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Jugendbündnis 1. Mai 2015 Braunschweig

Gegen die Gewalt der herrschenden Verhältnisse - gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft

Gegen die Gewalt der herrschenden Verhältnisse - gemeinsam für eine solidarische Gesellschaft

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Editorial<br />

Liebe Leser*innen,<br />

bereit zum fünten Mal schließt sich anlässlich des <strong>1.</strong><br />

<strong>Mai</strong> in <strong>Braunschweig</strong> unser <strong>Jugendbündnis</strong> zusammen,<br />

welches sich seit 2011 u.a. auf der traditionellen<br />

<strong>1.</strong> <strong>Mai</strong>-Demonstration zum Jugendblock formiert.<br />

Damit versuchen wir, unseren Themen und unserer<br />

Kritik an den bestehenden Verhältnissen eine Stimme<br />

zu verleihen. Uns eint hierbei eine fundamentale<br />

Kritik an der kapitalistischen Gesellschatsordnung<br />

und die gemeinsame Forderung nach einem besseren<br />

Leben für alle. Daher ist unser zentrales Moto: Gemeinsam<br />

für eine solidarische Gesellschat!<br />

Es ist notwendig unsere Kritik an den bestehenden<br />

Verhältnissen gemeinsam zu formulieren, da unsere<br />

Probleme in der Schule, am Arbeitsplatz, mit dem<br />

Arbeitsamt, der Ausländerbehörde oder an der Universität<br />

uns zwar einzeln trefen, jedoch Auswirkung<br />

der selben gesellschatlichen Verhältnisse sind.<br />

Unsere Vorstellung von einer befreiten und solidarischen<br />

Gesellschat hat sich leider noch lange nicht<br />

erfüllt – Tag für Tag sind wir mit der Gewalt des kapitalistischen<br />

Alltags konfrontiert. Das macht die<br />

Organisierung gegen die Verhältnisse so wichtig wie<br />

eh und je und wir müssen gemeinsam Antworten auf<br />

deren momentane Erscheinungen finden.<br />

In dieser Broschüre wird es daher auch wieder Hintergrundartikel<br />

zu aktuellen Themen geben. So beschäftigen<br />

wir uns mit den bevorstehenden Trefen der<br />

G7-Staaten in Deutschland und mit der grundsätzlichen<br />

Rolle des Staates. Eine Auseinandersetzung mit<br />

der rassistischen BRAGIDA/PEGIDA-Montagsveranstaltung<br />

und ihren Parallelitäten zum Islamismus<br />

findet ihr hier ebenfalls. Darüber hinaus wird sich<br />

der besonderen Rolle der Gewerkschaten im Kapitalismus<br />

angenommen sowie auf deren Doppelcharakter<br />

hingewiesen und im selben Zuge beschätigt<br />

sich ein weiterer Artikel mit der Notwendigkeit einer<br />

neuen Arbeitszeitverkürzungsdebate.<br />

Wir wollen aber auch Perspektiven für Kämpfe um<br />

eine solidarische Gesellschat hier vor Ort aufzeigen.<br />

Dazu werden verschiedene Jugendorganisationen<br />

aus <strong>Braunschweig</strong> ihre Positionen und aktuellen Arbeitsfelder<br />

vorstellen.<br />

Viel Spaß beim Lesen und selber aktiv werden – wir<br />

sehen uns am <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> auf der Straße!<br />

Euer Redaktionskollektiv im <strong>Jugendbündnis</strong>


<strong>1.</strong> ALLGEMEIN<br />

3. TEXTE ZUM INHALTLICHEN SCHWERPUNKT<br />

4<br />

6<br />

Historie des <strong>Jugendbündnis</strong>ses<br />

Aufruf<br />

„Gegen die Gewalt der herrschenden Verhältnisse“<br />

2. WAS GEHT VOR ORT?<br />

30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich<br />

Für mehr Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung<br />

außerhalb des Arbeitsprozesses<br />

Ver.di Jugend <strong>Braunschweig</strong>/Wolfsburg<br />

Das Treffen der G7 – oder: Wie hältst du es mit dem Staat?<br />

Eine Staatskritik anlässlich des G7-Gipfels<br />

Von Franzi, Nele und Malte<br />

32<br />

34<br />

10<br />

Texte zur Vorstellung lokaler Gruppen<br />

DGB Jugend TAK<br />

Doppelcharakter der Gewerkschaften<br />

Eine Staatskritik anlässlich des G7-Gipfels<br />

Von Timo Reuter und Marvin Hopp<br />

42<br />

12<br />

14<br />

Ver.di Jugend<br />

IG Metall Jugend<br />

„In der Dämmerung fallen ihre Masken“<br />

Ein Erklärungsversuch reaktionärer<br />

Krisenbewältigungsideologien<br />

Antifaschistische Gruppe <strong>Braunschweig</strong><br />

46<br />

16<br />

SJ – Die Falken<br />

18<br />

AStA der TU<br />

20<br />

22<br />

24<br />

Antifaschistische Gruppe <strong>Braunschweig</strong><br />

Ultras <strong>Braunschweig</strong><br />

Jusos<br />

IMPRESSUM<br />

Die Texte dieses Hetes geben nur die Meinung der jeweiligen<br />

Autor*innen wieder. Die Verteiler*innen dieses Hetes sind<br />

nicht mit den Macher*innen identisch.<br />

Wir verwenden die geschlechtsneutrale Form „*innen“, um<br />

neben dem männlichen und weiblichen Geschlecht auch<br />

Transgendern und Anderen Rechnung zu tragen.<br />

26<br />

28<br />

Grüne Jugend<br />

Jugendring <strong>Braunschweig</strong><br />

V.i.S.d.P.: Markus Hulm, Jugendbildungsreferent<br />

DGB Region SüdOst-Niedersachsen, Wilhelmstr. 5, 38100 <strong>Braunschweig</strong><br />

Bildrechte:<br />

Seite 38&40: strassenstriche.net bei Flickr, CC BY-NC 2.0


Historie des <strong>Jugendbündnis</strong>ses<br />

4<br />

2011<br />

„Gemeinsam für eine solidarische Gesellschat“<br />

2012<br />

„Unsere Kritik geht weiter“


2013<br />

„Eine andere Welt ist nötig!“<br />

5<br />

2014<br />

„Unser Protest ist grenzenlos“


Gegen die Gewalt der<br />

herrschenden Verhältnisse<br />

Gemeinsam für eine<br />

solidarische Gesellschaft!<br />

6<br />

Heraus zum <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong><br />

Wir, das <strong>Jugendbündnis</strong> zum <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> <strong>2015</strong>, rufen alle<br />

