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WERKEINFÜHRUNG<br />
Dann aber wechselt die Musik von Moll nach Dur, und der Chor singt die<br />
Antwort Ich hoffe auf dich, erst leise, dann in immer größerer Steigerung und<br />
Zuversicht. Die anschließende große Fuge Der Gerechten Seelen sind in Gottes<br />
Hand, und keine Qual rühret sie an ruht auf einem durchgängigen Orgelpunkt<br />
auf D, gespielt von Posaune, Tuba, Kontrabass und Pauke. Da sich die übrigen<br />
Stimmen modulierend weit von der Grundtonart entfernen, entstehen<br />
scharfe Dissonanzen, doch die tiefen Instrumente halten unbeirrt an ihrem<br />
D fest, bis zuletzt alle Stimmen im strahlenden D-Dur zusammenfinden. Die<br />
musikalische Symbolik ist überaus sinnfällig: das durchlaufende D steht für<br />
Gottes Hand, in der sich der Gerechten Seelen befinden, und keine Qual (= keine<br />
Modulation in entfernte Tonarten) kann sie dieses Fundaments berauben.<br />
Der vierte Satz Wie lieblich sind deine Wohnungen ist der kürzeste, zugleich<br />
der geschlossenste des Werks. Der Text entstammt zur Gänze dem 84. Psalm,<br />
einem Pilgerlied. Die kirchliche Tradition hat diesen Psalm seit jeher auf die<br />
Pilgerschaft des Menschen zu seiner himmlischen Heimat bezogen, und so<br />
versteht ihn auch Brahms. Die Musik ist von einer ruhigen, gelösten Heiterkeit<br />
geprägt. Im Orchester schweigen die Trompeten, die Posaunen, die Tuba, zwei<br />
der vier Hörner sowie das Schlagzeug, also alle „lauten“ Instrumente. Daher ist<br />
der Satz über weite Strecken im Piano gehalten und strahlt einen freundlichen<br />
Optimismus aus, als notwendigen Ruhepunkt nach den vorangegangenen<br />
Kämpfen. Dann folgt mit Ihr habt nun Traurigkeit der nachkomponierte<br />
Satz, den Brahms erst nach der Bremer Uraufführung eingefügt hat. Die Orchestrierung<br />
verzichtet wie beim vorangegangenen Satz auf laute Instrumente.<br />
Die Sopransolistin singt Worte aus dem Johannes-Evangelium sowie Sehet<br />
mich an aus dem Buch Jesus Sirach. Der Chor kontrastiert mit dem Jesaja-Wort<br />
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Doch obwohl Solistin und<br />
Chor unterschiedliche Texte deklamieren, verwenden sie doch gleiches musikalisches<br />
Material. Berühmt ist die Stelle, wo die Sopransolistin eine Melodie<br />
in Achteln singt, begleitet vom Chortenor mit der gleichen Melodie, jedoch<br />
in Vierteln, also im halben Tempo. Dieses kontrapunktische Kunststück ist<br />
völlig organisch in den musikalischen Gesamtverlauf integriert und zeigt,<br />
wie gründlich Brahms die barocken Kompositionstechniken studiert hat.<br />
Gerade dieser Satz wird immer wieder mit der Erinnerung an Brahms‘ Mutter<br />
in Verbindung gebracht, die drei Jahre vor der Komposition verstorben war.<br />
Nach diesen beiden ruhigen, tröstlichen Dur-Sätzen könnte der Gegensatz<br />
zum nachfolgenden Denn wir haben hie keine bleibende Statt nicht<br />
größer sein. Der Chor singt diese Worte aus dem Hebräerbrief ohne klar<br />
bestimmte Tonart; vielmehr schweift die Musik modulierend umher und<br />
illustriert die Suche nach der zukünftigen Statt. Dann setzt der Bariton-Solist<br />
ein mit den Worten des Paulus aus dem ersten Korintherbrief: Siehe, ich sage<br />
euch ein Geheimnis. Paulus spricht von der Auferstehung und Verwandlung<br />
der Toten und der Lebenden, die Musik steigert sich mehr und mehr, und