu der vor allem Leipziger gehörten.<br />
Christliche Friedenskonferenz (CFK), Kommission Friedensdienst der Jugend (Leipzig)<br />
Die CFK wurde 1961 als ein internationaler Zusammenschluß von Kirchen, Gruppen <strong>und</strong> Einzelpersonen<br />
in Prag gegründet. In der DDR hatte die CFK Anfang der 80er Jahre ca. 500 Mitglieder. Sie trat gegenüber<br />
der SED loyal auf <strong>und</strong> engagierte sich für eine sogenannte „friedliche Koexistenz“ <strong>und</strong> gegen den<br />
„Antikommunismus“. Die Leipziger Jugendkomission wurde 1976 gegründet <strong>und</strong> beschäftigte sich mit<br />
Abrüstungsfragen <strong>und</strong> Problemen der Zweidrittel-Welt.<br />
Demokratische Initiative - Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft (DI)<br />
Diese Initiative entstand im Januar/Februar 1989, nachdem schon zweimal Flugblätter unter dem Namen<br />
„Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ in der Stadt verteilt worden waren144 .<br />
Ende Februar 1989 formulierte sie ihre „Prinzipien <strong>und</strong> Methoden“ <strong>und</strong> verbreitete sie als Flugblatt145 . Sie<br />
verstand sich als eine nichtkirchliche politische „Bewegung“, die DDR-weit arbeitete. Ihr Ziel war es, als<br />
Pendant zur „Abstimmung mit den Füßen“ eine Bewegung zu verstärken, in der sich DDR-Bürger<br />
öffentlich von ihrem Dasein als Untertanen verabschiedeten. Als wesentliche Form dieser<br />
„Volksabstimmung“ unterstützte sie Demonstrationen. So rief sie per Flugblatt, mit Hilfe westlicher<br />
R<strong>und</strong>funksendern <strong>und</strong> mit M<strong>und</strong>-zu-M<strong>und</strong>-Propaganda zu Demonstrationen in Leipzig <strong>und</strong> Dresden<br />
gegen die Scheinwahl am 07.05.1989 auf. Sie lud am 24.09.1989 die neuentstandenen DDR-weiten<br />
politischen Vereinigungen zu einer ersten Absprache nach Leipzig <strong>und</strong> löste sich dort zugunsten des<br />
Neuen Forums auf 146.<br />
Eine Mark für Espenhain<br />
In Espenhain stand eine Braunkohlen-Schwelerei, welche zu extremen Umweltbelastungen im Raum<br />
Leipzig führte. Gegen dieses Werk bzw. für seine Sofortrekonstruktion hatten Umweltgruppen (vor allem<br />
aus Rötha) eine Unterschriften- <strong>und</strong> Spendenaktion mit dem Titel „Eine Mark für Espenhain“ gestartet.<br />
Sie wurde von der Synode der Sächsischen Landeskirche (Herbst 1987) <strong>und</strong> von der Synode des BEK<br />
(1988) befürwortet. In der Folge wurde dafür z.B. auch in kirchlichen Schaukästen geworben. Bis Anfang<br />
Juli 1989 wurden mit dieser Aktion 25.000 Unterschriften gesammelt 147.<br />
142 zum AKSK: H. Wagner, Kirchen, Staat <strong>und</strong> politisch alternative Gruppen, in: H. Dähn (Hg.), Die Rolle der<br />
Kirchen in der DDR, München 1993; Goertz/Tautz; Mitter/Wolle, 64f.; Findeis/Pollack/Schilling, 64ff.<br />
143 Die Stasi-Auflistung der Aktionen der Leipziger Regionalgruppe (vom 3.10.1989, in: Görtz/Tautz) liest sich fast<br />
wie eine Geschichte der Leipziger Gruppen (im Jahre 1989).<br />
144 s. Dok. 104 <strong>und</strong> Mitter/Wolle, 13f. , vgl. Dok. 130<br />
145 Flugblatt der DI, u.a. in: Mitter/Wolle 164f.<br />
146 Dietrich (1994)<br />
147 s. Potsdamer Kirche, 16.7.1989; vgl. a. auch Stasi INTERN, 311-325; Aufruf in: ABL H 1.<br />
385
Frauen für den Frieden<br />
Mit dem Appell „Anstiftung der Frauen für den Frieden“ vom 25.02.1980 entstand neben<br />
Frauenfriedensgruppen in westeuropäischen Ländern auch in der B<strong>und</strong>esrepublik eine Bewegung „Frauen<br />
für den Frieden“ 148 . Diese erhielt mit dem neuen DDR-Wehrdienstgesetz von 1982, das im Falle einer<br />
Mobilmachung auch Frauenmilitärdienst vorsah, ein Pendant in der DDR. Es bildeten sich in mehreren<br />
Städten Gruppen der „Frauen für den Frieden“ 149 , die sich gegen eine Militarisierung der Gesellschaft<br />
wandten. Die Leipziger Gruppe (ca. 15 Mitglieder) entstand aufgr<strong>und</strong> einer Absprache mit der Berliner<br />
Gruppe im Mai 1984. Sie beschäftigte sich u.a. mit Fragen der Erziehung in Kindergarten <strong>und</strong> Schule<br />
sowie der Gleichberechtigung in Familie <strong>und</strong> Gesellschaft. Die Gruppe erhielt von der<br />
Nikolaikirchgemeinde einen Raum <strong>und</strong> beteiligte sich an der Gestaltung der Friedensdekaden <strong>und</strong><br />
verschiedenen kirchlichen Veranstaltungen. 1986 organisierte sie ein Treffen der DDR-Frauengruppen 150.<br />
Friedenskreis Grünau/Lindenau<br />
Dieser katholische (bzw. ökumenische) Friedenskreis wurde nach dem NATO-Nachrüstungsbeschluß<br />
Ende 1983 gegründet. Er beschäftigte sich u.a. mit Fragen der Friedenserziehung <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />
in Osteuropa <strong>und</strong> nahm engagiert am Konziliaren Prozeß teil. Er bereitete u.a. eine Veranstaltung zu<br />
Alternativen zur SED-Volksbildung („Schule in Bewegung“) <strong>und</strong> eine Solidaritätsandacht für politisch<br />
Inhaftierte in der CSSR vor.<br />
Gesprächskreis „Hoffnung für Ausreisewillige“<br />
Dieser Kreis wurde von Pf. Führer geleitet <strong>und</strong> entstand Ende 1986. Er beschäftigte sich mit der<br />
Rechtssituation von Ausreisewilligen <strong>und</strong> den Reformmöglichkeiten in der DDR. Nachdem die meisten<br />
Mitglieder der Gruppe ausreisen durften, stellte der Kreis Mitte 1989 seine Arbeit ein 151.<br />
Gruppe Neues Denken<br />
Diese Gruppe begann sich 1988 im „Klub der Intelligenz“ beim Kulturb<strong>und</strong> mit einer Vortragsreihe<br />
(„Dialog“) für Reformen in der DDR einzusetzen. Ihr Programm war dabei, mit Dialog anstelle der<br />
„gewaltsamen Durchsetzung eigener Interessen“ 152 eine Demokratisierung zu erreichen. In der Gruppe<br />
(vor allem Studenten, u.a. Genossen der SED) arbeiteten keine Christen mit, dennoch nahmen einige ihrer<br />
Mitglieder an den Friedensgebeten teil, <strong>und</strong> J. Tallig gestaltete das Friedensgebet am 27.06.1988 mit. Die<br />
Gruppe organisierte parallel zu den kirchlichen Gruppen am 07.05.1989 eine Beobachtung der<br />
Kommunalwahl <strong>und</strong> machte ihre Ergebnisse zu den Wahlfälschungen danach öffentlich. Die von<br />
Mitgliedern der Gruppe begonnene Einrichtung einer Bibliothek <strong>und</strong> eines Lesecafes wurde ab Oktober<br />
153<br />
1989 als Büro der Neuen Forums genutzt .<br />
Initiativgruppe Hoffnung Nikaragua (IHN)<br />
Die Initiativgruppe „Esperanza“ bzw. „Hoffnung Nicaragua“ wurde 1981 u.a. von Diakon Döring<br />
gegründet. Sie unterstützte die sandinistische Revolution <strong>und</strong> im Besonderen ein Landschulzentrum in<br />
148 s. E. Quistorp, Frauen für den Frieden, Berlin 1982<br />
149 Die Gruppen „Frauen für den Frieden“ wurden seit Juni 1985 durch das MfS im ZO V“Wespen“ (HA XX/2)<br />
„bearbeitet“.<br />
150 vgl. Findeis/Pollack/Schilling, 142ff.<br />
151 s. Führer, in: Kenntemich/Durniok/Karlauf (1993), 227; Besier/Wolf, 667<br />
152 Programmatische <strong>und</strong> konzeptionelle Überlegungen zur Veranstaltungsreihe Dialog, (ca. Oktober 1988),<br />
Reproduktion in: Feldhaus<br />
153 P. Unterberg; Dietrich (1994)<br />
386
Monte Fresco bei Managua. Dafür organisierte sie Kunstauktionen <strong>und</strong> sammelte mehrere 10.000 Mark<br />
Spendengelder. Da „Entwicklungshilfe“ ein staatliches Monopol war, konnten diese Spenden erst nach<br />
jahrelangen Verhandlungen <strong>und</strong> mit Unterstützung des BEK ihr Ziel erreichen. Ein kulturpolitisches<br />
Ereignis war eine internationale mail-art-Ausstellung, die die Gruppe gegen den massiven Widerstand des<br />
Staates in verschiedenen Städten der DDR zeigte. Ab 1987 gab die Gruppe mit der Unterstützung der<br />
Superintendentur Leipzig-Ost ein Informationsblatt („IHN-Post“) heraus. Mitte 1987 veranstaltete sie eine<br />
Vortragsreihe mit dem Thema „Politik <strong>und</strong> Hoffnung“ 154.<br />
Initiativgruppe Leben (IGL)<br />
Nachdem die AGU im April 1987 beschlossen hatte, sich an den politisch vorgegebenen Möglichkeiten zu<br />
orientieren, gründete der radikalere Flügel der AGU im Mai 1987 die IGL. Für ihre Mitglieder (ca. 30)<br />
waren ökologische Verbesserungen an politische Reformen geknüpft. Im Zentrum des Engagements der<br />
IGL stand die Öffentlichkeitsarbeit (Beteiligung mit eigenen Transparenten an Umzügen <strong>und</strong><br />
Demonstrationen, Erarbeitung von Wanderausstellungen, Organisation von Aktionstagen). Eine besonders<br />
wirkungsvolle Aktion war dabei der Pleißemarsch 1988 (s. oben, S. ***). Die thematische Arbeit der<br />
Gruppe geschah in verschiedenen Untergruppen (Ökologie, Rumänien, Wehrdienstfragen, Bürgerrechte,<br />
Perestroika). Da die Gruppe nur unregelmäßig kirchliche Räume nutzen konnte, traf sie sich in<br />
Privatwohnungen <strong>und</strong> in einer leerstehenden Wohnung, die als alternatives „Cafe“ genutzt wurde. In der<br />
stark basisdemokratisch orientierten Gruppe wurde der Eigeninitiative Vorrang vor dem Gruppenkonsens<br />
gegeben, so daß viele öffentliche Aktionen von Gruppenmitgliedern ohne „Gruppenbeschluß“ realisiert<br />
wurden (s. Chronik unter 24.10.1988, 28.11.1988 <strong>und</strong> 15.01.1989). Einige Mitglieder der IGL<br />
organisierten 1988/89 das „Leipziger Straßenmusikfestival“ 155.<br />
Jugendkonvent Leipzig<br />
Der Jugendkonvent beim Jugendpfarramt war der Dachverband der Jungen Gemeinden in der Stadt<br />
Leipzig <strong>und</strong> ein wichtiger Ort des Informationsaustausches. Er förderte die inhaltliche Arbeit der Jungen<br />
Gemeinden <strong>und</strong> versuchte, methodische Hilfen bei der Herausbildung demokratischer Denk- <strong>und</strong><br />
Verhaltensweisen unter Jugendlichen zu geben.<br />
Kadenkreis<br />
Der „Kadenkreis“ entstand aus einer Nachgesprächsgruppe im Anschluß an ein Friedensgebet Anfang<br />
Februar 1988. An den Nachgesprächen nahmen vor allem Ausreisewillige teil. So auch im Kadenkreis, der<br />
über h<strong>und</strong>ert Mitglieder hatte. Der Kern war jedoch ein Initiativkreis von ca. 10 Personen, die die<br />
Gesprächsabende vorbereiteten <strong>und</strong> Eingaben zwecks Ausreise schrieben. Der Kreis traf sich im<br />
Jugendpfarramt <strong>und</strong> in der Wohnung von Pf. Kaden. Nach der Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ in<br />
Ungarn löste sich der Kreis im Mai 1989 auf.<br />
Kontakte<br />
„Kontakte“ nannte sich der Informationsbrief bzw. die Informationszeitschrift der Leipziger kirchlichen<br />
Gruppen. Sie wurde zwischen September 1984 <strong>und</strong> September 1989 von B. Moritz redigiert <strong>und</strong> von der<br />
Superintendentur Leipzig-Ost herausgegeben. Hauptinhalt waren Veranstaltungsinformationen der<br />
Gruppen. Anfangs beteiligten sich AG Friedensdienst, Frauen für den Frieden, der Friedenskreis der ESG,<br />
die IHN <strong>und</strong> die AGU an dem Mitteilungsblatt.<br />
154 Der Vortrag von I. Bernd ist abgedruckt in: „Anschlag VIII“, einen weiteren hielt W. Templin zum<br />
Zusammenhang von möglichen Reformen in der DDR <strong>und</strong> der Teilung Deutschlands, s. a. W. Volks, Hoffnung<br />
<strong>und</strong> Politik - eine Vortragsreihe, in: IHN-Post II (1987)<br />
155 S. Lieberwirth, Wer einen Spielmann zu Tode schlägt. Die Generalprobe unserer Revolution, Leipzig 1990<br />
387
Kontaktgruppe „Friedensgebet für die Inhaftierten“<br />
Nach den Inhaftierungen am 17.01.1988 am Rande einer Demonstration in Berlin entstanden in<br />
verschiedenen Städten der DDR-Gruppen, die Solidaritäts- <strong>und</strong> Protestaktionen koordinierten <strong>und</strong><br />
organisierten (vgl. Chronik, S. 518f.). Vorbild <strong>und</strong> Ansporn waren dabei die Protestaktionen nach den<br />
Aktionen des Sicherheitskartells gegen die Berliner Umweltbibliothek im November 1987. Die Leipziger<br />
Gruppe entstand am 26.01.1988 nach dem Fürbittgottesdienst in der ESG aus der Gruppe, die diesen<br />
Gottesdienst vorbereitet hatte. Sie verstand sich als Vertreterkreis der Besucher der Friedensgebete 156 <strong>und</strong><br />
bereitete die weiteren Fürbittgebete („Gebetskette“) vor. Außerdem gab sie verschiedene Erklärungen<br />
heraus 157 <strong>und</strong> konnte für einige Tage das Telefon der ESG als „Kontakttelefon“ nutzen. Damit<br />
organisierte sie - zusammen mit dem Kontakttelefon in Berlin - einen DDR-weiten Informationsaustausch<br />
zu Aktionen gegen das SED-Regime. Am Rande dieser Kontaktgruppe starteten verschiedene<br />
Basisgruppenmitglieder eigene Aktionen (Eingaben, Flugblätter, Graffitis...). Die Kontaktgruppe<br />
versuchte die Aktivitäten der verschiedenen Gruppen zu koordinieren <strong>und</strong> ging - nachdem die Inhaftierten<br />
freigelassen worden waren - dazu über, sich für ein Kommunikationszentrum der Leipziger Basisgruppen<br />
zu kümmern (s. KOZ, S. 481).<br />
Koordinierungsgruppe<br />
Die Koordinierungsgruppe entstand nach den Verhaftungen am 11.09.1989 vor allem aus dem<br />
<strong>Fre<strong>und</strong>e</strong>skreis einiger der Inhaftierten. Die Gruppe versuchte, die Informationen über die Inhaftierungen,<br />
über Solidaritätsaktionen <strong>und</strong> später auch über die Demonstrationen nach den Friedensgebeten zu<br />
verbreiten. Dafür erhielt sie von der Markus-Gemeinde einen Büroraum mit Telefon. Sie unterhielt<br />
telefonischen Kontakt zu Journalisten <strong>und</strong> Multiplikatoren wie z.B. zu Werner Fischer von der Berliner<br />
Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte, zu Roland Jahn, dem Westberliner Journalisten <strong>und</strong> Unterstützer<br />
der DDR-Opposition, <strong>und</strong> zu Petr Uhl, dem Koordinator der Nachrichten der tschechoslowakischen<br />
Opposition in Prag. Sie versuchte, die Namen der Inhaftierten <strong>und</strong> der zu Strafgeldern Verurteilten in<br />
Erfahrung zu bringen, nahm Kontakt zu Angehörigen der Inhaftierten auf <strong>und</strong> sorgte dafür, daß die<br />
Inhaftierten einen Verteidiger erhielten. Sie organisierte tägliche Fürbittgebete in verschiedenen Kirchen<br />
Leipzigs <strong>und</strong> sammelte Spenden für Anwaltskosten sowie Strafbescheide. Gleichzeitig war sie eine<br />
wichtige Anlaufstelle bzw. ein Multiplikator des Neuen Forums, dessen erste Leipziger Mitglieder in<br />
dieser Gruppe mitarbeiteten. Sie verteilte den Gründungsaufruf des Neuen Forums <strong>und</strong> sammelte<br />
Unterstützerunterschriften.<br />
KOZ-Trägerkreis<br />
s. unter Kommunikationszentrum, S. 481<br />
Offene Arbeit Mockau<br />
Die sogenannte „Offene Arbeit“ einiger evangelischer Gemeinden seit Mitte/Ende der 60er Jahre war<br />
keine typische soziale Jugendarbeit, sondern im Widerstand gegen die Geschlossenheit der DDR-<br />
Gesellschaft wurde dort versucht, Jugendlichen eigene Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen. In Leipzig<br />
hatte diese Arbeit eine lange Tradition. 1984 gab es neun solcher Kreise. Besonders im Mockauer Kreis<br />
drängten einige Jugendliche (u.a. Punks) mit öffentlichen Aktionen auf politische Reformen.<br />
156 In ihrer Erklärung vom 27.01.1988 heißt es u.a.: „Kontaktgruppe muß in jedem Friedensgebet vollständig<br />
sämtliche Finanzsachen zur Abstimmung geben“ (Kaufmann/M<strong>und</strong>us/ Nowak, 242)<br />
157 s. „fußnote 3“ <strong>und</strong> Kaufmann/M<strong>und</strong>us/Nowak, 241f.<br />
388
Chronik zu den Friedensgebeten<br />
<strong>und</strong> politisch-alternativen Gruppen in Leipzig<br />
1978<br />
26.-28.05. Am Rande des Kirchentages, bei dem zum erstenmal nach über 20 Jahren wieder<br />
Messehallen <strong>und</strong> Freiflächen genutzt werden konnten, kommt es zu Protesten gegen<br />
die geplante Einführung eines Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes.<br />
14.06. In einem Brief an die Gemeinden faßt die KKL ihre Bedenken an der Einführung des<br />
Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes an den allgemeinbildenden Schulen der DDR zusammen <strong>und</strong><br />
ruft die Gemeinden zur“ Erziehung zum Frieden“ auf.<br />
1979<br />
27.12. Die Sowjetunion schickt Militär nach Afghanistan. 1980<br />
Frühjahr KKL gibt für die Arbeit in den Gemeinden ein „Rahmenkonzept Erziehung zum<br />
Frieden“ heraus.<br />
13.03. Konsultation von EKD <strong>und</strong> BEK zu Friedensfragen.<br />
17.03. Die Vorsitzenden von EKD <strong>und</strong> BEK treffen sich mit dem Staatssekretär für<br />
Kirchenfragen <strong>und</strong> sprechen vor allem über den Friedensauftrag der Kirchen.<br />
30.05. Das Landeskirchenamt Dresden ruft die sächsischen Gemeinden zur Fürbitte fürHans-<br />
Jörg Weigel (Friedenskreis Königswalde) nach dessen Verhaftung wegen<br />
„staatsfeindlicher Hetze“ auf.<br />
30.06. Eine neue Veranstaltungsordnung tritt in Kraft. Sie bestimmt, daß Veranstaltungen der<br />
“Massenorganisationen“ <strong>und</strong> der bei den staatlichen Organen erfaßten Kirchen <strong>und</strong><br />
Religionsgemeinschaften nicht genehmigungspflichtig sind. Als Voraussetzung für die<br />
kirchlichen Veranstaltungen wurde festgelegt, daß „sie in eigenen oder von ihnen zu<br />
Veranstaltungen ständig genutzten Räumlichkeiten <strong>und</strong> von im Dienst der Kirchen <strong>und</strong><br />
Religionsgemeinschaften stehenden Mitarbeitern <strong>und</strong> Laien durchgeführt werden.“<br />
14.07. EKD <strong>und</strong> BEK rufen für den 9. November zu Bittgottesdiensten für den Frieden auf.<br />
22.08. B<strong>und</strong>eskanzler H. Schmidt sagt sein Treffen mit Honecker ab.<br />
19.-23.09. Synode des BEK in Leipzig stellt fest, „daß die Arbeit für den Frieden von den Kirchen<br />
nicht mehr als eine gelegentliche Aufgabe, sondern als eine der wichtigsten<br />
Herausforderungen an ihr Zeugnis <strong>und</strong> ihren Dienst verstanden <strong>und</strong> praktiziert werden<br />
muß“.<br />
09.10. Der Mindestumtausch für Besucher aus der B<strong>und</strong>esrepublik wird auf 25,- DM pro Tag<br />
angehoben.<br />
18.-22.10 Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Der Staat verbietet die Teilnahme<br />
von westlichen Journalisten. Die Synode lehnt die Unterstützung der Initiative für<br />
einen Sozialen Friedensdienst ab.<br />
23./24.10. Grünes Wochenende der im Frühjahr entstandenen AG Umweltschutz in der<br />
Michaeliskirche.<br />
09.-19.11. Friedensdekade der ev. Kirchen unter dem Thema „Frieden schaffen ohne Waffen „in<br />
Deutschland. Die geplante Friedensminute am Buß- <strong>und</strong> Bettag mit Glockenläuten um<br />
13.00 Uhr wird von der DDR-Regierung verboten. Die Sächsische Kirchenleitung läßt<br />
jedoch die Glocken am 19.11. um 13.15 Uhr läuten. Mit einer Gesprächskampagne<br />
versuchen staatliche Stellen auf die Gestaltung der Friedensdekade Einfluß zu nehmen.<br />
Viele Pfarrer betonen den gesamtdeutschen Charakter der Friedensdekade <strong>und</strong><br />
gestalten die Andachten entsprechend.<br />
1981<br />
Februar Im „Mitteilungsblatt des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR „ dürfen u. a.<br />
die Passagen des Berichtes der KKL zum Einmarsch sowjetischer Truppen in<br />
Afghanistan nicht erscheinen.<br />
Februar In der Nikolaikirche ist eine Ausstellung zu Umweltfragen zu sehen.<br />
18.03. Zum sogenannten „Messemännerabend“ in der Nikolaikirche spricht Bischof A.<br />
389
Schönherr über das Antirassismus-Programm des Weltkirchenrates.<br />
21.-25.03. Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Während der<br />
öffentlichen Fragest<strong>und</strong>e erklärt der Präsident des Dresdener Landeskirchenamtes,<br />
Kurt Domsch, daß die Kirche bei Fragen des Mindestumtausches <strong>und</strong> des<br />
Wehrdienstes bei staatlichen Stellen „deutlich an Grenzen der<br />
Gesprächsmöglichkeiten“ stößt.<br />
28.03. Die Polizei verhaftet 94 Jugendliche, die sich in einem leerstehenden Haus in Leipzig-<br />
Lindenau die Fernsehsendung „Rockpalast“ ansahen.<br />
25.04. G. Forck wird Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Region Ost).<br />
09.05. Aufruf zum Sozialen Friedensdienst (SoFD), u.a. von Pf. Wonneberger verfaßt, wird<br />
nach mehreren Monaten der Vorarbeit verabschiedet.<br />
23.-28.06. Die in Gera tagende Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche<br />
in der DDR stellt sich hinter die Forderung nach einem zivilen Friedensdienst.<br />
06.08. Da staatliche Stellen der ev. Kirche vorwerfen, eine an diesem Tag für 17.00 Uhr<br />
geplante Demonstration für einen Sozialen Friedensdienst zu unterstützen, werden die<br />
Thomas- <strong>und</strong> die Nikolaikirche schon 16.00 Uhr geschlossen. Jugendliche, die die<br />
Demonstration aus Anlaß des Jahrestages des Atombombenabwurfs über Hiroshima<br />
vorbereitet hatten, werden vom MfS festgenommen.<br />
16.-27.08. Während der Tagung des Zentralausschusses des ÖRK in Dresden informieren sich<br />
westliche Journalisten über die Initiative zum Sozialen Friedensdienst.<br />
01.09. B<strong>und</strong>esdeutsche Medien berichten über die Inhaftierungen der Mitglieder der ESG<br />
Berlin Eckart Hübener <strong>und</strong> Klaus Teßmann durch die Staatssicherheit.<br />
01.09. Zu Beginn des neuen Schuljahres tritt die „Anweisung zur Vorbereitung <strong>und</strong><br />
Durchführung der vormilitärischen Ausbildung <strong>und</strong> Sanitätsausbildung an den<br />
erweiterten allgemeinbildenden polytechnischen Oberschulen <strong>und</strong> Spezialschulen“ des<br />
Volksbildungsministeriums in Kraft. Damit wird u.a. eine 12tägige vormilitärische<br />
Ausbildung während der Ferien für die 11. Klassen obligatorisch.<br />
12.09. Staatssekretär für Kirchenfragen lehnt jedes staatliche Eingehen auf die SoFD-<br />
Initiative ab.<br />
22.09. Die B<strong>und</strong>essynode ruft, ähnlich wie der Zentralausschuß des ÖRK seine<br />
Mitgliedskirchen, die Gliedkirchen des B<strong>und</strong>es auf „ihr Engagement für den Frieden<br />
zu verstärken „. W. Krusche wird Nachfolger von A. Schönherr als Vorsitzender der<br />
KKL.<br />
24.09. Pf R. Eppelmann fordert Honecker zu „17 vertrauensbildenden Maßnahmen“ auf, -<br />
u.a., daß sich die DDR für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone in Mitteleuropa,<br />
für den Abzug aller ausländischen Truppen <strong>und</strong> die Entmilitarisierung Deutschlands<br />
einsetzt. Außerdem fordert er die Abschaffung des Wehrk<strong>und</strong>eunterrichtes <strong>und</strong> der<br />
vormilitärischen Ausbildung an den Schulen, den Verzicht auf Militärparaden <strong>und</strong><br />
Repräsentation von militärischem Gerät bei Volksfesten.<br />
26.09. Bischof W. Krusche sagte in einem SFB-Interview, daß die evangelischen Kirchen sich<br />
weiterhin für den Sozialen Friedensdienst einsetzen werden.<br />
06.10. Offener Brief von R. Havemann, R. Eppelmann <strong>und</strong> anderen Bürgern aus Ost- <strong>und</strong><br />
Westdeutschland an den sowjetischen Partei- <strong>und</strong> Staatschef L. Breschnew.<br />
10.10. An der Demonstration gegen den NATO-Doppelbeschluß in Bonn nehmen ca. 300 000<br />
Menschen teil.<br />
10./11.10. Am Friedensseminar in Königswalde zum Thema“ Den Frieden lernen im Konfliktfeld<br />
Europa“ nehmen über 400 Personen teil.<br />
17./18.10. Beim Friedensseminar in Meißen treffen sich ca. 140 Teilnehmer zum Thema“ Die<br />
gewaltfreie Aktion“.<br />
17.-21.10. Herbstsynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Dresden. Bei<br />
der Synode gehen über 800 Eingaben mit 2000 Unterschriften zum Sozialen<br />
Friedensdienst ein. Die Absender der Eingaben erhalten daraufhin ein einstimmig<br />
390
eschlossenes Antwortschreiben. Bischof Hempel erklärt in seinem Tätigkeitsbericht,<br />
daß der Dienst in der Gesellschaft nur“ zwischen Verweigerung <strong>und</strong> Anpassung“<br />
möglich sei. „Solch einen Weg zu finden, ist aber nicht nur von staatlicher Erlaubnis<br />
abhängig, sondern ... von unserer Vollmacht“.<br />
24.10. Baumpflanzaktion der AG Umweltschutz in Leipzig „zur Stärkung des<br />
Umweltbewußtseins“.<br />
08.-18.11. Friedensdekade unter dem Oberthema „Gerechtigkeit-Abrüstung-Frieden". Für die<br />
Dekade wird der Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ gedruckt. Dieses Symbol -<br />
mit dem Abbild eines von der Sowjetunion gestifteten Denkmals im New Yorker UN-<br />
Park - wird von vielen Jugendlichen als Zeichen eigenständigen Friedensengagements<br />
verwendet <strong>und</strong> von Teilen der westdeutschen Friedensbewegung als<br />
systemübergreifendes Symbol aufgegriffen. In der Nikolaikirche in Leipzig wird wenig<br />
später eine große Schautafel mit diesem Symbol aufgestellt. Mit der Einführung<br />
weiterer militärischer Ausbildungsphasen in den Schulen <strong>und</strong> im Zusammenhang mit<br />
den Friedensdekaden entsteht in Dresden, Jena, Rostock <strong>und</strong> in anderen Städten die<br />
Idee der regelmäßigen Friedensgebete. Ziel ist es, sich einmal wöchentlich zu Liedern,<br />
Informationsaustausch <strong>und</strong> Gebet an einem öffentlichen Ort zu treffen.<br />
16.11. BEK gibt eine Sammlung von Arbeitsmaterialien für Gemeindegruppen unter dem<br />
Titel: "'Pazifismus’ in der aktuellen Friedensdiskussion“ heraus.<br />
21.11. SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ druckt mehrere Reden von der Tagung des<br />
SED-Zentralkomitees. Darin wird die Forderung nach einem Sozialen Friedensdienst<br />
attackiert.<br />
29.11. Die AG Umweltschutz <strong>und</strong> der Offene Keller Stötteritz organisierten eine öffentliche<br />
Papiersammelaktion.<br />
Anfang Dez. Bei Staat-Kirche-Gespräche werden den Superintendenten Gesetzesverstöße während<br />
der Friedensdekade angekreidet.<br />
I1.-13.12. B<strong>und</strong>eskanzler H. Schmidtauf“ Staatsbesuch „in derDDR (Güstrow).<br />
13.12. In Polen wird das Kriegsrecht verhängt. In der Folge gibt es verschiedene Aufrufe in<br />
den ev. Kirchen zu Hilfssendungen für die Linderung der Not in Polen.<br />
13./14.12. In Berlin findet das von St. Hermlin initiierte Schriftstellertreffen “Berliner Begegnung<br />
zur Friedensförderung" statt.<br />
1982<br />
25.01 Pf. Eppelmann tritt mit seinem „Berliner Appell - Frieden schaffen ohne Waffen“ an<br />
die Öffentlichkeit.<br />
09.02. Pf. Eppelmann wird festgenommen, aber am 11.02. wieder freigelassen.<br />
13.02. Am „Forum Frieden mit der Jugend“ in der Dresdner Kreuzkirche nehmen mehr als<br />
5000 Menschen teil. Es wird anstelle eines Schweigemarsches, zu dem von einer<br />
Gruppe Jugendlicher anläßlich des 37. Jahrestages der Zerbombung Dresdens<br />
aufgerufen wurde, angeboten. Landesbischof Hempel hält eine Rede, in der er sein<br />