SchülerInnen, Studierenden, Auszubildenden, jungen<br />

ArbeiterInnen und Erwerbslosen dazu auf, sich<br />

am Jugendblock zu beteiligen. Es ist notwendig, unsere<br />

Kritik an den bestehenden Verhältnissen gemeinsam<br />

zu formulieren, da unsere Probleme - in<br />

der Schule, am Arbeitsplatz, mit dem Arbeitsamt, der<br />

Ausländerbehörde oder an der Universität - uns zwar<br />

einzeln betrefen, jedoch die Auswirkungen derselben<br />

gesellschatlichen Verhältnisse sind.<br />

Die Verhältnisse, in denen wir leben, basieren auf<br />

der Logik von Privateigentum an Produktionsmitteln<br />

und Profitmaximierung. Dies bedeutet für viele<br />

Menschen alltägliche Gewalt in Form von Armut<br />

und Leistungszwang, Diskriminierung und Ausgrenzung,<br />

bzw. fehlender Teilhabe am gesellschatlichen<br />

Leben, aber auch grundlegend den Ausschluss von<br />

Entscheidungen darüber, was wir produzieren und<br />

wie wir den gesellschatlichen Reichtum verteilen.<br />

Eine andere Welt ist möglich<br />

Die Alternative wäre, sich solidarisch gegen diese<br />

Zustände zu organisieren und gemeinsam für ein gutes<br />

Leben für alle zu kämpfen. Allerdings stehen wir<br />

uns alle in erster Line als Konkurrenten im ewigen<br />

Wetbewerb um Jobs, Ausbildungs- und Studienplätze,<br />

bessere Noten oder Bewertungen gegenüber.<br />

Diese Konkurrenzverhältnisse werden von vielen als<br />

(got-)gegeben wahrgenommen und aufgrund von<br />

Leistungszwang verinnerlicht. Dass sie einer Gesellschatsordnung<br />

entspringen, die vom Menschen geschafen<br />

wurde und somit auch vom Menschen verändert<br />

und überwunden werden kann, wird zu selten<br />

gesehen. Packen wir es an!<br />

Rassismus und Faschismus den Boden entziehen<br />

Otmals dienen vereinfachte und falsche Muster zur<br />

vermeintlichen Erklärung der herrschenden Verhältnisse.<br />

Die Zunahme sowie die Entstehung von PE-<br />

GIDA/BRAGIA, auch bei uns in <strong>Braunschweig</strong>, sind<br />

eines dieser falschen Erklärungsmuster. Plötzlich<br />

sind Ausländer und Flüchtlinge an Arbeitslosigkeit<br />

Schuld und nicht die ungleiche Verteilung der gesellschatlich<br />

notwendigen Arbeit.<br />

Dass die zugrunde liegenden Erklärungsmuster<br />

dabei völlig irrational sind, sehen wir daran, dass<br />

MigrantInnen einerseits „Schmarotzertum“ vorgeworfen<br />

wird und sie andererseits „uns“ die Arbeitsplätze<br />

wegnähmen. Was denn nun? Wer aus Angst<br />

Menschen trit, denen es noch schlechter geht als


einem selbst, ist kein besorgter Bürger, sondern ein<br />

Arschloch!<br />

Wir kämpfen lieber gemeinsam gegen die eigentlichen<br />

Ursachen der Gewalt der herrschenden Verhältnisse!<br />

Der Kapitalismus ist nicht das Ende der Geschichte<br />

Der Kapitalismus produziert heute unglaublichen<br />

Reichtum und zugleich den Ausschluss vieler Menschen<br />

von diesem. Obwohl genug für alle da ist, wird<br />

einem Großteil der Menschheit der Zugang zu dem<br />

verwehrt, was sie für ein gutes Leben brauchen.<br />

Selbst grundlegende Bedürfnisse der Menschen wie<br />

Wohnraum für alle, Frieden, Gesundheit, genug zu<br />

Essen und Bildung, kann der Kapitalismus nicht befriedigen.<br />

Immer noch sterben Menschen an Hunger<br />

oder heilbaren Krankheiten, weil sie keinen Zugang<br />

zum Nötigsten haben.<br />

Die unsolidarische Verteilung des gesellschatlichen<br />

Reichtums ist die systematische Gewalt des kapitalistischen<br />

Alltags. Daher finden wir: Nur in einer<br />

Gesellschat, die den Zugang zum gesellschatlichen<br />

Reichtum allen (frei) ermöglicht, ist ein friedliches<br />

und solidarisches Miteinander möglich.<br />

So wie es ist, bleibt es nicht!<br />

Für uns stellt sich daher die Frage, wie lange wir es,<br />

insbesondere als junge Menschen, noch hinnehmen<br />

wollen, uns dieser gewaltätigen Logik zu beugen.<br />

Wie lange wollen wir es noch zulassen, dass eine Gesellschat<br />

diese Logik verinnerlicht und sich dabei<br />

Menschen, besonders in Krisenzeiten, mit vereinfachten<br />

und diskriminierenden Erklärungsmustern<br />

zufrieden geben? Für uns stellt sich neben den täglichen<br />

Abwehrkämpfen, die wir gegen die permanenten<br />

Angrife des Kapitalismus führen, auch immer<br />

die Frage nach einer Gesellschat jenseits dieser unmenschlichen<br />

und unsozialen Logik.<br />

Wir bilden uns, machen uns Gedanken und kämpfen<br />

für eine Gesellschat, in der Solidarität an erster<br />

Stelle steht.<br />

<strong>Jugendbündnis</strong> zum <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> <strong>2015</strong><br />

10.30 Uhr, Burgplatz<br />

Im Anschluss: Jugendmeile im Bürgerpark<br />

7


Was<br />

geht<br />

vor<br />

Ort?


Texte<br />

zum<br />

inhaltlichen<br />

Schwerpunkt


30-Stunden-Woche bei vollem<br />

Lohnausgleich<br />

Für mehr Möglichkeiten der Persönlichkeitsentfaltung<br />

außerhalb des Arbeitsprozesses<br />

Text der ver.di Jugend <strong>Braunschweig</strong> / Wolfsburg<br />

tergehenden Zugeständnissen an Arbeit, Arbeitszeit<br />

und ihrer Bezahlung 3 . Nur die politische Durchsetzung<br />

einer Arbeitszeitverkürzung, über die Köpfe der<br />

Unternehmer*innen hinweg, kann die Arbeitsbelastung<br />

abbauen, die Lebensqualität der Arbeiter*innen<br />

erhöhen und nachhaltig für mehr Arbeitsplätze sorgen.<br />

32<br />

„Seit die Arbeiter Arbeit fordern stat so wenig Arbeit<br />

wie möglich, blieb ihre Kritik systemimmanent und<br />

damit in einem befreienden Sinne wirkungslos.“<br />

Das Känguru 1<br />

Dieses Zitat aus dem Buch „Das Känguru-Manifest“<br />

ist symptomatisch für die aktuelle Lage in Deutschland.<br />

Die Gewerkschaten sind fast nur noch damit<br />

beschätigt, die von den Unternehmen erhobenen<br />

Forderungen nach Arbeitszeitverlängerungen ohne<br />

Lohnausgleich oder auch schlichte Lohnkürzungen<br />

zur angeblichen Beschätigungssicherung abzuwehren.<br />

Gleichzeitig haben die Arbeiter*innen Angst,<br />

durch Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschatlichen<br />

Leben vertrieben zu werden 2 .<br />

Die Furcht vor der Arbeitslosigkeit stärkt die Unternehmen<br />

und diszipliniert die abhängig beschätigten<br />

Arbeiter*innen. Der Handlungsspielraum der Gewerkschaten<br />

wird kleiner und führt zu immer wei-<br />

1 M.-U. Kling, Das Känguru-Manifest, Ullstein Taschenbuch,<br />

201<strong>1.</strong><br />

2 O. Negt, Arbeit und menschliche Würde, Götingen: Steidl<br />

Verlag, 2002.<br />

Gegen die Vormachtstellung der Unternehmer*innen Unternehmer*innen<br />

für die und Stärkung für die Stärkung der Arbeiter*innen der<br />

und<br />

Arbeiter*innen<br />

Das kapitalistische System ist dadurch gekennzeichnet,<br />

dass es nicht für alle arbeitsuchenden Menschen<br />

einen Arbeitsplatz bereitstellt. Die Massenarbeitslosigkeit<br />

ist demnach gewollt und wird von Unternehmen<br />

unterstützt, um Personalkosten zu senken<br />

und die Gewinne zu erhöhen. Ot wird hierbei der<br />

Wetbewerb als Ausrede genutzt, um die Lohnkosten<br />

niedrig zu halten und prekäre Beschätigung durchzusetzen.<br />

Währenddessen werden die Arbeitslosen durch<br />

Arbeitsbeschafungsmaßnahmen, unsinnige Weiterbildungen<br />

und Kurzarbeit mit sogenannten Arbeitsmarktreformen<br />

aus der Arbeitslosenstatistik<br />

gedrängt. Ihnen wird eingeredet, selbst schuld an<br />

ihrer Arbeitslosigkeit zu sein. Aus Angst vor Kürzung<br />

der Sozialleistungen sind deswegen viele bereit,<br />

trotz unsicherer Zukuntsperspektiven, solche Jobs<br />

mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbe-<br />

3 F. Deppe, Gewerkschaten unter Druck. Autonomie und<br />

außerparlamentarische Bewegung, Hamburg: Supplement der<br />

Zeitschrit Sozialismus, Het 9, 2003.


dingungen anzunehmen. Eine steigende Anzahl von<br />

Zeitarbeitsverträgen, Leiharbeit und Minijobs ist die<br />

Konsequenz.<br />

Ausschließlich durch die Schafung von Vollzeitstellen<br />

mit auskömmlichen Einkommen kann die<br />

zwangsläufig in Altersarmut mündende Zukunt vieler<br />

Menschen abgewendet und die (Über-)Macht der<br />

Unternehmen bekämpt werden.<br />

Mehr Freizeit Mehr Freizeit für eine für gerechtere eine gerechtere Verteilung Verteilung der Arbeit der Ar<br />

Der Überbelastung eines Teils der Bevölkerung steht<br />

der Ausschluss eines anderen gegenüber. Während<br />

die Arbeiter*innen mit immer mehr Arbeitsprozessen<br />

belastet werden, haben die Arbeitslosen immer<br />

weniger Chancen auf neue Stellen. Automation und<br />

Produktivitätsfortschrit sorgen dafür, dass das Arbeitsvolumen<br />

in Deutschland weiter sinkt und viele<br />

Arbeitsplätze überflüssig werden.<br />

Zusätzliche Arbeit kann wirkungsvoll nur durch die<br />

Senkung der Arbeitsstunden aller Beschätigten erreicht<br />

werden. Berechnungen der „Arbeitsgruppe Alternative<br />

Wirtschat“ zu Folge würde eine Senkung<br />

der wöchentlichen Arbeitszeit aller Arbeiter*innen<br />

auf knapp 30 Stunden ausreichen, um allen Arbeitslosen<br />

einen Arbeitsplatz zu ermöglichen.<br />

Solch eine gerechte Umverteilung der Arbeit würde<br />

nicht bloß für mehr Freizeit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung<br />

sorgen. Es könnte für viele<br />

Menschen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf<br />

bedeuten und mehr Teilzeitbeschätigten die Aufnahme<br />

einer Vollbeschätigung ermöglichen.<br />

Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich<br />

Arbeitszeitverkürzung nur bei vollem Lohnausgleich<br />

Eine Arbeitszeitverkürzung für alle kann einzig und<br />

allein durch den Kampf der Arbeiter*innen durchgesetzt<br />

werden. Denn es liegt nicht im Interesse der<br />

Unternehmen, die Gewinne aus den Produktivitätssteigerungen<br />

mit den Beschätigten zu teilen oder die<br />

Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen und ihre eigene<br />

Machtposition dadurch zu schwächen. Doch Berufskrankheiten<br />

wie Burnout zeigen, dass es an der<br />

Zeit ist für eine Entlastung einzustehen.<br />

Viele Beschätigte befürchten jedoch eine Lohnkürzung<br />

durch Arbeitszeitverkürzung, wodurch<br />

die Gewerkschatsarbeit erschwert wird. Dabei wären<br />

Lohnerhöhungen viel leichter durchzusetzen,<br />

wenn die Position der Gewerkschaten gestärkt und<br />

die Massenarbeitslosigkeit abgebaut ist. Außerdem<br />

bringt die Vollbeschätigung alle Arbeitslosen in<br />

Lohn und Brot, ohne dass die abhängig Beschätigten,<br />

die in Arbeit sind, sich an der Finanzierung beteiligen<br />

müssten. Auf diese Weise können sowohl die<br />

Gesellschat als auch der Staat entlastet werden, was<br />

wiederum zu einer Senkung der Lohnnebenkosten<br />

führen muss.<br />

Deswegen gehen wir am <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> in <strong>Braunschweig</strong> auf<br />

