SO LEBT ES SICH IN DEUTSCHLAND - Kommt 'rein
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F<strong>IN</strong>ALE<br />
SUBVERSIVE STIMULANZ<br />
Der amerikanische Bestsellerautor T. C. Boyle über den Rock’n’Roll in der Literatur<br />
Ich bin der Traum eines jeden Verlegers: Ich gebe Interviews,<br />
ich gehe auf Lesereisen, ich chatte live, und ich bin auch oft<br />
auf Buchmessen in Deutschland unterwegs: Leipzig, lit.Cologne<br />
und natürlich Frankfurt. Was für ein Wahnsinn, was für<br />
ein Spaß! Ich habe das Glück, dass ich nicht wie viele meiner anderen<br />
Kollegen in der eher ruhigen Halle mit den englischsprachigen<br />
Verlagen sitzen muss, sondern mitten im Trubel beim Hanser-Verlag.<br />
Bei den Buchmessen treffe ich auch gelegentlich deutsche<br />
Schriftsteller, vor allem aber treffe ich meine Leserinnen und Leser.<br />
Außerdem kann ich dort jede Menge richtige, gedruckte Bücher in<br />
den Händen halten. Meine Frau hat mich bislang noch nicht von<br />
einem E-Reader überzeugen können. Das<br />
könnte sich nur dann ändern, wenn ich<br />
mich entschlösse, entweder a) mehrere<br />
Monate lang durch die Appalachen zu<br />
wandern, b) zu einer Expedition in den<br />
Kongo aufzubrechen oder c) einen längeren<br />
Ausflug in den Weltraum zu unternehmen.<br />
In diesem Jahr habe ich allerdings den<br />
Frankfurter Auftrieb verpasst, denn ich<br />
bin im Herbst in Großbritannien und zu<br />
Hause in den USA mit meinem neuen Roman<br />
„San Miguel“ unterwegs. Statt zu<br />
schreiben, muss ich mich damit begnügen,<br />
die Dinge im Kopf durchzuspielen,<br />
während ich wieder einmal meine vom Reisen abgenutzten Taschen<br />
von einem Flughafen zum nächsten schleppe.<br />
Danach werde ich mich so ausgelaugt fühlen wie Dracula, wenn er<br />
von der Sonne erwischt wird. Gleichzeitig liebe ich es, vor Publikum<br />
zu lesen. Wobei der Begriff „Lesung“ es nicht wirklich trifft.<br />
Für mich ist es eine Performance. Ich bin Schriftsteller, ich geh‘<br />
raus auf die Bühne und gebe den Leuten, was sie brauchen. Nicht<br />
wenige meiner Kollegen leiden wie Hunde, wenn sie vor ein Publikum<br />
treten und aus ihren Texten vorlesen müssen. Ich bin da ganz<br />
anders gestrickt. Die Essenz von Literatur ist Sprache – und die will<br />
ich auf der Bühne zum Klingen bringen, ich will meinen Geschichten<br />
einen Rhythmus geben. Was vielleicht daran liegt, dass ich in<br />
meinem früheren Leben ein Rock’n’Roller war. Die Auftritte mit<br />
meiner Band haben Spuren hinterlassen. Und überhaupt stammen<br />
viele meiner Vorbilder aus der Welt des Rock’n’Roll: Springsteen<br />
oder Van Morrison – alles große Performer. Im Rock’n’Roll geht es<br />
darum, von der Bühne Besitz zu ergreifen. Und das gefällt mir. Man<br />
muss präsent sein, wie ein Schauspieler, der seine Geschichte in die<br />
Köpfe und Herzen der Zuschauer bringt. Dazu muss ich mich bewegen,<br />
muss gestikulieren können.<br />
Eine Performance kann man nicht vom Sofa aus halten. Das weiß<br />
inzwischen auch mein deutsches Publikum. Es schätzt, das spüre<br />
ich, dass Lesungen für mich keine intellektuelle Pflichtübung sind,<br />
die man ertragen muss. Sie sind subversive<br />
Stimulanz. Meine jüngste Tour durch<br />
Deutschland war eine ausverkaufte Freude:<br />
Hamburg, Berlin, München und Freiburg.<br />
Einer der Höhepunkte war das Wiedersehen<br />
mit meinem Freund, dem<br />
Schauspieler Jan Josef Liefers, der schon<br />
viele meiner Romane als Hörbücher eingelesen<br />
hat und auch schon mit mir aufgetreten<br />
ist. Ich habe schon so oft in<br />
Deutschland gelesen, dass ich es kaum<br />
zählen kann. Einmal in Frankfurt sogar<br />
in einer ehemaligen Kirche. Deswegen<br />
muss ich mir heute noch Witze anhören.<br />
picture alliance/GEORG HOCHMUTH/APA/picturedesk.com<br />
Und bei der lit.Cologne hatte ich mich dazu<br />
überreden lassen, zwei Shows an einem Tag zu machen. Das war<br />
selbst für einen Maßlosen wie mich ein bisschen zu anstrengend.<br />
Ich habe drei Stunden auf der Bühne gestanden und danach insgesamt<br />
fünf Stunden lang meine Bücher signiert. Ich habe in der Zeit<br />
literweise Diät-Cola in mich hineingekippt. Andere Drogen gab es<br />
nicht. Aber ich komme wieder. Davon kann mich auch das Tollhaus<br />
Buchmesse nicht abhalten. ▪<br />
Aufgezeichnet von Brigitte Spitz<br />
Von dem US-amerikanischen Schriftsteller T. C. Boyle ist zuletzt<br />
auf Deutsch der Roman „Wenn das Schlachten vorbei ist“<br />
im Hanser-Verlag erschienen. Gerade druckfrisch auf Englisch<br />
liegt sein jüngstes Werk „San Miguel“ von Viking vor.<br />
DE Magazin Deutschland 3/2012<br />
picture-alliance/dpa