Verständnis vom begrenzten politischen Mandat der Kirche darlegt. Eine Verteilung<br />
des „Berliner Appells" wird verhindert. Im Anschluß an das Forum versammeln sich<br />
ca. 1000 Jugendliche mit Kerzen vor der Ruine der Frauenkirche. Sicherheitskräfte<br />
behindern diese Demonstration nicht.<br />
13.02. Kirchenleitung der Berlin-Brandenburgischen Kirche rät von einer Unterzeichnung<br />
des Berliner Appells ab.<br />
14.02. Pf. Wonneberger verliest den Berliner Appell im Gottesdienst <strong>und</strong> wird daraufhin<br />
kurzzeitig verhaftet.<br />
23.02. Die FDJ beginnt mit einer Aktion unter dem Motto“ Der Frieden muß verteidigt<br />
werden - der Frieden muß bewaffnet sein“, die die Wehrbereitschaft ihrer Mitglieder<br />
erhöhen soll.<br />
05.03. Im Gespräch mit Sup. Richter <strong>und</strong> Pf. Gröger versucht der Sektorenleiter für<br />
Kirchenfragen beim RdS Leipzig, Müller, Einfluß auf die Gestaltung des am folgenden<br />
391
Tag stattfindenden Jugendgottesdienstes zu nehmen.<br />
06./07.03 Leipziger Friedensseminar unter dem Titel „Was macht uns sicher?“. Der während<br />
dieses Seminars stattfindende Jugendgottesdienst wird durch die Sicherheitsorgane<br />
offensiv beschattet.<br />
07.03. F. Magirius wird Sup. von Leipzig-Ost.<br />
12.-14.03. KKL erklärt nach ihrer Klausurtagung: „Wir stehen zu den jungen Christen, die mit<br />
Worten oder Taten anzeigen, daß auch die Friedensbemühungen unseres Staates den<br />
christlichen Abrüstungsimpuls nicht erübrigen. „<br />
20.-24.03. Auf der Frühjahrssynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens nimmt<br />
die Debatte um die Friedensverantwortung größeren Raum ein. Während der<br />
Synodaltagung treffen sich Bischof Hempel <strong>und</strong> Präsident Domsch mit dem<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi. Dabei geht es um die Schwierigkeiten,<br />
denen Trägern des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“ ausgesetzt sind. K. Gysi<br />
behauptet, daß das Symbol vom Staat verboten wurde, weil es von Jugendlichen „zur<br />
Bek<strong>und</strong>ung staatsfeindlicher Gesinnung <strong>und</strong> der Beteiligung an einer illegalen<br />
politischen Bewegung“ mißbraucht werde. Die Synode bezeichnet das Vorgehen des<br />
Staates als einen „schwerwiegenden Fehler“, denn das Verbot zerstöre „auf<br />
nachhaltige Weise das Vertrauen dieser jungen Menschen“. Sie verabschiedet eine<br />
Kanzelabkündigung <strong>und</strong> einen Brief an die Jugendlichen ihrer Kirche.<br />
25.03. In der“ Frankfurter R<strong>und</strong>schau“ erscheint ein Brief R. Havemanns, in dem er sich für<br />
eine „freie Friedensbewegung auch in der DDR“ einsetzt. Die Volkskammer<br />
verabschiedet ein neues Wehrdienstgesetz, mit dem die vormilitärische Ausbildung für<br />
sämtliche Betriebe <strong>und</strong> Schulen zur Pflicht erhoben wird. General Hoffmann sagt in<br />
seiner Erklärung, daß „Pflugscharen <strong>und</strong> Schwerter“ vonnöten seien. Gleichzeitig<br />
findet eine breite Aktion der DDR-Behörden gegen pazifistische Symbole <strong>und</strong> das<br />
Zeichen der Friedensdekade „Schwerter zu Pflugscharen „ statt. Die Pfarrer werden<br />
aufgefordert, dieses Symbol aus den Schaukästen zu entfernen. Jugendliche tragen -<br />
nachdem die Aufnäher durch die Polizei entfernt wurden - anstelle des Aufnähers ein<br />
Loch, einen roten Kreis oderweißen Fleck auf ihren Jacken <strong>und</strong> Parkas.<br />
26.03. Im Organ des DDR-Volksbildungsministeriums, der“ Deutschen Lehrerzeitung „,<br />
erscheint ein Leitartikel, der das staatliche Vorgehen gegen das Symbol“ Schwerter zu<br />
Pflugscharen“ u.a. damit begründet, daß „die Wortführer des ideologischen Krieges<br />
gegen uns diese Losung dazu benutzen wollen, den realen Frieden zu entwaffnen „.<br />
28.03. In der Michaeliskirche findet ein Jugendgottesdienst unter dem Motto: Jahrmarkt des<br />
Friedens“ statt.<br />
02.04. In der Nikolaikirche findet ein Nachtgebet unter dem Thema: „Der Mensch lebt nicht<br />
vom Brot allein“ statt.<br />
07./08.05. KKL bestätigt auf ihrer Tagung Arbeitsmaterial <strong>und</strong> Thema („Angst<br />
- Vertrauen - Frieden „)für die Friedensdekade 1982.<br />
16.05. Zum Friedensseminar in Königswalde treffen sich ca. 500 überwiegend Jugendliche,<br />
um sich über die Beziehung von Konsumverhalten <strong>und</strong> Frieden auszutauschen.<br />
24.05. Ständiger Vertreter Bonns in der DDR wird Hans-Otto Bräutigam.<br />
05./06.06. Angeregt durch das Kirchliche Forschungsheim Wittenberg findet die symbolische<br />
Aktion „Mobil ohne Auto“ statt. In Leipzig organisiert die AG Umweltschutz einen<br />
Fahrrad-Corso von der Lößniger Kirche nach Plaußig.<br />
09.-16.06. In der Berliner St. Bartholomäus-Kirche versammeln sich eine Woche lang<br />
Jugendliche unter dem Motto „Beten <strong>und</strong> Fasten für Frieden ohne Gewalt“.<br />
10.06. Anläßlich des NATO-Gipfels in Bonn demonstrieren dort 500 000 Menschen.<br />
11.06. Den Superintendenten wird vom RdS Leipzig eine zunehmende Konzentration von<br />
Ausreiseantragstellern in kirchlichen Einrichtungen vorgehalten.<br />
13.06. Jugendsonntag in Eisenach wird von ca. 10.000 Jugendlichen besucht.<br />
27.06. In <strong>und</strong> vor der Erlöserkirche (Berlin) findet die von der Berlin-Brandenburger<br />
392
Kirchenleitung <strong>und</strong> dem Stadtjugendpfarramt getragene „Friedenswerkstatt“ statt.<br />
09.-11.07. Treffen von Umwelt-Arbeitsgruppen in Potsdam <strong>und</strong> eine Radsternfahrt mit etwa 600<br />
Teilnehmern.<br />
30.07. In einem Interview für den ENA legt Landesbischof Dr. Hempel seine<br />
Sicht zu den nichtstaatlichen Friedensinitiativen dar.<br />
17.09. Der AK Friedensdienst bietet den Leipziger Gemeinden in einem R<strong>und</strong>brief<br />
selbsterarbeitete Materialien zur Gestaltung der Friedensdekade an <strong>und</strong> beginnt (seit<br />
13.09.), regelmäßig Friedensgebete zu gestalten.<br />
28.09. Die Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR „begrüßt, daß die<br />
Konferenz [der Kirchenleitungen] das Zeichen ‘Schwerter Zu Pflugscharen’ als<br />
Kennzeichen für die kirchlichen Veranstaltungen der Friedensdekade 1982 <strong>und</strong> für das<br />
Arbeitsmaterial dazu bestätigt hat. Die Synode trägt den Beschluß der Konferenz mit,<br />
das Symbol nicht in einer Form herstellen zu lassen, die als Aufnäher verwendet<br />
werden kann. Sie weiß, daß dieser Verzicht angesichts des Einsatzes <strong>und</strong> der<br />
gemachten Erfahrungen besonders vieler Jugendlicher nicht leicht fällt. Wir verzichten<br />
aber darauf um des Friedens willen. [...]“<br />
01.10. H. Kohl wird B<strong>und</strong>eskanzler.<br />
15.-17.10. Grünes Wochenende in der Leipziger Michaeliskirche, von der AG Umweltschutz<br />
vorbereitet (ca. 150 Teilnehmer).<br />
I5.-25.10. Billy Graham zu Evangelisationen in verschiedenen Orten der DDR.<br />
07.-17.11. Friedensdekade unter dem Thema „Angst, Vertrauen, Frieden“. Der AK Friedensdienst<br />
gestaltet in verschiedenen Gemeinden Abende zum Thema Pazifismus.<br />
17.11. In der Nikolaikirche findet der Abschlußgottesdienst zur Friedensdekade zum Thema<br />
„Wir können nicht schweigen“ mit Beteiligung des Landesbischofs statt.<br />
25.11. Die Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua tritt während der Leipziger Dokumentar- <strong>und</strong><br />
Kurzfilmwoche als Mitveranstalter eines Lateinamerika-Dokumentarfilm-Abends auf.<br />
1983<br />
18.01. Bischof Hempel wird der Ehrendoktor der Leipziger Karl-Marx-Universität verliehen.<br />
28.-30.01. Tagung des BEK-Ausschusses Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft zum Thema „Die Zukunft des<br />
Friedens“ mit 80 Vertretern des Ausschusses <strong>und</strong> verschiedener Friedensgruppen.<br />
07.02. In eine Wohnung von Mitgliedern der AG Friedensdienst wird eingebrochen <strong>und</strong><br />
Materialien zur Vorbereitung des Gottesdienstes am 04.04.1983 durchstöbert.<br />
04.03. Die Polizei nimmt die Personalien aller Teilnehmer einer Vorbereitungsr<strong>und</strong>e für den<br />
Gottesdienst am 04.04.1983 auf.<br />
05.03. In der Michaeliskirche Leipzig findet ein Friedensgottesdienst zum Thema „Frieden<br />
1983 - ein hoffnungsloser Fall?“ statt. Der RdS Leipzig, Abteilung Kirchenfragen,<br />
schätzt in einem Protokoll ein, daß es in dem Friedensgottesdienst f<strong>und</strong>ierte Angriffe<br />
gegen den Wehrdienst <strong>und</strong> das Wehrdienstgesetz der DDR gab.<br />
05./06.03. In Berlin findet auf Einladung des Präsidiums der Berlin-Brandenburgischen Synode<br />
die Tagung „Konkret für den Frieden“ mit 125 Vertretern von Friedensgruppen statt.<br />
04.04. Gedächtnisgottesdienst der AG Friedensdienste zum 15. Todestag M. L. Kings in der<br />
Nikolaikirche. Pf. Führer macht in seiner Predigt auf Formen des Rassismus in der<br />
DDR-Gesellschaft aufmerksam.<br />
04./05.06. In Leipzig <strong>und</strong> anderen Städten findet die symbolische Aktion „Mobil ohne Auto“<br />
statt.<br />
08.06. Die DDR schiebt Roland Jahn (Jenaer Friedensgemeinschaft) in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
ab.<br />
29.06. Friedenswerkstatt in <strong>und</strong> an der Erlöser-Kirche (Berlin)<br />
07.-10.07. In Dresden findet ein evangelischer Kirchentag unter dem Thema „Vertrauen wagen,<br />
damit wir leben können“ statt.<br />
06.08. Fastenaktionen in verschiedenen Städten der DDR im Gedenken an den ersten<br />
Atombombenabwurf über Hiroshima.<br />
393
10.08. Gleichlautende Schreiben vom EKD-Ratsvorsitzenden, Held, <strong>und</strong> KKL-Vorsitzenden,<br />
Hempel, aus Vancouver an B<strong>und</strong>eskanzler Kohl <strong>und</strong> Staatsratsvorsitzenden Honecker<br />
zur Friedensverantwortung<br />
01.09. In Berlin versuchen Jugendliche eine Menschenkette zwischen der Botschaft der USA<br />
<strong>und</strong> der UdSSR zu bilden. Die Polizei schreitet ein <strong>und</strong> verhindert die Aktion.<br />
September In der Leipziger Hausbesetzerszene Friedrichstraße/Brüderstraße finden eine Reihe<br />
politischer Diskussionsabende statt.<br />
29.10. Einweihung des ev. Gemeindezentrums im Neubaugebiet Leipzig-Grünau.<br />
05.11. <strong>und</strong> an den folgenden Tagen kommt es nach den Friedensgebeten zu Kerzen-Demonstrationen von<br />
Jugendlichen (vor allem Offener Keller Mockau <strong>und</strong> IHN) in der Innenstadt.<br />
06.-16.11. Friedensdekade unter dem Thema „Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen“.<br />
10.-13.11. „Ökumenische Begegnungstage zum 500. Geburtstag Martin Luthers“ mit ca. 200<br />
ökumenischen Gästen in Leipzig.<br />
17.-20.11. In Leipzig finden auch nach dem Ende der Friedensdekade mehrstündige<br />
Friedensgebete statt.<br />
18.11. Eine halbe St<strong>und</strong>e vor Eröffnung der Leipziger Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche<br />
findet erneut eine Kerzendemonstration statt. Daraufhin werden zahlreiche Personen<br />
inhaftiert, 6 Personen erhalten Haftstrafen wegen ihrer Teilnahme an der<br />
Demonstration von bis zu zwei Jahren.<br />
27./28.11. Wehrdienstverweigerer erhalten Haftstrafen von bis zu 20 Monate.<br />
02.12. Jugenddiakon Rochau (Halle) wird nach Verurteilung wegen „staatsfeindlicher<br />
Hetze“ zu drei Jahren Haft aufgr<strong>und</strong> eines Ausreiseantrages in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
abgeschoben.<br />
12.12. B. Bohley <strong>und</strong> U. Poppe von der Initiative“ Frauen für den Frieden“ Berlin werden<br />
inhaftiert <strong>und</strong> bis zum 24.01.1984 festgehalten.<br />
1984<br />
03./04.03. In Eisenach findet die Tagung „Konkret für den Frieden“ mit Mitgliedern von<br />
Basisgruppen aus der DDR statt.<br />
16.03. Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des RdB Leipzig <strong>und</strong> Vertretern der<br />
Landeskirche Sachsens Hempel, Domsch <strong>und</strong> Schlichter. Themen sind<br />
Ausreiseproblematik <strong>und</strong> der Begriff „Kirche im Sozialismus“.<br />
06.-09.05. Die Landessynode von Sachsen beklagt die Stationierung neuer Raketensysteme in<br />
Europa <strong>und</strong> fordert die Gemeinden auf im Gebet für den Frieden nicht nachzulassen.<br />
10.05. DDR sagt Teilnahme an den Olympischen Spielen in Los Angeles ab.<br />
30.05. In der Berliner Bartholomäuskirche wird ein ständiges Antikriegsmuseum eröffnet.<br />
01.-03.06. „Mobil ohne Auto“ - in Leipzig u.a. mit einem ungenehmigten Fahrradkorso von der<br />
Bethanienkirche nach Rötha.<br />
17.06. Umweltgottesdienst in Mölbis (bei Leipzig), u.a. mit Bischof Hempel.<br />
20.06. Ökumenischer Friedensgottesdienst „Schritte zum Frieden“, der vor allem von<br />
Basisgruppen vorbereitet wurde.<br />
11.07. DDR-Verteidigungsminister besucht erstmals seit Bestehen der Baueinheiten (1964)<br />
Bausoldaten.<br />
25.07. DDR-Regierung erhält einen 950-Millionen-DM-Kredit auf Bürgschaft der<br />
B<strong>und</strong>esregierung.<br />
01.09. Die Leipziger Friedensgruppen gestalten einen Gottesdienst anläßlich des 45.<br />
Jahrestages des Beginns des II. Weltkrieges in der Nikolaikirche unter der Leitung von<br />
Pf. Sengewald.<br />
04.09. Honecker sagt seinen geplanten Besuch in der B<strong>und</strong>esrepublik ab.<br />
26.-28.10. In der Michaeliskirche finden Veranstaltungen der Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua<br />
unter dem Titel „Drei Tage für Monte Fresco“ statt; u.a. Seminare über das Leben in<br />
Nicaragua. Die Rocknacht am 27.10. - u.a. mit S. Anderson <strong>und</strong> „Musik-Brigade“ -<br />
besuchen r<strong>und</strong> 700 Jugendliche. Es gibt eine vom Staat verbotene Mail-Art-<br />
394
Ausstellung zu sehen.<br />
11.-21.11. Friedensdekade unter dem Thema „Leben gegen den Tod“. In Leipzig wird im<br />
Gegensatz zum Vorjahr kein Programm zur Friedensdekade hergestellt. Der Gruppe<br />
„Frauen für den Frieden“ wird keine Möglichkeit zur Gestaltung eines Abends der<br />
Friedensdekade gegeben. Es gibt eine große Paketaktion für Äthiopien (31 Pakete).<br />
15.11. M. Stolpe hält in der Michaeliskirche einen Vortrag mit anschließen der Diskussion<br />
zum Thema: „Leben gegen den Tod - Was können Christen in der DDR für den<br />
Frieden tun?“ Das Friedensgebet in der Nikolaikirche gestaltet die IHN zusammen mit<br />
zwei Dominikanerpatres aus Nikaragua.<br />
17.11. Abend für den Frieden in der Michaeliskirche u.a. mit einem Film über Martin Luther<br />
King <strong>und</strong> einer Diskussion über die Staat-Kirche-Beziehung, bei der der<br />
Kirchenleitung vorgeworfen wird, daß sie sich nicht genügend gegen staatliches<br />
Unrecht wendet <strong>und</strong> sich damit von der „Basis“ entfernt.<br />
18.11. Friedensgebet der katholischen Liebfrauengemeinde in der Nikolaikirche mit<br />
polnischen Christen.<br />
1985<br />
11.02. Gespräch zwischen Honecker <strong>und</strong> dem Vorsitzenden der KKL, Hempel.<br />
13.02. Nach dem Gottesdienst aus Anlaß des 40. Jahrestages der Zerstörung Dresdens in der<br />
Kreuzkirche gehen etwa 5000 Teilnehmer mit Kerzen <strong>und</strong> Blumen zur Ruine der<br />
Frauenkirche.<br />
01.-03.03. Dritte Tagung „Konkret für den Frieden“ mit weit über 100 Vertretern von<br />
Basisgruppen aus der DDR in Schwerin.<br />
09./10.03. Leipziger Friedensseminar mit Chr. Ziemer als Hauptreferenten.<br />
18.03. Gemeinsame Friedenserklärung von EKD <strong>und</strong> BEK zum 40. Jahrestag des<br />
Kriegsendes.<br />
23.-27.03. Anläßlich der Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden hält der Präsident<br />
des LKA K. Domsch einen Vortrag über den“ Weg unserer Kirche seit 1945-<br />
Erfahrungen <strong>und</strong> Auftrag „, in dem er erklärt, daß die Formel“ Kirche im<br />
Sozialismus“ weniger Ortsbeschreibung als Aufgabe <strong>und</strong> damit“ Ortswahl“ sei.<br />
24.04. Honecker besucht Papst Johannes Paul II.<br />
02.-09.06. „Woche der Verantwortung für die Schöpfung“ der Evangelischen Kirchen in Leipzig<br />
(u.a Vorträge zum Thema: Stadtökologie, Stadtbegrünung, Naturschutz in der Stadt<br />
<strong>und</strong> „Mobil ohne Auto“ - eine Fahrt ins Braunkohlen-Tagebaugebiet im Süden der<br />
Stadt).<br />
09.06. Landesjugendsonntag der Thüringer Landeskirche in Eisenach mit etwa 12.000<br />
Teilnehmern: „Das Leben gewinnen“.<br />
Sept. Das Interesse an den Friedensgebeten in der Nikolaikirche sank über die Jahre hinweg<br />
sehr stark ab. Es fanden sich oft gerade einmal 5 einsame „Friedensbeter“ in der<br />
Nikolaikirche ein. Deshalb wird nun verstärkt Werbung für die Friedensgebete in den<br />
Leipziger Gemeinden gemacht.<br />
04.09. Messemännerabend mit Generalsuperintendent G. Krusche, "Die<br />
Friedensverantwortung der Kirchen zwischen Ost <strong>und</strong> West“.<br />
12.-16.10. Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Sie beschließt die Unterstützung<br />
des geplanten „Konzils des Friedens“ <strong>und</strong> bittet die Gemeinden, sich darauf<br />
vorzubereiten.<br />
10.-20.11. Friedensdekade unter dem Thema „Frieden wächst aus Gerechtigkeit“. In Leipzig<br />
finden täglich 18.00 Uhr von den Basisgruppen gestaltete Friedensgebete in der<br />
Nikolaikirche statt. Am Abend sind auch das Friedenscafe <strong>und</strong> die Friedensbibliothek<br />
in den Seitenkapellen der Nikolaikirche geöffnet. In der Kirche gibt es Ausstellungen,<br />
die von den Gruppen gestaltet wurden. Während der Friedensdekade findet in der<br />
Lukaskirche eine Fastenstafette statt <strong>und</strong> die Kirche ist r<strong>und</strong> um die Uhr offen. Die<br />
Gruppe „Frauen für den Frieden“ gestaltet Foren, in denen sie sich gegen die<br />
395
entmündigende <strong>und</strong> militaristische Erziehung im Kindergarten wendet.<br />
1986<br />
Jan. Gründung des Bezirkssynodalausschusses, in dem alle Gruppen zusammengeführt<br />
werden sollen <strong>und</strong> die Gestaltung der Friedensgebete besprochen wird.<br />
24.01. Appell verschiedener DDR-Basisgruppenmitglieder zum UNO-Jahr des Friedens an<br />
die DDR-Regierung.<br />
13.02. Der Stadt-Ökumene-Kreis Dresden lädt alle Christen <strong>und</strong> Kirchen in der DDR zu einer<br />
Ökumenischen Versammlung in Vorbereitung der ÖRK-Weltversammlung ein.<br />
28.02.-02.03. Basisgruppentreffen „Frieden konkret IV“ mit 300 Teilnehmern in Stendal.<br />
15.-19.03. Tagung der Landessynode von Sachsen in Dresden. Sie nimmt den Vorschlag des<br />
ökumenischen Arbeitskreises Dresden auf 1988 eine ökumenische Versammlung der<br />
Christen in der DDR für Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung<br />
durchzuführen.<br />
27.03. Auf Initiative des MfS führt Sabatowska (RdS Leipzig) mit Sup. Magirius ein<br />
Gespräch mit dem Ziel der „Disziplinierung“ von Pf. Wonneberger.<br />
06.05. Gespräch zwischen Reitmann (RdB Leipzig) <strong>und</strong> Vertretern des Landeskirchenamtes.<br />
Der Kirche wird vorgeworfen, sich zu sehr für Ausreisewillige einzusetzen. Präsident<br />
Domsch <strong>und</strong> OKR Rau erklären, daß die Kirche nicht zum Anlaufpunkt für<br />
Antragsteller werden will.<br />
05.-08.06. Umwelttage in Leipzig (Lukaskirche).<br />
15.06. Umwelttag in Rötha bei Leipzig.<br />
26.06.-29.06. Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag in acht Orten der Region Leipzig.<br />
29.06. Friedenswerkstatt in <strong>und</strong> an der Berliner Erlöserkirche.<br />
August Die Theologische Studienabteilung gibt einen Reader mit dem Titel „Reproduktion von<br />
Religion in der Gesellschaft. Ein Beitrag zum Problem der sozialisierenden Gruppen<br />
<strong>und</strong> ihrer Zuordnung zu den Kirchen“ von E. Neubert heraus.<br />
September Pf. Wonneberger (Lukas-Gemeinde) übernimmt die Organisation der Friedensgebete<br />
<strong>und</strong> die Koordinierung der Friedensdekade auf Bitten von Sup. Magirius.<br />
01.09. Honecker empfängt Abordnung des Friedensrates der DDR. An dem Empfang nehmen<br />
als Vertreter des BEK Präses Gaebler <strong>und</strong> Oberkirchenrätin Lewek teil, die Honecker<br />
einen zensierten „Friedensreport“ übergeben <strong>und</strong> über die Friedensarbeit des BEK<br />
informieren. Am gleichen Tag weilt eine Delegation der B<strong>und</strong>estagsabgeordneten der<br />
Grünen zu Besuch in der DDR.<br />
02.09. Berliner Zionskirchgemeinde eröffnet die Umweltbibliothek.<br />
19.-23.09. Synode des B<strong>und</strong>es in Erfurt. Bischof Demke bedauert, daß Antragsteller auf<br />
Übersiedlung aus der DDR kaum das seelsorgerliche Gespräch suchten, weil davon<br />
ausgegangen würde, daß die Kirche“ im Prinzip“ gegen eine Übersiedlung sei.<br />
26./27.10. Ökumenische Friedensgebetsgottesdienste in der DDR im Zusammenhang mit dem<br />
Welttreffen christlicher Konfessionen <strong>und</strong> aller Weltreligionen in Assisi/Italien, zu dem<br />
Papst Johannes Paul II. eingeladen hatte.<br />
09.-19.11. Friedensdekade unter dem Thema „Friede sei mit euch“. Täglich 18.00 Uhr finden<br />
Friedensgebete der Leipziger Basisgruppen in der Nikolaikirche statt. Davor sind das<br />
„Friedenscafe“ <strong>und</strong> die Friedensbibliothek in der Nikolaikirche geöffnet.<br />
10.11. Diskussionsabend mit dem Präses des B<strong>und</strong>essynode, Gaebler, zum Thema „Wer<br />
vertritt die kirchliche Friedensarbeit?“ in der Leipziger Luthergemeinde. Dabei kam es<br />
zu vehementer Kritik von Gruppenmitgliedern an kirchenleitenden Entscheidungen<br />
<strong>und</strong> an der Beteiligung an dem Empfang am 01.09.1986.<br />
12.11. In der Lukas-Kirche können Autoren ihre nicht veröffentlichten Texte<br />
14.11.<br />
bei der sogenannten „Offenen Lesebühne“ vortragen.<br />
Friedensgebet in der Nikolaikirche unter dem Motto: „Du hast keinen Ausreiseantrag<br />
gestellt, warum nicht?“ Im Anschluß daran bildet sich der Gesprächskreis „Hoffnung“.<br />
16.11. St. Krawczyk mit seinem Programm „Wir kommen noch wie sonst zusammen“ in der<br />
396
Michaeliskirche.<br />
17.11. Forum der Gruppe „Frauen für den Frieden“ zum Thema Gleichberechtigung in der<br />
DDR.<br />
19.11. Ökumenischer Abschlußgottesdienst der Friedensdekade in der Nikolaikirche mit K.<br />
Stauss.<br />
22./23.11. Kirchliches Menschenrechtsseminar unter dem Thema „Menschenrechte - der<br />
Einzelne <strong>und</strong> die Gesellschaft“ in Berlin. Das Treffen war schon für 1985 geplant,<br />
wurde aber vom Staat untersagt. Es findet unter der Bedingung statt, daß keinerlei<br />
Briefe <strong>und</strong> Erklärungen verfaßt <strong>und</strong> keine Gäste eingeladen werden.<br />
23.11. Der BSA wertet die Friedensdekade in Leipzig aus. Pf. Wonneberger macht den<br />
Vorschlag, daß sich die verschiedenen Leipziger Gruppen koordiniert an den<br />
Friedensgebeten beteiligen sollten. In der Folge bildet sich eine Koordinierungsgruppe<br />
für die allwöchentlichen Friedensgebete.<br />
1987<br />
14.02. Erste ökumenische Arbeitstagung zum Konziliaren Prozeß in Dresden auf Einladung<br />
des Dresdner Stadtökumenekreises.<br />
27.02.-01.03. Seminar „Konkret für den Frieden“ mit über 200 Mitgliedern von Basisgruppen aus<br />
der DDR in Leipzig.<br />
08.03. Beschluß der KKL zur gesellschaftlichen Mitverantwortung der ev. Kirchen, in dem es<br />
u.a. heißt, daß in kirchlichen Äußerungen zu politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Fragen<br />
„darauf geachtet werden [müsse], daß die Bindung an das Evangelium deutlich<br />
erkennbar wird“.<br />
18.-22.03. Festwoche zum 775jährigen Bestehen des Thomanerchores Leipzig.<br />
22.03. St. Krawczyk gibt ein Konzert in der Lukas-Kirche. Ein Teilnehmer des Konzertes<br />
schreibt an den Leipziger Oberbürgermeister: „Ich möchte Ihnen hiermit die Frage<br />
stellen, wie Sie es verantworten können, ein solches Subjekt in der Öffentlichkeit<br />
auftreten zu lassen.“ Pf. Wonneberger wird später von Bischof Hempel <strong>und</strong><br />
Kirchenleitung dafür gerügt, daß er die Kirche für dieses Konzert zur Verfügung<br />
stellte.<br />
21.-24.03. Die Landessynode von Sachsen verabschiedet eine Stellungnahme zum sozialen<br />
Wehrersatzdienst angesichts des großen Personalmangels in Pflegeeinrichtungen <strong>und</strong><br />
stellt sich hinter die Forderungen nach Reiseerleichterungen nach Ost- <strong>und</strong> West-<br />
Europa.<br />
13.04. Beim Vorsitzenden des RdB Leipzig findet ein Gespräch mit Landesbischof Hempel,<br />
Präsident Domsch <strong>und</strong> OKR Rau statt. Darin wird der Kirche vorgeworfen, den<br />
Basisgruppen zu viel Raum zu geben, der dann durch diese Gruppen übergebührlich<br />
beansprucht wird. Dabei wird besonders auf das Konzert von St. Krawczyk in der<br />
Lukaskirche verwiesen.<br />
24.05. In einer Veranstaltung unter dem Thema „Ich bin so frei“ im Keller der<br />
Michaelisgemeinde stellt sich die neugegründete Arbeitsgruppe Menschenrechte vor.<br />
01.06. Friedensgebet der AG Umweltschutz in der Nikolaikirche, anschließend findet als<br />
symbolische Dokumentation der Einheit von Beten <strong>und</strong> Tun ein Arbeitseinsatz an einer<br />
Grünanlage am Nordplatz statt.<br />
08.06. Während eines Konzertes vor dem Reichstag in Westberlin versammeln sich mehrere<br />
h<strong>und</strong>ert Jugendliche vor dem Brandenburger Tor. Die Ansammlung schlägt nach<br />
Eingriffen der Polizei in eine politische Demonstration gegen die Mauer um.<br />
23.06. Das Politbüro genehmigt eine Städtepartnerschaft zwischen Leipzig <strong>und</strong> Hannover.<br />
24.-27.06. In Berlin findet der evangelische Kirchentag unter dem Motto „Ich will bei Euch<br />
wohnen „ statt. Kirchliche Basisgruppen gestalten außerhalb des offiziellen<br />
Kirchentages selbständig einen „Kirchentag von unten“ <strong>und</strong> machen so die<br />
innerkirchlichen Spannungen augenfällig.<br />
01.07. DDR-Bürger erhalten für Westreisen nur noch 15,- DM pro Jahr.<br />
397
17.07. Die DDR schafft die Todesstrafe ab.<br />
13.08. Der Theologe R. Lampe wird aufgr<strong>und</strong> eines symbolischen Protestes gegen die Mauer<br />
verhaftet <strong>und</strong> am 3.12. zu mehr als 12 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Die Strafe<br />
wird jedoch auf Bewährung ausgesetzt.<br />
28.08. Das SED/SPD-Papier “Streit der Ideologien <strong>und</strong> die gemeinsame Sicherheit“ wird<br />
veröffentlicht.<br />
01.-19.09. Olof-Palme-Friedensmarsch in der DDR. Kirchliche Basisgruppen beteiligen sich mit<br />
eigenen Transparenten am Friedensmarsch. In einigen Städten wird von „eingesetzten<br />
staatlichen Demonstranten“ versucht, die Plakate der Basisgruppenmitglieder mit den<br />
eigenen Plakaten zu verdecken (z.B. in Torgau wo viele Basisgruppenmitglieder aus<br />
Leipzig teilnahmen).<br />