die Straße, um lautstark „so wenig Arbeit wie möglich“<br />

ohne Lohnkürzungen zu fordern. Wir kämpfen<br />

für die Abschafung von prekären Arbeitsverhältnissen<br />

und die Schafung von kurzen Vollzeitstellen<br />

durch Arbeitszeitverkürzung für alle. Für eine solidarische<br />

Gesellschat, in der die Arbeit „fair-teilt“ ist.<br />

33


Das Treffen der G7 – oder:<br />

Wie hältst du es mit dem Staat?<br />

Wir nehmen den G7 Gipfel und die Proteste dagegen zum<br />

Anlass, um uns anzuschauen, was ein eigentlich Staat ist<br />

und was seine Funktionen sind. Eine Staatskritik halten wir<br />

für die Grundlage einer Diskussion über Staatlichkeit und<br />

über Forderungen, die an den Staat gestellt werden.<br />

Text von Franzi, Nele und Malte<br />

34<br />

Auch in diesem Jahr findet das Gipfeltrefen der sieben<br />

größten Industriestaaten wieder stat, diesmal ist<br />

Deutschland Gastgeberland. Im beschaulichen Bayern<br />

auf Schloss Elmau werden am 7. und 8. Juni <strong>2015</strong><br />

die Staats- und Regierungschefs von Frankreich,<br />

Großbritannien, Deutschland, Japan, USA, Italien<br />

und Kanada ein Wochenende lang über die Probleme<br />

dieser Welt diskutieren. Noch im letzten Jahr hieß<br />

das Trefen G8-Gipfel, da neben den großen Industriestaaten<br />

auch Russland mitmischen durte. Nach<br />

der Krimkrise wurde Russland samt Putin allerdings<br />

ausgeschlossen und die Gipfelstaaten kehrten zum<br />

G7-Format zurück.<br />

Rund um das Gipfeltrefen gibt es große Proteste,<br />

meist von Seiten globalisierungskritischer Bewegungen<br />

und diverser „linker Gruppen“. Diese sehen<br />

in dem Trefen die Schaltzentrale des Kapitalismus,<br />

begreifen die Gruppe der Sieben als Spinne im Netz<br />

oder hängen sich am Begrif „Club der Mächtigen“<br />

auf, um den G7 als elitär, exklusiv und undemokratisch<br />

zu entlarven. Es werden Demos, Blockaden,<br />

Camps, Veranstaltungen und Alternativgipfel organisiert,<br />

um mit allen Miteln des Protests den G7 zu<br />

stören oder zu verhindern.<br />

Der G7-Gipfel wird als eine Veranstaltung begrifen,<br />

die außerhalb von demokratischen Prinzipien statfindet<br />

und in seinen Entscheidungsprozessen vollkommen<br />

undemokratisch handelt. Verkannt wird dabei<br />

jedoch, dass die Staats- und Regierungschefs von<br />

dem jeweiligen Volkssouverän gewählt wurden, also<br />

demokratisch legitimiert sind. Außerdem müssen<br />

Staaten immer innerhalb von bestimmten Zwängen<br />

Entscheidungen trefen und haben eben nicht die<br />

freie Entscheidungsgewalt. Selbst wenn das Trefen<br />

„demokratischer“ wäre, würde das wenig verändern.<br />

Bei einer Argumentation mit dem Demokratieprinzip<br />

wird davon ausgegangen, dass Politik die Verhältnisse<br />

schat, anstat sie nur zu verwalten und am Leben<br />

zu erhalten.<br />

Das Gipfeltrefen muss als Form auf einer abstrakten<br />

Ebene betrachtet werden. Es ist ofensichtlich, dass<br />

viele Widersprüche, die die Gesellschat durchziehen,<br />

an diesem Trefen sichtbar werden. Die indische<br />

Aktivistin Vandana Shiva bringt es auf den Punkt:<br />

„Menschen, um deren Geld es geht, haben mehr<br />

Rechte und Berechtigungen als Menschen, um deren<br />

Leben es geht.“ 1<br />

1 htp://www.akweb.de/ak_s/ak516/05.htm


Bei dem Gipfeltrefen spielt wahrscheinlich das Geld<br />

von Menschen tatsächlich eine größere Rolle als<br />

deren Leben, wie Shiva argumentieren würde. Allerdings<br />

ist das nichts Außergewöhnliches, sondern<br />

kapitalistischer Alltag. Diese Gesellschat ist nicht<br />

nach den Bedürfnissen der Menschen organisiert,<br />

sondern danach, Kapital zu verwerten, also die Kapitalzirkulation<br />

am Leben zu erhalten. Die in den<br />

globalisierungskritischen Gruppen vorhandenen<br />

Erklärungsmuster für diesen Widerspruch reichen<br />

von einer unterstellten moralischen Schwäche der<br />

Staats- und Regierungschefs bis hin zu der Vorstellung,<br />

so ein Trefen müsse einfach demokratischer<br />

sein, dann würde das Problem schon gelöst.<br />

Diesen Erklärungsmustern liegt der Eindruck zugrunde,<br />

dass die Welt an diesem Wochenende hinter<br />

verschlossener Tür zugunsten eines „entfesselten<br />

Kapitalismus“ strukturiert und gelenkt wird. Dies<br />

impliziert nicht nur die Vorstellung eines Kapitalismus,<br />

der vermeintlich richtig angewendet die Probleme<br />

dieser Welt lösen würde, sondern auch von Staaten,<br />

welche - wenn von den richtigen Menschen oder<br />

demokratischer organisiert - für die Interessen aller<br />

eingesetzt werden könnten. Dabei wird jedoch ausgeblendet,<br />

dass diese Regierungen auch nur Repräsentant*innen<br />

der jeweiligen Staaten sind, welche<br />

in internationaler Konkurrenz zueinander stehen<br />

und als Staaten im Kapitalismus handeln. Außerdem<br />

wird eine Reformierbarkeit des Kapitalismus unterstellt,<br />

die diesen Widerspruch auflösen würde.<br />

Die Kritik bewegt sich also immer innerhalb vom<br />

bürgerlichen Staatensystem und dem Kapitalismus.<br />

Demnach sind Demos, Blockaden und Randale am<br />

Tag des Gipfeltrefens eine politische Praxis, die<br />

nicht über solche Systeme hinaus gehen. Das Gipfeltrefen<br />

muss als Form und Teil von kapitalistischen<br />

Verhältnissen betrachtet werden. Eine vollständige<br />

Kritik muss immer eine Staats- und Kapitalismuskritik<br />

sein, denn nur so kann dieser Widerspruch<br />

verstanden und zerlegt werden.<br />

„Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los” 2<br />

Um also das Trefen der G7 richtig zu verstehen,<br />

müssen wir uns erst einmal anschauen, welches<br />

Verhältnis zwischen Staat bzw. Politik und den wirtschatlichen<br />

Verhältnissen besteht.<br />

Wenn wir von Staat sprechen, dann sprechen wir<br />

vom bürgerlichen Staat. Wir denken, dass Staaten,<br />

bevor es eine Verallgemeinerung des Wertes und<br />

Tausches sowie der kapitalistischen Produktion gab,<br />

anders funktioniert haben. Die moderne Form des<br />

bürgerlichen Staates hat sich aus den früheren Formen<br />

von Staatlichkeit heraus historisch entwickelt.<br />

Diese historische Herleitung soll hier aber nicht Gegenstand<br />

sein, sondern nur der Staat in seiner bürgerlichen<br />

Form und dessen Verhältnis zur kapitalistischen<br />

Ökonomie. Dass beides miteinander zu tun<br />

hat, ist ziemlich ofensichtlich. Schließlich sprechen<br />

führende Politiker*innen ständig davon, dass es „dem<br />

2 Goethe, 1827: “Der Zauberlehrling”<br />

35


36<br />

Land gut geht, wenn<br />

es der Wirtschat gut<br />

geht“ oder „politische<br />

Handlungsfähigkeit<br />

abhängig vom Wirtschatswachstum“<br />

sei.<br />

Da stellt sich natürlich<br />

die Frage, was eigentlich<br />

ein Staat ist und<br />

welche Funktionen er<br />

hat. Erst einmal ist der<br />

Staat keine einzelne Person, sondern eine Institution,<br />

die aus vielen verschiedenen Personen besteht,<br />

zum Beispiel der Bundeskanzlerin, der Bürokratie,<br />

der Polizei oder dem Parlament. Außerdem sind alle<br />

Bürger*innen in einem Land auch mehr oder weniger<br />

so etwas wie ein Teil des Staates, weil sie die Regierung<br />

wählen können. Das würde nahelegen, dass die<br />

Aufgabe des Staates darin besteht, unsere Interessen<br />

zu vertreten. Schließlich könnten wir ja, sobald uns<br />

eine Regierung nicht gefällt, einfach die Opposition<br />

wählen und es schiene, als häten wir so einen Einfluss<br />

auf staatliches Handeln. Grundlegend ändert<br />

allerdings ein Regierungswechsel an der Politik des<br />

Staates wenig. So hat etwa die SPD mit der Agenda<br />

2010 den größten Sozialabbau der letzten Jahrzehnte<br />

beschlossen - obwohl sie wegen ihres sozialdemokratischen<br />

Parteiprogramms gewählt wurde. Das liegt<br />

daran, dass staatliche Politik sich nur in einem sehr<br />

kleinen Handlungsrahmen bewegt, denn die Institution<br />

Staat hat ein Eigeninteresse: weiterbestehen und<br />

sich in der Konkurrenz mit anderen Staaten behaupten.<br />

Die Frage ist nun, wie ein Konstrukt wie der Staat<br />

ein Eigeninteresse haben kann. Das liegt daran, dass<br />

der Staat sich gegen die Menschen verselbstständigt.<br />

Was das bedeutet, hat Goethe sehr bildlich in seinem<br />

Gedicht „der Zauberlehrling“ formuliert. Dort verhext<br />

ein Zauberlehrling einen Besen, der ihm Wasser<br />

holen soll. Das macht dieser dann auch, doch hört<br />

er nicht mehr auf und das Bad, welches der Besen<br />

füllen soll, läut über. Der Zauberlehrling hat die<br />

Kontrolle über „die Geister, die er rief“ verloren und<br />

der Besen, welcher vorher nur ein Werkzeug war, ist<br />

quasi zu eigenem Leben erweckt worden. Genauso<br />

verhält es sich auch mit dem Staat. Die Menschen<br />

haben in Revolutionen dafür gekämpt, einen bürgerlichen<br />

Staat aufzubauen, weil sie gehot haten,<br />

dass dieser Staat ihnen als Werkzeug für ein besseres<br />

Leben dient. Wie sich allerdings herausstellt, vertrit<br />

der Staat eben nicht die Interessen der Menschen.<br />

Außerdem haben die Menschen quasi vergessen,<br />

Außerdem haben die Menschen<br />

quasi vergessen, dass sie selber einmal<br />

diese Geister hervorgerufen<br />

haben, also einen Staat erschafen<br />

haben.<br />

dass sie selber einmal<br />

diese Geister hervorgerufen<br />

