Tourette und Führerschein - Tourette-Gesellschaft Deutschland
Tourette und Führerschein - Tourette-Gesellschaft Deutschland
Tourette und Führerschein - Tourette-Gesellschaft Deutschland
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
fahr des plötzlichen Versagens der Rückspiegel, statt auf die Straße sie dieVerkehrssituation die ganze<br />
körperlichen <strong>und</strong> geistigln Lei- blickte. Zeit über im Auge haben. Man kann<br />
stungsfähigkeit... zu erwärten ist" Auch sein Bedürfnis, das Lenkrad in sich dennoch leichtvorstellen, daß<br />
(g<strong>und</strong>esministerium für Verkehr Relation zu seinen Knien zu zen- einsolchesVerhaltenzunächstauf<br />
1996). trieren, nahm fast frenetische Zü- einen Fahrlehrer sehr befremdend<br />
ge an: ständig mußte er es ,,ins wirken kann'<br />
Der soezielle Teil der Leitlinien "Par- Gleichgewicht bringen", ruckweise<br />
kinsonsche Krankheit, Parkinsonis- nach links <strong>und</strong> rechts drehen, wo-<br />
mus <strong>und</strong> andere extrapyramidal- durch er das Auto in einen wilden Eine FallstUdie:<br />
motorlsche Erkrankungen einschließlich<br />
zerebellä rer Symptome"<br />
hilft bei der Entscheidung nicht viel<br />
weite r. da hierunter vor allem die<br />
chronisch progredienten Leiden zu-<br />
sammengefaßt sind.<br />
Es werden jedoch "grob störende<br />
unwillkürliche Bewegungsimpulse"<br />
als Leistungseinbußen genannt, die<br />
das Führen eines Kraftfahrzeuges<br />
nicht mehr verkehrssicher erlauben<br />
können. Die Schwierigkeit liege in<br />
der Abschätzung der Belastbarkeit<br />
(B<strong>und</strong>esministerium für Verkehr<br />
1 e96).<br />
Eine Literatur-<br />
Recherche:<br />
Mit Tics am Steuer<br />
In seinem Buch, "Wenn Kinde rTics<br />
entwickeln" vertritt Prof. A. Rothenberger<br />
die Meinung, daß es<br />
unter besti mmten Voraussetzu ngen<br />
vertretbar ist, dem Erwerb des<br />
<strong>Führerschein</strong>s zuzustimmen.<br />
Dazu gehört, daß es "die Persönlichkeitsstruktur<br />
des Patienten erlaubt,<br />
daß er verantwortungsvoll<br />
mit seiner Störung <strong>und</strong> mit seinen<br />
Medikamenten umgeht" (Rothenberger<br />
1991).<br />
Der Neurologe <strong>und</strong> Schriftsteller<br />
0liver Sacks schildert sehr ausführlich<br />
eine Autofahrt mit seinem<br />
Kollegen Bennett, einem <strong>Tourette</strong>betroffe<br />
nen Chirurgen:,, Die Rückfahrt<br />
war ein fasziniere ndes, wenn<br />
auch manchmal erschreckendes Er-<br />
lebn is.<br />
Nun, da Bennett mich besser kennenlernte,<br />
wagte er es mehr <strong>und</strong><br />
me hr, sich <strong>und</strong> seinen Tourettismen<br />
freien Lauf zu lassen. Manchmal<br />
ließ er das Lenkrad sek<strong>und</strong>enlang<br />
los - zumindest schien es mir in<br />
meiner Angst so -, um gegen die<br />
Windschutzscheibe zu klopfen (zu<br />
einem Singsang von,,Hootie-hoo!",<br />
,,Hi there!" <strong>und</strong> ,,Hideous!"), die<br />
Brille zurechtzurücken, sie auf h<strong>und</strong>ert<br />
verschiedene Arten 7u ,,zentrieren"<br />
<strong>und</strong> den Schnurrbart mit<br />
gekrümmten Zeigefingern ständi9<br />
qlattzustreichen, wobei er in den<br />
Schlingerkurs brachte.<br />
,,Keine Angst", sagte er, als er meine<br />
Besorgnis bemerkte. ,,lch kenne<br />
die Straße <strong>und</strong> habe gesehen,<br />
daß uns niemand entgegen kommt.<br />