07.-11.09. E. Honecker besucht die B<strong>und</strong>esrepublik.<br />
22.09. B<strong>und</strong>essynode in Görlitz fordert „eine Erweiterung <strong>und</strong> durchschaubare rechtliche<br />
Regelungen von Reisemöglichkeiten für alle DDR-Bürger sowohl in die sozialistischen<br />
Länder als auch in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet, so daß die<br />
Genehmigungsentscheidungen überprüfbar werden „. Die Gemeinden werden gebeten,<br />
sich stärker am Konziliaren Prozeß zu beteiligen, <strong>und</strong> aufgerufen, Gottesdienste mit<br />
den Themen Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung durchzuführen.<br />
Der Antrag zur Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip der Abgrenzung einer Berliner<br />
Gemeindegruppe wird ohne Beschluß behandelt.<br />
06.-08.10 Vollversammlung der Solidarischen Kirche in Leipzig.<br />
10.-14.10. Tagung der Landessynode von Sachsen stellt zu den Gruppen in den Gemeinden fest,<br />
daß sie ein Zeichen der Lebendigkeit der Kirche Jesu Christi seien; für andere<br />
fernerstehende Gruppen müsse für die Aufnahme unter dem Dach der Kirche das<br />
Kriterium gelten, daß sie bzw. ihre Äußerungen dem Evangelium entsprechen.<br />
14.10. Sekretariat des ZK der SED beschließt härtere Gangart gegenüber den Kirchen unter<br />
dem Motto“ Der Kirche, was der Kirche, dem Staat, was dem Staat ist. „<br />
15.10. Die Vorbereitungsgruppe für die ökumenische Versammlung in der DDR gibt ihren<br />
Aufruf“ Eine Hoffnung lernt gehen - Gerechtigkeit den Menschen, Frieden den<br />
Völkern, Befreiung der Schöpfung - Geh mit!“ heraus.<br />
22.10. Der Stellvertreter des Leipziger Oberbürgermeisters versucht Sup. Richter dazu zu<br />
bewegen, den Auftritt St. Krawczyks am 25.10. in der Laurentiuskirche abzusagen. Mit<br />
gleichem Ziel finden am folgenden Tag ein Gespräch mit Pf. Lösche statt.<br />
25./31.10. Konzerte St. Krawczyks in der Laurentiuskirche bzw. der Lukas-Kirche.<br />
07.11. Die KKL konstatiert eine neue Kirchenpolitik der DDR-Regierung aufgr<strong>und</strong> der<br />
Absage der Regierung von Gesprächen zu Bildungsfragen, Militärpolitik u.a.<br />
08.-18.11. Friedensdekade unter dem Thema“ Miteinander Leben“.<br />
13.11. Im Rahmen der Friedensdekade findet die Friedensnacht in der Nikolaikirche statt.<br />
Dort werden Unterschriften zu einer Eingabe an die Synode des B<strong>und</strong>es zur „Absage<br />
an Geist <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“ gesammelt.<br />
14.11. Veranstaltung der IG Leben mit dem Titel „Anspruch <strong>und</strong> Realität alternativer<br />
Gruppen in der DDR“ in Leipzig-Leutzsch.<br />
16.11. In der Reformierten Kirche findet ein Forum zum Sozialen Friedensdienst unter dem<br />
Titel: „Der Friede muß unbewaffnet sein“ unter Beteiligung von westdeutschen<br />
Friedensgruppenmitgliedern statt.<br />
24./25.11. Die Umweltbibliothek der Zionskirche in Berlin wird durch die Staatsanwaltschaft<br />
durchsucht. Es werden Vervielfältigungsgeräte <strong>und</strong> Papiere beschlagnahmt. Sieben<br />
Mitarbeiter der Umweltbibliothek werden verhaftet. In den folgenden Tagen<br />
entwickeln sich in der ganzen DDR verschiedene Formen der Solidarisierung:<br />
Mahnwachen, Fürbitt- <strong>und</strong> Informationsandachten, Resolutionen...<br />
10.12. Zum Tag der Menschenrechte werden einige Mitglieder der IFM zeitweilig inhaftiert.<br />
12.12. Der Chefredakteur der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ setzt in einem Artikel Teilnehmer<br />
398
der Berliner Mahnwachen mit rechtsradikalen Schlägern gleich.<br />
14.12. Die AG Menschenrechte gestaltet das Friedensgebet in der Nikolaikirche unter dem<br />
Motto „Zwischen Mauern leben“.<br />
16.12. In Vorbereitung des Leipziger Kirchentages 1989 treffen sich Reitmann, Präsident<br />
Domsch <strong>und</strong> OKR Auerbach.<br />
1988<br />
05.01. Gespräch zwischen dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig <strong>und</strong><br />
Landesbischof Hempel. Die Landeskirche Sachsens erhält eine erste Zusage für die<br />
staatliche Unterstützung bei Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung des Leipziger<br />
Kirchentages 1989.<br />
07.01. Nachdem die Mitarbeiter der Umweltbibliothek wieder freigelassen wurden, werden<br />
auch die Ermittlungsverfahren eingestellt.<br />
10.01. Gründung des Netzwerkes "arche" in der Berliner Umweltbibliothek.<br />
16.01. Seminar „Abgrenzung <strong>und</strong> Öffnung „in Oranienburg bei Berlin. Eingeladen waren<br />
alle, die sich in Eingaben an die B<strong>und</strong>esssynode mit dem Antrag „Absage an Prinzip<br />
der Abgrenzung „ auseinandergesetzt hatten.<br />
16.01. Die AG Menschenrechte richtet eine Eingabe an die Volkskammer, in der sie die<br />
Einführung eines Sozialen Friedensdienstes (SoFD) fordert.<br />
17.01. In Berlin werden r<strong>und</strong> 120 Personen festgenommen, die bei der traditionellen<br />
Gedenkdemonstration der SED für Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg mit eigenen<br />
Losungen <strong>und</strong> Plakaten teilnehmen. Die Hälfte der Festgenommenen wird wenige<br />
St<strong>und</strong>en später nach West-Berlin abgeschoben. In den folgenden Tagen finden in der<br />
ganzen DDR Fürbittgottesdienste für die Inhaftierten statt.<br />
18.01. Beim Friedensgebet in der Nikolaikirche wird über die Inhaftierungen am Vortage<br />
informiert.<br />
19.01. Karsten D. Voigt (SPD) erklärt im Deutschlandfunk, daß die DDR durch die<br />
Abschiebung der inhaftierten Ausreisewilligen eine „einheitliche deutsche<br />
Staatsbürgerschaft“ praktiziert.<br />
21.01. Ost-Berliner Kirchenleitung fordert in einer Erklärung die Freilassung der im<br />
Zusammenhang mit der Demonstration am 17. Januar Festgenommenen. Sie erklärt<br />
sich bereit zur Teilnahme an den Fürbittandachten.<br />
21.01. Im Semesterabschlußgottesdienst der ESG berichten Studenten über die Vorgänge in<br />
Berlin.<br />
22.01. Inder Leipziger Michaeliskirche wird eine Informationsveranstaltung, die anläßlich der<br />
Vorgänge um die Berliner Umweltbibliothek angesetzt war, zu einer großen<br />
Informationsveranstaltung zu den erneuten Verhaftungen in Berlin. Hier wird für die<br />
Idee geworben, auch in Leipzig Informations- bzw. Friedensgebete durchzuführen <strong>und</strong><br />
Unterschriften unter eine Protestresolution gesammelt.<br />
25.01. Führende Berliner Oppositionelle werden unter Anschuldigung des „Landesverrates“<br />
inhaftiert.<br />
Ab dem 25.01. finden in Leipzig täglich Fürbittgebete für die Inhaftierten <strong>und</strong> für<br />
Reformen statt. Das Gebet am Montag, dem 25.01., findet in der Nikolaikirche (ca.<br />
300 Teilnehmer) statt. Die weiteren zuerst in der ESG, später in verschiedenen Kirchen<br />
der Innenstadt. Es werden Flugblätter verteilt, mit denen auf die Friedensgebete<br />
aufmerksam gemacht wird.<br />
26.01. Pf. Barthels wird wegen der Bereitstellung der Räume der ESG für die täglich<br />
stattfindenden Fürbittandachten in den RdS Leipzig bestellt. Es gibt einige zeitweilige<br />
Verhaftungen. Das Informationsgebet in den Räumen der ESG besuchen ungefähr 100<br />
Personen. Das MfS bildet eine spezielle Lagegruppe („Spinne“), die alle Aktionen des<br />
Sicherheitskartells gegen oppositionelle Aktivitäten um die Fürbittengebete<br />
koordinieren soll.<br />
27.01. Die Leipziger Kontaktgruppe, welche die Fürbittgebete koordiniert, gibt eine<br />
399
Gr<strong>und</strong>satzerklärung heraus. Bei einem Gespräch im RdB erklären die Leipziger<br />
Superintendenten, daß sie über das „Auftauchen“ der Ausreiseantragsteller überrascht<br />
seien. Sie sagen, daß es für sie eine neue Situation sei, da diese Gruppe weder mit dem<br />
Staat noch mit der Kirche etwas im Sinne hätte. Die Superintendenten werden darum<br />
gebeten, die Fürbittgebete nicht in der Innenstadt durchzuführen.<br />
29.01. Treffen zwischen der Kontaktgruppe, Pf. Kaden, Pf. Barthels <strong>und</strong> den beiden<br />
Superintendenten. Es wird vereinbart, daß die beiden Pfarrer für die Fürbittgebete<br />
verantwortlich sind, für die Friedensgebete jedoch Pf. Führer.<br />
01.02. An verschiedenen Stellen Leipzigs werden Flugblätter, u.a. mit folgender<br />
Aufforderung verteilt: „Bürger setzt euch ein für Demokratie <strong>und</strong> Menschenrechte, übt<br />
Solidarität mit den zu unrecht verhafteten Bürgerrechtlern.“ Zum Friedensgebet in St.<br />
Nikolai kommen 700 Besucher. Seit dem Überfall auf die Umweltbibliothek im<br />
November 1987 <strong>und</strong> den Verhaftungen im Januar 1988 kommen immer mehr<br />
Ausreiseantragsteller zu diesem Gebet. Die Kontaktgruppe erklärt, daß Verhaftungen<br />
in Weimar, Dresden <strong>und</strong> Leipzig zeigen würden, daß das staatliche Vorgehen breit<br />
angelegt sei <strong>und</strong> sich gegen Gerechtigkeit <strong>und</strong> Offenheit richte. Sie ruft zu weiteren<br />
Fürbittandachten auf <strong>und</strong> bietet ihre Hilfe dabei an.<br />
02.-09.02. Mehrere der in Berlin Inhaftierten werden direkt in die BRD abgeschoben, andere<br />
bekommen befristete Visa, mit denen sie die DDR für 6 Monate <strong>und</strong> länger verlassen<br />
müssen. Zwei werden auf Bewährung in die DDR entlassen.<br />
02.02. Treffen der Superintendenten mit dem Stellvertreter des Oberbürgermeisters. Dieser<br />
erklärt, daß der Staat Mittel <strong>und</strong> Wege finden wird, die Tätigkeit der Kontaktgruppe zu<br />
unterbinden. Am Friedensgebet nehmen ca. 800 Personen teil.<br />
05.02. J. Tallig bringt an der stark begangenen Unterführung in der Nähe des Neuen<br />
Rathauses folgende Sprüche an: „Wir brauchen Offenheit <strong>und</strong> Demokratie wie die Luft<br />
zum Atmen. M. Gorbatschow“, „Neues Denken auch nach innen“ <strong>und</strong> „Hoch Lenin!<br />
B.B.“. J. Tallig wird deshalb am 15.02.1988 verhaftet <strong>und</strong> zu über 6000,- Mark Strafe<br />
verurteilt.<br />
12.-15.02. Erste Ökumenische Versammlung „Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />
Schöpfung“ in Dresden. An der Versammlung nehmen 150 Delegierte von 20 Kirchen<br />
<strong>und</strong> Religionsgemeinschaften teil. Während der Versammlung finden öffentliche<br />
Veranstaltungen statt, bei denen „Zeugnisse der Betroffenheit“ vorgetragen werden.<br />
13.02. In Dresden gedenken 3000 Menschen in der Kreuzkirche der Bombenopfer im Jahre<br />
1945. Anschließend kommt es zu einer Demonstration<br />
Beendigung der Fürbittgottesdienste mit einem Meditationsgottesdienst mit<br />
anschließender Vorstellung von Leipziger Basisgruppen in der Michaeliskirche.<br />
19.02. Der Vertreter des Politbüros der SED, W. Jarowinsky, hält dem Vorsitzenden des BEK,<br />
W. Leich, eine Standpauke wegen Einmischung der Kirche „in staatliche<br />
Angelegenheiten“.<br />
Gemeindeabend „Leben <strong>und</strong> Bleiben in der DDR“ zur Problematik der Übersiedlung<br />
nach Westdeutschland in St. Nikolai (Pf. Führer). Er wird von ca. 900 Menschen<br />
besucht. Pf. Führer bietet das Friedensgebet als „Kontaktmöglichkeit“ für<br />
Ausreiseantragsteller an. Der AK Gerechtigkeit verteilt nach dem Gemeindeabend <strong>und</strong><br />
nach dem folgenden Friedensgebet einen Brief zur „gesetzlichen Regelung der<br />
Ausreise“. Mehrere 100 Antragsteller werden diesen an E. Honecker senden.<br />
22.02. Superintendent Magirius teilt im Friedensgebet mit, daß Seelsorge für<br />
Ausreiseantragsteller nur individuell geschehen könne (somit also keine<br />
Friedensgebete für Ausreiseantragsteller).<br />
26.02. Dienstkonferenz des MfS bei Mielke berät Fragen der Mobilmachung <strong>und</strong><br />
Internierung.<br />
26.-28.02. Viertes Basisgruppentreffen „Frieden Konkret“ unter dem Thema „Teilhabe statt<br />
Ausgrenzung - Wege zu einer solidarischen Lebens- <strong>und</strong> Weltgestaltung“ in Cottbus.<br />
400
28.02. Graphikauktion in der Reformierten Kirche. Der Erlös soll der Ökumenischen<br />
Versammlung, den Basisgruppen <strong>und</strong> „in Bedrängnis geratenen<br />
Basisgruppenmitgliedern“ zugute kommen.<br />
29.02./01.03. Die Ausreiseantragsteller F.W. Sonntag <strong>und</strong> Dr. M. Kunze (AKG) werden inhaftiert.<br />
Ihnen wird die Erarbeitung <strong>und</strong> Verteilung der Eingabe zur „gesetzlichen Regelung der<br />
Ausreise“ vorgeworfen. In diesem Zusammenhang werden auch weitere Antragsteller<br />
kurzzeitig festgenommen <strong>und</strong> belehrt, daß ihnen die Mitarbeit in kirchlichen Gruppen<br />
<strong>und</strong> Veranstaltungen untersagt sei.<br />
02.03. Das MfS setzt eine spezielle Lagegruppe zur Koordinierung der Aktionen gegen<br />
Ausreisewillige <strong>und</strong> gegen Friedensgebete („Bearbeitungskomplex ‘Spinne“‘) ein. Die<br />
Abteilungen Innere Angelegenheiten werden angewiesen, bei den Ausreisewilligen<br />
keine Hoffnungen auf Ausreisemöglichkeiten aufkommen zu lassen <strong>und</strong> sie vom<br />
Besuch kirchlicher Veranstaltungen abzuhalten.<br />
03.03. Gespräch zwischen Honecker <strong>und</strong> Landesbischof W. Leich zehn Jahre nach dem Staat-<br />
Kirche-Gespräch vom 06.03.1978. Danach senden b<strong>und</strong>esdeutsche TV-Stationen ein<br />
Interview mit W. Leich, in dem er die vorgetragenen kirchlichen Forderungen nach<br />
Rechtssicherheit, Reiseerleichterungen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Reformen öffentlich<br />
benennt.<br />
Friedensgebet der IHN. Pf. Führer zitiert Passagen aus der Schnellinformation des<br />
BEK zum Spitzengespräch, die die Ausreiseproblematik betreffen. Es werden<br />
Fürbitten für die Inhaftierten gesprochen.<br />
06.03. Die Polizei verprügelt Gottesdienstbesucher in Berlin.<br />
10.03. F. W. Sonntag <strong>und</strong> Dr. M. Kunze können die Untersuchungshaftanstalt verlassen.<br />
12./13.03. Im Vorfeld des während der Frühjahrsmesse stattfindenden Friedensgebetes am 14.03.<br />
werden viele Ausreiseantragsteller kurzzeitig verhaftet <strong>und</strong> genötigt zu unterschreiben,<br />
daß sie sich künftig nicht an der Vorbereitung von kirchlichen Veranstaltungen<br />
beteiligen.<br />
13.-27.03. Ausstellung mit Fotos vom Olof-Palme-Marsch in der Reformierten Kirche in Leipzig.<br />
14.03. Friedensgebet des AK Solidarische Kirche mit anschließender Demonstration. Bilder<br />
davon sind am Abend in ARD <strong>und</strong> ZDF zu sehen.<br />
29.03. Der Bezirkssynodalausschuß „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />
Schöpfung“ der Bezirkssynode Leipzig-Ost beschließt auf Antrag von Sup. Magirius:<br />
„Die Gruppen sollen in den nächsten Friedensgebeten, die den Rahmen einer<br />
Großveranstaltung angenommen haben, die Begleitung eines verantwortlichen Pfarrers<br />
suchen <strong>und</strong> akzeptieren.“ Damit wird die seit 1982 bestehende Praxis der<br />
eigenverantwortlichen Gestaltung der Friedensgebete durch Laien <strong>und</strong> Basisgruppen<br />
beendet.<br />
18.04. Das Friedensgebet in der Nikolaikirche wird von der Arbeitsgruppe Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />
Ökumene mit ökumenischen Gästen, u.a. aus den Philippinen <strong>und</strong> Cuba, gestaltet.<br />
Nach dem Friedensgebet gibt es drei Gesprächsgruppen.<br />
25.04. Friedensgebet in der Nikolaikirche, gestaltet von der Arbeitsgruppe Menschenrechte,<br />
zum Thema „Macht <strong>und</strong> Umgang mit Macht“.<br />
29./30.04. Das MfS inhaftiert mehrere Wehrdienstverweigerer. Gruppenmitglieder richten ein<br />
Kontaktbüro im Jugendpfarramt ein. Die Inhaftierten werden jedoch wenige Tage<br />
später wieder freigelassen.<br />
09.05. Das Friedensgebet wird vom Offenen Keller Mockau gestaltet.<br />
28.05. In Leipzig veranstalten verschiedene Basisgruppen eine „Kleine ökumenische<br />
Versammlung“ (Tag für den Konziliaren Prozeß) in der Probsteikirche.<br />
05.06. 1. Pleiße-Gedenkumzug. Er soll auf die katastrophale Umweltsituation in Leipzig<br />
aufmerksam machen. Organisiert wurde er von Mitgliedern kirchlicher Basisgruppen.<br />
Die Superintendenten distanzieren sich von dem Gedenkumzug. Die Sicherheitsorgane<br />
verhindern ihn nicht.<br />
401
09.06. Pf. Führer versendet an zwei Pfarrer <strong>und</strong> an Sup. Magirius einen Brief bzgl. der<br />
Abänderung der Friedensgebete.<br />
12.06. 6. Umweltgottesdienst unter dem Thema „Unsere Zukunft hat schon begonnen“ in<br />
Deutzen bei Leipzig.<br />
17.06. Bezirkssynodalausschuß bleibt bei seinem Beschluß vom 29.03.1988 bezüglich der<br />
Friedensgebete. Bis zum 31.10.1988 liegt die Gestaltung der Friedensgebete bei den<br />
Gruppen unter Verantwortung eines von ihnen genannten Pfarrers.<br />
20.06. Kirchenvorstand St. Nikolai ist zu Gespräch beim Stadtbezirksbürgermeister Leipzig-<br />
Mitte geladen. Darin bittet der Staat um die Beendigung der Friedensgebete <strong>und</strong> der<br />
Nachgespräche für Ausreisewillige.<br />
24.06. Auf dem Kirchentag in Halle werden die“ 20 Thesen aus Wittenberg zur Erneuerung<br />
<strong>und</strong> Umgestaltung der DDR“ veröffentlicht.<br />
27.06. Die IG Leben hält zusammen mit Pf. Wonneberger das letzte Friedensgebet vor der<br />
Sommerpause. Zum Schluß wird eine Kollekte zur Finanzierung der Strafgelder<br />
gesammelt, die J. Tallig zahlen sollte, da er Losungen an der Fußgängerunterführung<br />
am W.-Leuschner-Platz angebracht hatte (s. 05.02.1988). Es kommen über 1000 Mark<br />
zusammen. Der anwesende Superintendentenstellvertreter, Pf. Wugk, distanziert sich<br />
noch während des Friedensgebetes von dieser „konkreten Fürbitte“, da sie eine<br />
„illegale“ Sammlung sei.<br />
08.07. Podiumsgespräch in der ESG unter Leitung von Pf. Barthels, u.a. mit AG<br />
Menschenrechte <strong>und</strong> dem AK Gerechtigkeit, bei dem es um Menschenrechtsfragen<br />
geht. Es wird vor allem von Ausreisewilligen besucht.<br />
13.07. Berufung von Kurt Löffler an Stelle von K. Gysi als Staatssekretär für Kirchenfragen.<br />
01.08. Ein Ausreisewilliger demonstriert in der Innenstadt von Leipzig mit dem Transparent:<br />
„Die DDR - ein Rechtsstaat? Es werden gr<strong>und</strong>sätzliche Menschenrechte verweigert.“<br />
08.08. Veranstaltung zu den Gefahren der Nutzung von Kernenergie in der Michaeliskirche.<br />
Organisiert wurde sie von der AGM, AGU, IGL <strong>und</strong> dem AKG.<br />
15.08. Sup. Magirius sendet einen Brief an die Gruppen, in dem er mitteilt, daß das<br />
Friedensgebet nach der Sommerpause in die alleinige Regie des Kirchenvorstands von<br />
St. Nikolai übergeht.<br />
23.08. Hauptabteilung XX des MfS teilt BV Leipzig mit, daß der Kirchentag 1989 stattfinden<br />
soll, jedoch nur in einem kleinen Rahmen. Das Stadion dürfe der Kirche nicht zur<br />
Verfügung gestellt werden.<br />
25.08. In verschiedene Leipziger Briefkästen werden Kettenbriefe unter dem Motto<br />
„Demokratie für alle“ verteilt.<br />
29.08. Das erste Friedensgebet nach der Sommerpause wird nicht - wie geplant - von der AG<br />
Menschenrechte veranstaltet, sondern von den Superintendenten. Zu Beginn erklärt Pf.<br />
Führer, daß die neue Regelung nötig sei, „damit das Friedensgebet weiterhin<br />
stattfinden kann“. Superintendent Magirius versprach, seinen Brief vom 15.08.1988 zu<br />
verlesen. Da dies nicht geschieht, kommt es zu massiven Protesten von<br />
Gruppenmitgliedern in <strong>und</strong> vor der Kirche. Der Kirchenvorstand von St. Nikolai<br />
beschließt am gleichen Abend die neue Ordnung der Friedensgebete.<br />
01.09. Gespräch von Vertretern der Basisgruppen mit Sup. Magirius <strong>und</strong> Pf. Führer führt zu<br />
keinem Kompromiß.<br />
05.09. Verschiedene Basisgruppenmitglieder senden einen Offenen Brief an Bischof Hempel.<br />
Im Friedensgebet wird zu Beginn des Eingangsliedes dieser offene Brief <strong>und</strong> die<br />
Dokumentation des Gesprächs vom 19.02.1988 zwischen Bischof Leich <strong>und</strong> Dr.<br />
Jarowinsky verteilt. Nach dem Friedensgebet wird vor der Kirche eine Erklärung<br />
einiger Basisgruppenmitglieder verlesen. Im Anschluß daran demonstrieren ca. 150<br />
Personen zum Markt, bis zivile Sicherheitskräfte die Demonstration auflösen.<br />
12.09. In einer DDR-weiten Aktion versuchen die Sicherheitsorgane zu verhindern, daß<br />
Ausreisewillige am Friedensgebet teilnehmen. Im Friedensgebet wird von den<br />
402
Bankreihen aus diese Polizeiaktion bekanntgemacht <strong>und</strong> kritisiert. Während des<br />
Friedensgebetes verteilen Ausreisewillige Einladungen zu einer Demonstration am<br />
07.10. 1988.<br />
16.-22.09. Synode des B<strong>und</strong>es der Evangelischen Kirchen in der DDR in Des<br />
sau fordert Reformen, Offenheit <strong>und</strong> Rechtssicherheit.<br />
19.09. Eine Gruppe von Ausreiseantragstellern sammelt nach dem Friedensgebet auf dem<br />
Nikolaikirchhof Unterschriften. Im Friedensgebet tragen einige Gruppenmitglieder<br />
M<strong>und</strong>binden mit dem Aufdruck „Redeverbot“.<br />
20.09. Synode des BEK ruft zu einem breiten innergesellschaftlichen Dialog auf.<br />
21.09. Gespräch zwischen dem Stellvertreter des Vorsitzenden des RdB Leipzig mit dem<br />
Vorsitzenden des Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag. Die staatliche<br />
Unterstützung für den Kirchentag wird von einer „weiteren Versachlichung der<br />
Friedensgebete in der Nikolaikirche“ abhängig gemacht.<br />
23.-30.09. In Berlin <strong>und</strong> Potsdam findet die von DDR-Basisgruppen organisierte Aktionswoche<br />
gegen die IWF- <strong>und</strong> Weltbanktagung in West-Berlin statt.<br />
27.09. Die Bezirkskirchenausschüsse Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West verständigen sich mit dem KOZ-<br />
Trägerkreis auf einen Modus zur Einrichtung eines Leipziger<br />
Kommunikationszentrums.<br />
28.09.-2.10. 1. Leipziger Zukunftswerkstatt in der Philippuskirchgemeinde. Sie wurde als Teil des<br />
Konziliaren Prozesses von Leipziger Basisgruppen organisiert.<br />
30.09. In der Berliner Carl-von-Ossietzky-Oberschule werden vier Schüler aus politischen<br />
Gründen relegiert; andere erhalten Schulstrafen. Wenig später finden an<br />
verschiedenen Orten in der DDR Protestandachten <strong>und</strong> Veranstaltungen zu Problemen<br />
in der sogenannten „Volksbildung“ statt.<br />
03.10. Nach dem Friedensgebet informieren Gruppenvertreter vor der Nikolaikirche die<br />
Friedensgebetsbesucher über aktuelle Probleme <strong>und</strong> Ereignisse (z.B. über die<br />
Schließung der Zwickauer Umweltbibliothek). Dafür werden Beton-Platten, die auf<br />
dem Nikolaikirchhof liegen, als Redner-Bühne genutzt.<br />
07.10. Am Bach-Denkmal vor der Thomaskirche treffen sich fast h<strong>und</strong>ert Ausreisewillige <strong>und</strong><br />
Oppositionelle.<br />
08.-11.10. 2. Ökumenische Versammlung für „Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />
Schöpfung“ in Magdeburg. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen werden zur Kritik an<br />
die Gemeinden geben.<br />
10.10. Demonstration gegen die Zensur der Kirchenzeitung in Berlin wird durch<br />
Sicherheitskräfte vor laufenden Kameras westlicher TV-Stationen brutal unterb<strong>und</strong>en.<br />
Nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche wird von Basisgruppenmitgliedern ein<br />
Beschluß zu gesellschaftlichen Fragen der Synode des BEK verlesen.<br />
14.10. Wiedereinweihung der restaurierten russisch-orthodoxen Kirche in Leipzig mit dem<br />
Botschafter <strong>und</strong> Vertretern der Regierung der UdSSR. Gespräch zwischen Vertretern<br />
des Ministeriums für Kohle <strong>und</strong> Energie, Sup. Richter, Pf. Kaden <strong>und</strong> zwei Vertretern<br />
kirchlicher Basisgruppen aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe des Jugendpfarramtes zur<br />
Perspektive der Kernenergie in der DDR.<br />
17.10. Während des Friedensgebetes wird von Basisgruppenmitgliedern eine Binde vor dem<br />
M<strong>und</strong> getragen, auf die das Wort „Redeverbot“ gedruckt ist. Nach dem Friedensgebet<br />
werden auf dem Nikolaikirchhof ein Brief an den Staatssekretär für Kirchenfragen zur<br />
Aufhebung der Zensur kirchlicher Presseerzeugnisse verlesen <strong>und</strong> 274 Unterschriften<br />
dazu gesammelt.<br />
19.10. Zwischen dem Staatssekretär für Kirchenfragen, dem Vorsitzenden des RdB Leipzig,<br />
einem Vertreter des staatlichen Presseamtes <strong>und</strong> Vertretern der SED-Leitung wird die<br />
staatliche Vorbereitung des Leipziger Kirchentages abgestimmt.<br />
24.10. Das Friedensgebet wird vom Friedenskreis Grünau-Lindenau gestaltet. Während des<br />
Eingangsliedes („O komm, du Geist der Wahrheit“) gehen 15 Basisgruppenmitglieder<br />
403
mit Kerzen <strong>und</strong> Transparenten in den Altarraum <strong>und</strong> stellen bzw. setzen sich dorthin.<br />
Kaplan Fischer begrüßt jeden mit Handschlag <strong>und</strong> „Friede sei mit dir“. Zum Schluß<br />
des Friedensgebetes versucht G. Oltmanns eine Erklärung zu dieser Aktion zu<br />
verlesen, doch das Mikrophon wird sofort von Sup. Magirius abgeschaltet. Es kommt<br />
zu einer tumultuarischen Diskussion. Danach stellten sich die Plakatträger mit ihren<br />
Plakaten auf die Betonplatten vor der Nikolaikirche. Gruppenvertreter verteilen<br />
Kerzen, die angezündet werden. Es wird die Erklärung verlesen, die sie in der Kirche<br />
nicht verlesen konnten.<br />
26./27.10 Die Plakatträger vom 24.10.1988 werden kurzzeitig festgenommen. Ihnen wird durch<br />
das MfS ein Ermittlungsverfahren wegen „staatsfeindlicher Hetze“ angedroht.<br />
27.10. Die beiden Superintendenten erklären dem KOZ-Trägerkreis, daß die Gemeinde<br />
Heilig-Kreuz keine Räume für ein Kommunikationszentrum zur Verfügung stellt.<br />
29.10. IG Leben, AK Gerechtigkeit <strong>und</strong> Aktion Sühnezeichen führen einen Aktionstag zur<br />
Solidarität mit dem rumänischen Volk im Gemeindehaus Mockau durch.<br />
31.10. Anläßlich des Reformationstages findet kein Friedensgebet statt. AG Menschenrechte<br />
<strong>und</strong> die IG Leben veranstalten einen Informationsabend zum Thema Sozialer<br />
Friedensdienst in der Lukaskirche.<br />
01.11. T. Rudolph <strong>und</strong> J. Läßig lassen sich exmatrikulieren, um sich völlig ihrer politischen<br />
Arbeit widmen zu können.<br />
06.-16.11 Friedensdekade unter dem Thema“ Friede den Fernen - Friede den Nahen“.<br />
07.11. Der AK Solidarische Kirche gestaltet die Andacht in St. Nikolai. In ihr werden<br />
Parallelen zwischen Nationalsozialismus <strong>und</strong> der DDR gezogen. In der<br />
Michaeliskirche gestalten die „Frauen für den Frieden“ einen „Elternabend zur<br />
Friedenserziehung“. In der Friedenskirche berichtet Prof. U. Kühn über die 2.<br />
Ökumenische Versammlung.<br />