haben, also einen<br />

Staat erschafen haben.<br />

Das ist, als würde jemand<br />

auf einen Zetel<br />

schreiben: „Trink ein<br />

Glas Wasser“ und diesen<br />

Zetel auf einen Tisch legen und weggehen. Nun<br />

vergisst der Mensch, dass er diesen Zetel geschrie-


en hat und beim nächsten Mal, wenn er an dem<br />

Tisch vorbei geht, findet er diesen Zetel und liest:<br />

„Trink ein Glas Wasser“ und fragt sich, ob er jetzt<br />

wirklich ein Glas Wasser trinken muss. Vielleicht<br />

fragt er noch einen anderen Menschen, ob er wirklich<br />

ein Glas Wasser trinken müsse. Dieser liest dann den<br />

Zetel und sagt: „Wenn das hier steht, musst du wohl<br />

ein Glas Wasser trinken.“ Und nun trinkt der Mensch<br />

immer ein Glas Wasser, wenn er an dem Tisch vorbei<br />

geht - bis er Bauchschmerzen hat 3 . Genauso wie der<br />

Mensch in dieser Geschichte selbst den Zetel geschrieben<br />

hat, haben die Menschen selbst einmal den<br />

Staat erfunden und sorgen jeden Tag wieder dafür,<br />

dass er weiter besteht und gegen die anderen Staaten<br />

konkurrieren kann. Das haben sie allerdings „vergessen“.<br />

Der Staat sieht selber so aus und trit so auf, als<br />

sei er immer schon so gewesen. Er scheint natürlich,<br />

als müsste es genauso sein, wie es ist und als könne<br />

man es nicht verändern. Es wirkt, als würde der Staat<br />

selbstständig handeln - deswegen sehen die Menschen<br />

ihr eigenes Handeln nicht, welches den Staat<br />

überhaupt erst herstellt. Bini Adamzcak verbildlicht<br />

in ihrem Buch diesen Efekt mit dem Gläserrücken.<br />

Dabei legen mehrere Leute ihr Finger auf ein Glas.<br />

Alle bewegen sich ein wenig und dadurch wird das<br />

Glas verschoben - es sieht aber so aus, als würde es<br />

dies von alleine tun. Die Handlung, die das Glas bewegt,<br />

ist eigentlich die der Menschen, wird aber zu<br />

einer Eigenschat des Dinges - in diesem Fall des<br />

Glases - gemacht. Dieses Phänomen nennt sich auch<br />

3 Vgl. Bini Adamczak, 2010: „Kommunismus. Kleine Geschichte<br />

wie alles anders wird“<br />

„Verdinglichung gesellschatlicher Verhältnisse“.<br />

Die Menschen schreiben so dem Staat ein Eigenleben<br />

zu und tun das, wovon sie glauben, dass der Staat es<br />

von ihnen verlangt. Durch dieses Handeln bekommt<br />

der Staat tatsächlich ein Eigenleben - eben weil<br />

alle Menschen daran glauben und danach handeln.<br />

Dieses „fetischistische Bewusstsein“, wie Marx das<br />

nennt, gibt es nicht<br />

nur dem Staat gegenüber,<br />

sondern<br />

den gesellschatlichen<br />

Verhältnissen<br />

als Ganzem. Wenn<br />

man sich etwa die<br />

Wirtschat anschaut,<br />

kann man genauso feststellen, wie die Menschen<br />

die Kontrolle über die Gesellschat verloren<br />

haben.<br />

Der Staat handelt (bzw. lässt die Menschen handeln)<br />

in einer eigenen Logik, die sich eben gegen die Menschen<br />

verselbstständigt hat. In dieser Logik geht es<br />

nur noch darum, in der Konkurrenz mit anderen<br />

Staaten zu bestehen - und dafür benötigt der Staat<br />

Geld. Dieses Geld bekommt der Staat (theoretisch)<br />

nur über Steuergelder. Durch die Abhängigkeit von<br />

den Steuern, die auf dem eigenen Staatsgebiet eingetrieben<br />

werden können, gibt es immer eine direkte<br />

Abhängigkeit von der wirtschatlichen Situation<br />

im Staatsgebiet. Auch der Staat unterliegt also der<br />

„stummen Gewalt der ökonomischen Verhältnisse“ 4 .<br />

Es ist folglich egal, welche Partei gerade an der Re-<br />

4 MEW 23, S. 765<br />

„Die Menschen schreiben so dem<br />

Staat ein Eigenleben zu und tun das,<br />

wovon sie glauben, dass der Staat es<br />

von ihnen verlangt.“<br />

37


38<br />

gierung ist und mit welchem politischen Programm<br />

sie gewählt wurde; die Regierung ist immer darauf<br />

angewiesen, dass es viel Wirtschatswachstum gibt –<br />

und vor allem mehr Wachstum als in den Ländern,<br />

mit denen der Staat konkurriert. Der Staat ist dafür<br />

da, die Rahmenbedingungen sicherzustellen, damit<br />

die Wirtschat weiter läut. Das heißt: Im Kapitalismus<br />

hat der Staat eine ganz bestimmte Aufgabe – die<br />

Aufrechterhaltung der gesellschatlichen Besitz- und<br />

Produktionsverhältnisse. Später schauen wir uns an,<br />

wie genau er das eigentlich macht, indem wir zwei<br />

wichtige Funktionen des Staates betrachten: den<br />

Rechtsstaat und den Sozialstaat.<br />

“Wieso? Weshalb? Warum? - Wer nicht fragt bleibt<br />

dumm” 5<br />

Zur Funktion des Staates im Kapitalismus<br />

Nun ist die Aufrechterhaltung dieser gesellschatlichen<br />

Verhältnisse ganz bestimmt<br />

nicht das, was wir wollen, weil<br />

diese Verhältnisse auf der einen<br />

Seite täglich Hunger und Armut<br />

produzieren und auf der anderen<br />

Seite unglaublichen Reichtum.<br />

Weil die einen 60 Stunden<br />

die Woche arbeiten müssen und die anderen keine<br />

Arbeit finden, unter prekären Verhältnissen leben<br />

müssen oder einfach gar nicht überleben können.<br />

5 Die Sesamstraße, “Der, Die, Das”<br />

Zudem muss der Staat auch gelegentlich<br />

Entscheidungen trefen,<br />

die den einzelnen Kapitalist*innen<br />

gar nicht passen.<br />

Weil Dinge produziert werden, die eigentlich kein<br />

Mensch braucht, während es gleichzeitig Menschen<br />

am Nötigsten fehlt. Diese gesellschatlichen Verhältnisse<br />

produzieren einen riesigen Reichtum, aber in<br />

einer Form, welche eben jene Menschen, die diesen<br />

Reichtum produzieren, von ihm ausschließt. Und das<br />

alles kann nur passieren, weil der Staat die Rahmenbedingungen<br />

dafür sicherstellt. Man kann also nicht<br />

davon sprechen, dass der Staat für die Durchsetzung<br />

unserer Interessen da ist.<br />

Es gibt viele Leute, denen auch schon aufgefallen ist,<br />

dass ihre Interessen nicht vom Staat vertreten werden.<br />

Dies ist zum Beispiel bei den G7-Protesten der<br />

Fall. Diesen Umstand, führen sie allerdings darauf<br />

zurück, dass der Staat von den falschen Leuten kontrolliert,<br />

bzw. nicht demokratisch genug regiert wird.<br />

Das schließt an alte marxistisch-leninistische Vorstellungen<br />

vom Staat als Werkzeug der herrschenden<br />

Klasse an. In dieser Vorstellung ist der Staat nur dafür<br />

da, die Interessen der Unternehmer*innen,<br />

oder wie Marx<br />

sagen würde: der Kapitalist*innen,<br />

zu vertreten. Er sei also so<br />

etwas wie ein Werkzeug für die<br />

herrschende Klasse, um die Arbeiter*innen<br />

zu unterdrücken<br />

und dafür zu sorgen, dass sie weiter für die Kapitalist*innen<br />

arbeiten und produzieren. Nun dürfen in<br />

demokratischen Ländern sowohl Arbeiter*innen als<br />

auch Kapitalist*innen wählen gehen und auch Lobbyarbeit<br />

machen. Gewerkschaten versuchen genau


„Lieber Staat, jetzt mal echt, du bist absolut gerecht”<br />

6<br />

so wie Unternehmerverbände Einfluss auf die Politik<br />

zu nehmen.<br />

Zudem muss der Staat auch gelegentlich Entscheidungen<br />

trefen, die den einzelnen Kapitalist*innen<br />

gar nicht passen. Ein aktuelles Beispiel ist etwa der<br />

Mindestlohn, der seit Anfang des Jahres in Krat<br />

getreten ist. Der ist ganz und gar nicht im Interesse<br />

vieler Kapitalist*innen, weil sie ihren Arbeiter*innen<br />

mehr Lohn zahlen müssen und deshalb die Profite<br />

der Unternehmen kleiner werden. Aber der Staat<br />

hat trotzdem entschieden, den Mindestlohn umzusetzen,<br />

weil er denkt, dass das gut für die Wirtschat<br />

als Ganzes ist (u.a. wegen steigender Kaukrat der<br />

Arbeiter*innen, die die Wirtschat ankurbeln sollen<br />

oder aber, um einer Verelendung der Arbeiter*innen<br />

entgegenzuwirken, die dem Staat schaden könnte).<br />

Außerdem wird damit den Arbeiter*innen ein Grund<br />

genommen, zu protestieren, zu streiken oder vielleicht<br />

sogar die öfentliche Ordnung zu gefährden.<br />

Eugen Paschukanis, ein marxistischer Rechtsphilosoph,<br />

fragt sich anschließend an diese Feststellung:<br />

„Warum wird der Apparat des staatlichen Zwanges<br />

nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse<br />

geschafen, warum spaltet er sich von der letzteren<br />

ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von<br />

der Gesellschat losgelösten Apparats der öfentlichen<br />

Macht an?“ 7<br />

Damit stellt er die bürgerliche Vorstellung von Recht<br />

als Ganzes in Frage. Diese Vorstellung, dass alle<br />

Menschen gleich sind und ein freien Willen haben,<br />

existierte vor dem Kapitalismus nicht. In der Feudalgesellschat<br />

gab es zum Beispiel nur Vorformen von<br />

Recht und keine allgemeinen Rechtsnormen. Für den<br />

Kapitalismus ist es notwendig, dass sich die Menschen<br />

als freie und gleiche Warenbesitzende gegenüberstehen,<br />

denn Grundlage des Kapitalismus ist der<br />

Äquivalenztausch - das bedeutet, dass bei Tauschgeschäten<br />

niemand „über den Tisch gezogen“ wird<br />

- nur Waren von gleichem Wert können gegeneinander<br />

getauscht werden und niemand wird dabei benachteiligt<br />

oder begünstigt. Egal wer mit wem welche<br />

Waren tauscht.<br />

Der Staat ist deswegen eben nicht Instrument der<br />

herrschenden Klasse, sondern trit als neutrale regu-<br />

6 Farin Urlaub, “Lieber Staat”<br />

7 Paschukanis 1969: S. 120<br />

39


40<br />

Die Aufgabe des Staates besteht darin,<br />