lch habe noch nie einen Unfall qehabt"<br />
(Sacks 1995).<br />
Und nicht nur das. Mr. Bennett hat<br />
auch den Flugschein <strong>und</strong> fliegt seit<br />
Jahren selbst. Sacks berichtet noch<br />
von elnem weiteren <strong>Tourette</strong>-<br />
Fre<strong>und</strong>. der ebenfalls seit i0 Jahren<br />
unfallfrei Auto fährt (Sacks<br />
1 9e5).<br />
Eine nicht weniger beeindruckende<br />
Beschreibung ist in Sven Hartungs<br />
Buch ,,Sonst bin ich ganz<br />
normal" (tggS) zu finden, in dem<br />
er unter anderem über das Leben<br />
des bekannten amerikanischen<br />
Basketballstars Mahmoud Abdul-<br />
Rauf schreibt, der ebenfalls unter<br />
dem <strong>Tourette</strong>-Svndrom leidet:<br />
,,Außeres Zeichen seines sozialen<br />
Aufstiegs ist ein weißes 500er Mercedes<br />
Coupö, mit dem der 25jährige<br />
uns stolz durch das von den<br />
Rocky Mountains umschlossene<br />
Denver fährt Mahmouds Tics erlauben<br />
mir nicht länger [. . .] nachzuden<br />
ken.<br />
Mitten auf einer zweispurigen<br />
B<strong>und</strong>esstraße verdreht er seinen<br />
Kopf wie ein Kranich in Richtung<br />
Son nendach.<br />
Außerdem läßt er ständig das Lenkrad<br />
los, um es dann wieder kurz anzutippen<br />
<strong>und</strong> zu testen, ob es sich<br />
gut anfühlt [. . .]<br />
Mich <strong>und</strong> mein Team befällt [. . .]<br />
ein mulmiges Gefühl. Doch nichts<br />
passiert, wir erleben nicht einmal<br />
eine gefährliche Situation. Mahmoud<br />
ist trotz dieser starken Anfälle<br />
immer Herr der Lage" (Hartung<br />
1995a).<br />
Diese Beispie le zeigen, daß, wie<br />
nicht anders zu erwarten, viele<br />
<strong>Tourette</strong>-Betroffene auch beim Auto<br />
fahren Tics haben.<br />
Bei stark Betroffenen können Tics<br />
beim Autofahren darin bestehen,<br />
das Lenkrad loszulassen, an die<br />
Scheibe zu klopfen oder den KoPf<br />
zu verdrehen. Diese Bewegungsstörungen<br />
alleine haben mit der<br />
Aufmerksamkeit nichts zu tun. Die<br />
Fahrer berichten regelmäßig, daß<br />
Mit Tics<br />
in der Fahrschule:<br />
Ein Beispiel aus der Praxis beschreibt<br />
einige typische Probleme<br />
<strong>und</strong> deren Lösungsansätze:<br />
Ein 17-jähriger Gymnasiast mit<br />
<strong>Tourette</strong>-Syndrom hat sich zum<br />
<strong>Führerschein</strong> angemeldet. In seinem<br />
Fall dominieren wechselhaft<br />
ausgeprägte Körpertics das Erscheinungsbild.<br />
Der Unterricht beginnt mit Theorieübupgen,<br />
die der SchÜler ohne<br />
g rößere Schwierigkeiten bewä ltigt.<br />
In der Gruppe fallen die Tics nicht<br />
so sehr auf, zumal es ihm, wie vielen<br />
Betroffenen möglich ist, dieTics<br />
in einer fremden, zunächst angespannten<br />
Situation etwas zu unterdrücken.<br />
Zwar weiß der junge Mann im Vergleich<br />
zu vielen betroffenen Altersgenossen<br />
bereits viel über sein<br />
Problem <strong>und</strong> seine Schwächen,<br />
aber gerade deshalb liegt ihm auch<br />
daran, möglichst normal durch's<br />
Leben zu gehen <strong>und</strong> von seiner<br />
Umwelt nicht wie ein Sonderling<br />
behandelt zu werden.<br />
Er versucht also zunächst einmal,<br />
seine Probleme nicht anzusprechen<br />
<strong>und</strong> die Fahrschule ganz gewöhnlich<br />
zu absolvieren. Das scheint<br />
auch Erfolg zu haben.<br />
Erste Schwierigkeiten treten erst<br />