09.11. Aktion Sühnezeichen gestaltet die Andacht in St. Nikolai. Anschließend gibt es einen<br />
nicht genehmigten Schweigemarsch mit Kerzen im Gedenken an die Pogromnacht<br />
1938, an dem ca. 200 Menschen teilnehmen. Parallel dazu wird ein Flugblatt<br />
„Initiative zur gesellschaftlichen Erneuerung der DDR“ verteilt.<br />
10.11. Der AK Gerechtigkeit gestaltet zusammen mit der Musik-Gruppe „Cäsar <strong>und</strong> die<br />
Spieler“ die Andacht in der Nikolaikirche. Während des Friedensgebetes werden<br />
Kerzen verteilt, danach stehen einige Besucher mit brennenden Kerzen vor der Kirche.<br />
11.11. Lange Friedensnacht der Leipziger Gruppen in der Nikolaikirche.<br />
13.11. „Tag für Espenhain“ in der Reformierte Kirche mit ca. 300 Teilnehmer.<br />
14.11. Nach dem Friedensgebet verteilt eine Gruppe Ausreiseantragsteller ein Flugblatt, in<br />
dem zu einem „Schaufensterbummel“ für den 20.11. eingeladen wird. Die Gruppe wird<br />
kurz darauf verhaftet <strong>und</strong> im März 1989 zu Haftstrafen zwischen 10 <strong>und</strong> 20 Monaten<br />
verurteilt. Auf der Sitzung der BEL stellt der Leiter der Leipziger BV des MfS fest,<br />
daß die Kampfgruppen politisch nicht mehr zuverlässig seien. Das MfS setzte einen<br />
Arbeitsstab ein, der die Inhaftierung von R. Müller, G. Oltmanns <strong>und</strong> T. Rudolph<br />
vorbereiten soll.<br />
17.11. In Leipzig finden sich vielfältige Graffiti gegen Ceaucescu anläßlich seines DDR-<br />
Besuches.<br />
19.11. Die sowjetische Zeitschrift“ Sputnik“ wird von der Postzeitungsliste gestrichen <strong>und</strong> ist<br />
damit in der DDR nicht mehr erhältlich.<br />
2. Leipziger Tag zum konziliaren Prozeß.<br />
21.11. Bei einem Gespräch zwischen Basisgruppenmitgliedern <strong>und</strong> dem Kirchenvorstand von<br />
St. Nikolai wird die weitere Gestaltung der Friedensgebete abgestimmt.<br />
27.11. DDR-weiter Aktionstag der Basisgruppen gegen die DDR-Volksbildung. Zwischen<br />
Kirchenvorstand St. Nikolai, Vertretern verschiedener Gruppen (die vom Bischof<br />
eingeladen wurden) <strong>und</strong> Bischof Hempel findet ein Gespräch zum politischen Mandat<br />
der Kirche statt.<br />
404
28.11. Während der Dokumentar- <strong>und</strong> Kurzfilmwoche protestieren Mitglieder der IG Leben<br />
<strong>und</strong> andere Bürgerrechtler in einer symbolischen Aktion (Luftballons mit der<br />
Aufschrift „Sputnik“ <strong>und</strong> den Namen der verbotenen sowjetischen Filme) gegen die<br />
Zensurmaßnahmen der DDR-Behörden. Einige Teilnehmer erhalten dafür<br />
Ordnungsstrafen.<br />
01./02.12. Honecker prägt auf der 7. Tagung des ZK der SED in Reaktion auf die Proteste gegen<br />
das „ Sputnik „- Verbot den Slogan „Sozialismus in den Farben der DDR“ als Symbol<br />
für die Unbelehrbarkeit der SED-Führung. Außerdem wird eine „Reinigung“ der<br />
Partei im Zuge des Umtauschs der Mitgliedsausweise für Ende 1989 beschlossen.<br />
04.12. 5 Ausreisewillige besetzen die Weimarer Herder-Kirche, Sup. Reder läßt darauf die<br />
Kirche von der Polizei räumen.<br />
05.12. Nach dem Friedensgebet wird von einzelnen Gruppenvertretern auf dem<br />
Nikolaikirchhof <strong>und</strong> später in Leipziger Briefkästen <strong>und</strong> öffentlichen Einrichtungen ein<br />
Flugblatt verteilt, auf dem an die UN-Menschenrechtsdeklaration erinnert <strong>und</strong><br />
provokativ behauptet wird, daß das „öffentliche Eintreten für die Menschenrechte<br />
durch massive Demonstration staatlicher Sicherheitskräfte“ am 10.12. nicht möglich<br />
sein wird.<br />
06.12. Das MfS beginnt, eine spezielle Computer-Datei zu Teilnehmern am Friedensgebet<br />
anzulegen.<br />
10.12. Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR beginnt mit ihrer Arbeit.<br />
Sie hat sich zum Ziel gestellt, Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren <strong>und</strong> zu<br />
veröffentlichen, damit dagegen vielfältig protestiert werden kann. Leipziger<br />
Ausreisewillige nehmen an einer Kerzendemonstration in Halle teil.<br />
18.12. Pf. Eppelmann entdeckt in seiner Wohnung mehrere Abhörgeräte. Das Konsistorium<br />
erstattet Anzeige gegen Unbekannt.<br />
Solidaritäts- <strong>und</strong> Informationsveranstaltung unter dem Titel „Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
in Polen <strong>und</strong> der CSSR“ in der Markus-Gemeinde.<br />
22.12. In der Zeitschrift der AG Umweltschutz wird der Aufruf zur Mitarbeit an der<br />
Arbeitsgruppe zur Situation der Menschenrechte in der DDR verbreitet.<br />
1989<br />
10.01. Text 003 der Ökumenischen Versammlung mit dem Titel“ Mehr Gerechtigkeit in der<br />
DDR - unsere Aufgabe, unsere Erwartung“ wird nachträglich veröffentlicht. Er übt<br />
Kritik an den politischen Verhältnissen im Land <strong>und</strong> macht Vorschläge zu deren<br />
Verbesserung.<br />
Pf. Führer heftet diesen an die Informationstafel der Nikolaikirche. Traditionelles<br />
„Jahreswechselgespräch“ zwischen kirchlichen <strong>und</strong> staatlichen Vertretern der Stadt<br />
Leipzig. Sup. Magirius kritisiert die neue Reiseverordnung als Bürokratismus.<br />
11.01. Kurz vor Mitternacht beginnen Basisgruppenmitglieder, in verschiedenen Leipziger<br />
Stadtbezirken ein Flugblatt in Hausbriefkästen zu verteilen, mit dem sie aus Anlaß des<br />
Jahrestages der Ermordung von Karl Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg zu einer<br />
Demonstration am 15.01. einladen. Das Flugblatt ist unterschrieben mit „Initiative zur<br />
demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“. In der Nacht <strong>und</strong> an den folgenden<br />
Tagen werden 12 Mitglieder dieser spontanen Initiative verhaftet.<br />
15.01. Abschluß des 3. KSZE-Folgetreffens in Wien. Die Außenminister der USA <strong>und</strong> der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik gehen in ihren Reden aufgr<strong>und</strong> von Informationen der<br />
tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ zu den Inhaftierungen in<br />
Leipzig auf die Menschenrechtssituation in der DDR <strong>und</strong> die Verhaftungen ein.<br />
Auf dem Leipziger Marktplatz findet eine nichtgenehmigte K<strong>und</strong>gebung für Reformen<br />
in der DDR statt. F. Kowasch hält eine kurze Ansprache, im Anschluß daran setzt sich<br />
der Demonstrationszug mit ca. 500 Personen in Bewegung. Nach ca. 800 Metern<br />
versucht die Polizei, die Demonstration aufzulösen <strong>und</strong> nimmt kurzzeitig 53<br />
Demonstranten fest.<br />
405
Am Abend findet in der Lukas-Kirche die erste Fürbittandacht für die Verhafteten<br />
statt. Es beginnen in verschiedenen Städten der DDR Solidaritätsandachten <strong>und</strong><br />
Protestaktionen. In der Folge kam es in Halle sogar zu Brandanschlägen gegen die<br />
SED-Kreisleitung.<br />
18.01. Bei einer Auswertung der versuchten Verhinderung der Demonstration am 15.01.<br />
zwischen dem stellv. Minister der MfS, Mittig, dem Leiter der BV, Hummitzsch, <strong>und</strong><br />
dem 1. Sekretär der SED-BL wird entschieden, zukünftig mehr Polizisten einzusetzen.<br />
Die Entlassung der Inhaftierten wird zentral (Honecker, HA IX des MfS) beschlossen.<br />
19.01. 17.00 Uhr teilt der RdB den Leipziger Superintendenten mit, daß alle in<br />
Zusammenhang mit der Flugblattaktion Inhaftierten wieder frei seien.<br />
20.01. In der Markus-Gemeinde findet das letzte Fürbittgebet (in Verantwortung des AKSK)<br />
statt, das vor allem die aus der Haft Entlassenen gestalten.<br />
21.01. 3. Leipziger Tag zum Konziliaren Prozeß in der Michaeliskirche.<br />
23.01. Während des Friedensgebetes dankt M. Arnold im Namen aller zeitweilig Verhafteten<br />
<strong>und</strong> verliest ihre gemeinsame Erklärung, obwohl Superintendent Magirius dies<br />
verboten hatte. Auf dem Nikolaikirchhof wird danach an die Gottesdienstbesucher ein<br />
Informationsblatt <strong>und</strong> eine „Entgegnung zu den Erklärungen des Dresdner<br />
Landeskirchenamtes <strong>und</strong> der Leipziger Superintendenten“ von verschiedenen Berliner<br />
Gruppen verteilt.<br />
24.01. Leiter der Leipziger B V des MfS kritisiert auf der Dienstbesprechung das „Handeln<br />
der Kräfte am Ereignisort“ anläßlich der Demonstration am 15.01. als „zu<br />
unentschlossen“. Honecker entscheidet nach dem Ausbleiben einer Demonstration im<br />
Anschluß des Friedensgebetes am Vortage das Einstellen der Ermittlungsverfahren<br />
gegen die Organisatoren der Demonstration.<br />
27.01. 2. Leipziger Rumänientag in der Pauluskirche Leipzig-Grünau.<br />
30.01. Kirchenleitung ist aufgr<strong>und</strong> der Friedensgebete zum Bezirksstaatsanwalt bestellt.<br />
Einige Glieder der Friedenskirche Gohlis stellen einen Antrag auf Genehmigung einer<br />
öffentlichen Veranstaltung (Schweigemarsch) anläßlich des Jahrestages der<br />
Ermordung der Geschwister Scholl für den 25.02.1989. SED, staatliche Organe <strong>und</strong><br />
MfS bedrängen die Antragsteller in den folgenden drei Wochen so, daß diese ihren<br />
Antrag zurückziehen.<br />
06.02. An der Berliner Mauer wird Chris Geffroy ermordet.<br />
13.02. Nachtgebet in der Dresdener Kreuzkirche zur Erinnerung an die Zerstörung der Stadt.<br />
Bei einer anschließenden Demonstration kommt es zu Übergriffen der<br />
Sicherheitsorgane auf Träger von Transparenten. Eine Verhaftung von Leipziger<br />
Gruppenvertretern wurde unter körperlichem Einsatz der Bürgerrechtler verhindert.<br />
14.02. Kirchenvorstand von St. Nikolai beschließt, daß die Gruppen die Friedensgebete ab<br />
April wieder gestalten können.<br />
15.02. In Leipzig gibt es mindestens 1400 Ausreiseantragsteller.<br />
18.02. Markus-Gemeinde stellt ihre „Gemeindebibliothek“ als „Umweltbibliothek“ zur<br />
Verfügung.<br />
20.02. Bischof Forck kritisiert in Bonn die Unterstützung der Ausreisebewegung in der DDR<br />
durch die B<strong>und</strong>esregierung.<br />
21.02. Gespräch zwischen dem Landesausschuß des Kirchentages <strong>und</strong> sächsischen<br />
Basisgruppenvertretern führt zu keinem Kompromiß über die Beteiligung der Gruppen<br />
am Kirchentag.<br />
24.-26.02. 7. Treffen der Basisgruppe „Frieden konkret“ in Greifswald. Am Rande des Treffens<br />
werden Absprachen über die Bildung von DDR-weiten politischen Organisationen<br />
getroffen.<br />
27.02. Pf. Führer <strong>und</strong> AK „Hoffnung“ gestaltet das Friedensgebet.<br />
28.02. Abend zum Thema „Kommunalwahlen“ organisiert vom AK Gerechtigkeit, IG Leben<br />
<strong>und</strong> AG Menschenrechte in der Markus-Gemeinde.<br />
406
02.03. Lageberatung der Bezirksverwaltung des MfS zu dem Ergebnis, daß Leipzig mehr <strong>und</strong><br />
mehr zum Zentrum oppositioneller Gruppen wird. Als Schwerpunkte werden die<br />
Wahlen (07.05.1989) <strong>und</strong> die Friedensgebete ab 01.04.1989 benannt. Es wird<br />
beschlossen, alle Leipziger Ausreisewilligen, die die Friedensgebete besuchen oder in<br />
Basisgruppen mitarbeiten, ausreisen zu lassen.<br />
05.03. BEK-Vorsitzender Bischof Leich schlägt in einem Vortrag in Jena vor, zur Bestimmung<br />
kirchlicher ldentität in der DDR auf die Formel „Kirche im Sozialismus“ zu<br />
verzichten.<br />
07.03. Gespräch beim RdS Leipzig, Bereich Kirchenfragen, mit Pf. Führer, Pf. Wugk <strong>und</strong> L.<br />
Ramson. Es geht um das Friedensgebet vom 27.02.1989.<br />
Solidaritätsveranstaltung für die Inhaftierten in der CSSR in der Lukaskirche.<br />
11.03. IFM veröffentlicht ihre Basiserklärung, mit der sie eine DDR-weite politische<br />
Organisation schaffen will.<br />
11./13.03. B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister H. Haussmann <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esbauminister O. Schneider sagen<br />
ihren Besuch bei der Leipziger Frühjahrsmesse wegen Schußwaffengebrauch an der<br />
innerdeutschen Grenze ab.<br />
12.03. Ministerpräsident J. Rau trifft sich in Leipzig mit Bischof Hempel <strong>und</strong> E. Honecker.<br />
13.03. Der Rektor des Theologischen Seminars, Prof. U. Kühn, hält das Friedensgebet in der<br />
Nikolaikirche. Ca. 600 Ausreisewillige <strong>und</strong> Gruppenmitglieder demonstrieren nach<br />
dem Friedensgebet. Die Ausreiseantragsteller, die an der Demonstration teilnehmen,<br />
erhalten kurz darauf die Ausreisegenehmigung. Ca. 50 ausreisewillige Leipziger<br />
können in den folgenden Wochen täglich in die B<strong>und</strong>esrepublik ziehen.<br />
14.03. Solidaritätsveranstaltung für die Inhaftierten in der CSSR in der Katholischen<br />
Liebfrauenkirche.<br />
15.03. Staatssekretär für Kirchenfragen <strong>und</strong> der Vorsitzende des RdB Leipzig teilen Bischof<br />
Hempel mit, daß der Kirchentag stattfinden kann. Dieser Beschluß wurde am Morgen<br />
nach der Zustimmung Honekkers vom Sekretariat der SED-BL gefaßt. Es beschloß<br />
außerdem eine verstärkte Mobilisierung von sogenannten „gesellschaftlichen Kräften“.<br />
Gemeindeabend zu den „Kommunalwahlen“ in der Michaelisgemeinde.<br />
17.03. Buchlesung von Stephan Heym in der Nikolaikirche.<br />
19.03. Aus Anlaß des DDR-weiten Aktionstages für die in der CSSR politisch <strong>und</strong> religiös<br />
Verfolgten finden in der Leipziger Markus-Gemeinde Informationsveranstaltungen<br />
statt. Dabei werden Protestkarten an den CSSR-Präsidenten bzw. Solidaritätskarten an<br />
die Inhaftierten verteilt.<br />
20.03. Friedensgebet in der Nikolaikirche. Von Basisgruppenmitgliedern wird ein<br />
Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für Havel <strong>und</strong> alle politischen <strong>und</strong> religiösen<br />
Inhaftierten in der CSSR“ von der Empore entrollt.<br />
29.03. Die Regionalgruppe Thüringen des AK Solidarische Kirche erklärt öffentlich ihre<br />
Nichtteilnahme an der Kommunalwahl <strong>und</strong> kritisiert die SED-Innenpolitik.<br />
31.03.-04.04. Die sächsische Synode faßt mehrere Beschlüsse zu politischen Fragen.<br />
01.04. Veranstaltung zum Problem der Volksbildung in der DDR unter dem Motto „Schule in<br />
Bewegung“ in der Heilandsgemeinde. Im Anschluß daran senden Mitglieder<br />
verschiedener Basisgruppen einen Brief an das Organisationsbüro des „IX.<br />
Pädagogischen Kongresses“.<br />
03.04. J. Pommert behauptet auf der SED-Bezirksleitungssitzung, daß „der Gegner“ einen<br />
„Generalangriff“ gegen die DDR gestartet habe.<br />
07.04. Staatssekretär für Kirchenfragen erhebt bei Bischof Hempel Einspruch gegen den<br />
Beschluß der Synode zur Wahl <strong>und</strong> behauptet, dieser sei ein Aufruf zum Wahlboykott.<br />
10.04. Leipzigs kirchliche Basisgruppen dürfen das montägliche Friedensgebet wieder<br />
mitgestalten. AK Gerechtigkeit hält das erste Friedensgebet. Im Friedensgebet wird<br />
eine Kontaktadresse für die Beratung von Wehrdienstverweigerern bekanntgegeben.<br />
Die Pf. P. Weiß <strong>und</strong> G. Schleinitz schreiben unter Anregung des Staatssekretariats für<br />
407
Kirchenfragen an E. Honecker einen Brief, in dem sie das Engagement der politischalternativen<br />
Gruppen kritisieren <strong>und</strong> behaupten, daß dadurch die Kirche am „Dasein<br />
für den Nächsten in dieser Gesellschaft gehindert werden könnte“.<br />
17.04. Polnische Untergr<strong>und</strong>gewerkschaft „Solidarnosc“ wird legalisiert.<br />
Friedensgebet wird durch die AG Menschenrechte gestaltet.<br />
18.04. Sekretariat der SED-SL Leipzig berät über Einsätze von Kampfgruppen gegen<br />
oppositionelle Demonstrationen. Umweltschützer aus Leipzig <strong>und</strong> Borna<br />
veröffentlichen geheime Pläne der DDR-Regierung für den Bau eines<br />
Atomkraftwerkes in der Nähe von Leipzig.<br />
24.04. Nikolaikirchgemeinde hält das Friedensgebet.<br />
26.-30.04. 3. Ökumenische Versammlung für“ Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der<br />
Schöpfung“ in Dresden.<br />
30.04. Staatssekretär für Kirchenfragen versucht in einem Gespräch mit Vertretern der<br />
sächsischen Kirchenleitung die Beschlußfassung von Papier 003 der Ökumenischen<br />
Versammlung zur Rechtssituation in der DDR zu verhindern. Bischof Hempel verweist<br />
jedoch darauf daß 40-45% der DDR-Bevölkerung in deutliche Distanz zum Staat<br />
gegangen seien.<br />
01.05. An der offiziellen Maidemonstration in Leipzig nehmen ca. 300 000 Personen teil. Aus<br />
Anlaß des Feiertages findet kein Friedensgebet statt, dennoch kommen einige<br />
Besucher. Über 200 von ihnen gehen schweigend durch die Leipziger Innenstadt. Das<br />
ZDF filmt diesen Marsch <strong>und</strong> sendet ihn als Gegendemonstration zu den offiziellen<br />
„Mai-Manifestationen“.<br />
02.05. Ungarn beginnt mit dem Abbau des“ Eisernen Vorhangs“.<br />
07.05. Auf dem Leipziger Marktplatz versammeln sich gegen 18.00 Uhr über 1000<br />
Demonstranten, Besucher der Leipziger Markttage <strong>und</strong> zivile Ordnungskräfte. Vor der<br />
Nikolaikirche kommt es zu brutalen Verhaftungen. Durch Flugblätter <strong>und</strong> M<strong>und</strong>-zu-<br />
M<strong>und</strong>-Propaganda war seit März durch die „Initiative zur demokratischen Erneuerung“<br />
zu einer symbolischen Aktion gegen die „Wahl“ aufgerufen worden. Zu gleicher Zeit<br />
beobachten ca. zweih<strong>und</strong>ert Bürgerrechtler in den Wahllokalen die Auszählung der<br />
Stimmen <strong>und</strong> werden ähnlich wie Gruppen in anderen Städten der DDR in den<br />
folgenden Tagen auf den Wahlbetrug aufmerksam machen.<br />
08.05. Das Friedensgebet hält die IG Leben. Thema ist das „Politische Mandat der Kirche“.<br />
Nach dem Friedensgebet wird um die Kirchen ein Polizeiring gebildet. Die<br />
Sicherheitsorgane erwarteten offensichtlich eine Demonstration gegen den<br />
Wahlbetrug. Die „Demonstranten“ innerhalb des Kessels werden gefilmt. Einige<br />
werden kurzzeitig festgenommen.<br />
09.05. Ein Pfarrer erstattet Anzeige wegen Körperverletzung aufgr<strong>und</strong> des<br />
Polizeieinsatzes nach dem Friedensgebet am Vortage.<br />
10.05. Die Arbeitsgruppe Kampfgruppen bei der SED-BL kommt in der Zusammenfassung<br />
der dreimonatigen Kontrolle aller Kampfgruppen im Bezirk zu dem Ergebnis, daß bei<br />
Einsätzen auf „Straßen <strong>und</strong> Plätzen“, d.h. gegen Demonstranten, „ideologische<br />
Schwierigkeiten“ auftreten.<br />
11.05. Auf der Sekretariatssitzung der SED-SL werden vor allem Sicherheitsfragen beraten.<br />
Der Chef des VPKA berichtet, daß es innerhalb der Kampfgruppen immer wieder zu<br />
Zweifeln an der Notwendigkeit der Einsätze „gegen Störer, die unter Umständen [zum]<br />
Kollegen oder Bekanntenkreis der Kämpfer zählen“, kommt.<br />
15.05. Am Pfingstmontag findet kein Friedensgebet statt. Dennoch sind über h<strong>und</strong>ert<br />
Personen gekommen, die einen kleinen Demonstrationszug bilden.<br />
15.-21.05. Ökumenische Versammlung der Kirchen für“ Frieden, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung<br />
der Schöpfung“ in Basel.<br />
16.05. Stadtbezirksbürgermeister von Leipzig-Mitte lädt den Nikolaikirchenvorstand zum<br />
Gespräch. Dieser lehnt die Einladung aber ab.<br />
408
18.05. Sondersitzung des Nikolaikirchenvorstandes mit Bischof Hempel. Der Versuch des<br />
Bischofs, die Friedensgebete zu verändern, wird von Pf. Führer <strong>und</strong> dem<br />
Kirchenvorstand abgelehnt. Sie werden lediglich in „Montagsgebete“ umbenannt.<br />
22.05. Friedensgebet wird von der CFK gestaltet. Noch vor dem Ende des Friedensgebetes<br />
werden durch Polizeiketten alle Straßen um die Nikolaikirche abgeriegelt. Die<br />
Eingekesselten rufen u.a.: „Wir wollen raus.“ Es kommt wiederum zu Verhaftungen.<br />
23.05. Parteiaktivtagung zur Instruktion führender SED-Genossen durch den Leiter der<br />
Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK. Den Genossen wird u.a. erklärt, daß die<br />
Genehmigung des Kirchentages nicht ein Tolerieren der politischen Aktivitäten<br />
verschiedener Pfarrer bedeutet.<br />
25.05. Gespräch zwischen Bischof Hempel <strong>und</strong> dem Vorsitzenden des RdB Leipzig.<br />
Hauptthema ist die Entwicklung der montäglichen Friedensgebete. Dem Bischof wird<br />
die Ablehnung des Pleißemarsches mitgeteilt.<br />
28.05. Am Festgottesdienst zum 450. Jahrestag der Reformation in Sachsen in der<br />
Nikolaikirche nehmen sowohl Bischof Hempel als auch H. Reitmann teil.<br />
29.05. Der AK Friedensdienst gestaltet das Friedensgebet. Noch bevor alle Teilnehmer des<br />
Friedensgebetes die Kirche verlassen haben, wird der Nikolaikirchhof durch Polizei<br />
<strong>und</strong> H<strong>und</strong>esstaffeln eingekesselt. Verschiedene Gruppenmitglieder werden zeitweilig<br />
verhaftet <strong>und</strong> zum Teil geschlagen. Auch Zuschauer außerhalb des Kessels werden<br />
verhaftet.<br />
31.05. Bischof Hempel schreibt in einem Brief an den Vorsitzenden des RdB Leipzig, daß er<br />
in Zusammenarbeit mit verantwortlichen Pfarrern <strong>und</strong> den Superintendenten festgelegt<br />
hat, daß das Friedensgebet in der Nikolaikirche von der Auslegung biblischer Texte<br />
<strong>und</strong> dem Gespräch über den Konziliaren Prozeß bestimmt bleibt.<br />
Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Dialog beim Kulturb<strong>und</strong> Leipzig versuchen<br />
vergeblich, die konstituierende Sitzung der Stadtbezirksversammlung Leipzig-Mitte<br />
durch Intervention <strong>und</strong> Bekanntgabe ihrer Beweise für einen Wahlbetrug zu<br />
verhindern.<br />
02.06. Gespräch zwischen Sup. Magirius, Pf. Steinbach, verschiedenen Betriebsdirektoren<br />
<strong>und</strong> dem Minister für Kohle <strong>und</strong> Energie aufgr<strong>und</strong> einer Eingabe der Bezirkssynode<br />
Leipzig-Ost wegen der Luftverschmutzung im Raum Leipzig/Borna an Honecker.<br />
Auf der Dienstberatung der BV des MfS wird festgestellt, daß die Losung „<strong>Feinde</strong><br />
werden wie <strong>Feinde</strong> behandelt“ nicht mehr stimmt. Aufgr<strong>und</strong> der veränderten Situation<br />
seien Differenzierungen gefordert.<br />
03.06. KKL faßt einen Meinungsbildungsbeschluß zur Wahlfälschung. In ihm heißt es u.a.:<br />
„Wir bitten Gemeindeglieder <strong>und</strong> Mitarbeiter unserer Kirchen, ihre Anfragen sachlich<br />
vorzubringen, damit immer deutlich bleibt, daß wir aus der Mitverantwortung für das<br />
Ganze, in die uns unser Glaube stellt, reden <strong>und</strong> handeln. Dazu gehört die<br />
Entschiedenheit ebenso wie Umsicht. Übertriebene Aktionen <strong>und</strong> Demonstrationen<br />
sind kein Mittel der Kirche. Auch der Einsatz für Wahrheit muß in der Liebe<br />
geschehen.“<br />
4. Tag zum Konziliaren Prozeß in der Katholischen Probsteikirche.<br />
04.06. Das chinesische Militär walzt die Demokratiebewegung auf dem „Platz des<br />
Himmlischen Friedens“ in Peking nieder. Weit über 3000 Menschen kommen dabei<br />
ums Leben.<br />
In Polen finden Sejm-Wahlen statt, bei denen sich erstmals auch die Opposition<br />
beteiligen kann. „ Solidarnosc „ erhält 99 der 100 Senatssitze.<br />
2. Pleißegedenkumzug. Die geplante Demonstration an der Pleiße wurde vom Staat<br />
untersagt, dennoch finden die beiden Gottesdienste zu Beginn <strong>und</strong> am Ende der<br />
geplanten Strecke statt. Zahlreiche Teilnehmer werden zeitweilig festgenommen <strong>und</strong><br />
sollen hohe Ordnungsstrafen zahlen.<br />
05.06. Friedensgebet wird von der AG Umweltschutz gestaltet. Zum Friedensgebet kommen<br />
409
ca. 1250 Besucher (u.a. der Bischof). Die Sicherheitskräfte halten sich zurück.<br />
07.06. In Berlin werden zwei Demonstrationen gegen die Wahlfälschung brutal aufgelöst.<br />
Dabei werden fast 200 Personen festgenommen.<br />
08.06. Die Volkskammer erklärt Verständnis für den „Einsatz bewaffneter Kräfte“ durch die<br />
chinesische Führung gegen die Demokratiebewegung, die sie als „Konterrevolution“<br />
bezeichnet.<br />
09.06. A. Ludwig bittet erfolglos per R<strong>und</strong>brief um eine Sondersitzung des Bezirkssynode<br />
Leipzig-Ost aufgr<strong>und</strong> der Vorgänge im Zusammenhang mit den Kommunalwahlen.<br />
10.06. Auf dem Thomas-Müntzer-Kongreß des BEK fordert KKL-Vorsitzender Bischof W.<br />
Leich politische Veränderungen in der DDR.<br />
Das von Leipziger Basisgruppenmitgliedern organisierte nichtgenehmigte<br />
Straßenmusikfestival findet in der Leipziger Innenstadt statt. Über eintausend Musiker<br />
<strong>und</strong> Zuhörer nehmen daran teil. Gegen Mittag werden fast h<strong>und</strong>ert Teilnehmer durch<br />
die Polizei zugeführt <strong>und</strong> vernommen. Da sich ein großer Teil der Teilnehmer den<br />
Anordnungen der Sicherheitsorgane widersetzt, kommt es zu einer Treibjagd der<br />
Polizei gegen Festivalteilnehmer durch die Innenstadt. Am Abend kann das Festival<br />
ungestört beendet werden. Während des Festivals <strong>und</strong> an den folgenden Tagen<br />
verkaufen Gruppenmitglieder Aufnäher mit chinesischer Flagge <strong>und</strong> Trauerflor als<br />
Protestzeichen gegen die von den DDR-Medien begrüßte brutale Niederschlagung der<br />
chinesischen Demokratiebewegung.<br />
11.06. Der Dom zu Greifswald wird im Beisein von E. Honecker eingeweiht. Die Einweihung<br />
wird im DDR-Fernsehen übertragen. Vom anschließenden Empfang des<br />
Staatsratsvorsitzenden im Rathaus wird der offizielle Vertreter des BEK, Bischof<br />
Forck, ausgeschlossen.<br />
7. Umweltgottesdienst in Rötha bei Leipzig. Es wird gegen den geplanten Bau eines<br />
AKWs in Börln bei Leipzig protestiert <strong>und</strong> bekanntgegeben, daß schon 25 000 DDR-<br />
Bürger die Aktion“ 1 Mark für Espenhain“ unterstützten.<br />
12.06. Die Friedensgruppe Grünau/Lindenau gestaltet das Friedensgebet. Danach kommt es<br />
zu einer kleinen Demonstration (ca. 200 Personen), die durch Sicherheitskräfte<br />
aufgelöst wird.<br />
15.06. Auf einer Stadt-Parteiaktivtagung der SED wird demagogisch Stimmung gegen die<br />
Leipziger Bürgerrechtler <strong>und</strong> Friedensgebete gemacht.<br />
18.06. AK Solidarische Kirche <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit gestalten in der Markuskirchgemeinde<br />
eine Informationsandacht zur chinesischen Demokratiebewegung <strong>und</strong> deren<br />
Niederschlagung.<br />
19.06. Tagung der Kreiseinsatzleitung Leipzig. Es wird festgestellt, daß die ideologische<br />
Position seit zwei Jahren immer unklarer geworden ist <strong>und</strong> damit die Zahl der<br />
Kampfgruppenmitglieder ständig abnimmt. In der Beratung beim 1. Sekretär der SED-<br />
BL plädiert der Bezirkspolizeichef für eine Verlagerung der Polizeiaktionen. Nicht die<br />
Friedensgebete, sondern die Provokateure sollten danach behindert werden. H.<br />
Hackenberg (SED-BL) erklärt in diesem Zusammenhang, daß energisch gegen jede<br />
„Version der Konterrevolution“ vorgegangen werden solle. Er billigt alle Festnahmen<br />