diese Selbstzerstörung zu verhindern<br />

und den Schutz und die<br />

weitere Konkurrenzfähigkeit der<br />

Arbeitskrat sicherzustellen.<br />

lierende Instanz auf. Er muss eine Rechtssicherheit<br />

gewährleisten und dafür sorgen, dass alle Menschen<br />

sich an die Verträge, die sie schließen, auch halten.<br />

Die Vertragspartner*innen<br />

brauchen<br />

einen neutralen<br />

Driten, also einen<br />

Schiedsrichter, da<br />

sie aus ihren sich<br />

widersprechenden<br />

Eigeninteressen heraus<br />

mit „unfairen Miteln“ kämpfen würden und ein<br />

Vertrag gar nicht erst zustande käme.<br />

Nicht nur in der Frage des Austausches von Waren<br />

(Zirkulationssphäre), sondern auch in der Frage der<br />

Produktionssphäre und des Klassenverhältnisses ist<br />

eine Regulierung des Staates - in seinen Funktionen<br />

als Rechtsstaat und als Sozialstaat - notwendig.<br />

Der Rechtsstaat schützt seine Bürger*innen vor personeller<br />

Herrschat, sodass niemand Sklave oder<br />

Lehensdiener ist. Jede*r Bürger*in ist formal frei.<br />

Der Staat verteidigt auch das Recht auf Besitz bzw.<br />

Privateigentum, was zu einer von Marx als zynisch<br />

bezeichneten „doppelten Freiheit“ 8 führt. Frei von<br />

direkter Herrschat und frei von Produktionsmitteln,<br />

sodass jede Person, die kein Kapital, bzw. keine<br />

Produktionsmitel besitzt, genötigt ist die eigene<br />

Arbeitskrat zu vermarkten, um Überleben und/oder<br />

Wohlstand zu sichern.<br />

Außerdem sorgt er für eine formale Gleichheit: Vor<br />

8 Vgl. MEW 23, S. 183<br />

dem Staat sind - rechtlich gesehen - alle Menschen<br />

gleich. Die Menschen sind aber - materiell betrachtet<br />

- ungleich. Auf der einen Seite gibt es Menschen,<br />

die Kapital besitzen, die Kapitalist*innen (der Begrif<br />

enthält für Marx keine moralische Wertung), und auf<br />

der anderen Seite gibt es Menschen, die (fast) nichts<br />

besitzen und nur ihre Arbeitskrat dem Markt zu Verfügung<br />

stellen können, also die Arbeiter*innen.<br />

Kapital und Arbeiter stehen sich in ihren Interessen<br />

unversöhnlich gegenüber, denn das Interesse der<br />

Kapitalist*innen ist es, möglichst viel Profit zu machen<br />

und das der Arbeiter*innen, möglichst wenig<br />

davon abzugeben. Die Arbeiter*innen möchten ein<br />

schönes und sicheres Leben haben und um das zu<br />

erreichen, sind sie auf einen möglichst hohen Lohn<br />

angewiesen. Allerdings handeln die Kapitalist*innen<br />

nicht aus einer moralischen Schwäche heraus,<br />

sondern müssen zwangsläufig so handeln, um in der<br />

Konkurrenz zu bestehen.<br />

Auch die Arbeiter*innen müssen untereinander<br />

konkurrieren, um ihre Ware Arbeitskrat an die


Kapitalseite zu bringen. Dies führt zu schlechten<br />

Arbeitsbedingungen, sinkenden Löhnen und Verschleiß<br />

der Arbeiter*innen durch zu viel Arbeit, sodass<br />

sich die Arbeitskrat selbst zerreiben würde.<br />

Hier trit der Sozialstaat auf den Plan. Dieser sorgt<br />

dafür, dass Arbeiter*innen nicht mehr als x Stunden<br />

in der Woche arbeiten dürfen, eine Gesundheitsversorgung<br />

gewährleistet ist und vieles mehr. Durch die<br />

Konkurrenzverhältnisse neigt der Kapitalismus immanent<br />

dazu, seine eigene Grundlage zu zerstören.<br />

Das betrit neben der Zerstörung von Arbeitskrat<br />

beispielsweise auch die Zerstörung natürlicher Ressourcen.<br />

Die Aufgabe des Staates besteht darin, diese<br />

Selbstzerstörung zu verhindern und den Schutz und<br />

die weitere Konkurrenzfähigkeit der Arbeitskrat sicherzustellen.<br />

Zynischerweise könnte man sagen: Egal welche Position<br />

jemand im Kapitalismus einnimmt - Staat, Arbeiter*in,<br />

Kapitalist*in - sie alle reproduzieren den<br />

Kapitalismus Tag für Tag in ihren jeweiligen Rollen.<br />

„Als wir uns schließlich selbst erkannten und alles<br />

ziemlich scheiße fanden, da haten wir das Wichtigste<br />

kapiert“ 9<br />

gewisse Spielräume, die innerstaatlich teilweise das<br />

Erkämpfen einer sozialverträglicheren Verwaltung<br />

der Verhältnisse ermöglicht - wie etwa mit dem Mindestlohn.<br />

Der bürgerliche Staat ist jedoch seiner Form nach kapitalistisch<br />

- das heißt ohne ihn nicht denkbar. Genauso<br />

ist ein bürgerlicher Staat und die bürgerliche<br />

Rechtsform notwendig, um die Kapitalakkumulation<br />

zu ermöglichen und am Laufen zu halten. Der Staat<br />

ist dabei nicht autonom handelnd und kann dabei<br />

vor allem seine eigene Grundlage (den Kapitalismus)<br />

nicht abschafen. Ebenso wenig kann er die Widersprüche,<br />

die dem Kapitalismus immanent sind, reformieren.<br />

Eine politische Praxis, die auf eine Kritik<br />

des G7-Trefens abzielt, muss sich immer über die<br />

beschränkten Handlungsfähigkeiten innerhalb des<br />

Staates im Klaren sein. Eine Staats- und Kapitalismuskritik<br />

muss die Grundlage für eine strategische<br />

Auslotung von politischen Handlungsmöglichkeiten<br />

sein. Das gilt genauso für die Auseinandersetzung<br />

mit dem G7-Gipfel.<br />

41<br />

Die Feststellung, dass der Staat kein Instrument der<br />

herrschenden Klasse ist, bedeutet ebenso, dass der<br />

Staat im Allgemeinen nicht als Instrument gebraucht<br />

werden kann - auch nicht als Instrument zur Befreiung.<br />

Bei der Umsetzung der staatlichen Ziele gibt es<br />

9 Antilopen Gang, “Anti Alles Aktion”


Der Doppelcharakter der<br />

Gewerkschaften<br />

Für Text mehr von Timo Möglichkeiten Reuter (Studierender der Persönlichkeitsentfaltung<br />

und Mitglied des OJA-/<br />

außerhalb BJA-Leitungskollektivs des Arbeitsprozesses<br />

der IG Metall Jugend <strong>Braunschweig</strong>)<br />

und Marvin Hopp (Vorsitzender der JAV VW <strong>Braunschweig</strong><br />

Text und Mitglied des OJA-/BJA-Leitungskollektivs sowie des von Jugendausschusses<br />

beim Vorstand der IG Metall)<br />

nötigenfalls die Stirn zu bieten und sich<br />

dadurch in die Lage versetzen, als eine Macht mit<br />

den Unternehmen zu verhandeln, dann,<br />

und nur dann, haben die Arbeiter Aussicht, wenigstens<br />

das bisschen zu erhalten, das bei der<br />

ökonomischen Struktur der gegenwärtigen Gesellschat<br />

als ein gerechter Tageslohn für ein<br />

gerechtes Tagewerk bezeichnet werden kann.“ 1<br />

42<br />

Die Notwendigkeit der Existenz von Gewerkschaften<br />

im Kapitalismus ist, ausgenommen in der Vorstellung<br />

von Faschisten und der einiger neoliberaler<br />

Ideolog*innen, unbestriten. Ohne das regulierende<br />

Eingreifen der Gewerkschaten und deren Betriebsräten,<br />

würde die kapitalistische Fortentwicklung der<br />

Produktionsverhältnisse immer versuchen, unsere<br />

Erfolge der Arbeiter*innenbewegung (weniger Arbeitszeit,<br />

steigende Löhne, mehr Urlaub, etc.) zu revidieren.<br />

Gleichzeitig würde es dazu führen, dass die<br />

technologischen Entwicklungen – z.B. die Vorstellung<br />

einiger Arbeitergeber*innen im Rahmen der Debate<br />

um die Gestaltung von „Industrie 4.0“ - zu einer<br />

noch stärkeren Entmenschlichung der Arbeit führen.<br />

Noch immer gilt es daher grundsätzlich festzustellen:<br />

„Wenn der einzelne Arbeiter mit dem Kapitalisten<br />

handelseins zu werden versucht, wird er<br />

leicht geschlagen und muss sich ihm auf Gnade und<br />

Ungnade ergeben. Wenn aber die<br />

Arbeiter eines ganzen Gewerbes eine mächtige Organisation<br />

bilden, unter sich einen Fonds<br />

sammeln, um imstande zu sein, den Unternehmern<br />

Dies schrieb bereits Friedrich Engels in seinem Essay<br />

über das Lohnsystem (im Jahr 1881). Die Feststellung,<br />

dass alle lohnabhängig Beschätigten sich nur durch<br />

den gemeinsamen Zusammenschluss zur Wehr setzen<br />

können, besitzt auch 134 Jahre später noch immer<br />

Aktualität und wird insbesondere bei den unterschiedlichen<br />

Arbeitsbedingungen sichtbar, z.B.<br />

zwischen tarifgebundenen und ungebundenen Betrieben.<br />

An dieser Notwendigkeit wird sich so schnell<br />

auch nichts ändern, sofern wir in einer warenproduzierenden<br />

Gesellschat leben, die über den Markt<br />

kommuniziert und als oberstes Ziel nicht die Befriedigung<br />

der Bedürfnisse von Menschen hat, sondern<br />

die Kapitalverwertung, bzw. Profitmaximierung.<br />

Der dauerhate Krisenzustand des Kapitalismus verlangt<br />

von uns als Gewerkschaterinnen und Gewerkschater<br />

- allein schon aus humanitären Gründen -<br />

eine Strategie zu entwickeln, die über das Handeln<br />

als „Gestaltungsmacht“ innerhalb der bestehenden<br />

Verhältnisse hinausgeht. „Gewerkschaten tun gute<br />

Dienste als Sammelpunkte des Widerstands gegen<br />

1 Marx, MEW Bd. 19, S. 253


die Gewaltaten des Kapitals. Sie verfehlen ihren<br />

Zweck zum Teil, sobald sie von ihrer Macht einen unsachgemäßen<br />

Gebrauch machen. Sie verfehlen ihren<br />

Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken,<br />

einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden<br />

Systems zu führen, stat gleichzeitig zu versuchen,<br />

es zu ändern, stat ihre organisierten Kräte<br />

zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung<br />

der Arbeiterklasse, das heißt zur endgültigen<br />

Abschafung des Lohnsystems.“ 2<br />

Gewerkschaten haben nach dieser Vorstellung nicht<br />

nur die Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der bestehenden<br />