auf, als die praktischen Fahrst<strong>und</strong>en<br />
beginnen. Dabei sPielt, so Paradox<br />
das klingen mag, auch e ine<br />
Rolle, daß der Fahrlehrer eine angenehme<br />
UnterrichtsatmosPhäre<br />
vermittelt.<br />
Der Fahrschüler fühlt sich relativ si-<br />
cher <strong>und</strong> wohl in seiner Gegenwart.<br />
Und wie das nicht untypisch für<br />
<strong>Tourette</strong>-Betroffene ist, zeigen sie<br />
eine eherverminderte Kontrolle in<br />
,,vertrauter" Umgebu ng.<br />
Gleichsam falle n sie natürlich im<br />
Einzelunterricht auch mehr auf.<br />
lmmer wiederverdreht der Schüle r<br />
Hals <strong>und</strong> Kopf nach links oben <strong>und</strong><br />
blickt zur Seite. Ab <strong>und</strong> zu läßt er<br />
das Lenkrad los.<br />
Dabei ist dieses Verhalten sehr<br />
wechselhaft. Manchmal fallen die<br />
Tics kaum auf, dann wiede r sind sie<br />
besonders deutlich <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
erlahmt die Konzentration am<br />
Ende einer Doppelst<strong>und</strong>e. Besonders<br />
nach langen Schultagen oder<br />
Klassenarbeiten treten diese Probleme<br />
auf. Ebenso kommt er mal<br />
optimistisch, mal am Boden zerstört<br />
nach Hause.<br />
Die St<strong>und</strong>enzahl hat das übliche<br />
Maß längst überschritten. Und eines<br />
Tages wendet sich der Fahrlehrer<br />
an die Eltern. Besonders sei<br />
ihm die wechselhafte Leistung seines<br />
Fahrschülers aufgefallen. Mal<br />
fahre er sicher <strong>und</strong> konzentriert bis<br />
zum Schluß. dann wieder wie in der<br />
ersten Fahrst<strong>und</strong>e.<br />
In solchen Situationen klappe das<br />
Einparken kaum. Natürlich ist er<br />
besorgt darüber, daß sein Schüler<br />
in manchen St<strong>und</strong>en das Lenkrad<br />
losläßt oder zur Seite blickt.<br />
lm Gespräch mit den Eltern <strong>und</strong> mit<br />
dem Fahrschüler selbst können viele<br />
Mißverständnisse beseitiqt wer-<br />
0en.<br />
Der Fahrlehrer ist jetzt in der Lage,<br />
die Tics zunächst einmal Tics<br />
sein zu lassen, <strong>und</strong> sich auf die<br />
Fahreigenschaften sei nes Schützlings<br />
zu konzentrieren. Sobald den<br />
Tics das Unverständliche, das Mvstische<br />
genommen ist, verlieren sie<br />
automatisch an Bedeutung. Wesentlich<br />
ist, ob der Schüler in der<br />
Lage ist, mit ausreichender Konzentration<br />
<strong>und</strong> Aufmerksamkeit<br />
das Fahrzeug sicher zu führen.<br />
Schwachstellen, wie Einparken <strong>und</strong><br />
Überholen können jetzt gezielt<br />
geübt werden. Der <strong>Tourette</strong>-Fahrschüler<br />
besteht die Prüfung nach<br />
dieser Vorbereitung auf Anhieb.<br />
Diskussion<br />
Ein <strong>Tourette</strong>-Betroffener steht oft<br />
schon vor der Anmeldung zum<br />
<strong>Führerschein</strong> vor Problemen, die<br />
ihn unter Umständen entmutigen,<br />
das Projekt überhaupt in Angriffzu<br />
nehmen. Ein ganz großes Problem<br />
ist immer noch, daß diese Störung<br />
in <strong>Deutschland</strong> noch weitgehend<br />
unbekannt ist. In der Regel wird<br />
auch der Fahrlehrer erstmals damit<br />
konfrontiert. Er muß jedoch entscheiden,<br />
ob er seinen Schützling<br />
zur Prüfung anmelden kann, das<br />
heißt, ob dieser in der Lage ist, ein<br />
Fahrzeug konzentriert <strong>und</strong> sicher<br />
zu lenKen.<br />
3