<strong>und</strong> plädiert für die offensive Einsetzung der Medien.<br />
Die Nikolaikirchgemeinde hält zusammen mit dem christlichen Umweltseminar Rötha<br />
das Friedensgebet (über 1000 Besucher). Danach findet ein kleiner Schweigemarsch<br />
statt, der durch Sicherheitskräfte unterb<strong>und</strong>en wird.<br />
24.06. In der „Leipziger Volkszeitung“ erscheint ein Hetzartikel gegen<br />
Friedensgebetsbesucher.<br />
26.06. Pf. Führer verliest im Friedensgebet einen Protestbrief gegen die Todesurteile in China<br />
<strong>und</strong> protestiert gegen den Artikel der LVZ vom 24.06.1989. Nach dem Friedensgebet<br />
kommt es erneut zu einem Polizeikessel. S. Kulow wird verhaftet,<br />
zusammengeschlagen <strong>und</strong> bis zur Amnestie im Oktober inhaftiert.<br />
410
30.06. Superintendent Magirius führt ein Gespräch mit dem Chefredakteur der LW wegen des<br />
Artikels vom 24.06. ohne Ergebnis.<br />
01.07. Im ersten Halbjahr 1989 haben ca. 39 000 Menschen die DDR mit staatlicher<br />
Genehmigung <strong>und</strong> über5 000 ohne Genehmigung gen B<strong>und</strong>esrepublik verlassen.<br />
03.07. Das letzte Friedensgebet vor der Sommerpause wird vom Jugendkonvent Leipzig<br />
gestaltet. Es kommt danach erneut zu einer Polizeiaktion gegen<br />
Friedensgebetsteilnehmer.<br />
06.-09.07. Evangelischer Kirchentagskongreß <strong>und</strong> Kirchentag der Landeskirche Sachsens in<br />
Leipzig. Parallel dazu findet in der Lukaskirche aus Protest gegen den Ausschluß<br />
kritischer Gruppen aus dem offiziellen Kirchentagsgeschehen der Statt-Kirchentag<br />
statt. Die AG Menschenrechte <strong>und</strong> der AK Gerechtigkeit veröffentlichen einen Brief<br />
an die Bevölkerung der DDR, in dem sie die „offen zutage tretende Gewalt staatlicher<br />
Organe in Leipzig“ anprangern <strong>und</strong> den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft<br />
fordern.<br />
07.07. Ostblock-Gipfel in Bukarest. Gorbatschow gesteht jedem Ostblock-Land seine eigene<br />
Entwicklung zu. Honecker verläßt den Gipfel wegen einer Gallenblasenkolik. Er nimmt<br />
seine Geschäfte erst am 26.09. wieder auf.<br />
08.07. Brief des Berliner Initiativkreises „Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip der Abgrenzung“<br />
<strong>und</strong> weiterer Unterzeichner an die Kirchen der Ökumenischen Versammlung wird auf<br />
dem Kirchentag verteilt. Angesichts des staatlichen Rechtsbruches bei der<br />
Kommunalwahl wird darin zur Einsetzung“ autorisierter Gesprächsr<strong>und</strong>en“(R<strong>und</strong>e<br />
Tische!) aufgerufen.<br />
09.07. Auf der Abschlußveranstaltung des Kirchentages beginnen Teilnehmer des Statt-<br />
Kirchentages eine Demonstration, der sich viele Kirchentagsbesucher anschließen. Die<br />
Demonstration führt durch die Stadt <strong>und</strong> endet aufgr<strong>und</strong> von Polizeiketten in der Petri-<br />
Kirche. Dort findet eine Fürbittandacht u.a. für Sven Kulow, der am 26.06. inhaftiert<br />
wurde, statt. Das Sicherheitskartell setzte u.a. einen Hubschrauber gegen den<br />
Demonstrationszug ein.<br />
Sicherheitskräfte riegeln die Dresdner Kreuzkirche während einer Trommelaktion für<br />
die Demokratiebewegung in China ab <strong>und</strong> nehmen ca. 40 Personen fest.<br />
17.07. Leiter der B V des MfS behauptet auf der Dienstversammlung: „Wenn wir den<br />
Untergr<strong>und</strong> nicht unter Kontrolle bringen, dann wird es eines Tages zur<br />
Straßenschlacht kommen. Es gilt von Anfang an: Dagegenhalten.“<br />
19.07. Das „Neue Deutschland“ veröffentlicht einen Briefwechsel zwischen Bischof H.<br />
Gienke <strong>und</strong> E. Honecker, in dem die gute Gemeinschaft zwischen Marxisten <strong>und</strong><br />
Christen beschworen wird.<br />
06.08. Informationsandacht gegen ein geplantes Reinst-Siliziumwerk in der Kirche in<br />
Dresden-Gittersee. Danach kommt es zu einer Demonstration, die von<br />
Sicherheitskräften brutal aufgelöst wird.<br />
22.08. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, H. Schumann, meldet sich nach langem<br />
Urlaub als krank. H. Hackenberg übernimmt seine Geschäfte.<br />
24.08. Tadeusz Mazowiecki vom „ Bürgerkomitee Solidarnosc“ wird polnischer<br />
Ministerpräsident.<br />
25.08. KKL-Vorsitzende Bischof Leich bietet Honecker ein vertrauliches Gespräch an.<br />
Der Oberbürgermeister bittet die Kirche, die Friedensgebete nicht am Messe-Montag,<br />
dem 04.09.1989, wieder beginnen zu lassen.<br />
In Leipzig gibt es knapp 5000 Ausreiseantragsteller. Genauso viele sind seit dem<br />
01.01.1989 mit Genehmigung der DDR-Behörden aus der Stadt ausgereist. Außerdem<br />
über 1000 „illegal“.<br />
26.08. Menschenrechtsseminar in der Berliner Golgathakirchgemeinde. Eine Initiativgruppe<br />
veröffentlicht den Aufruf zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei.<br />
27.08. Drei Jugendliche beginnen in der Thomaskirche ein Fasten für die demokratische<br />
411
Umgestaltung der DDR. Die Aktion wird am folgenden Tag abgebrochen.<br />
31.08. Bezirkskirchenausschüsse von Leipzig-Ost <strong>und</strong> -West stimmen der Einrichtung eines<br />
Ökumenischen Begegnungszentrums in der Markusgemeinde zu.<br />
01.09. Kirchenvorstand von St. Nikolai wird von Gen. Sabatowska ins Rathaus bestellt. Ihm<br />
wird nahegelegt, die Friedensgebete am 04.09.1989 nicht beginnen zu lassen. Der<br />
Kirchenvorstand läßt sich davon jedoch nicht beeindrucken.<br />
02.09. Staatssekretär Ar Kirchenfragen teilt Bischof Leich mit, daß das für den 12.09.<br />
geplante Spitzengespräch ausfallen müsse. Bischof Leich verweist auf die staatliche<br />
Gesprächsverweigerung seit über einem Jahr <strong>und</strong> sagt: „Nun ist das Faß<br />
übergelaufen. „Die KKL beschließt daraufhin einen Brief an Honecker, in dem sie die<br />
Möglichkeiten einer „mündigen Beteiligung der Bürger an der Gestaltung“<br />
gesellschaftlicher Prozesse als „unabdingbar“ bezeichnet <strong>und</strong> offene Diskussionen<br />
einklagt.<br />
AK zur Situation der Menschenrechte in der DDR gibt eine Erklärung heraus, in der er<br />
auf die Inhaftierung zweier Flugblattverteiler verweist. Sie hatten zu einem<br />
Wahlboykott aufgerufen <strong>und</strong> wurden unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu Haftstrafen<br />
bis zu anderthalb Jahren verurteilt.<br />
Leiter der BV Leipzig des MfS stellt fest, daß nicht mehr zu verhindern sei, daß<br />
Westjournalisten anläßlich des Friedensgebetes am04.09. eine „große Storie“<br />
bekämen. Auf der Dienstversammlung bezeichnet er das MfS als die Avantgarde der<br />
Perestroika in der DDR.<br />
04.09. Erstes Friedensgebet nach der Sommerpause wird von der Nikolaikirchgemeinde<br />
gestaltet. Die Predigt hält Sup. Magirius. Danach findet eine Demonstration für „offene<br />
Grenzen, Versammlungsfreiheit <strong>und</strong> Vereinigungsfreiheit“ vor laufenden Kameras<br />
verschiedener westlicher Agenturen statt. Anschließend kommt es zu einem<br />
Demonstrationszug „Für freie Fahrt nach Gießen“, der auf dem Leipziger<br />
Hauptbahnhof endet. Zur gleichen Zeit findet in der Reformierten Kirche eine<br />
Veranstaltung mit Friedrich Schorlemmer zur „gesellschaftlichen Erneuerung“ statt.<br />
05.09. Aufgr<strong>und</strong> der bevorstehenden Öffnung der ungarischen Westgrenze kommt es im<br />
Politbüro zur ersten Debatte seit Jahren.<br />
Die SED-BL Leipzig empfiehlt dem Staatssekretär für Kirchenfragen „umgehend“ ein<br />
Gespräch mit dem Kirchenvorstand der Nikolaikirche zu führen.<br />
06.09. Den Vortrag zum Messemännerabend hält der Vorsitzende des Präsidiums der<br />
Ökumenischen Versammlung, Sup. Ziemer, zum Konziliaren Prozeß unter dem Titel:<br />
„Eine Hoffnung lernt gehen“.<br />
07.09. Brutaler Polizeieinsatz gegen Demonstration wegen des Wahlbetrugs auf dem Berliner<br />
Alexanderplatz.<br />
Die „Leipziger Volkszeitung“ <strong>und</strong> andere DDR-Zeitungen beginnen auf die Vorgänge<br />
um die Nikolaikirche („Unruhestifter in der Leipziger Innenstadt“) einzugehen.<br />
08.09. Foto-Dokumentation über Polizeimaßnahmen im Frühsommer in Leipzig (u.a. nach<br />
den Friedensgebeten), die während des Statt-Kirchentages gezeigt wurde, wird durch<br />
die Stasi beschlagnahmt.<br />
10.09. Der Gründungsaufruf des Neuen Forums (Aufbruch 89) wird unterzeichnet <strong>und</strong><br />
veröffentlicht.<br />
Der Brief der KKL an Honecker wird den Gemeinden bekanntgegeben.<br />
11.09. Ungarn öffnet seine Grenze nach Österreich für DDR-Bürger.<br />
Bischof Hempel nimmt am Friedensgebet teil. Es wird der Brief der KKL an Honecker<br />
verlesen <strong>und</strong> von ca. 1300 Gottesdienstbesuchern mit Beifall aufgenommen. Während<br />
des Friedensgebetes riegeln Polizeiketten das Gebiet um die Nikolaikirche hermetisch<br />
ab. Nach dem Friedensgebet werden 89 Personen festgenommen. Viele wurden ohne<br />
Gerichtsverfahren zu Geldstrafen zwischen 1000 <strong>und</strong> 5000 Mark verurteilt. 19<br />
Gottesdienstbesucher müssen bis Mitte Oktober in der Haftanstalt der Staatssicherheit<br />
412
leiben.<br />
12.09. Demokratie Jetzt verabschiedet Gründungsaufruf „zur Einmischung in die eigenen<br />
Angelegenheiten“.<br />
ARD bringt eine Sendung über den Verfall von ganzen Stadtteilen Leipzigs <strong>und</strong> über<br />
das Lebensgefühl Leipziger Jugendlicher.<br />
13.09. Im ZDF bzw. in RIAS-TV erklären B. Boley, D. Henrich <strong>und</strong> Prof. Dr. J. Reich die<br />
Zielstellung des Neuen Forums.<br />
In Leipzig bildet sich eine Gruppe, die Solidaritätsaktionen für die Inhaftierten<br />
koordiniert. Sie erhält von der Markus-Gemeinde einen Raum mit Telefon <strong>und</strong><br />
organisiert in den nächsten Wochen die täglichen Fürbittandachten, die Informierung<br />
der Journalisten über die Vorgänge in Leipzig <strong>und</strong> z.B. das Anbringen von<br />
Transparenten an Fenstern der Nikolaikirche <strong>und</strong> Kerzen vor der Nikolaikirche.<br />
14.09. Die Nachrichten westdeutscher R<strong>und</strong>funkstationen geben bekannt, daß die<br />
Sammlungsbewegung Demokratischer Aufbruch gegründet wird.<br />
15.09. Sup. Richter schickt an alle Pfarrämter des Kirchenbezirkes Leipzig-West eine<br />
Empfehlung zur Fürbitte für die am 11.09. Inhaftierten.<br />
15.-19.09. Synode des BEK in Eisenach. Basisgruppenmitglieder aus Leipzig verteilen auf der<br />
Synode Fotos von den Inhaftierten <strong>und</strong> den Polizeieinsätzen <strong>und</strong> bitten um öffentlichen<br />
Protest durch die Synode. Bischof Hempel gibt einen Informationsbericht über die<br />
Vorgänge in Leipzig. Die Synode erklärt: „Die Massenauswanderung von Bürgern der<br />
DDR in die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zwingt dazu, Ursachen dafür zu benennen,<br />
daß offensichtlich viele, besonders auch junge Menschen in unserem Land <strong>und</strong> für<br />
unser Land keine Zukunft mehr sehen. (... J Wir brauchen: - demokratische<br />
Parteienvielfalt; - Reisefreiheit Ar alle Bürger; - wirtschaftliche Reformen; [...]-<br />
Möglichkeit friedlicher Demonstrationen [...]“<br />
17.09. In der Berliner Gethsemane-Kirche findet das erste Fürbittgebet für die in Leipzig<br />
Inhaftierten statt. Es folgen täglich weitere auch in anderen Städten.<br />
18.09. Verschiedene DDR- Unterhaltungskünstler solidarisieren sich mit den Zielen des<br />
Neuen Forums.<br />
Das Friedensgebet wird von der Friedensgruppe Grünau/Lindenau gestaltet. Die<br />
Nikolaikirche ist nahezu überfüllt. Während des Friedensgebetes werden wieder<br />
Polizeiketten um die Nikolaikirche aufgezogen. An diesen sammeln sich über tausend<br />
Schaulustige. Polizei inhaftiert erneut Demonstranten.<br />
19.09. Neues Forum beantragt Zulassung als offizielle Vereinigung.<br />
Ein Mitglied der Koordinierungsgruppe für die Fürbittengebete (C. Dietrich) erklärt in<br />
einem ARD-Telefon-Interview, daß es in Kürze zu Wahlen kommen müsse, an denen<br />
sich neben dem Neuen Forum auch andere neugegründete politische Vereinigungen<br />
beteiligen werden.<br />
20.09. Pf. Wugk <strong>und</strong> Pf. Führer schicken ein Schreiben an den RdS Leipzig, Abteilung<br />
Kirchenfragen, in dem sie sich über die Aktion der Sicherheitskräfte nach dem<br />
Friedensgebet am 18.09.1989 beschweren.<br />
21.09. DDR-Innenministerium erklärt das Neue Forum als staatsfeindlich <strong>und</strong> lehnt dessen<br />
Zulassung ab. Das MJS gibt den entsprechenden SED-Sekretariaten in den folgenden<br />
Tagen laufend Informationen über die Entwicklung der“ oppositionellen<br />
Sammlungsbewegungen „.<br />
Per Strafbefehl <strong>und</strong> ohne Gerichtsverfahren werden die ersten der am 11.09.<br />
inhaftierten Friedensgebetsbesucher zu 4 bis 6 Monaten Haft verurteilt.<br />
22.09. E. Honecker fordert in einem Fernschreiben an die SED-Bezirksleitungen die<br />
„Isolierung der Organisatoren der konterrevolutionären Tätigkeit“ <strong>und</strong> daß „die<br />
feindlichen Aktionen im Keim erstickt werden müssen“.<br />
23.09. Das MfS entscheidet, die Weitergabe des Gründungsaufrufes des Neuen Forums,<br />
welcher u.a. in der Nikolaikirche aushängt, gemäß 220 des StGB zu ahnden.<br />
413
24.09. Im Gemeindesaal der Markus-Gemeinde treffen sich erstmals - auf Einladung der<br />
Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft - Vertreter der<br />
verschiedenen neuentstandenen Bürgerbewegungen, um ihre zukünftigen Initiativen<br />
miteinander abzustimmen. Der Deutschlandfunk verbreitet als Gesprächsergebnis, daß<br />
das Neue Forum als Dachorganisation aller Bürgerbewegungen akzeptiert werde. Doch<br />
darauf haben sich die Teilnehmer nicht geeinigt.<br />
25.09. Die AG Menschenrechte gestaltet zusammen mit Pfarrer Wonneberger das<br />
Friedensgebet. Nach dem Friedensgebet demonstrieren ca. 8000 Menschen vom<br />
Nikolaikirchhof in Richtung Hauptbahnhof. Sie singen „We shall overcome“ <strong>und</strong><br />
rufen: „Freiheit“ oder „Neues Forum (zulassen)“.<br />
26.09. Eine Diskussion über die Krise in der DDR im Politbüro wird auf Antrag Hagers<br />
vertagt.<br />
Demonstration in Berlin nach Fürbittenandacht in der Gethsemane-Kirche.<br />
Stellvertretender Minister des MfS, Mittig, erklärt, daß es falsch gewesen sei, daß die<br />
Verantwortung für die Verhinderung von Demonstrationen allein in Leipzig lag.<br />
27.09. Das Sekretariat der SED-Bezirksleitungssitzung beschließt einen Katalog an<br />
Maßnahmen, mit denen die Opposition in den folgenden Wochen unterdrückt werden<br />
soll.<br />
28.09. Der Bezirksstaatsanwalt droht Pf. Führer <strong>und</strong> Pf. Wonneberger mit Haftstrafen, falls<br />
sie weiterhin das „Recht der DDR verletzen“.<br />
29.09. Außerordentliche Politbürositzung, auf der Honecker die Ausreise der<br />
Botschaftsbesetzer über DDR-Territorium beschließen läßt.<br />
Beginn einer Leserbriefkampagne gegen die Besucher der Friedensgebete bzw. der<br />
Demonstranten in der „Leipziger Volkszeitung“. Auf der<br />
Stadtverordnetenversammlung geht der Oberbürgermeister in seinem Bericht auf die<br />
Vorgänge um die Nikolaikirche mit verleumdenden Bemerkungen gegen Kirche <strong>und</strong><br />
Opposition ein. Der Bericht wird gegen alle Gewohnheit nicht einstimmig bestätigt.<br />
30.09. B<strong>und</strong>esaußenminister D. Genscher erklärt in Prag, daß die Botschaftsflüchtlinge<br />
ausreisen dürfen. Damit können über 6000 DDR-Bürger in die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
ausreisen. Sup. J. Richter sendet an die Pfarrämter des Kirchenbezirkes Leipzig-West<br />
einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit.<br />
01.10. In Ostberlin gründet sich trotz massiver Behinderung durch die Sicherheitsorgane<br />
(Polizeiketten, Hausarreste) der Demokratische Aufbruch.<br />
01.-03.10. Vor der Bonner Botschaft in Prag versammeln sich erneut über 7000 Menschen, die in<br />
die B<strong>und</strong>esrepublik wollen <strong>und</strong> in den folgenden Tagen auch ausreisen dürfen.<br />
02.10. Das „Neue Deutschland“ erklärt, daß den ausgereisten Bürgern „keine Träne<br />
nachzuweinen“ sei. In Leipzig gibt es schon Probleme bei den öffentlichen<br />
Verkehrsmitteln, da viele Fahrer gen Westen ausgereist waren. Es werden Soldaten<br />
eingesetzt. In der Berliner Gethsemanekirche beginnen unbefristete Mahnwachen<br />
gegen die Inhaftierungen in Leipzig, Potsdam <strong>und</strong> Berlin. Täglich finden in Berlin<br />
Informationsandachten statt.<br />
Die AG Umweltschutz gestaltet das Friedensgebet. Ein Friedensgebet findet zur<br />
gleichen Zeit wie in St. Nikolai auch in der Reformierten Kirche statt. An der<br />
Demonstration im Anschluß an das Friedensgebet nehmen ca. 25.000 Personen teil. Es<br />
kommt zu Ausschreitungen <strong>und</strong> einem brutalen Einsatz von Polizei, Sondereinheiten<br />
<strong>und</strong> Kampfgruppen.<br />
Gewandhauskapellmeister Kurt Masur erklärt in einem ARD-Interview angesichts der<br />
Polizeieinsätze „Ich schäme mich“ <strong>und</strong> ruft zu einem gesamtgesellschaftlichen Dialog<br />
auf.<br />
03.10. Die Regierung hebt den visafreien Reiseverkehr in die CSSR auf. Seit Tagen werden<br />
Reisende in Richtung CSSR/Ungarn an der Grenze festgenommen bzw.<br />
zurückgewiesen. Am Abend sammeln sich auf dem Dresdener Hauptbahnhof<br />
414
Ausreisewillige, die auf die Züge aus Prag mit den Botschaftsbesetzern warten, um<br />
ebenfalls gen B<strong>und</strong>esrepublik reisen zu können. Kurz nach Mitternacht versucht die<br />
Polizei, den Bahnhof zu räumen. Der Bahnverkehr kommt teilweise zum Erliegen. Am<br />
folgenden Abend kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den<br />
Sicherheitskräften <strong>und</strong> Demonstranten bzw. Ausreisewilligen. Daraufhin finden täglich<br />
Demonstrationen, u.a. mit Kerzen als Zeichen für Gewaltlosigkeit, am Bahnhof <strong>und</strong> in<br />
der Dresdener Innenstadt statt. Ausreisewillige, die aus den Zügen nach Prag geholt<br />
wurden, flüchten in verschiedene Dresdener Kirchen.<br />
Die Leipziger Bezirkseinsatzleitung tagt <strong>und</strong> beschließt, den Einsatz von Armee-<br />
Einheiten gegen Demonstranten vorzubereiten.<br />
04.10. Vertreter von Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden <strong>und</strong><br />
Menschenrechte, Neues Forum <strong>und</strong> SDP setzen sich für die Freilassung der<br />
Inhaftierten sowie für Wahlen unter UN-Aufsicht ein.<br />
CDU-Tageszeitung „Die Union“ veröffentlicht einen Artikel unter der Überschrift:<br />
„Zum Dialog über alle uns bewegenden Fragen ermutigen“, in dem die Vorgänge um<br />
die Nikolaikirche auf die Ausgrenzung von Kritik durch die Regierenden<br />
zurückgeführt werden.<br />
05.10. Mielke weist die Dienststellen des MJS in Berlin an, Reservekräfte zu mobilisieren <strong>und</strong><br />
die Maßnahmen zur Unterbindung von Demonstrationen effizienter zu gestalten. Dabei<br />
heißt es, sie sollten mit „allen Mitteln“ unterb<strong>und</strong>en werden.<br />
Bei friedlichen Demonstrationen in Dresden setzt die Polizei massiv Gewalt ein <strong>und</strong><br />
nimmt mehrere h<strong>und</strong>ert Beteiligte fest.<br />
RdS Leipzig bildet eine Arbeitsgruppe, die einen Überblick über die Ausfälle aufgr<strong>und</strong><br />
der großen Abwanderung in den verschiedenen kommunalen Bereichen auflistet <strong>und</strong><br />
für Gegenmaßnahmen verantwortlich ist.<br />
Auf dem evangelischen Pfarrertag der Region Leipzig kommt es zur<br />
Auseinandersetzung über die Aufgabe der Kirche angesichts eines drohenden<br />
Bürgerkrieges.<br />
Vertreter des Staates fordern von Bischof Hempel die „Entpolitisierung“ der<br />
Friedensgebete. Der Ratsvorsitzende des RdB behauptet, daß es nicht vorgesehen sei,<br />
mit Waffen gegen Demonstranten vorzugehen.<br />
06.10. Während die Demonstrationen in Dresden weitergehen, erteilen die Dresdener<br />
Behörden sofortige Ausreisegenehmigungen. Der Thüringer Landesbischof bittet die<br />
Pfarrer seiner Landeskirche, Friedensgebete vorzubereiten <strong>und</strong> die Kirchen als<br />
Zufluchtsorte zu öffnen.<br />
In der Berliner Erlöserkirche findet eine „Zukunftswerkstatt“ unter dem Motto: „Wie<br />
nun weiter, DDR?“ mit ca. 2000 Teilnehmern statt. Das Podium zur Reformdiskussion<br />
wird von einem Künstlerprogramm eingerahmt: „Und morgen hau’n wir auf die<br />
Pauke!“<br />
LVZ druckt eine Erklärung eines Kampfgruppenkommandeurs, in der es heißt: „Wir<br />
sind bereit <strong>und</strong> willens, das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu<br />
schützen, um diese konterrevolutionäre Aktion endgültig <strong>und</strong> wirksam zu unterbinden.<br />
Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“<br />
Dagegen gehen bei staatlichen Stellen eine Vielzahl von Protestbriefen, u.a. vom<br />
Neuen Forum Leipzig <strong>und</strong> vielen Pfarrern, ein.<br />
07.10. 40. Jahrestag der Gründung der DDR.<br />
Gorbatschow sagt vor den Genossen des Politbüros: „Wenn wir zurückbleiben,<br />
bestraft uns das Leben sofort. „ Die Regierung feiert im „Palast der Republik“,<br />
während es wenige Meter entfernt zu einer großen Protestdemonstration kommt. Sie<br />
wird ähnlich wie eine weitere im Stadtteil Prenzlauer Berg brutal aufgelöst. Vertreter<br />
der Kirchenleitung versuchen vergeblich zwischen Polizei <strong>und</strong> Demonstranten zu<br />
vermitteln. Auch in anderen Städten (z.B.: Dresden, Plauen, Karl-Marx-Stadt, Suhl,<br />
415
Erfurt, Halle, Magdeburg, Potsdam, Arnstadt) kommt es zu Demonstrationen <strong>und</strong><br />
brutalen Polizeieinsätzen. In Plauen werden sogar Hubschrauberstaffeln eingesetzt.<br />
In Schwante gründet sich die SDP.<br />
Der Vorsitzende des BEK, Landesbischof W. Leich, fordert in einem ARD-Interview<br />
ein neues Wahlrecht <strong>und</strong> neue Reiseregelungen.<br />
Zum „Nationalfeiertag“ versuchen den ganzen Tag verschiedene Gruppen (300-2000<br />
Personen), in der Leipziger Innenstadt zu demonstrieren. Die Sicherheitskräfte gehen<br />
brutal dagegen vor. Es werden H<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Wasserwerfer eingesetzt. Fast zweih<strong>und</strong>ert<br />
Personen werden verhaftet <strong>und</strong> u.a. in Pferdeställen auf einem Gelände, auf dem ein<br />
Internierungslager für den „Spannungsfall“ vorgesehen war, festgehalten. Der<br />
amtierende 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, J. Pommert, meldet an das ZK: „Es ist<br />
die Absicht zu erkennen, die Volkspolizei zu beschäftigen.“<br />
Während zweier Veranstaltungen des Neuen Forums in der Michaeliskirche<br />
unterzeichnen ca. 700 Menschen den Gründungsaufruf „Aufbruch 89“.<br />
08.10. Erneut Demonstrationen in mehren Städten der DDR. Während am Abend in Dresden<br />
auf Initiative ev. <strong>und</strong> kath. Amtsträger der Polizeieinsatz beendet <strong>und</strong> ein erstes<br />
Gespräch zwischen Vertretern der Demonstranten <strong>und</strong> des Stadtrates verabredet<br />
werden, wird in Berlin <strong>und</strong> anderen Städten brutal gegen jegliche<br />
Bürgeransammlungen vorgegangen. Es werden über tausend Bürger festgenommen<br />
<strong>und</strong> in vielen Fällen mißhandelt.<br />
Die KP Ungarns löst sich selbst auf.<br />
Stasi-Chef Mielke wiederholt seine Weisung vom 05.10. für die ganze DDR. Er<br />
befiehlt“ volle Dienstbereitschaft „Ar alle Dienststellen <strong>und</strong> fordert die Einleitung von<br />
Maßnahmen, die eine kurzfristige Verhaftung oppositioneller Personen ermöglicht.<br />
Waffenträger sollen ihre Waffen stets bei sich tragen.<br />
In Leipzig wird daraufhin ein „Operativer Einsatzstab“ gebildet. Alle Diensteinheiten<br />
sind angewiesen, sich auf Einsätze vorzubereiten, wie sie nach einer internen<br />
Bestimmung für den „Spannungsfall“ vorgesehen sind. In den folgenden St<strong>und</strong>en<br />
werden die Verhaftungen von mehreren h<strong>und</strong>ert Oppositionellen vorbereitet. Eine<br />
außerordentliche Sekretariatssitzung der SED-Stadtleitung beschließt, für den Abend<br />
die Parteisekretäre der SED-Gr<strong>und</strong>organisationen per Alarmierungssystem zu einer<br />
Beratung zu laden. An dieser Instruktion nehmen 450 Genossen teil. Dabei muß sich<br />
die Parteileitung deutliche Anfragen durch Parteisekretäre der Gr<strong>und</strong>organisationen<br />
gefallen lassen.<br />
09.10. 7.30 Uhr tagt die Bezirkseinsatzleitung (entsprechend einem Honecker-Telegramm).<br />
Sie stellt fest, daß Demonstrationen faktisch nicht mehr zu verhindern sind.<br />
Die SED-Gr<strong>und</strong>organisationen tagen in Erwartung bürgerkriegsähnlicher<br />
Auseinandersetzungen am Abend. In der Stadt kursieren verschiedene Gerüchte über<br />
militärische Vorbereitungen. Es werden Empfehlungen gegeben, nicht in die<br />
Innenstadt zu gehen. Die am 7.10. bekanntgegebenen Kontaktadressen des Neuen<br />
Forums werden in einigen Schulen <strong>und</strong> Betrieben inoffiziell weitergegeben.<br />
Die meisten Pfarrer werden von staatlichen Vertretern aufgesucht <strong>und</strong> von einer<br />
möglichen Teilnahme an einer Demonstration abgehalten.<br />
Der Leiter des Leipziger Zentralinstitutes für Jugendforschung, W. Friedrich, übergibt<br />
E. Krenz eine Erklärung, in der er feststellt, daß die SED mit einer Opposition leben<br />
müsse, <strong>und</strong> den Rücktritt Honeckers empfiehlt.<br />
Die Stimmung in der Stadt ist gereizt. Gegen eine Festnahme von Personen auf dem<br />
Platz vor der Oper wird mit einem Hupkonzert protestiert.<br />
Die Friedensgebete finden in 5 Leipziger Kirchen statt. Zu diesen Friedensgebeten<br />
werden ca. 2.000 sogenannte „gesellschaftlichen Kräften“ beordert, so daß die<br />
Nikolaikirche schon 14.10 Uhr gefüllt ist. An der Nikolaikirche wird ein großes Tuch<br />
mit der Aufschrift: „Leute keine sinnlose Gewalt, reißt Euch zusammen ...“<br />
416
angebracht. Nach den Friedensgebeten findet eine Demonstration von über 100.000<br />
Bürgern statt. Es werden Tausende Flugblätter mit dem Aufruf zur Gewaltlosigkeit<br />
verteilt. K. Masur liest über den Stadtfunk einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit <strong>und</strong> zum<br />
Dialog, den auch SED-Sekretäre unterzeichneten.<br />
Es kommt zu keiner Gewalt, obwohl Bereitschaftspolizei, Armee, Kampfgruppen <strong>und</strong><br />
Staatssicherheit in der Stadt zusammengezogen waren.<br />
Nach dieser großen Demonstration <strong>und</strong> dem „Dialog-Versprechen“ kommt es zu einer<br />
Unmenge an Resolutionen <strong>und</strong> spontanen Initiativen, die das Ende der SED-DDR<br />
bedeuten. Mit einigen regionalen Unterschieden (!) beginnt an diesem Abend die<br />