Verhältnisse reaktionäre Entwicklungen<br />

abzufedern und in andere Bahnen zu lenken. Sie besitzen<br />

vor allem auch die Möglichkeit und die gleichzeitig<br />

damit verbundene Verpflichtung „Gegenmacht“<br />

auszuüben. Ihr Wesen ist somit ein Doppelcharakter.<br />

Der Doppelcharakter der Gewerkschaten<br />

Auch zuküntig müssen die Gewerkschaten als<br />

Sammelpunkt all derer fungieren, die gegen die<br />

Angrife des Kapitals auf uns und unsere Errungenschaten<br />

kämpfen wollen. Gewerkschaten sind<br />

weiterhin einer der wichtigsten Regulationskräte,<br />

die zur Verlangsamung der Ökonomisierung unserer<br />

Gesellschat beitragen. Geht man davon aus, dass die<br />

Ökonomisierung aller Gesellschatsbereiche (kapitalistische<br />

Vergesellschatung) weiterhin nicht aufgehalten<br />

und gleichzeitig die Zerstörung der ökologi-<br />

2 Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW Bd. 16, S. 152<br />

schen Ressourcen unseres Planeten fortgesetzt wird<br />

wie bisher, müssen wir feststellen, dass der Kapitalismus<br />

die Tendenz aufweist, seine eigene Grundlage<br />

und damit auch die Grundlage menschlichen Lebens<br />

auf dieser Erde zu zerstören. Daher sollte uns bewusst<br />

sein, dass eine ausschließlich systemimmanente Gewerkschatspolitik<br />

als Ordnung-/Gestaltungsmacht,<br />

ihren Zweck verfehlt. Die Gewerkschatsbewegung<br />

„(...) sollte [daher] nicht vergessen, dass sie gegen<br />

Wirkungen kämpt, nicht aber gegen die Ursachen<br />

dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung<br />

verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert;<br />

dass sie Beruhigungsmitel anwendet, die das Übel<br />

nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschließlich<br />

in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der<br />

aus den nie enden wollenden Gewaltaten des Kapitals<br />

oder aus den Marktschwankungen unauhörlich<br />

hervorgeht. (...) stat des konservativen Motos: ‚Ein<br />

guter Lohn für gute Arbeit!‘ sollte sie auf ihr Banner<br />

die revolutionäre Losung schreiben: ‚Nieder mit dem<br />

Lohnsystem!‘“ 3<br />

„Nieder mit dem Lohnsystem!“<br />

Aktuell „werden [Gewerkschaten] als potenzielle<br />

Träger alternativer Gesellschatskonzeptionen [...]<br />

kaum wahrgenommen“ 4 .<br />

Zur Änderung dieses Umstandes bedarf es einer zu-<br />

3 Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW Bd. 16, S. 151<br />

4 Prof. Dr. Dörre, System permanenter Bewährungsproben,<br />

Mitbestimmung 01 & 02/2013<br />

43


44<br />

kuntsorientierten Gewerkschatspraxis, die dem<br />

derzeit dominierenden Abwehrkampf und der defensiven<br />

Haltung der Gewerkschaten ein Ende<br />

setzen möchte. Hierfür muss die Losung „Nieder<br />

mit den Lohnsystem!“ wieder zum Gegenstand gewerkschatlicher<br />

und linker Debaten, sowie deren<br />

Bildungsarbeit, werden. Mit dem Aubau von Gegenmacht<br />

meinen wir allerdings nicht nur, die Konfrontation<br />

mit dem Kapital zu suchen. Mit dem Aubau<br />

von Gegenmacht, ist das Entwickeln alternativer<br />

Gesellschatskonzeptionen gemeint, welche das Ziel<br />

haben, die Herrschat der Waren über die Menschen<br />

abzuschafen und die Bedürfnisse der Menschen als<br />

oberste Maxime ökonomischen Handelns zu verstehen.<br />

Hierfür müssen Räume geschafen, ofene Diskussionen<br />

geführt und die zerstörerische Tendenz<br />

des Kapitalismus auch in unserer alltäglichen Politik<br />

immer wieder benannt, bzw. sichtbar gemacht werden.<br />

Gleichzeitig darf aber auch der Kampf innerhalb<br />

des Lohnsystems nicht vergessen werden. Der<br />

Mensch wird nicht über eine solidarische Gesellschat<br />

nachdenken, wenn es ihm nur schlecht genug<br />

geht. Es ist daher wichtig, weiterhin Rahmenbedingungen<br />

zu schafen, die Diskussionen um Alternativen<br />

überhaupt ermöglichen. Denn „Angst lähmt die<br />

Menschen, mindert ihre Kreativität und Leistungsfähigkeit<br />

und treibt sie zum Verzicht auf erworbene<br />

Rechte in der bloßen Hofnung, so ihren Arbeitsplatz<br />

sichern zu können.“ 5 .<br />

Im aktuellen Zustand der Angst, des Verlustes der<br />

existenziellen Grundlage, durch Arbeitslosigkeit oder<br />

die zunehmenden Prekarisierung der Arbeit, gibt es<br />

für viele Menschen kaum die Möglichkeit, über solche<br />

Fragen zu diskutieren.<br />

Gewerkschatsjugend in Bewegung<br />

Eine Initiatorin zur Wiederbelebung von Debaten<br />

über Systemalternativen, kann die Gewerkschatsjugend<br />

sein, indem sie diese immer wieder einklagt<br />

und die Notwendigkeit der Überwindung kapitalistischer<br />

Verhältnisse fortwährend benennt. Eine Platform<br />

hierfür bietet uns der <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> und das <strong>Jugendbündnis</strong><br />

in <strong>Braunschweig</strong>, welches dieses Jahr bereits<br />

zum füntenMal dafür steht, dass der Anspruch der<br />

Jugend gehört wird, über eine Alternative zum Kapitalismus<br />

zu diskutieren, sich auszutauschen und<br />

gemeinsame Strategien zu entwickeln. Hierzu bietet<br />

uns das <strong>Jugendbündnis</strong> die Möglichkeiten. Hier<br />

können wir neben dem Kampf im Lohnsystem, auch<br />

über den Kampf gegen das Lohnsystem diskutieren<br />

und Standpunkte unter jungen Menschen und ihren<br />

politischen Organisation austauschen. Am <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong><br />

feiern wir die Erfolge der Gewerkschatsbewegung,<br />

denn es ist wichtig uns daran zu erinnern, was wir<br />

erkämpt haben. Wir kämpfen aber auch um bessere<br />

Lebens- und Rahmenbedingungen für morgen und<br />

wir streiten und diskutieren für eine Gesellschat<br />

jenseits des Kapitalismus.<br />

Deswegen gehen wir am <strong>1.</strong> <strong>Mai</strong> auf die Straße.<br />