sogenannte „Herbstgesellschaft“, an deren Ende die Wiedervereinigung stand.<br />
10.10. Die wöchentliche SED-Politbürositzung findet in erweiterter R<strong>und</strong>e statt <strong>und</strong> wird um<br />
einen Tag verlängert.<br />
11.10. Politbüro erklärt, sich Diskussionen stellen zu wollen.<br />
Der Bürgermeister des Stadtbezirks Leipzig-Mitte erklärt auf einer Festveranstaltung<br />
zum 40. Jahrestag der DDR: „Es gibt keinen Gr<strong>und</strong>, unsere bewährten im Leben jedes<br />
Bürgers spürbaren sozialistischen Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> Errungenschaften, den lebendigen,<br />
realen Sozialismus zugunsten der Wiederbelebung eines kapitalistischen Leichnams<br />
preiszugeben.“<br />
Das Landeskirchenamt Sachsens schickt an alle Pfarrämter eine Kanzelabkündigung<br />
des Landesbischofs Hempel, in dem er sich für Dialog <strong>und</strong> Gewaltfreiheit einsetzt.<br />
12.10. Zwischen dem Oberbürgermeister <strong>und</strong> den leitenden kirchlichen Amtsträgern der Stadt<br />
findet ein Gespräch statt. Sup. Richter macht dabei den Vorschlag, daß ein<br />
verantwortlicher Vertreter des Rates der Stadt am Montag zu den Menschen sprechen<br />
müßte.<br />
13.10. Gespräch beim Rat des Bezirkes mit Vertretern von kirchlichen Gruppen der Stadt<br />
Leipzig.<br />
E. Krenz, Stasivizechef Mittig, Stabschef der Polizei K.-H. Wagner, Sekretär des<br />
Verteidigungsrates Streletz sowie ZK-Abteilungsleiter Herger treffen sich mit H.<br />
Hackenberg in Leipzig <strong>und</strong> geben den Befehl „Gewaltfreiheit“ für den 16.10.1989.<br />
14.10. Das Neue Forum gibt die Zahl von 25. 000 Mitgliedern bekannt. Kirchlicherseits wird<br />
die Forderung nach unabhängiger Untersuchung der Gewaltanwendung um den 7.10.<br />
herum als Vorbedingung des „Dialoges“ erhoben.<br />
16.10. Mielke schickt ein Telegramm an die Leiter aller Diensteinheiten, worin er<br />
Anweisungen gibt, verstärkt Kontrollmaßnahmen durchzuführen, damit es nicht zu<br />
weiteren Demonstrationen kommt.<br />
Das Friedensgebet findet in 5 Leipziger Kirchen statt. Danach kommt es zu einer<br />
Demonstration von ca. 150 000 Bürgern um den Leipziger Innenstadtring. Krenz,<br />
Mielke <strong>und</strong> Honecker verfolgen das Geschehen am Bildschirm des Innenministeriums.<br />
Die „Aktuelle Kamera“ berichtet kurz über die Demonstration.<br />
17.10. Mit der Absicht, die Demonstrationen einzustellen, trifft sich der Leipziger<br />
Oberbürgermeister mit Vertretern verschiedener christlicher Konfessionen.<br />
18.10. Honecker wird von Krenz als SED-Vorsitzender abgelöst.<br />
20.-24.10. Die Synode der Sächsischen Landeskirche protestiert u.a. gegen die Gewalt gegenüber<br />
Demonstranten...<br />
23.10. Das Neue Forum gibt den Ort seines Büros in Leipzig bekannt. Über eine viertel<br />
Million Bürger demonstrieren in Leipzig für Reformen bzw. Ende der SED-Herrschaft.<br />
24.10. Krenz wird Vorsitzender des Staats- <strong>und</strong> des Nationalen Verteidigungsrates.<br />
Auf der SED-Bezirksleitungssitzung erklärt H. Hackenberg „Wir leben von Montag zu<br />
Montag.“. „Wenn ihr so wollt, das sage ich hier ganz offen, sind wir auch nicht in der<br />
Lage zu sagen, wie wir den Montag verhindern können. Das muß ich sagen. Wenn wir<br />
das gekonnt hätten, da hätten wir das schon zehnmal gemacht.“ Und „wir spüren<br />
selber, daß uns der Dialog auseinanderläuft“.<br />
417
27.10. Der Staatsrat verkündet eine Amnestie für sogenannte „Republikflüchtlinge“ <strong>und</strong><br />
inhaftierte Demonstranten.<br />
07.11. Die DDR-Regierung tritt zurück.<br />
09.11. Die Mauer ist für DDR-Bürger offen.<br />
01.12. Die Volkskammer streicht den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung.<br />
07.12. Erste Sitzung des Zentralen R<strong>und</strong>en Tisches<br />
11.12. Hauptthema der Leipziger Montagsdemonstration ist die „Wiedervereinigung“.<br />
24.12. Die innerdeutschen Grenzen öffnen sich auch für B<strong>und</strong>esbürger bedingungslos.<br />
418
Verzeichnis der aufgesuchten Archive <strong>und</strong> benutzen Akten<br />
Archiv Bürgerbewegung e.V. Leipzig (ABL)<br />
Box 2, 4, 6, 10, 11, 19, 21, H 1-3, 8,8/1, 9/1, 10, 15, 25,35,44/1, 53, 54, 55, Z 2<br />
B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR<br />
Zentralarchiv (BStU): ZAIG 3660, ZAIG 3707, ZAIG 3748, ZAIG 3752, ZAIG 4594, ZAIG 4595,<br />
ZAIG 4596, ZAIG 4598, ZAIG 5367, ZAIG 5375, HA XX/4 609, Ha XX/4 838, HA XX/4 1608, HA<br />
XX/4 1305<br />
B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Außenstelle<br />
Leipzig (BStU Leipzig): Abt. XX MB 1981-1984, Arbeitsbücher (BStU Leipzig AB): AB 0740-3905<br />
IM-Akten: XIII 489/78, XIII 1371/80, AIM 1228/89<br />
Personalakte: KS 5/75<br />
B<strong>und</strong>esarchiv Potsdam, Bestand Staatssekretariat für Kirchenfragen (BArch 0-4):<br />
Akten des Staatssekretärs: 435+36, 455, 461, 594, 652, 766-68, 770 (StS), 771,<br />
777,781,795,801,803,816,958-60,969,971-73,973,975,985+86,989<br />
Akten des Hauptabteilungsleiters: 1028, 1068, 1086, 1116+17, 1122+23, 1182, 1188, 1192, 1205,<br />
1215, 1217, 1225, 1230, 1235, 1265, 1270<br />
Akten der Abteilung „Ev. Kirchen“: 1385+86, 1404+05, 1431-36, 1448, 1478,<br />
1504,3252+53,3255,3803,3804+05,3805,3883,3973,3974<br />
Akten der Abteilung „Information“: 6107, 6136-38<br />
B<strong>und</strong>esarchiv, Stiftung der Archive der Parteien <strong>und</strong> Massenorganisationen Bestand SED (SAPMO-<br />
BArch):<br />
Verschiedene Protokolle der Politbürositzungen, Handakte Kreuz: IV 2/2.039/277 Bestand AG<br />
Kirchenfragen beim ZK: IV B 2/14/9, IV B 2/14/19, IV B 2/14/21, IV B 2/14/23, IV B 2/14/57, IV B<br />
2/14/69, IV B 2/14/71, IV B 2/14/102, IV B 2/14/104<br />
Kirchenvorstand St. Nikolai - St. Johannis:<br />
Sitzungsprotokolle im Protokollbuch des Kirchenvorstandes: Die verwendeten Abschriftsvorlagen<br />
(Kopien) liegen im ABL H 45<br />
Gästebücher der Nikolaikirche zwischen 1988 <strong>und</strong> dem 10.10.1989<br />
Sächsisches Staatsarchiv<br />
Dresden, Bestand Bezirkstag/Rat des Bezirkes (StAD RdB):<br />
45081<br />
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand Bezirkstag/Rat des Bezirkes (StAL BT/RdB):<br />
20072, 20665-671, 20676, 20707, 20710-15, 20738, 20740, 20749, 20771, 20784, 21100-03, 21127,<br />
21131, 21133, 21135, 21142+43, 21366, 21369, 21392+93,21395,21397,21399,21401, 21403+04,<br />
21406, 21408+09,21411, 21414, 21421, 21437+38, 214450, 214453, 21458+459, 21467-470, 21547,<br />
21668, 21723, 21956+57, 21959, 21962, 22259, 31764,35741+42,38326<br />
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Bestand SED (StAL SED):<br />
A 4645, A 4757-4761, A 4969-4972, A 4987, A 5115, A 5124-5126, A 5200, A 5201, A 5322, A<br />
5342, A 5371, A 5381, A 5522-5555, A 5847, A 5861, A 5865, A 5934, A 5935, A 6023, A 6025, A<br />
6031, A 6320, A 6321, A6399, A 6534, A 6563, A 6650, A 6655, A 6662, A 6784, N 845, N 883-903,<br />
N 928-932, N 945, N 946, N 2532-2552, N 2556-2571, N 2600, N 2601, IV F-4/14/040, IV-F-<br />
5/02/059, IV F-5/01/075, IV F 02/061<br />
Stadtarchiv Leipzig (SAL):<br />
Bestand RdS, Abteilung Innere Angelegenheiten (SAL ZR):<br />
3195, 7046-7051, 7058, 6539, 6540, 6543, 6544, 6544/1, 6544/2, 8710, 8951“ 9657, 10434<br />
419
Bestand Rat des Stadbezirks Mitte:<br />
299,300<br />
Unlizensierte Publikationen der Basisgruppen<br />
Die Mücke, hg. von AG Menschenrechte <strong>und</strong> AK Gerechtigkeit, [Leipzig März 19891 (ABL Box 21)<br />
Arbeitsheft Sozialer Friedensdienst, Leipzig 1988 (ABL H 2)<br />
Christlicher Arbeitskreis Weltumwelttag Leipzig, Die Pleiße, Leipzig 1989 (ABL) Dietrich, Christian<br />
(1989), „Was war los in Leipzig?“, in: „Solidarische Kirche“, Februar 1989 (ABL Box 11)<br />
Dokumenta Zion. Sonderausgabe der Mit-Welt-Blätter [ 1988] (ABL Box 19) „fußnote³“, hg. von P.<br />
Grimm / R. Weißhuhn / G. Poppe (Hgg.), [Dokumentation über Verhaftung <strong>und</strong> Solidarisierung<br />
Januar/Februar 1988], Mai 1988 (ABL Box 21)<br />
Grenzfall, [Informationszeitschrift der IFM 1986-1989] (ABL Box 2)<br />
Kontakte [Zeitschrift der Leipziger Gruppen bei der Superintendentur Leipzig-Ost bzw. im<br />
Bezirkssynodalausschuß] (ABL H 2 <strong>und</strong> Z 2)<br />
Spuren. Zur Geschichte der Friedensbewegung in der DDR, hg. von St. Bickhardt, M. Haeger, G. Poppe,<br />
E. Richter, H.-J. Tschiche im Februar 1988 (ABL Box 21)<br />
Streiflichter [Informationsbrief bzw. Zeitschrift der AGU 1981-19891, Leipzig (ABL Box 6)<br />
Über das Nein hinaus. Aufrisse Zwei, herausgegeben von St. Bickhardt, R. Lampe <strong>und</strong> L. Mehlhorn im<br />
Oktober 1988 (ABL Box 13)<br />
Umweltblätter [Informationszeitschrift der Umweltbibliothek der Berliner Zionsgemeinde 1986-1989]<br />
(ABL Box 4)<br />
Wahlfall 89, Eine Dokumentation, hrg. von der Koordinierungsgruppe Wahlen (Berlin, Juli 1989) (ABL<br />
Box 7)<br />
Wir suchen weiter nach Wegen zum Frieden. Eine Sammlung von Dokumenten, Konzepten, Beiträgen<br />
zum Thema: SoFd, zusammengestellt von A. Schaller im Auftrag des Naumburg FAK (Juni 1988)<br />
(ABL H 25)<br />
Verwendete Literatur<br />
Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Christen im Streit um den Frieden. Beiträge zu einer neuen<br />
Friedensethik. Positionen <strong>und</strong> Dokumente, Freiburg 1982<br />
Alles ist im Untergr<strong>und</strong> obenauf, Eine Auswahl aus KONTEXT 1-7, Berlin 1993<br />
Amnesty International (Hg.), Deutsche Demokratische Republik. Rechtsprechung hinter verschlossenen<br />
Türen, Bonn „1992<br />
Bekanntmachung des vollständigen Wortlautes der Verfassung der Evangelisch-Lutherischen<br />
Landeskirche Sachsens vom 13. Dezember 1950 unter Berücksichtigung aller Änderungen bis Ende<br />
1986, in: Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, 1986, A 85 - A 92<br />
Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte <strong>und</strong> Folgen der SED-Diktatur in<br />
Deutschland“ beim B<strong>und</strong>estag (Drucksache 12/7820)<br />
Besier, Gerhard/Wolf, Stefan (Hg.), Pfarrer, Christen <strong>und</strong> Katholiken. Das Ministerium für<br />
Staatssicherheit der ehemaligen DDR <strong>und</strong> die Kirchen, Neukirchen-Vluyn 1991<br />
Bickhardt, Stefan (Hg.), Recht ströme wie Wasser. Christen in der DDR für Absage an Praxis <strong>und</strong> Prinzip<br />
der Abgrenzung. Ein Arbeitsbuch, Berlin 1988<br />
Brink, Nana, „Dann haben wir den Ring geschlossen“, in: tageszeitung 10.10.1991, 6<br />
Bürgerkomitee Leipzig (Hg.), STASI intern. Macht <strong>und</strong> Banalität, Leipzig 1991 Büscher, Wolfgang /<br />
Wensierski, Peter, Null Bock auf DDR. Aussteigerjugend im anderen Deutschland, Reinbek 1984<br />
Büscher/Wensierski/Wolschner (Hg.), Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978-1982, Hattingen 1982<br />
DDR-Handbuch, hrg. vom B<strong>und</strong>esministerium für innerdeutsche Beziehungen Köln 31985<br />
Der Sonntag. Gemeindeblatt der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, Dresden 1981-1989<br />
420
Der Spiegel, Hamburg 1983-1989<br />
Die Kirche. Evangelische Wochenzeitschrift (Allgemeine Ausgabe), Berlin 1982-1989<br />
Dietrich, Christian, Die Kirche zwischen offiziellem <strong>und</strong> inoffiziellem Bereich der Gesellschaft - Eine<br />
lokale Studie am Beispiel Leipzig 1988/89 (MS), Naumburg 1991<br />
Dietrich, Christian, Fallstudie Leipzig 1987-1989. Die politisch-alternativen Gruppen in Leipzig vor der<br />
Revolution, Expertise der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte <strong>und</strong> Folgen der SED-<br />
Diktatur in Deutschland“ beim B<strong>und</strong>estag, Leipzig 1994<br />
Dohle, Horst, Gr<strong>und</strong>züge der Kirchenpolitik der SED zwischen 1968 <strong>und</strong> 1978 (Diss. phil. B), Berlin<br />
1988<br />
Dönert, Albrecht <strong>und</strong> Paulus Rummelt, Die Leipziger Montagsdemonstrationen, in:<br />
Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 147-158<br />
Ehring, Klaus / Martin Dallwitz [Hubertus Knabe], Schwerter zu Pflugscharen. Friedensbewegung in der<br />
DDR, rororo-aktuell 5019, Reinbeck 1982<br />
epd-Dokumentation [epd-Dok], 1978-1989<br />
Evangelischer Nachrichtendienst [ENA], Berlin 1980-1989<br />
Feldhaus, Friedhelm, Politisch-alternative Gruppen im sozialen Raum der DDR – am Beispiel politischer<br />
Dokumente <strong>und</strong> Erklärungen Leipziger Oppositionsbewegungen [Diplomarbeit, Sozialwissenschaften],<br />
Hannover 1993<br />
Feydt, Sebastian / Christiane Heinze / Martin Schanz, Die Leipziger Friedensgebete, in:<br />
Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 123-135<br />
Fiedler, Martin, Die stumpfe Lyrik des großen Kraken, in: Leipziger Volkszeitung, vom 8.11.1991, S. 3<br />
Findeis, Hagen, Überblick über die sozialethisch engagierten Gruppen in Leipzig Anfang 1989, in:<br />
Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 91-96<br />
Findeis, Hagen / Detlef Pollack / Manuel Schilling, Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den<br />
politisch alternativen Gruppen der DDR geworden?, Leipzig <strong>und</strong> Berlin 1994<br />
Fischer (1990), Hans-Friedrich, Kirche <strong>und</strong> Friedensgebete in Leipzig, in: Hans-Jürgen Sievers,<br />
St<strong>und</strong>enbuch einer Revolution, Zollikon <strong>und</strong> Göttingen 1990, 13-20<br />
Fischer (1994), Hans-Friedrich, Statement für die öffentliche Anhörung der Enquête-Kommission beim<br />
B<strong>und</strong>estag zum Thema „Kirchen <strong>und</strong> Christen im Alltag der DDR“ (MS), Leipzig/Dresden 1994<br />
Fischer, Hans-Friedrich, Interview mit dem Wiener R<strong>und</strong>funk in der Sendung „Gospel Extra“ am<br />
25.09.1989, Tonbandmitschrift im ABL<br />
Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus/IFM e.V. (Hg.), Ausgewählte<br />
Quartalseinschätzungen über den OV Märtyrer der BV Leipzig, Dresden 1991<br />
Forschungszentrum zu den Verbrechen des Stalinismus/IFM e.V. (Hg.), Dokumente zur Kirchenpolitik in<br />
Sachsen. Nicht personenbezogene Operativinformationen der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt zur Rolle<br />
kirchenleitender Persönlichkeiten in Sachsen, Dresden 1991<br />
Franke, Ulrike / Andreas Fünfstück / Detlef Pollack / Joachim Rasch / Thomas Weiß, Der Pfarrer im<br />
Spannungsfeld von Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft. Auswertung von Interviews mit Leipziger PastorInnen<br />
vor <strong>und</strong> nach der Wende, in: Grabner/ Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 47-62<br />
Führer (1992), Christian, Hoffnungsträger für die Bedrängten, Interview in: Junge Welt vom 30.10.1992<br />
Führer (1993), Christian, Interview im Oktober 1993 mit MDR (Mitschrift im ABL)<br />
Goertz, Jochen / Lothar Tautz, Arbeitskreis „Solidarische Kirche“ (AKSK), Referat zur 60. Sitzung der<br />
Enquête-Kommision am 08. <strong>und</strong> 09. Februar 1994 in Dresden (MS)<br />
Grabner, Wolf-Jürgen / Christiane Heinze / Detlef Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober. Kirchen <strong>und</strong><br />
alternative Gruppen im Umbruch der DDR. Analysen zur Wende, Berlin 1990<br />
Grabner, Wolf-Jürgen, Kirche <strong>und</strong> Politik. Ergebnisse einer Befragung von Leipziger Gemeindegliedern,<br />
in: Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin 1990, 63-80<br />
Grammes, Tilmann / Ari Zühlke, Ein Schulkonflikt in der DDR. Arbeitshilfen für die politische Bildung,<br />
hrg. von B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung, Bonn o.J.<br />
Haase, N. u.a. (Hg.), VEB-Nachwuchs. Jugend in der DDR, Reinbek 1983<br />
Hanisch, Günter, Gottfried Hänisch, Friedrich Magirius <strong>und</strong> Johannes Richter, Dona nobis pacem.<br />
Fürbitten <strong>und</strong> Friedensgebete Herbst ‘89 in Leipzig, Berlin 1990<br />
421
Hauser, Uli / Kai Herrmann, Der betrogene Held, in: Stern 42/93, 118-124<br />
Heber, Norbert / Johannes Lehmann (Hgg.), Keine Gewalt! Der friedliche Weg zur Demokratie, Berlin<br />
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Heiduczek, Werner, Der ‘Kleine Oktober’, in: ders., Im gewöhnlichen Stalinismus. Meine unerlaubten<br />
Texte, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1991, 207-226 <strong>und</strong> in: Stefan Heym <strong>und</strong> Werner Heiduczek (Hgg.), Die<br />
sanfte Revolution, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1990, 82-97; zitiert nach letzterem<br />
Heinze, Christiane / Pollack, Detlef, Zur Funktion der politisch-alternativen Gruppen im Prozeß des<br />
gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR, in: Grabner/ Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober,<br />
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Hildebrand, Gerold, Verweigerer in der DDR, in: J. Albrecht, M. Büchner, M. Rüdiger, B. Sondhauß<br />
(Hgg.), Stattbuch Ost, Berlin 1991, 126-131<br />
Hildebrandt, Jörg <strong>und</strong> Gerhard Thomas (Hgg.), Unser Glaube mischt sich ein ... Evangelische Kirche in<br />
der DDR 1989. Berichte, Fragen, Verdeutlichungen, Berlin 1990<br />
Kaden, Klaus (1990), Von den Friedensgebeten ging alles aus, in: Stefan Heym <strong>und</strong> Werner Heiduczek<br />
(Hgg.), Die sanfte Revolution, Leipzig <strong>und</strong> Weimar 1990, 101-105<br />
Kalkbrenner, J., Urteil ohne Prozeß. Margot Honecker gegen Ossietzky-Schüler, Berlin 1990<br />
Kaufmann, Christoph / Doris M<strong>und</strong>us / Kurt Nowak (Hgg.), Sorget nicht, was ihr reden werdet. Kirche<br />
<strong>und</strong> Staat in Leipzig im Spiegel kirchlicher Gesprächsprotokolle (1977-1989). Dokumentation, Leipzig<br />
1993<br />
Kenntemich, Wolfgang / Manfred Durniok / Thomas Karlauf, Das war die DDR. Eine Geschichte des<br />
anderen Deutschland, Berlin 1993<br />
Kirche im Sozialismus NS]. Zeitschrift zu Entwicklungen in der DDR, Berlin 1980-1989<br />
Kuhn, Ekkard, Der Tag der Entscheidung. Leipzig, 9. Oktober 1989, Berlin 1992<br />
Kühn, Rainer, Wie der Oktober entstand, in: Die andere Zeitung 1/1990 (01.01.1990), 12<br />
Kuhrt, Eberhard, Wider die Militarisierung der Gesellschaft. Friedensbewegung <strong>und</strong> Kirche in der DDR,<br />
Melle 1984<br />
Kyrie Eleison [Fürbitten des Friedensgebetes am 2.10.1989 in der Leipziger Nikolaikirche], in: Zur<br />
Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981-1989, hrsg. von Jürgen<br />
Israel, Berlin 1991, 183f.<br />
Läßig, Jochen, Herbst ‘89 - ein Jahr danach. Ursachen <strong>und</strong> Folgen des Scheitern einer Revolution. Vortrag<br />
am 8.10.1990 in der Universität Leipzig (MS)<br />
Leipziger Demontagebuch. Demo. Montag. Tagebuch. Demontage, hrg. von Wolfgang Schneider, Leipzig<br />
<strong>und</strong> Weimar o.J. [1990]<br />
Lindner, Bernd <strong>und</strong> Ralph Grüneberger (Hrsg.), Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst, Bielefeld<br />
1992<br />
Lingner, Olav, Friedensarbeit in der Evangelischen Kirche der DDR 1978-1987, in: Kirchliches Jahrbuch<br />
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Lochen, Hans-Hermann / Christian Meyer-Seitz (Hgg.), Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung<br />
Ausreisewilliger, Köln 1982<br />
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Weimar 1990, 127-145<br />
Magirius, Friedrich (1990a), Vorwort, in: Grabner/Heinze/Pollack (Hgg.), Leipzig im Oktober, Berlin<br />
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Magirius, Friedrich (1990b), „Selig sind, die Frieden stiften ...“, Friedensgebete in St. Nikolai zu Leipzig,<br />
Berlin 1990, 92-99 <strong>und</strong> in: Hanisch/Hänisch/Magirius/Richter, Dona nobis pacem, Berlin 1990, 7-14<br />
(zitiert nach letzterem)<br />
Magirius, Friedrich (1990c), Wiege der Wende, in: Wolfgang Schneider, Leipziger Demontagebuch, 10-<br />
13<br />
Magirius, Friedrich: „Ich muß mich nicht rechtfertigen“. Interview mit dem Leipziger Stadtpräsidenten zu<br />
den neuerlichen Vorwürfen gegen ihn, in: Leipziger Morgenpost vom 16.10.1993, 5<br />
422
Maser, Peter, Kirchen <strong>und</strong> Religionsgemeinschaften in der DDR 1949-1989, Konstanz 1992<br />
Mechtenberg, Theo, Friedensverantwortung der evangelischen Kirchen in der DDR, in: R. Henkys (Hg.),<br />
Die evangelischen Kirchen in der DDR, München 1982, 355-399<br />
Meckel, Markus / Martin Gutzeit, Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit -<br />
kommentierte Quellentexte, Köln 1994<br />
Minderheitenvotum von M. Arnold <strong>und</strong> Fraktion Bündnis 90/Grüne zum Schlußbericht des<br />
Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der SED-Herrschaft,<br />
Dresden Juni 1994<br />
Mitter, Armin/Stefan Wolle (Hg.), Ich liebe euch doch alle! Befehle <strong>und</strong> Lageberichte des MfS, Januar-<br />
November 1989, Berlin 1990<br />
Mühler, Kurt / Steffen H. Wilsdorf, Die Leipziger Montagsdemonstration. Aufstieg <strong>und</strong> Wandel einer<br />
basisdemokratischen Institution des friedlichen Umbruchs im Spiegel empirischer Meinungsforschung,<br />
in: Berliner Journal für Soziologie, Sonderheft 1991, 37-45<br />
Neues Forum Leipzig (Hg.), Jetzt oder nie - Demokratie!, Leipziger Herbst ‘89, Leipzig 1989<br />
Nowak, Kurt, Jenseits des mehrheitlichen Schweigens. Texte von Juni bis Dezember 1989 (pro vocation<br />
2), Berlin 1990<br />
Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung, Berlin 1990<br />
Opp, Karl-Dieter, Peter Voß <strong>und</strong> Christiane Gern, Die volkseigene Revolution, Stuttgart 1993<br />
Ost-/West-Diskussionsforum, hrg. von Ost-West-Gesellschaft e.V. Düsseldorf 1988-1990<br />
Pechmann, Roland / Jürgen Vogel, Abgesang der Stasi. Das Jahr 1989 in Presseartikeln <strong>und</strong> Stasi-<br />
Dokumenten, Braunschweig 1991<br />
Przybylski, Peter, Tatort Politbüro, Band 2, Berlin 1992<br />
Przybylski, Peter, Tatort Politbüro, Die Akte Honecker, Berlin 1991<br />
Rein, Gerhard (Hg.), Die Opposition in der DDR. Entwürfe für einen anderen Sozialismus, Berlin 1989<br />
550<br />
Rein, Gerhard, Die protestantische Revolution 1987-1990, Berlin 1990<br />
Richter, Johannes (1989), „Wir sind Sachsen!“, in: Rein, Gerhard (Hg.), Die Opposition in der DDR,<br />
Berlin 1989, 182-187<br />
Riecker, Ariane / Annete Schwarz / Dirk Schneider, Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-<br />
Angehörigen, Leipzig 1990<br />
Rink, Dieter, Das alternative Milieu in Leipzig: Alternative Protestanten, linksintellektuelle Aufsteiger<br />
<strong>und</strong> Kulturoppositionelle zwischen Ausgrenzung <strong>und</strong> Etablierung (MS), Leipzig 1994<br />
Rüddenklau, Wolfgang, Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989. Mit Texten aus den Umweltblättern,<br />
Berlin 1992<br />
Rummel, Susanne, Sankt Nikolai - Unsere Aurora? in: Müller, Manfred, Protestanten. Begegnung mit<br />
Zeitgenossen, Halle/Leipzig 1990, 152-168<br />
Schnauze!. Gedächtnisprotokolle 7. <strong>und</strong> 8. Oktober 1989, hrsg. von Berliner Verlags-Anstalt Union,<br />
Berlin 1990<br />
Schneider, Wolfgang, Oktoberrevolution 1989, in: Leipziger Demontagebuch, 5-9<br />
Schorlemmer, Friedrich, Träume <strong>und</strong> Alpträume, München 1993<br />
Selitrenny, Rita / Thilo Weichert, Das unheimliche Erbe. Die Spionageabteilung der Stasi, Leipzig 1991<br />
Sievers, Hans-Jürgen, St<strong>und</strong>enbuch einer deutschen Revolution, Göttingen 1990<br />
Singt <strong>und</strong> klingt, Liederbuch für die evangelische Jugend, hrg. vom Burckhardhaus in der DDR <strong>und</strong> vom<br />
Evangelischen Jungmännerwerk, 71981<br />
Sühnezeichen/Friedensdienste (Hg.), Ökumenische Versammlung, Dresden, Magdeburg, Dresden, Berlin<br />
1990<br />
Swoboda, Jörg (Hg.), Die Revolution der Kerzen. Christen in den Umwälzungen der DDR, Wuppertal <strong>und</strong><br />
Kassel „1990<br />
Tallig, Jürgen, Rowdys, Helden <strong>und</strong> Spaziergänger, in: Das Parlament Nr. 38/1990, 3<br />
Tammer, Josef, Ökumenische Versammlung in der DDR: Beschreibung eines Weges, in: Beiheft zur<br />
Ökumenischen R<strong>und</strong>schau 62, Franfurt/Main 1991, 113-118<br />
taz-DDR-Journal zur Novemberrevolution, Berlin 1990<br />
423
Teske, Alexander, „Das war ein Tritt von hinten“. Wie die Kirche einen Mitbegründer der Montagsdemos<br />
einfach fallen ließ, in: Leipziger Morgenpost vom 14.10.1993, 5<br />
Teske, Alexander, Ein Wende-Denkmal wackelt. Neue Vorwürfe gegen Stadtpräsident Magirius, in:<br />
Leipziger Morgenpost vom 15.10.1993, 3<br />
Tetzner, Reiner, Leipziger Ring. Aufzeichnungen eines Montagsdemonstranten, Oktober 1989 bis 1. Mai<br />
1990, Frankfurt/Main 1990<br />
Und diese verdammte Ohnmacht, Report der unabhängigen Untersuchungskommission zu den Ereignissen<br />
vom 7./8. Oktober 1989 in Berlin, Berlin 1991<br />
Unterberg, Peter, „Wir sind erwachsen, Vater Staat!“ Vorgeschichte, Entstehung <strong>und</strong> Wirkung des Neuen<br />
Forums Leipzig, Diplomarbeit. Sozialwissenschaften. Universität Bochum (MS) 1991<br />
Vogler, Werner u.a. (Hgg.), Vier Jahrzehnte kirchlich-theologische Ausbildung in Leipzig. Das<br />
Theologische Seminar / Die Kirchliche Hochschule Leipzig, Leipzig 1993<br />
Wagner, Harald (1989), Die Leute hatten Angst um ihre Kinder, in: Die Opposition in der DDR, hrg. von<br />
G. Rein, Berlin 1989, 175-181<br />
Was geschah am 9. Oktober. „Von den Arbeitern verlassen“, in: Spiegel 48/1989 (27.1 L 1989), 19-27<br />
Wende, Franziska, Revolutionserlebnisse einer Leipziger Postbotin, Amberg 1990<br />
Wendemarken. Vom Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag in, Leipzig 1989, hrg. vom Kongreß<br />
<strong>und</strong> Kirchentag in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens o.0., o.J. [1990] Wensierski, Peter,<br />
Friedensbewegung in der DDR, in: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte, 33/1983, Nr. 17, 3-13<br />
Wensierski, Peter, Unterwegs zur „offenen Kirche“, in: Die evangelischen Kirchen in der DDR. Beiträge<br />
zu einer Bestandsaufnahme, hrg. von R. Henkys, München 1982<br />
Wensierski, Peter, Von oben nach unten wächst nichts. Umweltzerstörung <strong>und</strong> Protest in der DDR,<br />
Franfurt/Main 1986<br />
Wielepp, Christoph, Montags abends in Leipzig, in: DDR. Ein Staat vergeht, hg. von Th. Blanke <strong>und</strong> R.<br />
Erd, Frankfurt/Main 1990, 71-78<br />
Zander, Helmut, Die Christen <strong>und</strong> die Friedensbewegungen in beiden deutschen Staaten. Beiträge zu<br />
einem Vergleich für die Jahre 1978-1987 (Beiträge zur politischen Wissenschaft Bd. 54), Berlin 1989<br />
Ziemer, Christoph, Erfahrungen - Ergebnisse - Perspektiven, in: Beiheft zur Ökumenischen R<strong>und</strong>schau<br />
62, Franfurt/Main 1991, 119-124<br />
Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition<br />