5 Prof. Dr. Bontrup, Prof. Dr. Massarrat, Manifest zur Überwindung<br />

der Massenarbeitslosigkeit, 2011


45


„In der Dämmerung fallen ihre Masken“<br />

Von Wahn, Vision & Identität<br />

Ein Erklärungsversuch reaktionärer<br />

Krisenbewältigungsideologien wie Pegida und<br />

Islamismus<br />

Text der Antifaschistischen Gruppe <strong>Braunschweig</strong><br />

46<br />

Im Oktober 2014 fand sich in Dresden eine Bewegung<br />

zusammen, die unter dem Namen „Patriotische<br />

Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“<br />

(PEGIDA) gegen eine angebliche Islamisierung und<br />

gegen angebliche Wirtschatsflüchtlinge protestiert.<br />

Die Veranstalter*innen geben sich alle Mühe das<br />

bürgerliche Image dieser Protestbewegung aufrecht<br />

zu erhalten, doch es kristallisiert sich immer mehr<br />

heraus, dass die Inhalte eine Schnitmenge mit rechtem<br />

Gedankengut bilden.<br />

Die PEGIDA-Bewegung expandierte schnell<br />

deutschlandweit und führt aktuell in leicht sinkender<br />

Tendenz in verschiedenen Städten jede Woche Demonstrationen<br />

mit den immer gleichen rassistischen<br />

Forderungen durch. <strong>Braunschweig</strong> bildet hierbei<br />

leider keine Ausnahme, zur Freude der ortsansässigen<br />

Neonaziszene. So begrüßt die Partei „Die Rechte<br />

<strong>Braunschweig</strong>er Land“ die Proteste und mobilisiert<br />

zu der Veranstaltung von „BRAGIDA“ (<strong>Braunschweig</strong><br />

gegen die Islamisierung des Abendlandes).<br />

Da sich auf den PEGIDA-Märschen neben den Bürgern*innen<br />

eben auch bekannte Neonazis herumtreiben,<br />

lohnt ein Blick auf den Rassismus, den diese<br />

Bewegung verbreitet, denn dieser ist diferenziert zu<br />

betrachten. Die meisten Neonazis gehen von einem<br />

biologisierten Rassismus aus, Menschen werden also<br />

aufgrund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe, Haarfarbe<br />

oder Kopform einer „Rasse“ zugeordnet, der dann<br />

die als „typisch“ geltenden und vor allem „natürlich<br />

angeborenen“ Verhaltensmuster zugeschrieben werden.<br />

Diese Form des Rassismus begründet sich auf<br />

der Rassentheorie, welche insbesondere im 19. und<br />

20. Jahrhundert von Anthropologen vermeintlich<br />

wissenschatlich begründet wurde, meist zu dem<br />

Zweck Herrschatsverhältnisse zu rechtfertigen und<br />

Menschen für politische Ziele zu mobilisieren. Auch<br />

heutzutage wird versucht eine Auteilung in Ethnien,<br />

also Rassen, genetisch zu begründen. Die Rassentheorie<br />

ist wissenschatlich widerlegt und man könnte<br />

sagen, dass der biologistische Rassismus mitlerweile<br />

in der breiten Bevölkerung aus der Mode gekommen<br />

ist. Das bedeutet keineswegs, dass dieser gänzlich<br />

verschwunden ist, was am Beispiel dieser Neonazis<br />

deutlich wird. Aber der Rassismus, welcher sich<br />

in der heutigen Gesellschat eingerichtet hat, ist ein<br />

anderer.<br />

Der Rassismus der „patriotischen Europäer“ funktioniert<br />

auch ohne eine biologisierende Konstruktion<br />

von Rasse. Die Herstellung eines Eigen- und Fremdkollektivs<br />

läut hier über das Ticket Kultur. Die Menschen<br />

scheinen hier nur als Träger*innen der Kultur<br />

und nicht, wie im biologisierten Rassismus mit ihr<br />

verwachsen. Demnach ist der Kulturbegrif anders


konstruiert als der Rassebegrif, meint aber im Grunde<br />

ähnliches. Es scheint zumindest theoretisch im<br />

Bereich des Möglichen zu liegen, seine Kultur abzulegen<br />

und eine Fremde aufzunehmen, das wird<br />

dann Integration genannt. Allerdings kann hier auch<br />

keine allzu scharfe Trennlinie gezogen werden, da<br />

es wiederum andere Rassist*innen gibt die sagen, es<br />

sei eben nicht möglich seine Kultur abzulegen, weil<br />

diese mit dem Menschen verwachsen sein, wie im<br />

biologischen Rassismus.<br />

Kultur ist für PEGIDA-Rassist*innen ein abgeschlossenes<br />

System, welches historisch gewachsen und<br />

mit anderen Kultursystemen nicht kompatibel ist. Je<br />

nachdem welche Spielart des Rassismus betrachtet<br />

wird, besteht für Menschen die Möglichkeit, von der<br />

einen Kultur in die andere überzugehen oder eben<br />

nicht. Die Konsequenz aus letzterer Spinnerei ist<br />

meist, dass die „fremde Kultur“ eine Gefahr für die<br />

eigene Kultur und die eigenen Werte darstellt und<br />

hier schlicht nicht existieren darf. Deutlich wird dies<br />

in den absurden Bedenken von PEGIDA-Rassist*innen,<br />

dass „in 20 Jahren Deutschland so unterwandert<br />

ist, dass wir zu Weihnachten in irgendeine Moschee<br />

rennen müssen“ 1 und gipfelt dann in den Parolen wie<br />

„Deutschland den Deutschen - Ausländer raus!“.<br />

Deutlich wird dieser kulturelle Rassismus auch in<br />

den immer laufenden Integrationsdebaten. Dort<br />

wird behauptet, dass „die Ausländer sich nicht integrieren<br />

wollen“. Das impliziert einerseits die Vorstel-<br />

1 „Kontaktversuch: ‚Lügenpresse‘ trit Pegida | Panorama |<br />

NDR“ htps://www.youtube.com/watch?v=DDkB09hxG2w<br />

lung von dem guten, integrierten Ausländer, der es<br />

geschat hat seine Kultur vollständig abzulegen und<br />

eine fremde, in diesem Fall die „deutsche“ Kultur zu<br />

verinnerlichen und andererseits die Vorstellung der<br />

schlechten, integrationsunwilligen Ausländerin, die<br />

nicht mal versucht hat deutsch zu lernen. Der Schein<br />

wird aufrechterhalten, dass die Schuld in jedem Fall<br />

bei „den Ausländern*innen“, die sich nicht genug<br />

angestrengt haben, liegen muss. Grundlage dieses<br />

Denkens ist die Idee, dass die deutsche Kultur ein<br />

homogenes und eindeutig bestimmbares System von<br />

Werten und Normen ist.<br />

Dass es mit der Integration eben nicht so „simpel“<br />

abläut, zeigt die Tatsache, dass selbst die drite Generation<br />

einer Einwandererfamilie, die keinen Bezug<br />

mehr zu dem Leben ihrer Großeltern und deren vermeintlicher<br />

Kultur hat, noch als „Ausländer“ gelten,<br />

weil sie eben nicht „deutsch“ aussehen oder sich so<br />

verhalten - was auch immer das heißen soll.<br />

Flüchtlinge, Menschen mit einer Migrationsgeschichte<br />

in einem arabischen Land und „nicht<br />

deutsch Aussehende“ werden von PEGIDA fälschlicherweise<br />

den Salafisten und Islamisten zugeschrieben.<br />

Genau da zeigt sich sehr deutlich, dass diese<br />

weit verbreitet Vorstellung von Kultur, die PEGIDA<br />

vertrit, auch nichts anderes ist als das, was der alte<br />

Begrif der „Rasse“ meinte.<br />

Tatsächlich haben fast alle jihadistischen Salafisten,<br />

die aus Deutschland kommen, eine deutsche Staatsbürgerschat<br />

und sind „religiöse Analphabeten“ 2 .<br />

2 Wie Claudia Dantschke herausfand. htp://www.bpb.de/<br />

veranstaltungen/dokumentation/186663/die-szene-indeutschland^<br />

47


48<br />

Dies zeigt, dass der Vorwurf des Islamismus an muslimische<br />

Gemeinden in Deutschland an den Haaren<br />

herbei gezogen ist. Diejenigen, die sich tatsächlich<br />

zum jihadistischen Salafismus entscheiden, haben<br />

häufig nichts mit den muslimischen Gemeinden zu<br />

tun, waren vor ihrer Radikalisierung nicht einmal<br />

religiös, geschweige denn vertraut mit islamischen<br />

Schriten. Dennoch werden diese Gemeinden oder<br />

Menschen, die vermeintlich Muslime sind, für den<br />

Jihadismus verantwortlich gemacht. Es scheint egal<br />

zu sein, wie aufgeklärt Muslime sind oder wie sehr<br />

sich Migrant*innen integrieren und ihre Kultur ablegen<br />

- der Vorwurf des Jihadismus und des „Ausländers“<br />

lässt sich, wie im biologischen Rassismus, nicht<br />

von diesen Personen lösen.<br />

Dazu kommen nun noch Diskurse über die ökonomische<br />

Verwertbarkeit (für den Arbeitsmarkt brauchbar)<br />

von Migrant*innen und Asylbewerber*innen,<br />

die sich an Widerlichkeit nur gegenseitig übertrefen.<br />

Die Migrant*innen werden ofen nach kapitalistischer<br />

Logik in die „guten“ arbeitenden, die brav ihre<br />

Steuern zahlen und die schlechten arbeitslosen, die ja<br />

sowieso alle kriminell sind, kategorisiert. Die Gründe<br />

für eine Arbeitslosigkeit werden dabei allerdings<br />

nicht hinterfragt. Beispielsweise lehnen viele Unternehmen<br />

eine Bewerbung von einem Menschen mit<br />

einem vermeintlich ausländisch klingenden Namen<br />

schon im Vorhinein ab. Zudem ist es Flüchtlingen in<br />

den ersten Monaten generell untersagt zu arbeiten.<br />

Und auch danach ist dies nur nach einer Vorrangprüfung<br />

für deutsche und EU-Bewerber*innen möglich.<br />

Mit dieser Aufassung von Kultur aber steht PEGI-<br />

DA den Islamisten, die sie vorgeben zu bekämpfen,<br />

näher als sie denken. Ihr auserkorenes Feindbild, der<br />

Islam, stellt den fremden Kulturkreis dar, der mit der<br />

angeblichen westlichen, eigenen Kultur unvereinbar<br />

sei. Diesem islamischen Kulturkreis zugerechnet<br />

werden auf der einen Seite islamistische Bewegungen<br />

wie die Salafisten sowie auf der anderen Seite<br />

jede Moschee und jede arabisch klingende Shishabar.<br />

Zwangsverschleierung oder Unterdrückung der Frau<br />

und der Aubau einer autoritären Gesellschatsform<br />

- Ziele von islamistischen Bewegungen - werden zur<br />

Eigenschat aller Muslime gemacht, egal wie aufgeklärt<br />

deren Weltbild ist.<br />

Widerstand gegen patriarchale Strukturen, der auch<br />

unter Muslima statfindet, wird dabei unter den Teppich<br />

gekehrt. Denn das Bild der sich gegen Unterdrückung<br />

wehrenden muslimischen Frau passt natürlich<br />

nicht in das rassistische Weltbild von PEGIDA-Demonstrant*innen.<br />

Sie denken, dass alle Muslime die<br />

Unterdrückung der Frau gutheißen.<br />

Absurderweise halten sie den „Westen“ für eine absolut<br />

emanzipierte Gesellschat und nehmen dabei<br />

Unterdrückung, Diskriminierung und Gewalt gegen<br />

Frauen, Homosexuelle, Inter- und Transpersonen in<br />

ihrem „christlichen Abendland“ nicht wahr. Obwohl<br />

qualitative und strukturelle Unterschiede dabei zu<br />

beachten sind. Gewalterfahrungen sind für Frauen<br />

auch in Europa Realität und auch dort gibt es flächendeckende<br />

Unterdrückung von Männern gegenüber<br />

Frauen. Wir leben also ebenfalls in einer sexistisch<br />

strukturierten Gesellschat, in der anscheinend<br />

ein großer Teil der Männer denkt, Frauen nicht als


gleichberechtigte Subjekte anerkennen zu müssen.<br />

In der Vorstellung, die PEGIDA von „dem Westen“<br />

hat, wird das einfach ausgeblendet und sich ein Bild<br />

des Westens als Hort der Emanzipation gemalt. Dem<br />

gegenüber wird eine islamische Kultur imaginiert,<br />

die das genaue Negativ dazu beinhaltet.<br />

Frauen, die gegen die Unterdrückung durch die islamistische<br />

Ideologie (die ot auch von Frauen durchgesetzt<br />

wird) kämpfen, hilt es allerdings wenig, wenn<br />

diese Unterdrückung zur Eigenschat ihrer Kultur gemacht<br />

und nicht als das kritisiert wird, was sie ist:<br />

patriarchale Ideologie, Gewalt und Zwang.<br />

Hier liegt genau die Überschneidung von Islamisten<br />

und PEGIDA-Teilnehmer*innen, durch die deutlich<br />

wird, wie widersprüchlich und inkonsistent der<br />

Begrif von Kultur sein kann: Sie sind sich mit den<br />

Islamisten einig darüber, dass der Islam nur Unterdrückung<br />

und Sharia bedeuten kann. Eine These, der<br />

die meisten aufgeklärten Muslime sicherlich widersprechen<br />

würden.<br />

PEGIDA ist die Reaktion auf ein Deutschland, das<br />

immer mehr als ausländerfreundlich und kulturinteressiert<br />

in Erscheinung trit. Es gibt parallele Denkstrukturen<br />

zwischen der negativen Bewertung von<br />

Kulturen, die von PEGIDA-Rassist*innen vertreten<br />

werden und den positiven Bewertungen, die auch<br />

von weiten Teilen der sogenannten politischen Linken<br />

und Mite verbreitet werden. Während sich ein<br />

Großteil der Menschen auf „Festen der Kulturen“ herumtreibt,<br />

entsteht dort auch kein anderes Verständnis<br />

von Kultur als bei PEGIDA-Anhänger*innen, es<br />

findet nur eine andere Form der Bewertung stat: Die<br />

fremde Kultur wird als positives, exotisches Anderes<br />

konstruiert, welches aber auch als abgeschlossenes<br />

System funktioniert. In diesem positiven Rassismus<br />

scheint die andere Kultur nicht nur in das eigene<br />

Kultursystem integrierbar, sondern auch eine Bereicherung<br />

für die eigene Kultur zu sein. Nach den immer<br />

gleichen rassistischen Mustern werden nun den<br />

fremden Kulturen positive Stereotypen zugeschrieben,<br />

die es dann zu akzeptieren und tolerieren gilt.<br />

Salafisten, die in deutschen Innenstädten den Koran<br />

verteilen, um Mitglieder zu rekrutieren, werden in<br />

dieser Denkweise im schlimmsten Fall als kulturelle<br />

Eigenheit des islamischen Kulturkreis verklärt und<br />

nicht als das kritisiert, was sie sind: reaktionär und<br />

gefährlich.<br />

Aufgrund des weit verbreiteten positiven Rassismus<br />

ist es nicht überra-<br />

49<br />

schend, dass Bewegungen<br />

wie PEGIDA schnell „Während sich ein Großteil der<br />

ein großen Aufschwung Menschen auf „Festen der Kulturen“<br />

erleben konnten, da die herumtreibt, entsteht dort auch kein<br />

Grundstruktur eines rassistischen<br />

Weltbilds in bei PEGIDA-Anhänger*innen“<br />

anderes Verständnis von Kultur als<br />

der breiten Bevölkerung<br />

völlig unreflektiert schon<br />

vorhanden ist. Es ist nur<br />

ein kleiner Schrit, von einer positiven Bewertung<br />

des Anderen, hin zu einer negativen.<br />

Ohnmächtig stehen sowohl PEGIDA als auch Islamisten<br />

der gesellschatlichen Realität gegenüber und<br />

kennen nur einen Ausweg – die erzwungene Homo-


50<br />

genisierung der Gesellschat und Flucht in die imaginierte<br />

Gemeinschat. Den PEGIDA-Demonstrant*innen<br />

wird, wie dem Rest der Bevölkerung, suggeriert<br />

an der Politik zu partizipieren (zum Beispiel durch<br />

Wahlen), sie fühlen sich aber gerade deshalb ohnmächtig<br />

gegenüber den Verhältnissen, weil sie eben<br />

durch ihre Stimme nichts verändern. In der Forderung<br />

nach gesellschatlicher Totalität sind PEGIDA<br />

und Islamisten letztendlich zwei Seiten der gleichen<br />

Medaille. Sie sind Reaktionen auf die Widersprüche<br />

dieser Gesellschat. Wirtschatliche Krisen werden<br />

zum Beispiel nicht durch die kapitalistischen Verhältnissen<br />

erklärt, sondern durch falsche Erklärungsmuster,<br />

wie Rassismus und Fundamentalismus.<br />

Jene Weltanschauung bzw. Ideologie bietet eine psychische<br />

Entlastung für den Einzelnen, die diesem<br />

Gefühl von Ohnmacht entgegen wirkt. Durch Parolen<br />

wie „Wir sind das Volk!“, die auf PEGIDA-Märschen<br />

skandiert werden, finden die Menschen in der<br />

Konstruktion einer Gemeinschat ein Gefühl von<br />

Stärke und Zugehörigkeit, da dieses Kollektiv größer<br />

und wirkmächtiger scheint als sie selbst. PEGIDA ist<br />

die irrationale Verarbeitung der eigenen Ohnmacht<br />

gegenüber den Verhältnissen in Form der Projektion<br />

des Unbehagens in die Figur des muslimischen<br />

Fremden.<br />

Die rechtsstaatlich kaum mehr vorhandene Asylgesetzgebung,<br />

die dank Frontex stetig wachsenden Leichenberge<br />

an den europäischen Außengrenzen und<br />

die insbesondere seit Anfang 2014 rasant steigende<br />

Zahl an rassistisch motivierten Anschlägen und<br />

Übergrifen in Deutschland reichen ihnen in ihrem<br />

Hass gegen die vermeintlich Anderen nicht aus.<br />

In dem menschenverachtenden, rassistischen Wahn,<br />

werden Flüchtlinge zum Sündenbock und zum<br />

Grund der Leidensgeschichte des Einzelnen in der<br />

kapitalistischen Gesellschat gemacht.<br />

Auch der Islamismus bietet die Flucht in das Kollektiv,<br />

in dem vermeintlich die Widersprüche des<br />

Kapitalismus und die Ohnmacht gegenüber den<br />

ökonomischen Verhältnissen aufgehoben sind. Er ist<br />

eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse und die<br />

Auflösung vorbürgerlicher Gesellschats- und Familienverhältnisse.<br />

Der Islamismus ist eine moderne<br />

Bewegung, die versucht, die Widersprüche der kapitalistischen<br />

Gesellschat durch Homogenisierung<br />

und autoritäre Gewalt, mit der Herstellung eines<br />

Zwangskollektivs, zu begegnen. Eine moderne Bewegung<br />

deshalb, weil der Islamismus wie wir ihn kennen<br />

erst als Reaktion auf die Moderne entstanden ist<br />

und es vorher vergleichbare<br />

Bewegungen nicht gab. Islamisten<br />

behaupten sich auf<br />

„In dem menschenverachtenden,<br />

rassistischen Wahn,<br />

islamische Traditionen zu<br />

werden Flüchtlinge zum Sündenbock<br />

und zum Grund der<br />

beziehen, was jedoch meist<br />

nicht stimmt. Die Ideen, die<br />

Leidensgeschichte des Einzelnen<br />

in der kapitalistischen<br />

Islamisten vertreten, sind<br />

durchaus moderne Ideen,<br />

Gesellschat gemacht.“<br />

beispielsweise jene, wie ein<br />

Staat zu funktionieren hat,<br />

und werden ot mit vermeintlich religiösen Traditionen<br />

untermauert oder angereichert. Das bedeutet<br />

nicht, dass Islamisten das Ziel haben einen bürgerlichen<br />

Staat zu errichten, jedoch gab es die Idee eines<br />

solchen islamistischen Staates in vormodernen Zei-


ten noch nicht.<br />

Ihre Motivation ist dabei nicht allein durch Interessen<br />

ökonomischer und/oder politischer Natur<br />

erklärbar. Es ist kein machtpolitischer Anspruch einer<br />

Weltreligion oder gar das Aubegehren der abgehängten<br />

Trikont-Massen. Der rationale Gewinn für<br />

die Islamisten ist die negative Auhebung der kapitalistischen<br />

Widersprüche durch die Vernichtung des<br />

Ungleichen. Das heißt: Sie versuchen mit Zwang und<br />

Gewalt alle Widersprüche in der Gesellschat zu lösen,<br />

indem Menschen außerhalb des Kollektivs, die<br />

„Ungläubigen“, dafür verantwortlich gemacht werden.<br />

Genauso wie in der modernen, kapitalistischen Gesellschat<br />

etwa islamistische Ideen entstehen, in der<br />

die Widersprüche mit Gewalt gelöst werden sollen,<br />

ist in der modernen, kapitalistischen Gesellschat<br />

auch die Idee einer Welt ohne Zwang, Gewalt und<br />

Ausbeutung entstanden. Ideen, die es so in einer<br />

vormodernen Gesellschat auch nicht gab. Dies bedeutet,<br />

dass in dieser Gesellschat beide Tendenzen<br />

verankert sind: Die Entstehung der absoluten Barbarei<br />

- wie sie die Welt mit dem Nationalsozialismus<br />

und der Shoah bereits erlebt hat - aber auch die Befreiung,<br />

die auf die Abschafung aller Verhältnisse,<br />

„in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes,<br />

ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“<br />

(MEW 1 S.385) abzielt.<br />

und Islamismus zielt, muss immer auch die bürgerliche<br />

Gesellschat im Fokus haben. Diese beiden<br />

reaktionären Ideologien sind keine simplen Weltanschauungen,<br />

die aus dem Nichts heraus entstehen,<br />

sondern stellen Reaktionen der unbewussten, psychischen<br />

Verarbeitungen in Verbindung mit falschen<br />

Erklärungen der gesellschatlichen Verhältnisse dar.<br />

Weil Ideologien eben keine platen Weltanschauungen<br />

sind, ist es wichtig, nicht nur Ideologiekritik,<br />

sondern auch Auklärung gegen die gesellschatlichen<br />

Zustände – die beides zu verantworten haben<br />

– zu betreiben.<br />

Das heißt für uns, nicht allein den Status quo gegen<br />

noch Schlimmeres zu verteidigen, sondern aufzuzeigen,<br />

dass dieser Status quo ursächlich für das ist, was<br />

gleichzeitig im schlimmsten Fall zu seiner negativen<br />

Auhebung tendiert.<br />

Es ist Auklärung über den positiven Gehalt von<br />

Freiheit und Gleichheit als negatives Bild ihrer gegenwärtigen<br />

kapitalistischen Form. Es ist der Kampf<br />

für Verhältnisse, die keine Unterdrückung produzieren,<br />

die entweder nach ihrer Auhebung in der Vernichtung<br />

des Anderen endet oder die die Figur des<br />

Fremden erschafen muss, um darin den Hass auf<br />

das was ist zu projizieren.<br />

Der Kampf gegen PEGIDA und Islamismus ist demnach<br />

der Gleiche. Er muss beide als Feinde der befreiten<br />

Gesellschat benennen und angreifen.<br />

51<br />

Für uns bedeutet das alles, in unserer Kritik nicht<br />

bei den gegenwärtigen Verhältnissen stehen zu bleiben.<br />

Eine emanzipatorische Kritik, die auf PEGIDA<br />

Antifaschistische Gruppe <strong>Braunschweig</strong> im März<br />

<strong>2015</strong>

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