1981-1989, hrsg. von Jürgen Israel, Berlin 1991<br />
Zurück zu Deutschland. Umsturz <strong>und</strong> demokratischer Aufbruch in der DDR, hrg. vom Rheinischen<br />
Merkur, Bonn 1990<br />
Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig <strong>und</strong> die Revolution in der DDR, Göttingen 1993<br />
Zwischenbericht des Sonderausschusses zur Untersuchung von Amts- <strong>und</strong> Machtmißbrauch infolge der<br />
SED-Herrschaft beim Sächsischen Landtag, vom 27.05.1993 (MS)<br />
424
Personenverzeichnis<br />
Arnold, Michael (geb. 1964), Stomatologiestudium in Leipzig, Mitglied der IGL, Mitbegründer der DI<br />
<strong>und</strong> des Neuen Forums, 1990 Abgeordneter im Sächsischen Landtag für Bündnis 90/Grüne, 53, 66,<br />
104, 208<br />
Auerbach, Dieter (geb. 1933), Theologiestudium in Leipzig, 1959 Pfarrer in Seifersdorf, 1970 in<br />
Radebeu1,1973 in Meißen Superintendent <strong>und</strong> Dompfarrer, 1983 Oberkirchenrat im<br />
Landeskirchenamt, mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines Oberlandeskirchenrates beauftragt<br />
Bächer, Heinz (geb. 1957), 1979 Theologiestudium in Leipzig, Mitglied der AG Friedensdienst, 1985<br />
Vikar <strong>und</strong> Pfarrer in Trockenborn (Thüringen)<br />
Bartels, Michael (geb. 1949), Theologiestudium, 1978 Pfarrer in Welbsleben bei Aschersleben, 1984<br />
Studentenpfarrer in Leipzig, 1992 Pfarrer in Magdeburg<br />
Becker, Bernhard (geb. 1946), 1968-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMS/B „Fuchs“), Mitglied der<br />
AG Friedensdienst, des AK Solidarische Kirche <strong>und</strong> verschiedener anderer Gruppen<br />
Bellmann, Rudi (geb. 1919), 1955 Mitarbeiter bzw. Stellvertretender Leiter der AG Kirchenfragen beim<br />
ZK der SED, 1977-1988 Leiter dieser Arbeitsgruppe<br />
Berger, Matthias (geb. 1942), Dr. theol., 1967 Pfarrer Versöhnungskirche Leipzig, 1976 Leipzig-<br />
Volkmarsdorf mit Dienstleistung Leipzig-Thonberg Erlöserkirche<br />
<strong>und</strong>KirchlichesFriedhofsamtLeipzig,1978-1989inoffiziellerMitarbeiterderMfS (IMB „Carl“), 1979-81<br />
Jurafernstudium an der Leipziger Universität mit Unterstützung des Rates des Bezirkes <strong>und</strong> des MfS,<br />
1981-1991 1. Pfarrer an der Erlöserkirche Leipzig-Thonberg, 1985 Dr. jur., 1986-1989 Vorsitzender<br />
des Bezirkssynodalausschusses für „Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit“<br />
Biermann, Wolf (geb. 1936), Liedermacher, seit 1965 Auftrittsverbot, 1976 Ausbürgerung<br />
Bitterlich, Günther (geb. 1929), bis 1982 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Leipzig<br />
für Inneres<br />
Boche, Karsten (geb. 1966)<br />
Bohley, Bärbel (geb. 1945), 1969-1974 Studium an der Staatlichen Kunsthochschule in Berlin,<br />
Freischaffende Malerin in Berlin, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“, 1983 Ausschluß aus der<br />
Bezirksleitung Berlin des Verbandes der Bildenden Künste in Berlin, 1985 Mitbegründerin der IFM,<br />
1989 Mitinitiatorin des Neuen Forums<br />
Böllmann, Wolfgang (geb. 1945), Theologiestudium, 1974 Pfarrer, 1982 Pfarrer in Leipzig-Marienbrunn<br />
Bonhoeffer, Dietrich (1906-1945), Theologiestudium in Tübingen <strong>und</strong> Berlin, 1933 Pfarrer in London,<br />
1935 Direktor des Predigerseminars Funkenwalde, 1943 Verhaftung, 1945 im KZ Flossenbürg<br />
ermordet<br />
Bootz, Andre (geb. 1963), Mitglied der IG Leben <strong>und</strong> AG Umwelttag<br />
Bormann, Maria, Mitglied des Kirchenvorstandes von St. Nikolai - St. Johannis<br />
Bornschlegel, Carola (geb. 1969), Mitglied der IG Leben<br />
Böttcher, Till (geb. 1969), Tischler, Mitarbeiter der Umweltbibliothek Berlin<br />
Brettschneider, Harald (geb. 1942), Theologiestudium, Zimmererlehre, 1969 Pfarrer inWittgendorf,1979<br />
Referent im Landeskirchenamt als Landesjugendpfarrer, 1991 Mitarbeiter der Stadtmission in Dresden<br />
Büllesbach, 1989 Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks Südost der Stadt Leipzig<br />
Buschmann, Jörgen, 1989 Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig, Abteilung Agitation/Propaganda<br />
Castillo, Anke (geb. 1964), Krankenschwester, 1983 Inhaftierung<br />
Castillo, Patrik (geb. 1963), Sohn eines Dichters <strong>und</strong> Journalisten aus Guatemala, 1983 Inhaftierung<br />
Cieslak, Johannes, Ofenbaumeister, 1967-69 Präsidium der EKD-Synode, Mitglied des Lückendorfer<br />
Kreises, 1968-1983 Präsident der Sächsischen Synode, Vorsitzender der Kirchentagsausschusses der<br />
Landeskirche<br />
Conrad, Klaus (geb. 1942), Major des MfS, Leiter der Abteilung XX/4 der Bezirksverwaltung Leipzig des<br />
MfS<br />
Demele, Ernst (geb. 1940), Ingenieur, Mitglied der IGL <strong>und</strong> AGF<br />
Demke, Christoph (geb. 1935),1953-1958 Theologiestudium an der Humboldt-Universität Berlin, 1964-<br />
1977 Dozent für Neues Testament am Sprachenkonvikt Berlin, 1977-1981 Sekretär der Kommission<br />
425
für Theologie beim BEK, 1981-1983 Leiter des Sekretariats des BEK, 1983 Bischof der<br />
Kirchenprovinz Sachsen, 1986 Stellvertreter der KKL, 1990-1991 Vorsitzender der KKL<br />
Dietrich, Christian (geb. 1965), Theologiestudium in Naumburg, Leipzig <strong>und</strong> Marburg, 1983 ESG <strong>und</strong><br />
Friedensarbeitskreis Naumburg, Mitbegründer des AKSK, der DI <strong>und</strong> des Demokratischen Aufbruchs<br />
Dohle, Horst, Prof. Dr. cs. phil. (geb. 1935), 1975 persönlicher Mitarbeiter beim Staatssekretär für<br />
Kirchenfragen, 1979 Abteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />
Dohlus, Horst (geb. 1925), 1960-1986 Leiter der Abteilung Parteiorgane beim ZK der SED, 1971 Sekretär<br />
des ZK der SED, 1980 Mitglied des Politbüros<br />
Domsch, Kurt, Dr. jur. h.c. (geb. 1928), Bauingenieur, 1960-1975 Mitglied der Sächsischen<br />
Landesssynode, 1966 Zweiter Stellvertreter des Präsidenten der Landessynode Sachsens, 1970-1975<br />
Präsident der Generalsynode der VELK in der DDR, 1975-1989 Präsident des LKA Dresden, 1977-<br />
1982 Stellvertretender Vorsitzender der KKL<br />
Döring, Hans-Joachim, Diakon an der Thomaskirche Leipzig, Mitglied IHN, 1990 Leiter von INKOTA<br />
Dusdal, Edgar (geb. 1960), Theologiestudium in Leipzig <strong>und</strong> Naumburg, 1982 Mitglied des AG<br />
Friedensdienst <strong>und</strong> der IHN, 1985 Mitbegründer des AKSK,1988/89 Vikar <strong>und</strong> Repetent am ThSL,<br />
1989/90 Sprecher des Neuen Forum Leipzig<br />
Ebeling, Hans-Wilhelm (geb. 1934), Schlosser, 1957 Studium der Theologie in Leipzig, 1962 Pfarrer in<br />
Lieberose, 1976 Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig, 1989 Initiator der Christlich-Sozialen Partei<br />
Deutschlands, 1990 Mitbegründer <strong>und</strong> Vorsitzender der Deutschen Sozialen Union, Minister im de-<br />
Maziere-Kabinett<br />
Ebisch, Margot, Abteilung Innere Angelegenheiten, Rat des Bezirkes Leipzig, Referat Kirchenfragen<br />
Eichelbaum, Dirk, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />
Eigenfeld, Katrin, Mitinitiatorin der “Christlichen Frauen für den Frieden - Halle“<br />
<strong>und</strong> des Neuen Forums, 1983 Inhaftierung wegen ihres politischen Engagements<br />
Elsässer, Ralf (geb. 1962), Ingenieur für Bauwesen, Mitglied der AG Umweltschutz<br />
Eppelmann, Rainer (geb. 1943), Maurer, 1969 Theologische Ausbildung an der Predigerschule Paulinum<br />
in Ostberlin, 1974-1989 Hilfsprediger <strong>und</strong> Pfarrer an der Samariterkirchgemeinde in Berlin, 1989<br />
Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, 1990 Vorsitzender des Demokratischer Aufbruchs,<br />
Minister im de-Maziere-Kabinett, 1990 MdB <strong>und</strong> Stellvertretender Vorsitzender der CDU in<br />
Brandenburg, Vorsitzender der Enquete-Kommission <strong>und</strong> des CDA der CDU<br />
Eppisch, Reinhard (geb. 1935), 1980 Stellvertreter Operativ des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS<br />
Leipzig, 1987-1989 Erster Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS Leipzig<br />
Etzold, Rolf (geb. 1928), Oberst des MfS, Leiter der Abteilung IX der Bezirksverwaltung des MfS in<br />
Leipzig<br />
Falcke, Heino, Dr. habil. theol. (geb. 1929), 1958 Pfarrer in Wegeleben, 1964 Pfarrer der EKU <strong>und</strong><br />
Dozent am Katechetischen Oberseminar Naumburg, 1964 Direktor des Predigerseminars der EKU in<br />
Gnadau, 1973 Probst in Erfurt<br />
Falk, Torsten (geb. 1958), Sozialdiakon, 1986 Mitarbeiter der Offenen Arbeit Mockau<br />
Fenzlau, Abteilung Innere Angelegenheiten, Rat der Stadt Leipzig, Referat Kirchenfragen<br />
Fischbeck, Hans-Jürgen (geb. 1938), Dr. habil., Physiker, 1987 Mitglied des Initiativkreises „Absage an<br />
Prinzip <strong>und</strong> Praxis der Abgrenzung“, 1989 Mitinitiator von Demokratie Jetzt<br />
Fischer, Hans-Friedrich (geb. 1946), Kaplan der katholischen Gemeinde Lindenau, Mitglied der<br />
Friedensgruppe Grünau-Lindenau<br />
Fischer, Johannes (geb. 1966), Krankenpfleger, Mitglied der AG Menschenrechte<br />
Fischer, Werner (geb. 1950), Mitbegründer der IFM, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Abschiebung nach England,<br />
1990 Regierungsbeauftragter für die Auflösung des MfS<br />
Fischer, Gerhard (geb. 1939), Oberstleutnant, Leiter der Bezirkskoordinierungsgruppe Leipzig des MfS<br />
Fleischhack, Sebastian (geb. 1959), Mitglied der AG Menschenrechte <strong>und</strong> der Arbeitsgruppe<br />
Wehrdienstfragen beim Jugendpfarramt<br />
Forck, Gottfried (geb. 1923), 1947-1951 Theologiestudium, 1952 Assistent an der Kirchlichen<br />
Hochschule Berlin, öbersiedlung in die DDR, 1954 Studentenpfarrer an der Humboldt-Universität<br />
Berlin, 1959 Pfarrer in Lautawerk (Niederlausitz), 1963 Direktor des Predigerseminars Brandenburg,<br />
426
1971 Mitglied der Kirchenleitung Berlin-Brandenburg, 1973 Generalsuperintendent in Cottbus,<br />
Vizepräsident der Synode der BEK, 1981 Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg,<br />
1984-1987 Vorsitzender des Rates der EKU, 1991 Ruhestand<br />
Fritz, Reinhold (geb. 1930), Theologiestudium, 1955 Pfarrer in Kleinröhrsdorf, 1965 Landesjugendpfarrer<br />
in Sachsen, 1973 Pfarrer in Karl-Marx-Stadt <strong>und</strong> Superintendent im Kirchenbezirk Karl-Marx-Stadt,<br />
1978 Oberkirchenrat mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines OLKR im Dresdner<br />
Landeskirchenamt<br />
Fritzsche, Klaus (1935-1992), 1953 Theologiestudium in Leipzig, 1958 Gleisbauer, 1961 Pfarrer Leipzig-<br />
Wahren, 1966 Pfarrer in Lützschena, 1977 Leipzig-Kleinzschocher Taborkirchgemeinde, 1981-1992<br />
Pfarrer in Leipzig-Grünau, Pauluskirche<br />
Führer, Christian (geb. 1943), Theologiestudium, 1968 Pfarrer in Lastau, seit 1980 Pfarrer an der<br />
Leipziger Nikolaikirche<br />
Führer, Katharina, Tochter von C. Führer<br />
Gaebler, Rainer (geb. 1938), Ingenieur, 1972 Mitglied der Sächsischen Landeskirche, 1977 synodales<br />
Mitglied der Dresdner Kirchenleitung, 1983-1984 Präsident der Sächsischen Landessynode, 1986-1990<br />
Präses der B<strong>und</strong>essynode<br />
Garstecki, Joachim (geb. 1942), Studium der katholischen Theologie, 1971 Studienreferent für<br />
Friedensfragen im Sekretariat des BEK, 1971 Mitglied des katholischen Aktionskreises Halle<br />
Gerlach, Manfred, Prof. Dr. jur. (geb. 1928), 1967-1990 Vorsitzender der LDPD<br />
Gerlach, Thomas (geb. 1964), Theologiestudium am ThSL in Leipzig, Mitglied des AKSK<br />
Gollomb, Eugen (1917-1988), 1967-88 Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde in Leipzig,<br />
wichtiger Gesprächspartner im jüdisch-christlichen Dialog<br />
Gorbatschow, Michail Sergejewitsch (geb. 1931), 1985-90 Generalsekretär des ZK der KPdSU, 1988-90<br />
Staatspräsident der UdSSR<br />
Grimm, Peter (geb. 1965), 1984 Laientheater Wühlmaus, 1986 Mitglied der IFM, Initiator <strong>und</strong> Redakteur<br />
des „grenzfall“<br />
Gröger, Wolfgang (geb. 1942), Theologiestudium, 1975 Pfarrer in Eichigt (Thüringen), 1981-1987<br />
Jugendpfarrer in Leipzig, 1987 Pfarrer in der Gedächtniskirche Leipzig-Schönefeld<br />
Grötsch, Siegfried, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />
Gruender, Hans-Dieter (geb. 1930), Theologiestudium, 1953 Pfarrer in Oranienburg, 1954 Pfarrer in<br />
Zeulenroda, 1963 Pfarrer in Grimma, 1973 Pfarrer in der Apostelkirche Leipzig-Großzschocher<br />
Grünert, Wilfried (geb. 1963), Küster in der Leipziger Nikolaikirche <strong>und</strong> Mitglied des Kirchenvorstand St.<br />
Nikolai<br />
Güntherberg, Wolfgang, Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt Leipzig, Referat<br />
Kirchenfragen<br />
Gysi, Klaus (geb. 1912), 1966-1973 Minister für Kultur, 1973-1978 Botschafter in Italien, 1979<br />
Staatssekretär für Kirchenfragen, 1988 Ruhestand<br />
Hachulla, Ulrich (geb. 1943), Maler <strong>und</strong> Graphiker in Leipzig<br />
Hackenberg, Helmut (geb. 1926), 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED in Leipzig<br />
Hager, Kurt (geb. 1912), 1963-1989 Mitglied des Politbüros der SED, 1976-1989 Mitglied des Staatsrates<br />
der DDR, 1985-1989 Sekretär für Wissenschaft <strong>und</strong> Kultur im ZK der SED<br />
Hammermüller, Frieder (geb. 1942), 1970 Pfarrer in Sornzig, 1981 Pfarrer in Leipzig-Anger-Crottendorf<br />
Trinitatiskirche<br />
Hänisch, Gottfried (geb. 1931), Diakon, Leiter des Amtes für Gemeindedienst Leipzig, Mitglied des<br />
Landesausschusses Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />
Hanisch, Günter (geb. 1929), Propst <strong>und</strong> Dekan an der Katholischen-St.-Trinitatiskirche in Leipzig-Mitte<br />
Hannsmann, Anke (geb. 1969), Mitglied der AG „Friedenserziehung im Vorschulalter“ <strong>und</strong> der<br />
Koordinierungsgruppe (Herbst 1989)<br />
Hartmann, Udo (geb. 1962), Mitglied der IGL,<br />
Hartmann, Manfred, Fotografiker, Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />
Hattenhauer, Katrin (geb. 1968), Theologiestudium am Theologischen Seminar in Leipzig, 1988 Mitglied<br />
des AK Gerechtigkeit, 1989 Mitbegründerin der DI<br />
427
Haustein, Manfred, Dr. habil. theol. (geb. 1929), Theologiestudium, 1954 Pfarrer in Weißenborn, seit<br />
1957 Leiter des Wissenschaftsbereiches für Praktische Theologie an der Sektion Theologie an der<br />
KMU Leipzig, war Teilnehmer an den Gesprächsr<strong>und</strong>en des Stellv. des Vors. für Inneres des RdB mit<br />
„ausgewählten progressiven Geistlichen <strong>und</strong> Theologen“<br />
Heide, Gabriele (geb. 1958), Mitglied AG „Frauen für den Frieden“<br />
Heinrich, Peter (geb. 1940), Jurist, Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen, für<br />
Sicherheitsfragen zuständig <strong>und</strong> zugleich Offizier im besonderen Einsatz des MfS<br />
Heinze, Christfried (geb. 1953), Klempner, Jugenddiakon, nachdem er 1987 einen Ausreiseantrag stellte,<br />
wurde ihm gekündigt, Hausmeister an der Friedensgemeinde Leipzig-Gohlis, Mitinitiator des<br />
„Kadenkreises“<br />
Hempel, Johannes, Dr. theol (geb. 1929), Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie <strong>und</strong><br />
Theologie in Tübingen, Heidelberg <strong>und</strong> Berlin, 1955 Pfarrer in Gersdorf, 1958 Pfarrer an der<br />
Thomaskirche in Leipzig, gleichzeitig Studieninspektor am Predigerkolleg St. Pauli, 1963<br />
Studentenpfarrer in Leipzig“ 1967 Studiendirektor am Predigerkolleg St. Pauli in Leipzig, 1972-1994<br />
Landesbischof der Sächsischen Landeskirche in Dresden, 1982-1986 Vorsitzender der KKL, 1983<br />
einer der Präsidenten des ÖRK, 1991 Stellvertretender Ratsvorsitzender der EKD<br />
Hentzschel, Sophie (geb. 1949), 1974 Pastorin in Elsterberg, 1979 Pastorin in der Gedächtniskirche<br />
Leipzig-Schönefeld, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“<br />
Herger, Wolfgang (geb. 1935), 1985-89 Leiter der Abteilung Sicherheitsfragen des ZK der SED<br />
Herrmann, Joachim (geb. 1928), Journalist, 1978 Mitglied des Politbüros, Sekretär des ZK der SED für<br />
Agitation <strong>und</strong> Propaganda<br />
Heym, Stefan (geb. 1913), Schriftsteller, 1979 Ausschluß aus dem DDR-Schriftstellerverband<br />
Hillebrand, Jürgen, Dr. phil., Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt, Leiter des Sektors<br />
Kirchenfragen<br />
Hinze, Klaus (geb. 1952), 1980 Sozialdiakon beim Jugendpfarramt Leipzig (Michaeliskirche),<br />
Spezialausbildung zur Arbeit mit „sozialgefährdeten Jugendlichen“<br />
Hirsch, Ralf (geb. 1960), 1986 Mitglied der IFM, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Abschiebung nach Westberlin,<br />
1990 Mitarbeiter im Büro des Regierenden Bürgermeisters Momper<br />
Hoffmann, Reinhard, Dr. (geb. 1938), Mitglied der sächischen Landessynode<br />
Hofmann, Kirchenmusikdirektor, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis<br />
Hollitzer, Tobias, geb. 1966, Modellbauer, Mitglied des Umweltkreis Rötha <strong>und</strong> der AG Weltumwelttag<br />
Holicki, Axel (geb. 1962), Mitglied der AG Umweltschutz <strong>und</strong> des AK Gerechtigkeit, 1988 Übersiedlung<br />
nach Westdeutschland<br />
Honecker, Erich (1912-1994), 1958-1971 ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen, 1976 Generalsekretär der<br />
SED, 1971-1989 Generalsekretär des ZK der SED, 1971-1989 Vorsitzender des Nationalen<br />
Verteidigungsrates der DDR, 1976-1989 Vorsitzender des Staatsrates der DDR<br />
Huhn, Rechtsanwältin, Mitglied der Synode des BEK <strong>und</strong> der CDU, Mitunterzeichnerin des „Weimarer<br />
Briefes“<br />
Hummitzsch, Manfred (geb. 1929), Generalleutnant, 1967-1989 Leiter der Bezirksverwaltung des MfS<br />
Leipzig<br />
Ihmels, Folkert (geb. 1928), 1958 Pfarrer in Na<strong>und</strong>orf, 1969 Rektor des Diakonenhauses in Moritzburg,<br />
1977 Dresden Landeskirchenamt als Oberkirchenrat mit der Wahrnehmung der Geschäfte eines<br />
OLKR, Stellvertreter des Landesbischofs, 1978 Mitglied des Landeskirchenamtes<br />
Irmler, Werner (geb. 1930), 1965-1989 Leiter der ZAIG des MfS, 1977 Generalmajor, 1987<br />
Generalleutnant<br />
Jahn, Martina, Mitarbeiterin des Staatssekretariats für Kirchenfragen<br />
Jahn, Roland (geb. 1953), 1976 Exmatrikulation wegen Protestes gegen die Ausbürgerung Biermanns,<br />
führendes Mitglied der Gruppe „Friedensgemeinschaft Jena“, 1983 gewaltsame Abschiebung in die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik, Mitarbeiter bei „Kontraste“ beim SFB <strong>und</strong> freier Journalist<br />
Jakel, Walter (geb. 1944), Lehrer, Oberleutnant des MfS, 1969 operativer Mitarbeiter der Abt. XX/4 der<br />
BV Leipzig des MfS, gegen katholische Kirche <strong>und</strong> u.a. gegen Arbeitsgruppe „Friedensdienst“<br />
eingesetzt, 1975 aus ges<strong>und</strong>heitlichen Gründen wegen Wehruntauglichkeit aus dem MfS-Dienst<br />
428
entlassen, 1975 Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Bezirkes Leipzig, Leiter des Sektors<br />
Kirchenfragen, 1980 GMS „Rat“ der Abt. XX/4 der BV Leipzig des MfS<br />
Jankowski, Martin (geb. 1965), Bibliothekar <strong>und</strong> Liedermacher, Mitarbeiter der Kontaktgruppe<br />
Jarowinsky, Werner (1927-1990), 1957-1963 Mitarbeiter im Ministerrat für Handel, 1963-1984 Mitglied<br />
des ZK, 1984-1989 Mitglied des Politbüros, 1984 ZK-Sekretär, auch zuständig für Kirchenfragen,<br />
1989/1990 Vorsitzender der SED-PDS Volkskammerfraktion<br />
Kaden, Klaus (geb. 1951), Theologiestudium, 1979 Pfarrer in Ottendorf, 1987 Jugendpfarrer im<br />
Jugendpfarramt Leipzig, 1990 Pfarrer an der Michaeliskirche Leipzig<br />
Kahl, Hanna (geb. 1925), 1940-1950 Mitarbeit im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb, 1951/52 Ausbildung<br />
am Seminar für kirchlichen Frauendienst, Berlin, 1960-1975 Leiterin der „Arbeit auf dem Lande“ der<br />
Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, 1976 Sekretärin des Landesausschusses für<br />
Kongreß- <strong>und</strong> Kirchentag<br />
Kähler, Christoph, Prof. Dr. theol. (geb. 1944), 1977 Pfarrer in der Lukaskirche Leipzig-Reudnitz, 1981<br />
Dozent am Theologischen Seminar Leipzig, 1986-1988 Rektor<br />
Kallenbach, Gisela (geb. 1944), Chemieingenieur, 1984 Mitglied der AG Umweltschutz, 1990 Referentin<br />
für Umweltfragen bei RdS Leipzig<br />
Kamilli, Karl-August (geb. 1945), Geophysiker, Mitglied der AG Friedensdienst, Mitbegründer SDP in<br />
Leipzig, 1990 Stellvertretender Vorsitzender der SDP<br />
Kämpf, verh. Leukert, Ute (geb. 1954), Antiquitätenhändlerin, Mitglied der AG „Frauen für den Frieden“<br />
Kienberg, Generalmajor, Leiter der HA XX des MfS<br />
Kind, Steffen (geb. 1952), Dr.-Ing., Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />
Kirchner, Martin (geb. 1949), 1973-1975 Mitarbeiter im Hauptvorstand der Ost-CDU, 1975 Jurist im<br />
Kreiskirchenamt Gera, 1981 Kreiskirchenrat in Gera, Mitglied der Synode Thüringens, der B<strong>und</strong>es-<br />
<strong>und</strong> der VELK-Synode, 1987-1989 Juristischer OKR in Thüringen, 1989/1990 Generalsekretär der<br />
Ost-CDU, 1990 Mitglied der Volkskammer, Enttarnung als inoffizieller Stasi-Mitarbeiter<br />
Klenk, Gerd, Ingenieur für Elektroprojektion, Mitglied des Friedenskreises Gohlis <strong>und</strong> des BSA<br />
Klier, Freya (geb. 1950), Freischaffende Theaterregisseurin, Mitarbeit in den AK „Kirche von Unten“ <strong>und</strong><br />
„Solidarische Kirche“, 1988 Verhaftung <strong>und</strong> Ausweisung aus der DDR, Publizistin<br />
Koch, Jens (geb. 64), Elektriker, Studium der Theologie am ThSL<br />
Körner, Detlef (geb. 1962), Mitglied der AG Umweltschutz <strong>und</strong> der IG Leben, Mitinitiator des 1.<br />
Pleißemarsches<br />
Kowasch, Fred (geb. 1965), Mitglied der AGU <strong>und</strong> IGL, Organisator eines autonomen Cafes, Januar 1989<br />
inhaftiert wegen Rede zur Demonstration am 15.01.1989, 1989 Übersiedlung nach Westberlin,<br />
Journalist<br />
Kraußer, Peter, Mitarbeiter des Zentralrates der FDJ, 1989 Leiter der AG Kirchenfragen beim ZK der<br />
SED<br />
Krawczyk, Stefan (geb. 1955), Liedermacher, 1985 Auftrittsverbot, 1988 Inhaftierung <strong>und</strong> Ausbürgerung<br />
Krenz, Egon (geb. 1937), 1974 1. Sekretär des Zentralrates der FDJ, 1983-1989 Mitglied des Politbüros<br />
<strong>und</strong> ZK-Sekretär für Sicherheit sowie Jugend <strong>und</strong> Sport, 1989 1.Sekretär des ZK, Vorsitzender des<br />
Nationalen Verteidigungsrates <strong>und</strong> Vorsitzender des Staatsrates der DDR<br />
Kretzschmar, Gottfried, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Sektion Theologie der<br />
KMU Leipzig<br />
Krumbholz, Gerd (geb. 1945), Theologiestudium, 1972 Pfarrer Heiligkreuzkirche Leipzig, 1976 Pfarrer<br />
Michaeliskirchgemeinde, 1990 Pfarrer im Evangelisch-Lutherischen Diakonissenhaus<br />
Krusche, Günter, Dr. theol (geb. 1931), 1956 Pfarrer in Taucha bei Leipzig, 1959 Pfarrer an der<br />
Johanniskirche in Dresden, 1968 Referent im LKA Dresden, 1974 Studieninspektor am<br />
Predigerseminar Lückendorf, 1977 Vorsitzender der Studienkommission des Lutherischen Weltb<strong>und</strong>es,<br />
1983 Generalsuperintendent in Berlin, 1993 Ruhestand<br />
Krusche, Werner, Dr. theol. (geb. 1917), Theologiestudium, 1954 Pfarrer an der Auferstehungskirche in<br />
Dresden, 1958 Studiendirektor am Predigerseminar Lückendorf, 1966 Dozent für Systematische<br />
Theologie am ThSL, 1968 Bischof der Kirchenprovinz Sachsen <strong>und</strong> zugleich Domprediger in<br />
Magdeburg, 1976-1979 Vorsitzender des Rates der EKU-Bereich DDR, 1981-1982 Vorsitzender der<br />
429
KKL, 1983 Ruhestand.<br />
Kühn, Ulrich (geb. 1932), Prof. Dr. theol., 1969 Dozent am ThSL, später auch Prof. in Wien, 1988-90<br />
Rektor des ThLS<br />
Kunze, Michael, Dr. (geb. 1944), Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />
Kurzke, Leiter der Abtl. IA beim Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Leipzig<br />
Läßig, Jochen (geb. 1961), Theologiestudium 1983-1985 in Halle, 1985-1988 am ThSL, 1988<br />
Mitbegründer des AK Gerechtigkeit, Mitinitiator des „Straßenmusikfestivals“, seit 1990<br />
Fraktionsvorsitzender Bündnis 90/Grüne in Leipzig<br />
Lehnert, Anne-Kathrin (geb. 1965), Mitglied des Gemeindekirchenvorstandes von St. Nikolai - St.<br />
Johannis <strong>und</strong> von „Frauen für den Frieden“<br />
Leich, Werner, Dr. theol. h.c. (geb. 1927), 1954 Pfarrer in Wurzbach/Thüringen, 1966-77 Vorsitzender<br />
der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft in Thüringen, 1967-1978 Vizepräsident der Synode<br />
Thüringens, 1969 Superintendent in Lobenstein, seit 1978 Bischof von Thüringen, 1984-1986<br />
Leitender Bischof der VELK in der DDR, 1986-1990 Vorsitzender der KKL<br />
Lewek, Christa (geb. 1927), Germanistikstudium, 1958 Eintritt in den Dienst der EKD, 1969<br />
Oberkirchenrätin im Sekretariat des BEK, 1988 Ruhestand<br />
Liebknecht, Karl (1871-1919), Sozialdemokratischer Reichtagsabgeordneter, Mitbegründer der KPD<br />
Löffler, Kurt (geb. 1932), 1973-1988 Staatssekretär im Ministerium für Kultur, 1980-1983 Sekretär des<br />
Staatlichen Lutherkomitees, 1988/89 Staatsekretär für Kirchenfragen, 1991 Direktor für Marketing,<br />
Werbung <strong>und</strong> Öffentlichkeit im ostdeutschen Sparkassen- <strong>und</strong> Giroverband<br />
Lohmann, Jürgen (geb. 1944), Mitglied der AGF, inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Junge“)<br />
Lösche, Martin (geb. 1941), 1967 Pfarrer in Oberfrankenheim, 1978 Pfarrer in der St.-Laurentiuskirche<br />
Leipzig-Leutzsch<br />
Loyal, Stellvertreter des Stadtbezirksbürgermeisters für Inneres des Stadtbezirks Mitte in Leipzig<br />
Ludwig, Andreas (geb. 1963), Mitglied des AKG <strong>und</strong> der Bezirkssynode Leipzig-Ost<br />
Luther, Martin (1483-1546), deutscher Reformator<br />
Lux, Petra (geb. 1956), Journalistin, Frauen für den Frieden, Sprecherin des Neuen Forums<br />
Luxemburg, Rosa (1870-1919), Mitbegründerin der KPD<br />
Magirius, Friedrich (geb. 1930), Theologiestudium, 1955 Pfarrer am Diakonissenhaus in Moritzburg,<br />
1958 Pfarrer in Einsiedel, 1974 Pfarrer in der Kreuzkirche Berlin, Leiter der Aktion Sühnezeichen<br />
Berlin, 1982 Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-Ost, 1990-1994 Stadtpräsident von Leipzig<br />
Masur, Kurt, Prof. Dr. h.c. (geb. 1927), Dirigent, 1970 Gewandhauskapellmeister<br />
Mayer, Kurt, Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig<br />
Michael, Klaus (geb. 1935), 1960 Pfarrer in Thallwitz, 1967 Pfarrer in Wurzen, 1981 Pfarrer an der<br />
Pauluskirche Leipzig-Grünau<br />
Mielke, Erich (geb.1907), 1950-1989 Mitglied des ZK der SED, 1957-1989 Minister für Staatssicherheit<br />
der DDR, 1976-1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED<br />
Mihm, Christa (geb. 1957), freischaffende Sängerin (jüdische Lieder, Ragtime <strong>und</strong> Flamengo)<br />
Mittag, Günter (1926-1994),1966 Mitglied des Politbüros, 1976 Sekretär des ZK der SED für Wirtschaft,<br />
1984 Stellvertreter des Vorsitzenden des Staatsrates der DDR<br />
Mittig, Rudi (geb. 1925), zuletzt Generaloberst des MfS, 1956-1964 Leiter der BV Potsdam des MfS,<br />
1964-1970 Leiter der HA XVIII, 1970-1989 Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit<br />
Moritz, Brigitte (geb. 1954), Mitglied der AG Friedensdienst <strong>und</strong> der „Frauen für den Frieden“,<br />
Gemeindehelferin in der Lukasgemeinde, 1991/92 Geschäftsführerin der Stiftung „R<strong>und</strong>er Tisch“ e.V.<br />
Moritz, Hans (geb. 1926), Prof. Dr. theol., 1961 Direktor des Religionssoziolgischen Instituts der<br />
Universität Leipzig, 1991 Emeritierung, Enttarnung als inoffizieller Mitarbeiter des MfS<br />
Motzer, Christoph (geb. 1963), Mitglied AG Menschenrechte <strong>und</strong> der Offenen Arbeit Mockau<br />
Mühlmann, Sieghart, Dr. theol. (geb. 1942), 1980 Pfarrer an der Gedächtniskirche Leipzig-Schönefeld,<br />
Mitglied des Ausschusses Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft des BEK, 1989/90 Bürgerkomitee zur Auflösung<br />
des MfS<br />
Müller, Andreas (geb. 1955), Theologiestudium, Repetent am ThSL, Mitglied des AKSK <strong>und</strong> des AK<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Ökumene, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs, 1990 Stadtrat in Leipzig<br />
430
Müller, Axel, Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat der Stadt Leipzig, Bereichsleiter Kirchenfragen<br />
Müller, Dieter (geb. 1943), Oberstleutnant, Stellvertretender Leiter der Bezirksverwaltung Leipzig des<br />
MfS (Operativ)<br />
Müller, Rainer (geb. 1963), Maurer, 1988-89 Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AK Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> des AK Solidarische Kirche, Mitbegründer der IFM Leipzig<br />
Munkwitz, Karl (geb. 1933), Stellvertreter des Bezirksstaatsanwaltes in Leipzig<br />
Münnich, Udo (geb. 1945), Mitglied der CFK, 1982 inoffizieller Mitarbeiter des MfS<br />
Natho, Eberhard (geb. 1932), Theologiestudium in Greifswald, 1961 in Güsten, 1961-1971<br />
Stadtverordneter in Staßfurt (zuletzt für die CDU), 1970 Kirchenpräsident der Evangelischen<br />
Landeskirche Anhalt, 1971 zugleich Pfarrer in der St. Georg-Kirche in Dessau, Mitglied der KKL <strong>und</strong><br />
des Rates der EKU, 1979/80 Ratsvorsitzender der EKU<br />
Neiber, Gerhard (geb. 1929), 1953-1961 Abteilungsleiter in der BV Schwerin des MfS, 1961-1980 Leiter<br />
der BV Frankfurt/Oder, 1980-1989 Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit<br />
Nitzsche, Helmut (geb. 1940), Mitglied der AGF<br />
Nowak, Kurt, Prof. Dr. theol. Dr. phil. (geb. 1942), Prof. für Kirchengeschichte an der Leipziger<br />
Universität<br />
Oehler, Bernd (geb. 1960), Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AKG <strong>und</strong> des AKSK, 1992 Pfarrer<br />
in Wermsdorf<br />
Oltmanns, Gesine (geb. 1965), 1988 Mitglied der AKG, 1989 Mitglied des Ausreisekreises der IG Leben<br />
<strong>und</strong> Mitinitatorin der DI, 1991 Mitarbeiterin in der Gauck-Behörde<br />
Opitz, Rolf (geh. 1929), 1949 Pressereferent im Ministerium für Volksbildung, 1955 Stellvertretender<br />
Vorsitzender des Rates des Stadt Görlitz, 1958 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises<br />
Riesa, 1962 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Dresden, 1971 Stellvertretender<br />
Leiter der Instrukteurabteilung beim Vorsitzenden des Ministerrates, 1974-1989 Vorsitzender des<br />
Rates des Bezirkes Leipzig<br />
Packmohr, Horst (geb. 1950), Stadtrat für Umweltschutz <strong>und</strong> Wasserwirtschaft beim Rat der Stadt Leipzig<br />
Penno, Doreen (geb. 1965), Chemielaborantin, Gemeindehelferin, 1988/89 Mitglied des AKG, Leiterin<br />
des Ausreisekreises, Mitte 1989 als inoffizielle Mitarbeiterin des MfS enttarnt (IMB „Maria“)<br />
Petersohn, Thomas (geb. 1950), 1968-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1984-1990 Küster der<br />
Nikolaikirche<br />
Petzold, Martin, Dr. theol. (geb. 1946), 1973 Doz. für Systematische Theologie, Stellvertretender Direktor<br />
für Erziehung <strong>und</strong> Ausbildung an der KMU Leipzig, Sektion Theologie<br />
Pohler, Georg, Dr.-Ing., Mitglied des Friedenskreises Grünau-Lindenau<br />
Pommert, Jochen (geb. 1929), Sekretär der SED-Bezirksleitung Leipzig für Agitation <strong>und</strong> Propaganda<br />
Pörner, Ursula, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai<br />
Prag, Joachim, 1. Sekretär der Stadtleitung Leipzig der SED<br />
Quester, Roland (geb. 1965), führendes Mitglied der AG Umweltschutz, 1989 Mitbegründer der<br />
Umweltgruppe Ökolöwe<br />
Rachwalski, Bernhard, katholischer Pfarrer von St. Laurentius (Leipzig-Thonberg)<br />
Radicke, Andreas (geb. 1963), Mitglied der IGL, 1989 Hausmeister der Lukasgemeinde<br />
Ramson, Lutz, Mitglied des Kirchenvorstandes St. Nikolai - St. Johannis Rathenow, Lutz (geb. 1952),<br />
Schriftsteller, Autor mehrerer Bücher, die in der DDR nicht erscheinen konnten<br />
Rau, Johannes (geb. 1924), 1963 Pfarrer in Schneeberg, 1972 Superintendent in Freiberg <strong>und</strong> Pfarrer am<br />
Freiberger Dom, 1981-01.09.1989 OKR im Landeskirchenamt Dresden<br />
Reagen, Ronald (geb. 1911), 1967-1975 Gouverneur von Kalifornien, 1980-1988 Präsident der USA<br />
Reinhardt, Karl-Heinz (geb. 1936), Offizier im besonderen Einsatz des MfS, Leiter der Abteilung<br />
Sicherheit der SED-BL Leipzig<br />
Reitmann, Hartmut, Dr. jur. (geb. 1951), 1982-1990 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des<br />
Bezirkes Leipzig für Innere Angelegenheiten<br />
Richter, Frank (geb. 1966), Maschinen- <strong>und</strong> Anlagenschlosser, Mitglied des Jugendkonventes <strong>und</strong> der AG<br />
Menschenrechte<br />
Richter, Johannes (geb. 1934), 1952 Theologiestudium in Leipzig, 1958 Pfarrer in Schneeberg, 1961<br />
431
Pfarrer in Grünhain, 1970 Pfarrer in der Trinitatiskirchgemeinde Dresden-Johannstadt, 1976<br />
Superintendent des Kirchenbezirkes Leipzig-West <strong>und</strong> Pfarrer an der Thomaskirche<br />
Rosentreter, Claus (geb. 1933), Leiter der Arbeitsgruppe beim Leiter der Bezirksverwaltung des MfS<br />
Leipzig (AGL), 1990 Regierungsvertreter im Komitee zur Auflösung MfS/AfNS im Bezirk Leipzig,<br />
1993 Mitarbeiter einer Werbeagentur<br />
Rothe, Aribert (geb. 1952), Pfarrer an der Michaeliskirche Leipzig, Vorsitzender der Evangelischen<br />
Erwachsenenbildung in Thüringen<br />
Rudolph, Thomas (geb. 1963), Studium der Theologie in Halle <strong>und</strong> am ThSL, 1988 Mitbegründer des AK<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Mitglied des AK Solidarische Kirche, 1989 Mitbegründer der IFM Leipzig, 1992<br />
Leiter des „Forschungszentrums zu den Verbrechen des Stalinismus“ in Dresden<br />
Sabatowska, Rudolph (geb.1935), Diplom-Ökonom, Stellvertreter des Oberbürgermeisters <strong>und</strong> Stadtrat für<br />
Inneres Rat der Stadt Leipzig<br />
Saarstedt, Wolfgang (geb. 1961), 1980/81 in der offenen Jugendarbeit engagiert, inoffizieller Mitarbeiter<br />
der Kriminalpolizei, 1986 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1988 Mitglied der AGM, 1989<br />
Aufkündigung der Zusammenarbeit mit dem MfS <strong>und</strong> Mitarbeit in der DI<br />
Schade, Beate (geb. 1965), Theologiestudium am ThSL, Mitglied des AK Solidarische Kirche<br />
Scharf, Kurt, Dr. theol. (1902-1990), 1951 kommissarischer Pfarrer an der Marienkirche in Ostberlin,<br />
1961 Verweser des Bischofsamtes des Ostbereichs von Berlin-Brandenburg, Ende August 1961<br />
Ausweisung gen Westberlin, 1961-1967 Ratsvorsitzender der EKD, 1966-1967 Bischof von Berlin-<br />
Brandenburg (bzw. Westberlin), 1980-1984 Vorsitzender der Aktion Sühnezeichen<br />
Scheffke, Siegbert (geb. 1959), Bauingenieur, 1986 Umweltbibliothek Berlin, Fotograf <strong>und</strong><br />
Vidoekameramann für „arche“ <strong>und</strong> anderer oppositioneller Gruppen, Fernseh-Journalist<br />
Schleinitz, Gottfried, Dr. theol. (geb. 1938), 1962 Pfarrer in Wilkau-Haßlau, 1970 Jugendpfarramt<br />
Leipzig, 1977 Pfarrer an der Gnadenkirche Leipzig-Wahren, CFK Basisgemeinde Leipzig-Wahren<br />
zusammen mit Pf. Weiß, Studiendirektor des Predigerkollegs St. Pauli<br />
Schlichter, Eberhard (geb. 1938), 1984-1990 OLKR im LKA Dresden <strong>und</strong> Stellvertreter des Präsidenten<br />
Schmidt, Norbert (geb. 1928), Oberst, Leiter der Kreisdienststelle Leipzig-Stadt des MfS<br />
Schnabel, Hubert, 2. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig<br />
Schnur, Wolfgang (geb. 1944), 1973 Diplomjurist, Rechtsanwalt, Mitglied der Synode der Ev. Kirche in<br />
Mecklenburg, juristischer Berater für Wehrdienstverweigerer innerhalb der ev. Kirche, inoffizieller<br />
Mitarbeiter des MfS (IMB „Torsten“), 1989 Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs<br />
Schöne, Gerhard (geb. 1948), Liedermacher<br />
Schöne, Stefan, Vorsitzender des Landesjugendkonvents der Ev.-Lutherischen Landeskirche Sachsens<br />
Schönerstedt, Michael (geb. 1953), Leutnant des MfS in der KD Leipzig-Stadt<br />
Schönherr, Albrecht (geb. 1911), 1936 Ordination in Berlin-Dahlem, 1967 Verwalter des Bischofsamtes<br />
in Berlin-Brandenburg (Region Ost), 1969-1981 Vorsitzender der KKL, 1972 Bischof von Berlin-<br />
Brandenburg<br />
Schorlemmer, Friedrich (geb. 1944), 1971 Jugend- <strong>und</strong> Studentenpfarrer in Merseburg, 1978 Dozent am<br />
Ev. Predigerseminar Wittenberg <strong>und</strong> Prediger an der dortigen Schloßkirche, 1989 Mitbegründer des<br />
Demokratischen Aufbruchs, 1990 Fraktionsvorsitzender der SPD in Wittenberg, 1991 Studienleiter der<br />
Ev. Akademie Sachsen-Anhalt<br />
Schreiber, Uwe (geb. 1947), 1974 Pfarrer in Mahlis, 1981 Pfarrer an der Markuskirche in Leipzig-<br />
Reudnitz, 1988 Pfarrer in der St. Nikolai-St. Thomaskirchgemeinde in Chemnitz<br />
Schubert, Gotthold (geb. 1928), 1952 Pfarrer in Markkleeberg/Großstädteln<br />
Schulze, Horst (geb. 1935), 1959 Pfarrer in Flöha, 1962 Pfarrer in Wermsdorf, 1971 Pfarrer in<br />
Hohenstein-Erntstthal, 1980 Superintendent des Kirchenbezirkes Wurzen<br />
Schumann, Horst (geb. 1924), Erster Sekretär der Bezirksleitung der SED in Leip“ zig<br />
Schwabe, Uwe (geb. 1962), Instandhaltungsmechaniker, 1984 Mitglied des AGU, 1987 Mitbegründer der<br />
IG Leben, Mitglied der AG Menschenrechte, 1991-1993 Mitarbeiter im Archiv Bürgerbewegung e.V.<br />
Leipzig<br />
Schwanitz, Wolfgang (geb. 1930), 1974 Leiter der BV Berlin des MfS, 1985 Stellvertreter des Ministers,<br />
1989 Leiter der Amtes für Nationale Sicherheit<br />
432
Seidel, Bernd (geb. 1929), Dr., 1979-1984 Stadtbezirksbürgermeister Leipzig-Mitte, 1984-1986 1.<br />
Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Leipzig, 1986-1989 Oberbürgermeister der Stadt<br />
Leipzig<br />
Seidel, Rudolf (geb. 1932), Oberstleutnant, Leiter des Büros des Leiters der BV Leipzig des MfS<br />
Sellentin, Frank (geb. 1965), Zimmermann, Mitglied der AG Umweltschutz, 1987 Mitbegründer der IGL,<br />
Firma für Lehmbau<br />
Sengewald, Matthias (geb. 1955), Bezirksjugendwart im Jugendpfarramt Leipzig, Mitglied der AG<br />
Friedensdienst<br />
Setzepfand, Stadtbezirksbürgermeister Stadtbezirk Mitte<br />
Sievers, Hans-Jürgen (geb. 1943), Mechaniker, 1962 Studium an der Predigerschule Paulinum in Berlin,<br />
1968 Pfarrer der reformierten Gemeinde Bergholz bei Pasewalk, 1974 Pfarrer in der evangelischreformierten<br />
Kirche in Leipzig, 1983 Vorsitzender des Kirchenb<strong>und</strong>es evangelisch-reformierter<br />
Gemeinden in der DDR, 1984 Schriftleiter des Monatsblattes „Friede <strong>und</strong> Freiheit“<br />
Sinagowitz, Oberst der Volkspolizei<br />
Sindermann, Horst (1915-1990), 1967-1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1973-1976<br />
Vorsitzender des Ministerrates <strong>und</strong> 1976-1989 Präsident der Volkskammer <strong>und</strong> Stellvertretender<br />
Staatsratsvorsitzender<br />
Sonntag, Frank-Wolfgang (geb. 1961), 1988 Mitglied des AKG, 1988 Übersiedlung in die<br />
B<strong>und</strong>esrepublik, Journalist<br />
Sorgenicht, Klaus (geb. 1923), 1954-89 Leiter der Abteilung Staats- <strong>und</strong> Rechtsfragen des ZK der SED<br />
Steinbach, Walter-Christian, Pfarrer in Rötha bei Leipzig, 1983 Begründer des Röthaer Umweltseminars,<br />
heute Regierungspräsident von Leipzig<br />
Stellmacher, Rainer-Lutz (geb. 1956), Anfang der 80er Jahre Fotographiestudent an der Hochschule für<br />
Graphik <strong>und</strong> Buchkunst in Leipzig, Mitglied der AG Friedensdienst<br />
Stiehler, Karl-Heinz (geb. 1943), Pfarrer der Ev.-Luth. Freikirche in Leipzig<br />
Stier, Christoph (geb.1941),1970 Pfarrer in Rostock Lütten-Klein, 1976-1984 Mecklenburgischer<br />
Landespastor für Weiterbildung <strong>und</strong> Akademietätigkeit, Mitglied der Synode des BEK, Synodales<br />
Mitglied der KKL, 1981 Vorsitzender des Studienauschusses der theol. Studienabteilung des BEK,<br />
1984 Landesbischof von Mecklenburg<br />
Stolpe, Manfred (geb. 1936), 1962-1969 Juristischer Oberkonsistorialrat im Konsistorium der DDR-<br />
Region der Ev. Kirche in Berlin-Brandenburg, 1967-1989 inoffizieller Mitarbeiter des MfS, 1969-1982<br />
Leiter des Sekretariats des BEK, 1982-1990 Präsident des Konsistoriums der Berlin-<br />
Brandenburgischen Kirche, Stellvertretender Vorsitzender des B<strong>und</strong>es der Ev. Kirchen in der DDR,<br />
seit 1990 Ministerpräsident von Brandenburg<br />
Stoph, Willi (geb. 1914), 1950-1989 Mitglied des ZK der SED <strong>und</strong> Mitglied der Volkskammer, 1953-<br />
1989 Mitglied des Politbüros des ZK der SED, 1964-1973 <strong>und</strong> 1976-1989 Vorsitzender des<br />
Ministerrates, 1973-1976 Vorsitzender des Staatsrates<br />
Straßenburg, Gerhard, Chef der BDVP<br />
Strenger, Major, ab Februar 1989 Leiter der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS<br />
Synkowski, Uwe (geb. 1967), Mitglied der AGM<br />
Turek, Rolf-Michael (geb. 1949), 1981 Pfarrer im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig-Dösen,<br />
1984 Pfarrer im Markuspfarramt Leipzig<br />
Unger, Anita (geb. 1965), 1984 Mitglied der „Frauen für den Frieden“, 1988 Mitglied der IG Leben,<br />
Sozialarbeiterin<br />
Urbaneck, Heinz, Mitglied der Bezirksleitung der SED, Leiter der Abteilung Staat <strong>und</strong> Recht<br />
Ventzke OP, Bernhard, Pater, 1988 Kaplan an St. Martin in Leipzig-Grünau<br />
Vollbach, Ekkehard (geb. 1939), 1965 Pfarrer an der St. Nicolaikirche in Aue, 1975 Pfarrer in der<br />
Heilandkirchgemeinde Leipzig-Plagwitz, 1987 Superintendent im Kirchenbezirk Borna bei Leipzig<br />
Wagner, Harald, Prof. Dr. theol (geb. 1950), Sportlehrer im Hochschuldienst, Inhaftierung,<br />
Theologiestudium, Pfarrer in Holzhausen bei Leipzig, Repetent am ThSL, Mitglied des<br />
Fortsetzungsausschusses des AKSK, 1993 Professor an der Ev. Fachhochschule Dresden<br />
Waldhell, Leiter des Referates XX/2 der KD Leipzig-Stadt des MfS<br />
433
Wallner, Oberstleutnant des MfS, bis 1989 Leiter der Abteilung XX der BV Leipzig des MfS<br />
Walter, Stefan (geb. 1965), Elektriker, Mitglied der Koordinierungsgruppe (1989)<br />
Walther, Katrin (geb. 1970), Mitglied des Jugendkonventes, der AG Umweltschutz, des AK Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> der AG Menschenrechte<br />
Weidel, Gotthard (geb. 1947), 1975 Pfarrer in Kahnsdorf, 1984 Pfarrer in der Friedenskirche in Leipzig-<br />
Gohlis, Mitglied der Friedensgruppe Gohlis<br />
Weismann, Bernhard (geb. 1942), Bezirksjugendwart, 1983 Ephoralvikar Leipzig-West, 1984 Pfarrdiakon<br />
in Störmthal bei Leipzig<br />
Weismannm, Ruth (geb. 1948), Bezirksjugendwartin im Jugendpfarramt Leipzig<br />
Wenzel, Hartmut (geb. 1941), Superintendent von Altenburg bis Nov. 1988, danach Oberpfarrer in<br />
Themar<br />
Winterstein, Dr., Kinderarzt, Mitarbeiter bei der Umweltorganisation „arche“<br />
Wirth, Klaus (geb. 1953), Mitglied des Kadenkreises<br />
Wolf, Helmut (geb. 1938), Mitglied des AK Bausoldaten <strong>und</strong> der AGF<br />
Wolf, Matthias (geb. 1956), Theologiestudent am ThSL, Mitglied des AK Solidarische Kirche<br />
Wonneberger, Christoph (geb. 1944), 1973 Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig, 1977-1984 Pfarrer an<br />
der Weinbergskirche in Dresden, Mitbegründer der Initiative „Sozialer Friedensdienst“, 1985-1991<br />
Pfarrer an der Lukaskirche Leipzig, Begründer der AGM<br />
Wötzel, Roland (geb. 1938), 1. Sekretär der SED-Stadtleitung Leipzig, 1988/89: 2. Sekretär der SED-<br />
Bezirksleitung<br />
Wugk, Manfred (geb. 1934), 1959 Pfarrer in Niedercunnersdorf, 1975 Pfarrer an der<br />
Christuskirchgemeinde in Leipzig-Eutritzsch, 1990 Leiter des Katharinenhofes in Großhennersdorf<br />
Ziegler, Martin, 1958 Pfarrer, 1981-1991 Leiter der Sekretariats der BEK, 1989 einer der Moderatoren des<br />
Zentralen R<strong>und</strong>en Tisches<br />
Ziegs, Michaela (geb. 1970), Mitglied der IG Leben<br />
Ziemer, Christoph (geb. 1941), 1968 Hilfsgeistlicher <strong>und</strong> Pfarrer in Pirna, 1972 Studiendirektor <strong>und</strong><br />
Gemeindepfarrer in Lückendorf, 1974 Leiter der Theologischen Studienabteilung beim BEK, 1980<br />
Superintendent in Dresden-Mitte <strong>und</strong> zugleich Pfarrer an der Kreuzkirche, Initiator des Konziliaren<br />
Prozesses in der DDR als Leiter des Dresdner „Stadtökumenekreises“<br />
Zimmermann, Peter (geb. 1944), bis 1990 Dozent für Ökumenik an der Sektion Theologie der KMU<br />
Leipzig, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Christliche Kreise beim Stadtausschuß Leipzig der Nationalen<br />
Front, inoffizieller Mitarbeiter des MfS (IMB „Karl Erb“)<br />
Zweynert, Peter (geb. 1943), OLKR im LKA Dresden<br />
434
Abkürzungsverzeichnis<br />
Editorische Zeichen<br />
[?] vorhergehendes Wort nicht sicher zu entziffern<br />
[...] Weglassungen durch die Herausgeber oder Materialgeber [gez.] gezeichnet von:<br />
[sic!] Hinweis auf einen Fehler im Original<br />
[/] Zeilenwechsel, der durch die Herausgeber nicht übernommen wurde<br />
Abkürzungen<br />
AB Arbeitsbuch. Zur Sicherung der Dienstgeheimnisse waren z.B. die Mitarbeiter des MfS<br />
oder der Abt. Innere Angelegenheiten verpflichtet, Informationen, die dem<br />
Dienstgeheimnis unterlagen, nur in personengeb<strong>und</strong>enen Arbeitsbüchern festzuhalten.<br />
Formal hätte vor jeder Sitzung eine Kontrolle der verwendeten Verschlußsachen-<br />
Arbeitsbücher <strong>und</strong> deren Registrierung stattfinden müssen.<br />
ABL Archiv Bürgerbewegung Leipzig<br />
Abt. Abteilung<br />
Abt. IX Untersuchungsabteilung des MfS<br />
Abt. VIII Beobachtungs- <strong>und</strong> Ermittlungsabteilung des MfS<br />
Abt. XII Speicher <strong>und</strong> Archiv des MfS<br />
Abt. XX Abteilung der BV des MfS zur Überwachung des Staatsapparates, der Kultur, der<br />
Kirchen (XX/4) <strong>und</strong> politisch alternativer Personen <strong>und</strong> Gruppierungen (u.a. XX/9)<br />
AG Arbeitsgruppe<br />
AGF Arbeitsgruppe Friedensdienst (s. S. 496)<br />
AGL Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung des MfS (war u.a. für die<br />
Vorbereitung der Mobilmachung zuständig)<br />
AGM Arbeitsgruppe Menschenrechte (s. S. 496)<br />
AGU Arbeitsgruppe Umweltschutz (s. S. 497)<br />
AIM Abgelegte Akte eines inoffiziellen Mitarbeiters AK Arbeitskreis<br />
AKF Arbeitskreis bzw. Arbeitsgruppe Friedensdienst (s. S. 496)<br />
AKG Arbeitskreis Gerechtigkeit (s. S. 498)<br />
AKG Auswertungs- <strong>und</strong> Kontrollgruppe der Bezirksverwaltung des MfS<br />
AKSK Arbeitskreis Solidarische Kirche (s. S. 499)<br />
amt. amtierend<br />
Anm. Anmerkung<br />
AOPK Archivierte „Operative Personenkontrolle“ (MfS)<br />
AOV Archivierter „Operativer Vorgang“ (MfS)<br />
APO Arbeitsparteiorganisation<br />
AStA Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR<br />
ASZ Aktion Sühnezeichen (s. S. 496)<br />
AuE Abteilung Aktionen <strong>und</strong> Einsätze der Bezirksverwaltung des MfS<br />
AuI Referat Auswertung <strong>und</strong> Information innerhalb einer Abteilung der Bzirksverwaltung<br />
bzw. eines Referates der Kreisdienststelle des MfS<br />
BArch B<strong>und</strong>esarchiv<br />
BBS Betriebsberufsschule<br />
BDVP Bezirksdirektion der Deutschen Volkspolizei<br />
BEK B<strong>und</strong> der Evangelischen Kirchen in der DDR<br />
BEL Bezirkseinsatzleitung (s. S. 467)<br />
BePo Bereitschaftspolizei<br />
BKG Bezirkskoordinierungsgruppe. Diese Abteilung der Bezirksverwaltung des MfS war<br />
zuständig für Ausreiseantragsteller.<br />
BL Bezirksleitung (der SED)<br />
BPS Bezirksparteischule<br />
435
BStU B<strong>und</strong>esbeauftragter für die Stasi-Unterlagen<br />
BV Bezirksverwaltung (für Staatssicherheit)<br />
CFK Christliche Friedenskonferenz<br />
DA Demokratischer Aufbruch<br />
DB Dienstberatung<br />
DE Diensteinheit (MfS)<br />
DH Diensthabender<br />
Dok. Dokument<br />
dt. deutsch<br />
ENA Evangelischer Nachrichtendienst in der DDR<br />
epd-Dok Evangelischer Pressedienst – Dokumentation<br />
Eph. Brief des Paulus an die Epheser<br />
ESG Evangelische Studentengemeinde<br />
EV Ermittlungsverfahren<br />
ev., evang. evangelisch<br />
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
FDJ Freie Deutsche Jugend, einzige in der DDR zugelassene Jugendorganisation<br />
fdl. feindlich (MfS)<br />
FG Friedensgebet<br />
FR Frankfurter R<strong>und</strong>schau<br />
FS Fernschreiben<br />
FZVSt Forschungszentrum für die Verbrechen des Stalinismus (Dresden)<br />
GBI. Gesetzblätter der DDR<br />
Gen. Genosse<br />
Genn. Genossin<br />
GO Gr<strong>und</strong>organisation (der SED)<br />
GVS Geheime Verschlußsache. Unterlagen, die als Staats- bzw. Parteigeheimnis eingestuft<br />
wurden <strong>und</strong> zu denen nur sogenannte Geheimnisträger (GVS- bzw. VVS-Berechtigte)<br />
Zugang hatten. Diese unterlagen strengen Sicherheitsauflagen <strong>und</strong> -überprüfungen, bei<br />
denen das MfS Veto-Recht hatte. In der Rangfolge rangierten Geheime<br />
Verschlußsachen vor Vertraulichen Verschlußsachen <strong>und</strong> nach Geheimen<br />
Kommandosachen.<br />
GWL Gebäudewirtschaft Leipzig (Kommunale Wohnungsverwaltung)<br />
HA Hauptabteilung (des MfS)<br />
HJ Halbjahr<br />
HW Hauptwohnung<br />
IA Innere Angelegenheiten<br />
IFM Initiative Frieden <strong>und</strong> Menschenrechte<br />
IGL Initiativgruppe Leben (s. S. 502)<br />
IM inoffizieller Mitarbeiter (MfS), Spitzel<br />
IMB inoffizieller Mitarbeiter zur „Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender<br />
Personen, feindlicher Stellen <strong>und</strong> Kräfte“ (MfS)<br />
IMS inoffizieller Mitarbeiter „Sicherheit“ (MfS)<br />
INKOTA Netzwerk der kirchlichen Zweidrittel-Welt-Gruppen (Information, Koordination,<br />
Tagungen), welches 1971 gegründet wurde. Mit diesem Netzwerk arbeitete die<br />
Initiativgruppe „Hoffnung Nicaragua“ eng zusammen.<br />
IWF Internationaler Währungsfonds<br />
JHS Juristische Hochschule<br />
KB Kulturb<strong>und</strong><br />
KD Kreisdienststelle (MfS)<br />
KEL Kreiseinsatzleitung (s. S. 467)<br />
KiS Kirche im Sozialismus<br />
436
KKL Konferenz der Kirchenleitungen<br />
KL Kreisleitung (der SED)<br />
KMU Karl-Marx-Universität<br />
KOZ Kommunikationszentrum (s. S. 481)<br />
KP Kommunistische Partei<br />
KT Kirchentag<br />
KTK Kirchentagskongreß<br />
KV Kirchenvorstand<br />
LA Landesausschuß Kongreß <strong>und</strong> Kirchentag<br />
UM Leipziger Frühjahrsmesse<br />
LKA Landeskirchenamt<br />
Lpz Leipzig<br />
Ltg. Leitung<br />
LW Leipziger Volkszeitung<br />
MA Mitarbeiter<br />
MBI Mitteilungsblatt des BEK<br />
MfS Ministerium für Staatssicherheit<br />
ND Neues Deutschland<br />
neg. negativ (MfS)<br />
NSW nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet<br />
NVA Nationale Volksarmee<br />
NW Nebenwohnsitz<br />
OBM Oberbürgermeister<br />
OES Operativer Einsatzstab<br />
OKR Oberkirchenrat<br />
OLKR Oberlandeskirchenrat<br />
OPK Operative Personenkontrolle (MfS)<br />
ÖRK Ökumenischer Rat der Kirchen<br />
OSL Oberstleutnant<br />
OSV Ordnungsstrafverfahren<br />
OV Operativer Vorgang (MfS)<br />
OWVO Ordnungswidrigkeitsverordnung<br />
Pf., Pfr. Pfarrer<br />
Pkt. Punkt<br />
PKZ Personenkennzahl<br />
PUT politische Untergr<strong>und</strong>tätigkeit (MfS). Für ihre spezifische Sprache hatte das MfS auch<br />
ein Wörterbuch erstellt. In diesem heißt es, daß diese PUT „eine der gefährlichsten<br />
Erscheinungsformen subversiver Tätigkeit“ sei. Beschrieben wird sie dort u.a.<br />
folgendermaßen: „Gesamtheit der im engen Zusammenwirken von inneren <strong>und</strong><br />
äußeren feindlichen Kräften gegen die sozialistische Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung<br />
gerichteten untergr<strong>und</strong>spezifischen Handlungen <strong>und</strong> Aktivitäten, wie die Ausarbeitung<br />
<strong>und</strong> Verbreitung von feindlichen Plattformen, die Bildung von verfassungsfeindlichen<br />
Personenzusammenschlüssen <strong>und</strong> die Versuche der antisozialistischen Kräfte, auch<br />
unter Ausnutzung legaler Möglichkeiten öffentlichkeitswirksam zu werden <strong>und</strong> weitere<br />
Personen gegen die Politik von Partei <strong>und</strong> Regierung zu mobilisieren.“ (MfS,<br />
Juristische Hochschule Potsdam GVS JHS 001-400/81, S. 403)<br />
RdB Rat des Bezirkes<br />
RdK Rat des Kreises<br />
RdS Rat der Stadt<br />
Ref. Referat<br />
S. Seite<br />
s. siehe<br />
437
SAPMO Stiftung Archiv der Parteien <strong>und</strong> Massenorganisationen der DDR im B<strong>und</strong>esarchiv<br />
SBBM Stadtbezirksbürgermeister<br />
SDP Sozialdemokratische Partei (in der DDR)<br />
Sekr. Sekretär<br />
SL Stadtleitung (der SED)<br />
SLO Superintendentur Leipzig-Ost<br />
SoFD Sozialer Friedensdienst (s. S. 490)<br />
St. Sanct<br />
StAL Sächsisches Staatsarchiv Leipzig<br />
Stellv. Stellvertreter<br />
StfK Staatssekretariat für Kirchenfragen<br />
StGB Strafgesetzbuch<br />
StPO Strafprozeßordnung<br />
Sup. Superintendent<br />
SZ Süddeutsche Zeitung<br />
taz die tageszeitung<br />
ThSL Theologisches Seminar Leipzig<br />
TV Teilvorgang (eines Zentralen Operativen Vorgangs des MfS)<br />
ÜSE Übersiedlungsersuchender<br />
VAE Vorläufige aktive Erfassung<br />
VEB Volkseigener Betrieb<br />
vgl. vergleiche<br />
VP Volkspolizei<br />
VPKA Volkspolizeikreisamt<br />
VVS Vertrauliche Verschlußsache (s. GVS)<br />
WK Wohnkomplex<br />
ZAIG Zentrale Auswertungs-<strong>und</strong> Informationsgruppe des MfS<br />
ZK Zentralkomitee (der SED)<br />
ZKG Zentrale Koordinierungsgruppe des MfS<br />
ZOV Zentraler operativer Vorgang (MfS)<br />
ZPDB Zentrale Personendatenbank des MfS<br />
438